Im Hintergrund Politik vom 2.2.2022 am Deutschlandfunk war zu hören:
[Die „Stabilitätsorientierung“ der Bundesbank] hat auch historische Gründe: Die Erfahrungen der galoppierenden Inflation zum Ende der Weimarer Republik prägen die Deutschen auch fast ein Jahrhundert danach noch.
Das ist sachlich falsch. „Zum Ende der Weimarer Republik“ herrschte Deflation. In der Tat trug diese auch nach Einschätzung konservativer Wirtschafts„wissenschaftler“Innen ganz gewiss dazu bei, dass die Weltwirtschaftskrise im Gefolge des Schwarzen Freitags ein gutes (na ja, schlechtes) halbes Jahrzehnt anhielt. Es war diese Beobachtung, die John Maynard Keynes zu seiner nach Maßstäben der Disziplin erstaunlich vernünftigen Wirtschaftstheorie brachte und auch den New Deal in den USA inspirierte.
Nun könnte mensch einen xkcd 386 aufrufen und weitergehen:
Aber ganz so einfach ist es hier vielleicht doch nicht, denn es schwingt in der Aussage ein höchst destruktiver Subtext mit, in etwa „die Inflation hat Hitler gemacht“. Nein: Die galoppierende Inflation im deutschen Reich fand 1923 statt und hatte im Wesentlichen nichts mit Wirtschaftspolitik zu tun, dafür aber viel mit durchgedrehtem Nationalismus auf mehreren Seiten (vgl. Ruhrbesetzung). Danach kam zunächst die auch rückblickend jedenfalls kulturell erstaunlich liberale Zeit der „goldenen Zwanziger“, während der NSDAP und DNVP zusammen bei Wahlen so im Bereich der heutigen AfD abschnitten.
Der Subtext von Faschismus-durch-Inflation ist an dieser Stelle fast sicher keine bewusste Manipulation, denn Brigitte Scholtis, die Autorin der Sendung, mag selbst Weltwirtschaftskrise und Inflation vermengt oder jedenfalls nicht darüber nachgedacht haben.
Er ist dennoch ein Symptom für die bleibende Lüge der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die NS-Herrschaft war kein Unfall, keine Folge von „wachsender Zerrissenheit der Gesellschaft“ oder gar der bolschewistischen Sowjetregierung. Nein, sie war offensichtlich Folge der Tatsache, dass die Eliten der Weimarer Republik in Justiz, Polizei, Militär, Wirtschaft und zu guten Stücken auch Politik (nicht jedoch in der Kultur) in ihrer überwältigenden Mehrheit völkisch, nationalistisch, autoritär und jedenfalls rabiat antikommunistisch dachten. Sie teilten das NS-Programm – eingestandenermaßen fast durchweg mit weniger eliminatorischem Antisemitismus – von Anfang an. Das war und ist eine unbequeme Wahrheit für die Befreiten von 1945 und danach, die sich ja sehr häufig in der Tradition dieser Eliten sahen.
Diese Wahrheit anzuerkennen würde helfen, solche scheinbar kleinen Fehler zu vermeiden – und auch ganz gewaltige Fehler wie die Extremismustheorie, die es ohne planmäßige Leugung dieser unschönen Geschichte vermutlich gar nicht gäbe.
Zitiert in: Zum Tag der politischen Gefangenen: Weimar und die wehrhafte Demokratie Noch bis 7.12. in Heidelberg: „Auftakt des Terrors“ über die ersten NS-Konzentrationslager Friedensforschung als Beruf Die 5-Prozent-Hürde illustriert Jede vierte Stimme nicht im Parlament vertreten