Ich fletsche hier ja regelmäßig die Zähne in Richtung von allerlei Metriken, also Zahlen, die (meist) Unmessbares messen sollen und damit in aller Regel Politiken rechtfertigen, die schlecht sind für die, bei denen diese ankommen.
Der ganz große Klassiker im Metrik-Geschäft ist das Bruttosozial- oder -inlandsprodukt (BSP bzw. BIP), dessen Wachstum im allgemeinen Bewusstsein als Synonym für wachsenden Wohlstand gilt, zumal in seiner Form als BIP pro Kopf. In Wirklichkeit versucht die Metrik zu messen, wie viele „Waren und Dienstleistungen“ (womit es schon losgeht: was ist das?) „hergestellt“ (realistisch: verkauft) werden, und zwar von StaatsbürgerInnen (BSP) oder innerhalb der Staatsgrenzen (BIP).
Das Bruttosozialprodukt und der Krieg
Dass das BIP wesentlich mit Wohlstand korreliert sei, ist offensichtlich falsch – selbst die Produktion von Wohlstandsvernichtern wie Autos und anderen Waffen erhöht das BIP –, und das wurde auch schon breit kritisiert. Der entsprechende Abschnitt in der Wikipedia ist nach Maßstäben diese Genres eher zahm.
Diese Klarstellung im Hinblick auf Wohlstand ist wichtig, aber etwas unfair, denn, a propos Waffen: Historisch sollte das BSP das mit dem Wohlstand gar nicht machen. Besonders aufschlussreich in der Hinsicht fand ich einen Artikel in der taz vom 2.5.2015, der daran erinnerte, dass sich das BSP in seiner heutigen Form vom Gottseibeiuns der Marktradikalen, John Maynard Keynes, in einem Artikel mit dem sprechenden Namen How to Pay for the War ersonnen wurde und sich letztlich als Metrik der wirtschaftlichen Kriegsfähigkeit durchgesetzt hat. Die taz-Autorin Ulrike Herrmann implizierte 2015, dass das BSP dafür offenbar taugte, denn es hat ja die Keynes-Seite gewonnen – mehr kann mensch von einer Metrik nicht erwarten.
Ich selbst glaube zwar nicht, dass BSP-Rechnungen auf Seiten der Nazis irgendwas am Kriegsverlauf geändert hätten, aber für meinen nächsten Gedanken will ich trotzdem mal annehmen, das BSP sei im zweiten Weltkrieg eine kriegsnützliche Metrik gewesen. Von dort aus möchte ich behaupten, dass es unter Bedingungen weitgehender reproduktiver Selbstbestimmung allenfalls noch sehr kurzfristig für die Bewertung der Kriegsfähigkeit taugt. Solange sich nämlich in Kriegen immer noch in erster Linie junge Leute (statt, sagen wir, Roboter) erschießen, braucht es für deren Führung hinreichend Nachwuchs. Den immer noch dominierenden Modus der Reproduktion, unbezahlte Arbeit von Müttern an ihren Kindern, erfasst das BIP jedoch nicht.
Als das Konzept entstand, war die Vorstellung klarerweise, dass Frauen ganz von selbst Kinder kriegen und aufziehen. Das stimmt nicht mehr, und daher wäre mein Rat an die BIP-MacherInnen: Wenn euer BIP weiter wie gehabt funktionieren soll, müsst ihr auch die Herstellung von Kindern verrechnen.
Tatsächlich wäre es überhaupt kein Stilbruch, sowas irgendwie ins BIP reinzufummeln. Denn natürlich weiß niemand, wie viel wirklich verkauft oder gar hergestellt (denkt an all die handgestrickten Babysachen, von denen keine Statistikbehörde je erfahren wird) wird, und die Grenze zwischen Ware und Nicht-Ware ist ziemlich beliebig. Gewiss, das Steueraufkommen ist ein brauchbarer Indikator, aber mehr eben nicht. Viele Variablen liegen zwischen dem und irgendwelchen Gesamtproduktions- oder Einkommensziffern. Auch auf der legalen Seite der Demarkationslinie zur Schwarzarbeit passiert viel Austausch, ohne dass davon irgendwer etwas mitbekommt.
