Im Hintergrund Politik vom 9.9.2021 habe ich die schockierendste Zahl dieses Jahres gehört. Das Thema wird dort so eröffnet:
1,6 Milliarden Hektar Ackerflächen gibt es auf der Erde. Nach den Zahlen des Umweltbundesamtes wächst nur etwa auf einem Fünftel davon Nahrung für die menschliche Ernährung. Auf den übrigen vier Fünfteln wird dagegen Tierfutter und Biosprit produziert.
Auch wenn mir klar war, dass bei der „Wandlung“ von Soja und Getreide in Steaks oder Eier zwischen 70% und 95% des Nährwerts verlorengehen[1] – „Wandlung“ ist hier eingestandenermaßen ein wenig euphemistisch –, hatte ich diese danach relativ naheliegende Konsequenz nicht auf dem Schirm: 80% der Äcker auf diesem Planeten gehen im Groben in „unsere“ (also die der reichen Länder) Völlerei. Derweil:
Und trotzdem gehen immer noch mehr als 800 Millionen Menschen hungrig zu Bett. Und viele davon sind selbst Kleinbauern – und Kleinbäuerinnen. Sie erwirtschaften auf einem Bruchteil der weltweiten Ackerfläche bis zu 70 Prozent der menschlichen Nahrung, gesicherte Zahlen gibt es hier nicht […]
Also: unsere tolle, marktgestählte, industrielle Landwirtschaft trägt plausiblerweise nur zu 30% zur Welternährung bei, obwohl sie den Großteil der intensiv zur Nahrungsmittelproduktion nutzbaren Landfläche in Anspruch nimmt (und um die 10% der CO2-Emissionen verursacht). Das war, was mich wirklich schockiert hat.
Wenn „unsere“ Firmen im globalen Süden für die Produktion unseres Tierfutters und, schlimmer noch, unseres „Biosprits“ Land requirieren und den dortigen Kleinbauern wegnehmen („Landgrabbing“), ist das schlicht ein Hungerprogramm. Wieder mal frage ich mich, wie die Leute in, sagen wir, hundert Jahren auf uns zurückblicken werden.
Kopfzahlen für große Flächen
Unterdessen sind die 1.6 Milliarden Hektar von oben ein guter Anlass, meine Kopfzahlen für „große“ Flächen loszuwerden. Erstmal: Ein Hektar ist ein Quadrat, dessen Diagonale ein Mensch in etwa zwei Minuten durchläuft. Nämlich: Ein nicht allzu hektischer Mensch läuft so gegen 4 km/h oder etwas mehr als einen Meter pro Sekunde. Die Diagonale eines Quadrats mit 100 Meter Kantenlänge (eben ein Hektar) sind 100 Meter mal √2 oder rund 150 Meter[2]. Bei einem guten Meter pro Sekunde dauert es also rund 120 Sekunden von Ecke zu Ecke durch die Mitte.
Ansonsten ist die bessere Einheit für große Flächen der Quadratkilometer, also 100 ha. Mithin: 1.6e9 ha (1.6 ⋅ 109 ist in meinem Eingabeformat ReStructuredText echt lästig zu schreiben, weshalb ich mir hier die in eigentlich allen nichtantiken Programmiersprachen übliche Schreibweise genehmige) sind 1.6e7 oder 16 Millionen km².
Wie viel ist das? Etwas albernerweise weiß ich immer noch die Fläche der alten Sowjetunion, des in meiner Kindheit größten Staats der Erde: das waren 22 Millionen km². Es gibt also global etwas weniger Acker als das, was mal alles zur Sowjetunion gehörte. Ich denke, der zeitgemäße Ersatz sind einerseits Afrika[3] mit 30 Millionen km² und andererseits die USA und China mit jeweils rund 10 Millionen km². Ich finde, auf diese Weise kriegt mensch schon mal ein Gefühl, wie die global genutzte Ackerfläche auf einer Weltkarte aussähe – und wie viele Wüsten, Tundren, Hochgebirge, Wildnisse oder Parkplätze es so geben wird.
A propos Welt: Die Erde hat bei einem Radius von etwa 6000 km eine Fläche von 4 π (6000 km)² oder 450 Millionen km² oder auch 15 Mal Afrika, wobei mensch nicht vergessen sollte, dass im Fall der Erde 70% der Fläche von Meeren eingenommen wird und also Afrika deutlich über 20% der Landfläche ausmacht.
Zwecks Gefühl und Abschätzung merke ich mir noch, dass die BRD eine Fläche von rund 350'000 km² hat (oder, für Leute, die sich das so leichter merken können: eine Drittelmillion). Kombiniert mit der Kopfzahl für Afrika heißt das: die BRD passt 100 Mal in Afrika rein. Von der Fläche her. Vom Ressourcenverbrauch her… eher so zwei Mal[4].
