Zu den unangenehmsten Ecken im Heidelberger Verkehrsnetz gehört seit vielen Jahren die Mittermaierstraße. Auf ihr fahren Menschen vom Bahnhof und den südlichen Stadtteilen zum Uni-Campus im Neuenheimer Feld sowie in die nördlichen Stadtteile – und umgekehrt. Sie ist, seit ich in Heidelberg wohne, eine vierspurige Autostraße mit schmalen Randbereichen, die sich die ungepanzerten Menschen mal besser und mal schlechter teilen.
1995: Verriss mit kategorischem Imperativ
Das hat für die Autos nie gut funktioniert, aber noch weit schlechter für die Menschen. Schon 1995 habe ich in Nummer 104 des Studi-Blattes UNiMUT einen Verriss einer dämlichen Werbekampagne der Stadt veröffentlicht und die Mittermaierstraße als Leitsymptom für den ganzen Mist™ identifiziert:
Wer sich Radwege hier anschaut, wird merken, daß ihr Ziel nicht ist, das Radfahren sicherer zu machen. Es geht nur darum, den Autos freie Fahrt und möglichst viel Platz zu verschaffen. Wenn für Fußgänger und Radverkehr in zwei Richtungen etwa ein Meter von einer fünfzehn Meter breiten Straße übrigbleiben (prototypisch Mittermaierstraße), darf sich wohl keineR mehr wundern über Konflikte und die Tatsache, daß auf Radwegen mehr Unfälle passieren als auf der Straße.
Ich mag den Artikel übrigens bis heute, weil er einen – wenn ich das selbst so sagen darf und bis auf die Orthographie – immer noch hochaktuellen kategorischen Imperativ des Verkehrs formuliert:
Fahre so, daß die Maxime deines Fahrens Grundlage für einen ampelfreien Verkehr sein könnte.
1997: Kein Versammlungsrecht in der Mittermaierstraße
Die Mittermaierstraße hat auch für die Versammlungsfreiheit nicht funktioniert. Zur Mobil-ohne-Auto-Woche im Jahr 1997 wollte zum Beispiel ein munteres Fahrradbündnis auf dem damals noch einseitigen (in Richtung Neckar) Radweg für eine Stunde Protest-Minigolf spielen – in dessen Belag waren Löcher, die dafür prima geeignet gewesen wären. Leider hat die Versammlungsbehörde das untersagt und behauptete zur Begründung, die dafür notwendige Sperrung einer von zwei Richtungsfahrbahnen (irgendwo hätten ja die RadlerInnen hingemusst) für zu gefährlich zu halten.
Ich hatte damals vom Verwaltungsgericht Karlsruhe einstweiligen Rechtsschutz gegen diese mutmaßlich nicht allzu ehrliche Einschätzung erhofft. Doch wollte Gericht lieber nichts zum Verhältnis von Versammlungsfreiheit und Geradeausfahren sagen und hat sich darauf zurückgezogen, ich hätte nicht hinreichend dargelegt, dass für die Aktion bereits breit mobilisiert worden sei. Nun: das ist Lehrgeld für laienhaften Umgang mit dem Verwaltungsrecht. Wie im Zivilrecht üblich, ist es auch da nicht Job des Gerichts, die Wahrheit zu ermitteln; es soll nur die Argumente der beiden Seiten abwägen.
Immerhin ist ein Jahr darauf auch Richtung Bahnhof ein Radweg an der Mittermaierstraße eingerichtet worden – oder jedenfalls ein handtuchbreites Stück Bürgersteig, um das sich FußgängerInnen und Radfahrende seitdem streiten dürfen, während die Autos vierspurig vorbeitosen.
Besonders ätzend: leider ist das Kreuzen der Fahrbahn selbst auf der Neuenheimer Seite so grässlich, dass nennenswert viele RadlerInnen auf der linken Seite Richtung Neckar fahren, um die doppelte Querung der Straße zu vermeiden.
Wenn eineR von denen das hier liest: bitte tut das nicht, es ist höchst nervig und, so, wie der Bürgersteig da nun mal aussieht, echt halsbrecherisch. Kämpft lieber dafür, dass der Bürgersteig am nördlichen Brückenkopf der Walzbrücke abgesenkt wird und RadlerInnen mit dem Autoverkehr ins Feld einbiegen können. Mit einem Tempo 30 auf der Walzbrücke wäre das viel weniger nervenzerfetzend als die Rallye gegen den Strom.