Mit solchen Gedanken im Kopf habe ich vor einiger Zeit GDP: A Brief but Affectionate History von Diane Coyle (Princeton 2014; gibts bei der Imperial Library of Trantor) mit viel Interesse gelesen. Darin geht es zum Beispiel um die Beliebigkeiten in den BIP-Berechnungen (englisch Gross Domestic Product oder GDP) – der Klappentext erwähnt Ausschläge von 60% über Nacht für Ghana –, ebenso wie über die historischen Diskussionen, was alles zum „Volkseinkommen“ gehören soll: Kriegsausgaben? Staatsausgaben überhaupt? Gesundheitsausgaben? Oder in dem Bereich vielleicht nur Pillen, nicht aber die Arbeit von ÄrztInnen? „Dienstleistungen“ (was immer das ist) an sich, und wenn ja, wie bewertet?
Dennoch: Kopfzahlen
Die tatsächlichen Regeln für die Berechnung von BIP-artigen Metriken sind also im Gegensatz zur munteren Betrachtung in der Wikipedia in weiten Bereichen biegsam. Zwar mag eine genaue und ehrliche Zweckbestimmung helfen, die eben aufgeworfenen Fragen, sagen wir, intersubjektiv zu beantworten, aber letztlich ist das Konvention, und selbst für das BIP in der Keynes-Definition ist da viel zu vereinbaren. Die international offenbar populärste Konvention stellt Coyle vor, namentlich das System of National Accounts, das sich in den vergangenen siebzig Jahren von fünfzig auf 722 Seiten aufgebläht hat.
Das allerdings schafft schon wieder Beliebigkeit. Aus meiner Erfahrung mit 50-seitigen Standards, für die nach einer Weile Validator-Programme verfügbar wurden (und zeigten, dass notdürftig funktionsfähig aussehende Dienste voll mit Fehlern waren), kann ich zuversichtlich sagen: Solange es keinen rechnergestützten Validator gibt (und das ist hier bis zur Erfindung starker KI eigentlich undenkbar), sind 722 Seiten voll Regeln so gut wie überhaupt keine Regeln: Das System ist fast sicher in sich höchst widersprüchlich, und auch mit dem besten Willen (der nur bei wenigen Statistikbehörden und Ministerien vorausgesetzt werden darf) werden Menschen ständig Fehler machen.
Wie auch immer: Als Kopfzahl ist es ja vielleicht trotzdem ganz nützlich zu wissen, dass das BIP der BRD laut IWF 2019 knapp 4 Billionen Dollar betrug, das der USA etwas über 20 Billionen Dollar und das eines ordentlichen und großen Trikontstaats wie z.B. Nigeria 500 Milliarden Dollar. Sicher sind diese verschiedenen Dollars nicht annähernd vergleichbar, aber die Zahlen taugen doch für schnelle Überschlagsrechnungen, wenn verkündet wird, der Börsenwert von Apple sei jetzt, was, zwei Billionen Dollar (etwa: die AktionärInnen von Apple könnten für ein halbes Jahr die BRD leerkaufen und Nigeria für vier Jahre), oder wenn die Frage ist, wie viel der Bund mit einem Bundeshaushalt von (außerhalb von Corona) 350 Milliarden Euro an „den Märkten“ reißen kann – natürlich immer mit der Maßgabe, dass über Messfehler, Umrechnungen, Inflationsanpassung und so fort da schnell ein Faktor zwei dabei ist.
