Was die Submikrometer-Filtermasken nach N95 [in der EU: FFP2] angeht, illustriert dies viele der logistischen und planerischen Probleme, die die Antwort [auf den Krankheitsausbruch] im Großraum Toronto unterminierten. Unmittelbar nach dem Ausbruch war die Nachfrage nach Masken verständlicherweise groß; die kanadischen Lieferanten waren, da sie zuvor keinen Vorrat angelegt hatten, rasch ausverkauft. Krankenhäuser mussten sich bei ausländischen Herstellern vesorgen, aber wegen der weltweiten Bedrohung durch SARS war es sehr schwierig, Masken aus anderen Ländern zu beschaffen.
Das ist kein Text von 2020. Dieser Text wurde (ausweislich der spätesten Zitate) kurz nach 2005 geschrieben und ist in dem 2011 erschienenen Band „SARS from East to West“ von Olsson et al enthalten, von dem ich letztes Wochenende erzählt habe. Wann immer ich eine hinreichende Bürokratesischtoleranz – wenn ihr die Textbeispiele hier modulo meiner Übersetzung bröselhölzern findet: der Rest des Buchs ist schlimmer – aufgebaut habe, gebe ich mir weitere Kapitel, und jetzt gerade habe ich Kapitel 6 gelesen. Darin beschäftigen sich Dan Markel und Christopher Stoney mit dem SARS-Ausbruch im Großraum Toronto, der Greater Toronto Area (GTA).
Mensch sollte dabei im Kopf haben: Nach heutigen Maßstäben war der SARS-1-Ausbruch von 2003 winzig. Es gab nur zwischen Ende Februar und und Anfang Juli überhaupt Fälle außerhalb von Guangzhou, und in Kanada, dem mit Abstand am schwersten betroffenen Land im „Westen“, wurden am Ende 251 Fälle mit 43 Toten gezählt. Das ist, grob gesagt, ein zehntel Promille von SARS-2. Faktoren wie 10 − 4 illustriere ich immer gerne mit Zeit: Wenn SARS-2 ein Jahr ist, ist SARS-1 eine Dreiviertelstunde.
Lokal allerdings kam es doch zu messbaren Inzidenzen, denn die große Mehrheit der kanadischen Fälle waren Folge der ursprünglichen Einschleppung aus Zimmer 911 und konzentrierten sich daher um Toronto herum. Trotz der dramatisch anderen Größenordnungen muss es sich nach Darstellung von Markel und Stoney dort ziemlich angefühlt haben wie in der BRD im März 2020, bevor der Podcast mit Christian Drosten online ging:
Die Unfähigkeit, Information zutreffend und wirkungsvoll zu veröffentlichen, fachte Verwirrung und Panik an: War SARS infektiös oder nicht? Konnte man sich wie bei einer Erkältung anstecken oder nicht? War SARS unter Kontrolle oder nicht? Im Ergebnis wurden bei den täglichen Pressekonferenzen zu viele Meinungen über das aktuelle Geschehen öffentlich geäußert.
Leider diskutiert das Buch nicht, was die Medien anschließend mit den Themen aus den Pressekonferenzen gemacht haben, denn ich wäre überrascht, wenn in Kanada die Murdoch-Presse nicht ähnlich verheerend gewirkt hätte wie hier die Springer-Presse. Die schlimmste Presse-Schelte, zu der sich die Autoren des Kapitels durchringen konnten, ist:
Die sich aus den Schwierigkeiten bei der Informationsverbreitung ergebende Verwirrung und Fehlinformation verschäfte sich noch durch permanente Anfragen, 24 Stunden am Tag, Minute für Minute. Dies war eine wesentliche Behinderung der Bemühungen einer kleinen, überarbeiteten Belegschaft dabei, die zur Bekämpfung von SARS nötige epidemiologische Information zu sammeln, zu analysieren, zu interpretieren und zu verteilen.