Die Fläche von Baden-Württemberg ist 35'000 km². Das ist bequem zu merken, weil es einen Faktor zehn kleiner ist als die BRD, und ist als Größenordnung für ernstzunehmende Bundesländer auch sonst ganz brauchbar (die Spanne reicht von 71'000 km² für Bayern bis 16'000 km² für Schleswig-Holstein, also alles grob innerhalb von einem Faktor zwei, was für viele Abschätzungen überallhin reicht).
So eine Zahl im Kopf ist beispielsweise praktisch, wenn mensch am Neckar steht und abschätzen will, wie viel Wasser da wohl fließt: Sein Einzugsgebiet wird so etwa die Hälfte des Landes sein (fürs einfache Rechnen: 20'000 km²), und es wird da zwischen 500 und 1000 mm pro Jahr regnen (800 mm Niederschläge pro Jahr sind keine unvernünftige Schätzung für normale Gebiete in der BRD). Wegen einfacher Rechnung nehmen wir hier mal 1000 mm, und dann müssten über dem Einzugsgebiet jedes Jahr 20e3 km² ⋅ 1e6 m²/km² ⋅ 1 m an Wasser runterkommen, also irgendwas wie 20e9 m³. Einiges davon wird, gerade im Sommer, verdunsten oder auch von Planzen in Sauerstoff verwandelt, bevor es in Heidelberg vorbeikommt; das Problem verschiebe ich aufs Ende des übernächsten Absatzes.
20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr sind etwas unhandlich, wenn mensch gerade auf den Fluss guckt. Wie sieht es pro Sekunde aus? Nun, ein Jahr hat etwas wie 3e7 Sekunden (vgl. die klassische Kopfzahl in Kopfzahlen 1), also wird der mittlere Abfluss vom Neckar was wie 20/3 ⋅ 10², also rund 670 m³/s sein. Tatsächlich gibt die Wikipedia 145 m³/s für den Pegel Mannheim an.
Gut: wir liegen einen Faktor vier zu hoch, aber das ist für so eine Abschätzung schon ok, zumal der tatsächliche Abfluss übers Jahr hinweg um weit mehr als so einen Faktor schwanken wird. Wers genauer haben will: das wirkliche Einzugsgebiet sind nur 13'934 km², und dann ist da der Evapotranspirationswert (vgl. Erläuterung in der Wikipedia), dessen Einfluss nicht ganz einfach anzubringen ist, schon, weil einiges des verdunsteten Wassers ja noch im Einzugsgebiet wieder abregnet oder -taut. Egal: Ein Faktor vier ist oft gut genug.
Letzte Kopfzahlen in dieser Rubrik: Größere europäische Städte wie Berlin oder Hamburg haben so gegen 1000 km² (in Wirklichkeit: 892 bzw. 755), kleinere Städte wie Heidelberg eher so 100 km² (in Wirklichkeit: 109).
[Alle Flächenangaben hier aus den jeweils erwartbaren Wikipedia-Artikeln]
[1] | Das sind FAO-Schätzungen, die z.B. die gesetzliche Unfallversicherung grafisch schön aufgemacht hat. Die FAO-Quellen habe ich auf die Schnelle nicht im Netz gefunden. |
[2] | Eine nicht direkt flächige Kopfzahl obendrauf: √2 ist ungefähr 1.44, und der Kehrwert ungefähr 0.7. Ein wenig flächig ist das aber auch: Die Fläche eines A4-Blatts ist (theoretisch genau) (√2)-(2⋅4) m², für A3 ist sie (√2)-(2⋅3) m² usf. Messt und rechnet selbst oder lest einfach im Wikipedia-Artikel zu Papierformaten nach, warum das so ist. |
[3] | Asien (55 Millionen km²) eignet sich nicht so gut als Referenz, weil zu viele Leute Europa als separaten Kontinent abrechnen und zumindest ich mir nie sicher wäre, ob meine Fläche mit oder ohne Europa zählt (die 55 Millionen zählen den ganzen Kontinent, also mit den Gebieten westlich von Ural und kaspischem Meer). |
[4] | CO2-Emission der BRD aus Kopfzahlen 1: 2/3 Gigatonnen; für Afrika insgesamt gibt das dort zitierte Our World in Data-CSV 1.4 Gigatonnen. |
Zitiert in: Um Größenordnungen daneben Antisprache: Arbeitsplätze Kopfzahlen: Plastikproduktion Kopfzahlen: Vulkane, Massen, Volumen