Persönliche Inflation
Der größte Unsicherheitsfaktor innerhalb der Serie einer Behörde wird wahrscheinlich die Inflationsanpassung sein, angefangen dabei, ob sie vorgenommen wurde oder nicht. Erstens ist sie ein exponentieller Effekt. Nehmen wir mal an, dass die Inflationsrate im Schnitt bei den 2% pro Jahr liegt, die diverse Zentralbanken gerne hätten, und dass sie tatsächlich ein Maß ist, wie viel mensch so kaufen kann. Nach der Königsformel „Verdoppelungszeit ist 75 Zeiteinheiten[1] durch prozentuale Rate“, liegen inflationsbereinigte und rohe BIPs schon nach 37 Jahren um einen Faktor zwei auseinander.
Nun liefert aber auch eine Bereinigung um Inflation und Währungseffekte kaum Zahlen, die mit Erfahrungen von Konsummöglichkeiten korrelieren. Seht etwa die nach PPP bereinigten historischen Vergleichswerte zum BIP an: Es ist abwegig, dass sich irgendeine Sorte von „gefühltem“ Konsum für der BRD zwischen 1990 und 2019 von 1437 auf 4672 Milliarden Äquivalent-Euro verdreifacht haben soll. Wer damals schon gelebt hat, wird sich erinnern, dass sich – abgesehen davon, dass es noch keine SUVs und nur wenig Mobiltelefone gab – das allgemeine Konsumniveau hier im Land nicht wesentlich geändert hat.
Zweitens also ist die Inflation selbst eine wacklige Größe, womit ich endlich zum Link komme, der mich zur vorliegenden Diatribe inspiriert hat, weil ich ihn verkopfzahlen wollte: Labournet berichtet, dass rund die Hälfte der 8.4 Millionen MieterInnen in deutschen Großstädten mehr als 30% ihres Einkommens für Miete augeben müssen. Das fand ich schon für sich relevant, ich wollte aber vor allem den Punkt machen, dass solche Leute bei explodierenden Mietpreisen eine weit höhere Inflation haben werden als Menschen, die keine Miete zahlen müssen.
Da VermieterInnen in der Regel eher reich und MieterInnen in der Regel eher arm sind, bedeuten Mieten, die stärker steigen als die Inflation, eine Art kalte Umverteilung von unten nach oben bei gegebenem BIP (ob pro Kopf oder anders). Die Inflationsschätzung basiert ja auf einem Warenkorb, den das statistische Bundesamt (Destatis) zusammenstellt, und wenn Leute viel mehr für Miete ausgeben als im Warenkorb repräsentiert und die Mieten viel stärker steigen als die Preise im Rest des Warenkorbs, ist ihre „persönliche Inflation“ viel höher als die Zahl aus den Nachrichten. Die BIP-pro-Kopf-Metrik nicht nur wegen ungleicher Einkommensverteilung zweifelhaft, sondern auch, weil sie obendrauf noch eine innere Kaufkraftkorrektur bräuchte.
Das hatte ich nun auf der Basis der rasant steigenden Mieten illustrieren wollen und habe auf den Seiten des Statistischen Bundesamts herumgestöbert, um mein Gefühl zu erhärten, dass Mieten weit über der Inflation steigen. Das Gefühl hat seine Grundlage in meinem persönlichen WG-Zimmer-Index für Heidelberg. Ausweislich durchschnittlicher Aushänge würde ich für 1990 den mittleren Kurs etwa bei 150 Euro sehen, inzwischen eher bei 500 Euro (unter Annahme der DM-Euro-Konversion von 2001). Die Mieten hätten sich also in dreißig Jahren also gut verdreifacht, was einer Verdopplungszeit von 18 Jahren oder einer jährlichen Inflation von 75/18, also 4% entspricht; die berichtete Inflation lag in der Zeit von kurzen Phasen abgesehen jedoch deutlich unter 2 Prozent.
Nun, es stellt sich raus: Das Konzept der je nach sozialer Schicht verschiedenen Inflationsrate illustriert das Amt selbst recht schön und bietet sogar einen Rechner für die persönliche Inflationsrate an – Kompliment an dieser Stelle dafür, dass da ein SVG-Download angeboten wird (wie überhaupt die Webseite den Eindruck hinterlässt, dass hier Leuten mit Verstand und Spaß bei der Sache relativ freie Hand gelassen wird).