Auch das Lamento über schlechte EDV-Infrastruktur klingt wie vom letzten Jahr:
Das Fehlen eines effektiven Überwachungssystems auf Provinz- wie gesamtstaatlicher Ebene, einer gemeinsamen Datenbank und eines gemeinsamen Informationssystems für meldepflichtige Infektionskrankheiten hat die Versuche unterminiert, Bedürfnisse zur Datensammlung zu befriedigen und die rasche Meldung von Infektionstätigkeit sowohl zwischen als auch innerhalb von Verwaltungseinheiten zu erleichtern.
Tatsächlich hat jede der vier Public Health-Stellen innerhalb des Großraums Toronto ihr eigenes Erhebungssystem entwickelt und band sich fest an jeweils spezifische und unverträgliche Erhebungs- und Auswertungsmethoden, obwohl das erhebliche Probleme verursachte.
Angesichts der mikroskopischen Zahlen frage ich mich ein wenig, wie diese Leute Zeit hatten, sich in ihre jeweiligen Systeme zu verlieben, denn bei allenfalls ein paar hundert Fällen insgesamt konnten diese ja wohl nicht viel genutzt worden sein; aber gut, wenn noch ein paar tausend Quarantänefälle dazu kommen…
Vielleicht sind die kleinen Zahlen auch der Grund, warum dort nicht aufgefallen ist, was nach zwei Jahren SARS-2-Surveillance längst auf der Hand liegt: Wichtiger als die Totalerfassung und der rasche Umgang mit großen Datenmengen ist eine wohldefinierte Datenerhebung. Blind alle Fälle zählen („Inzidenz“) sagt ganz offenbar nichts, wie allein schon der Vergleich von diesem Januar (eigentlich ziemlich cool bei 1500/100'000) mit dem vor einem Jahr (ziemliches Gemetzel bei 250/100'000) zeigt. Um zu einer irgendwie sinnvollen Einschätzung des Geschehens zu kommen, braucht es zumindest noch Daten zu Vollständigkeit, Alters- und Sozialstruktur, Virusprofil, Impfstatus und Übertragungswegen, sehr wahrscheinlich noch deutlich mehr.
Da eine Vollerfassung dieser Daten nicht nur praktisch unmöglich wäre, sondern auch ein Datenschutzalptraum würde, so dass wiederum viele Menschen – wahrscheinlich auch ich – das Ergebnis durch kleine Lügen unbrauchbar machen würden, wäre es rundherum viel hilfreicher, ein (relativ) kleines Sample zu ziehen, dessen Bias gut untersucht ist. Dieses könnte dann unter sorgfältiger Datenschutzkontrolle genau studiert werden, gerade im Hinblick auf die tatsächlichen Infektionsketten, deren Kenntnis ja z.B. zur Beurteilung der wirklich nützlichen „Maßnahmen“ letztlich entscheidend wäre. Das große Vorbild für eine hochnützliche „small data“-Operation in diesem Bereich ist die AGI-Surveillance, von der ich Ende Januar schon mal geschwärmt habe.
Jedenfalls: irgendwas in der Art von „Wir saßen auf einem Berg schlechter Daten und hätten eigentlich einen Klumpen guter Daten gebraucht“ hätte ich halb erwartet, und das kommt bei Markel und Stoney nicht. Vielleicht wegen der kleinen Zahlen, vielleicht, weil meine Überlegungen im Public Health-Bereich nicht zutreffen, vielleicht, weil die Leute andere Sorgen hatten.
Ein für PolitologInnen naheliegendes Thema für Sorgen könnten die länderfürstlichen Stunts sein, zuletzt spektakulär die faktische Aussetzung der Impfpflicht von Beschäftigten im Gesundheitswesen durch Markus Söder. Auch sowas gab es schon 2003 in Kanada:
Unstimmigkeiten zwischen den Zuständigen auf Gemeinde- und Provinzebene führten auch zu Doppelungen von Verantwortlichkeiten und Aufgaben. [...]