2017: Sackgefährlich, aber nicht gefährlich genug für Tempo 30
2013 zählte die Stadt auf der Straße zur (dort wirklich apokalyptischen) Rush Hour 1900 Autos pro Stunde, für 2017 vermutet sie, dass die Autofahrenden die 2000er-Marke gerissen hatten. Ich merke kurz an, dass die rund 2000 Passagiere, die damit bewegt werden, einem gut ausgelasteten ICE entsprechen oder einer nicht unmenschlich vollen Straßenbahn alle drei Minuten (ein moderner Niederflurwagen hat 84 Sitzplätze und ist ausgelegt für bis zu 240 Sardinen). Um das in Relation zu setzen zum aktuellen Tosen, stellt euch jetzt ein Za-Bimmel vor (das war eine Straßenbahn). Dann zählt bis 180. Und dann erst käme das nächste Za-Bimmel.
Die Verkehrszahlen kommen aus der Drucksache 0017/2017/IV der Stadt Heidelberg, in der sich das Amt für Verkehrsmanagement herauszufaseln versucht aus der an sich klaren Reparatur des Problems, nämlich einer gerechteren Verteilung des Verkehrsraums, besser bekannt als Fahrradstreifen, oder noch besser einer gemeinsam langsamer genutzten Straße. Dabei zeigt sich, dass die Mittermaierstraße auch für stringente Argumentation nicht funktioniert, denn einerseits führt das Papier aus:
Nach der VwV zu §2 Absatz 4 StVO sollen benutzungspflichtige baulich angelegte Radwege möglichst 2,00 m und mindestens 1,50 m breit sein. Die Breiten der Radwege in der Mittermaierstraße erreichen das Mindestmaß nur abschnittsweise[1] […] Aufgrund der Bedeutung der Route wurde die nicht regelkonforme Radverkehrsanlage bisher beibehalten.
Die Verwaltung hat in Abstimmung mit der Verkehrspolizei geprüft, ob die Pflicht zur Benutzung der Radwege in der Mittermaierstraße aufgehoben werden kann bzw. muss. Aufgrund der besonderen Gefahrenlage wurde [davon] aber abgesehen.
Warum eine bedeutende Route das geltende Recht eher verletzen darf als eine unbedeutende, bleibt wenigstens mir dabei unklar, aber von der städtischen Darlegung festzuhalten bleibt (tonlose Drohstimme): Es ist da sackgefährlich.
Das gilt aber nur bis zum nächsten Abschnitt der Drucksache, in dem die Stadt prüft, ob mensch die Lage nicht wenigstens mit einer geeigneten Geschwindigkeitsbegrenzung entspannen könnte. Das klingt dann so:
[Nach diversen Gesetzen, Erlassen und Richtlinien kommt] eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h nur in Betracht, wenn konkrete Gefährdungen vorhanden sind. Dies kann der Fall sein, wenn deutliche Abweichungen gegenüber bestimmter Regelgrößen bei Fahrbahnbreite, Gehwegbreite, Längs- und Quergefälle der Fahrbahn, Sichtweiten und dergleichen vorliegen. Dies ist im gesamten Verlauf der Mittermaierstraße nicht der Fall.
Keine weiteren Fragen an die Behörde.
2023: Ein Moment der Entspannung
Nochmal sechs Jahre später hat jetzt die Radentscheid-Initiative in Heidelberg den Fahrrad-Schutzstreifen probieren dürfen. Jedenfalls am frühen Nachmittag wirkt das ziemlich entspannt (siehe das Foto oben). Ich möchte das schon gerne auf Dauer haben, wenn ich zum Bahnhof radele.
So eine Maßnahme könnte sogar ein Beitrag sein, das weitere Wachstum des Autoverkehrs endlich umzukehren. Darum führt sowieso kein Weg herum. Früher oder später werden wir den Irrweg Auto verlassen. Die Frage ist allein, wie viel wir vorher noch genervt werden.
Lasst mich zum Abschluss einen besonders netten Twist der ganzen Sache erwähnen: die Radentscheid-Ini hat auf eine tiefe Wahrheit hingewiesen, indem sie die Aktion (durchaus zutreffend) als Pop-up-Fußweg deklariert hat. In ihrem Aufruf heißt es:
Für Menschen, die auf der Mittermaierstraße zu Fuß in Richtung Hauptbahnhof gehen, sind die Gegebenheiten unannehmbar. Zu Fuß gehen ist hier nicht vorgesehen. Im Gänsemarsch geht es aufgereiht hintereinander her. Wer nebeneinander gehen, eine entgegenkommende Person passieren oder auch nur einen Rollkoffer mitführen möchte, muss notgedrungen auf den schmalen Radweg ausweichen
Das Tosen der Autos sorgt auch fast 30 Jahre nach meinem UNiMUT-Artikel immer noch für ganz einfach vermeidbare Konflikte. Zeit, das zu ändern.
Nachtrag (2023-12-23)
Inzwischen gibt es eine längere Auswertung des Radentscheids zu der Aktion.
[1] | Den Euphemismus „nur abschnittsweise“ für „so richtig gar nicht“ muss ich mir merken. |