Dieser Dienst liefert mit ein paar Klicks die Grafik am Artikelanfang. Zumindest zwischen 2015 und 2021 – als ich wegen des billigen Geldes eigentlich die drastischste Auseinanderentwicklung von allgemeinen und Mietpreisen erwartet hätte – haben sich Mieten eigentlich erstaunlich parallel zu den sonstigen Preisen entwickelt.
Kein Problem also?
Logisch: mein Gedanke ist damit nicht völlig vom Tisch. Erstens ist schon nicht klar, wie gut die Mieten hier überhaupt erfasst werden, auch wenn mir das Paper Schätztechniken des Mietniveaus der Destatis-Leute auf den ersten Blick nicht unvernünftig erscheint. Zweitens sind hier Großstadtmieten zusammengemischt mit Mieten am Land, so dass meine Schätzung von 4% pro Jahr für Heidelberg durchaus hinhauen mag, zumal wenn VermieterInnen am Land gar keine Mieterhöhungen durchsetzen können sollten. Für mein Argument einer Umverteilung von unten nach oben aber geht es eben nicht um Großstädte, sondern um die, ach ja, volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, wie sie Destatis hier aufmacht. Und drum hilft mir dieses Argument nicht.
Wer das etwas quantitativer haben will, kann ins Genesis des Amtes gehen. Dort lässt sich der Preisindex für Nettokaltmieten z.B. für Baden-Württemberg direkt ablesen. Er ist zwischen 2005 und 2019 von 86,9 auf 106.9 gesteigen (also um 23%), während die Verbraucherpreise insgesamt in dem Zeitraum von 86.6 auf 105.7 (also um 22%) gestiegen sind. Erst von 2019 auf 2020 haben die Mieten richtig abgehoben, auf einen Index von 109 gegenüber 106.4; da jedoch würde ich vermuten, dass die besonderen Coronaverhältnisse die Destatis-Schätztechniken stören.
Gegen diese Entwarnung steht die Info aus der Warenkorb-Seite der Wikipedia, nach der sozusagen die Warmmiete 1995 noch 27.5% des Warenkorbs ausmachte, 2015 aber schon 32.5%. Wenn die Analyse von oben, nach der Kaltmieten im Wesentlichen wie die anderen Preise steigen, richtig ist, müssten die fünf Prozentpunkte Anstieg fast vollständig aus den Nebenkosten kommen. Gerade angesichts der wachsenden Rolle von Kapital- und damit Grundmärkten in dieser Zeit scheint das ausgesprochen unplausibel.
Wie immer bei solchen Experimenten bleibt: Wenn mensch genug weiß, um die Zahlen korrekt interpretieren zu können, braucht es auch die Zahlen nicht mehr.
Unterdessen ist es so oder so ein Skandal, dass gerade die Armen (die Hälfte der MieterInnen aus der Labournet-Meldung) mindestens 30% ihres Geldes direkt an Reiche abliefern müssen, nur damit sie nicht auf der Straße stehen. Und das bleibt festzustellen, ganz egal, wie es mit Bruttoinlandsprodukt und Inflation so aussieht.
[1] | Ich streite mich nicht um die 75; die Herleitung der Näherung führt auf gut 69, und es gibt offenbar eine Tradition, die da lieber eine 72 draus macht (vgl. 72er-Regel bei der Wikipdia). Zur Ableitung der simplen Regel braucht es in jedem Fall die Näherung log(1 + x) ≈ x, und die wird für größere x (sagen wir, 30) zunehmend schlechter. Aber ob jetzt bei einem Wachstum von 3% die Verdoppelungszeit 23.5 Jahre (ohne Näherung), 24 Jahre (72er-Regel) oder 25 Jahre (75er-Regel) ist, spielt praktisch nur selten eine Rolle. |
Zitiert in: Dialektik der Ökonomie Vorbildliches Friedrichstadt