Um Größenordnungen daneben

Das-Boot-ist-voll-Debatten bauen recht typisch nicht nur auf zünftige Dosen Rassismus, sondern auch auf großflächige Dyskalkulie, auf die Unfähigkeit oder den Unwillen also, mit Zahlen zumindest nach Größenordnungen („Kopfzahlen“) umzugehen. In besonders unangenehmen Fällen bauen sie sogar aufs Ausnutzen dieser kleinen Schwächen unter den durch Schulmathematik Geschädigten.

Welche dieser möglichen Ursachen Stefan Heinleins Fehlleistung heute morgen im Deutschlandfunk verursachte, will ich nicht entscheiden. In der Anmoderation zu seinem Interview mit dem luxemburgischen Außenminister hat er jedenfalls ein Panikbild gezeichnet, das sich mit ein, zwei Kopfzahlen sofort als um Größenordnungen falsch zeigt:

0.01% der Fläche des Saarlands. Das sind 20 Quadratkilometer. Das ist die Größe der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa. Ein winzig kleine Insel also […] Seit Wochen kommen täglich viele hundert Menschen auf ihren rostigen Booten…

Mit Kopfzahlen klaren Kopf schaffen

Wer nun meine Flächen-Kopfzahlen parat hat, wird sich wundern, denn Heinlein behauptet ausgeschrieben, das Saarland habe eine Fläche von 20/0.0001, also 200'000 Quadratkilometern, zu vergleichen mit der BRD insgesamt bei 350'000 km² (Saarland mehr als die Hälfte der BRD? Das wüsste ich.) und Baden-Württemberg als typisches Flächenland bei einem Zehntel davon. Da das Saarland wiederum eher so ein Zehntel eines normalen Flächenlandes ist, wird Heinlein zwei Größenordnungen (ein Faktor 100) danebenliegen.

Tatsächlich bietet der Wikipedia-Artikel zum Saarland als dessen Fläche 2'569 km² an. 0.01% davon sind ein bisschen mehr als zwei Hektar oder eine größere Sandbank, eine Beschreibung, die auf das wirkliche Lampedusa ganz offensichtlich nicht zutrifft. Dort gibt es sogar einen Flugplatz, von dem aus „viele hundert Menschen“ am Tag unschwer auszufliegen wären. Wenn das denn wer wollte, der_die Flugzeuge hat.

Nachtrag (2023-09-21)

Ah… hier hat mich der Furor hingerissen. 1 km² sind nicht zehn, sondern hundert Hektar, und mithin wären die 0.01% nicht zwei, sondern 20 Hektar, wie hend unten ganz richtig bemerkt, und das beginnt schon, eine Insel zu werden. Vielen Dank für die Korrektur, die angesichts meines mokanten Spottes um so willkommener ist.

Bei Debatten, die bereits von hysterischem Panikkeuchen geprägt sind – in den Informationen am Morgen heute zähle ich nicht weniger als fünf Beiträge zur Migration über das Mittelmeer – darf mensch, so finde ich, auch im turbulenten Redaktionsalltrag Sorgfalt auf einen Faktor fünf erwarten. Noch besser ist es natürlich, sensationsheischende Aufmacher dieser Art ganz zu lassen, jedenfalls bei Themen, um die sowieso schon ein dichter Nebel reaktionärer Phantasmen wabert.

Eine realistische Betrachtung

Wie wäre es stattdessen mit der viel ruhigeren Abschätzung, was diese 8'500 „zusätzlichen“ Menschen in Lampedusa eigentlich für die EU als Ganze bedeuten?

Eine nützliche Art, sich Demographie zu vergegenwärtigen, ist die Einsicht, dass Menschen knapp 100 Jahre alt werden – um einen Faktor zwei darf mensch bei qualitativen Argumenten immer danebenliegen, nur halt nicht um einen Faktor 100. Das heißt aber, dass in einer mehr oder minder zufällig aus einer mehr oder minder stabilen Gesamtpopulation gezogenen Gruppe jedes Jahr etwas mehr als 1% der Menschen sterben bzw. geboren werden – oder jeden Tag etwas wie ein Mensch von 30'000. In einer Stadt wie Heidelberg (160'000 EinwohnerInnen, nicht drastisch viel jünger oder älter oder ärmer oder reicher als der Rest der Republik) sollten also jeden Tag eine Handvoll Menschen geboren werden und in einer ähnlichen Zahl auch sterben.

Die EU hat nun rund 500 Millionen EinwohnerInnen. Mithin bringen die Frauen in der EU, stabile Bevölkerungszahl angenommen, jeden Tag 5⋅108 ⁄ 3⋅104 oder etwas wie 15'000 Menschen zur Welt. Das war von der Größenordnung her auch schon vor 20 Jahren so, und damit müssten „wir“ ohnehin dafür sorgen, dass jeden Tag 15'000 Menschen zum Beispiel eine Wohnung finden (wenn sie mit um die 20 ausziehen wollen). Die „täglich viele hundert Menschen“ aus Heinleins atemloser Anmoderation fallen in dieser Menge nicht weiter auf – außer vielleicht durch ihr Äußeres, aber selbst das dürfte ein Problem der Vergangenheit sein.

Nachtrag (2023-12-22)

Um die Fluchtbewegungen in ein Verhältnis zu diesen 15'000 pro Tag zu bringen: Eurostat berichtet für den August 2023 - also etwa die Zeit des DLF-Beitrags – von „über 91 700“ Erstanträgen auf Asyl in der EU, also immerhin 3000 am Tag; beeindruckend, dass es doch so viele hinkriegen. Damit würden, wenn die schließlich Asylrecht bekämen (was deprimierend selten der Fall ist), 20% mehr Menschen (sagen wir) Wohnung suchen als ohne diese Sorte Einwanderung. Das ist mehr, als ich per Bauchgefühl vermutet hätte, aber sicher auch kein qualitativer Sprung.

Zugegeben klappt das mit dem Obdach für die „eigenen“ 15'000 Menschen in der EU und ihrem Wohnungsmarkt schon ganz ohne Migration ziemlich schlecht; Marktwirtschaftsgläubige mag es daher freuen, wenn für die Wohnmisere gerade der Ärmeren andere Schuldige als der offensichtliche (Tipp: in „Wohnungsmarkt“ ist der Teil mit „Wohnung“ der, den mensch haben will) zur Verfügung stehen. Aber die sinnvolle Nutzung von Rohstoffen, Arbeitskraft und Fläche, um Menschen freundlichen Wohnraum zu geben oder diesen jedenfalls nicht zu zerstören – das ist schon wieder ein weites Feld für möglicherweise kalkulierte Dyskalkulie.

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