Daher blieb unbeanwortet, wer die verantwortlich war für: die Klassifikation eines Falls; die Erteilung von Anweisungen an Krankenhäuser; die Festlegung von Konsequenzen, wenn die Anweisungen nicht befolgt wurden; die Bestimmung, welche Daten von wem an wen übertragen werden müssen; die Definition, welche Daten in welchem Ausmaß und zu welchem Zweck zwischen öffentlicher Verwaltung und privaten ExpertInnen ausgetauscht werden dürfen; die Benachrichtigung von Verwandten, dass einE AngehörigeR als ein wahrscheinlicher Fall klassifiziert wurde; die Abwägung, ob Datenschutzrechte der Informationsweitergabe, die zur Kontrolle und Verhütung der weiteren Ausbreitung von SARS nötig war, entgegenstehen.
Auch die verbreitete Erfahrung – gerade bei Lehrkräften an Schulen, aber auch unsere Vewaltung an der Uni hat häufig geseufzt –, nach der die Vorstellungen der Mächtigen, was nun gerade gelten sollte, wahlweise am Vorabend oder gar nicht ankamen, ist nicht neu:
Tatsächlich wurden die Menschen, die an der Gesundheitsfront und/oder in Hochrisiko-Umgebungen, etwa Bildungseinrichtungen, Gemeindezentren, Altenheimen, kirchlichen oder privatwirschaftlichen Einrichtungen arbeiteten, nie direkt über wichtige Entwicklungen informiert.
Nach all dem: Haben diese Untersuchungen der kanadischen Regierung geholfen, mit SARS-2 besser fertig zu werden als andere westliche Länder, die ja keine nennenswerten Erfahrungen mit SARS-1 hatten?
Leider ist Kanada nicht von Aburto et al (vgl. Trifft die Menschen hart vom letzten November) betrachtet worden, denn wenn schon Metrik, dann fände ich die Lebenserwartung noch so mit die glaubhafteste. Leicht zu haben sind aber wie immer Inzidenzen und Todesfälle. Nach den Zahlen der WHO hat Kanada aktuell 3'261'911 gezählte SARS-2-Fälle (8.5% der Bevölkerung), von denen 36'254 tödlich verliefen (95/100'000). Für die BRD werden dort 14'399'012 (17%) bzw. 122'371 (140/100'000) berichtet.
Nun sind solche Zahlen wegen der unterschiedlichen Erfassungsmethoden und -situationen und noch mehr angesichts der drastisch unterschiedlichen Siedlungs- und Sozialstrukturen nicht sinnvoll vergleichbar, die Aussage jedoch, die Betroffenheit von Kanada und der BRD werde sich kaum um viel mehr als einen Faktor zwei unterscheiden, wird ungefähr hinkommen; die Fallsterblichkeit sieht in diesen Zahlen in Kanada sogar höher aus als in der BRD, was ich angesichts einer etwas jüngeren Bevölkerung dort gewiss nicht erwartet hätte.
Dass all die Erfahrung, all das Nachdenken, offenbar nicht mal einen Faktor zwei gebracht hat und am Ende die Regierung überrascht und hilflos auf Proteste gegen Infektionsschutz reagiert: Das würde mich deprimieren, wäre ich im Public Health-Bereich unterwegs. Und auch so dämpft es meine Erwartungen im Hinblick auf die Behandlung künftiger Pandemien.
Allerdings ist das auch in etwa so zu erwarten, nimmt mensch ernst, was Markel und Stoney recht weit am Anfang ihres Beitrags geschrieben haben:
Der Hauptgrund der Handlungsunfähigkeit der Regierung liegt im politischen Gesamtklima und kann auf die lautstarken Forderungen nach billigeren Formen von Staat in den 1990er Jahren zurückgeführt werden.
Kurz: Die Marktradikalen haben die SARS-Kranken umgebracht. Das ist sicher ein klein wenig überverkürzt, aber doch keine völlige Missrepräsentation der Autoren, und ich denke, in mancher Hinsicht haben sie damit auch ganz recht. Völlig daneben lagen sie leider jedoch mit ihrer impliziten Erwartung (aus dem Jahr 2005), der Marktradikalismus sei ein Phänomen der 1990er gewesen.
Zitiert in: Vom Nutzen der Diversität