Ich habe vorhin einen Beitrag zu den Wirkungen nicht-pharmazeutischer Maßnahmen gehört, der in der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell am dritten Juni lief. Darin hieß es:
Vielleicht sind die vielen Einflussfaktoren ein Grund, warum auf diesem Gebiet überhaupt wenig geforscht wird. Die Bessi-Collaboration zur Erforschung sozialer, Umwelt- und Verhaltens-Pandemiemaßnahmen zählt aktuell nur 18 veröffentlichte Studien aus diesem Bereich, aber 974 zu Impfstoffen oder Medikamenten.
Das hat mich daran erinnert, dass ich spätestens seit Oktober 2021 eine ziemlich grundsätzliche Lücke bei unserem Verständnis der Epidemiologie von SARS-2 gewittert habe, und zwar ganz unabhängig von meinen misslungenen Vorhersagen im letzten Herbst. Ich habe nämlich bis genau heute aufgrund von, Fanfare, Unabhängigkeitsargumenten für sehr unplausibel gehalten, dass sich die Varianten gegenseitig verdrängen. Lasst mich spoilern: Mein Instinkt, dass da was nicht stimmen kann, war falsch, Mensch soll einfach nie die Exponentialfunktion unterschätzen.
Aber langsam. Zunächst habe mir die R-Wert-Schätzungen des RKI vorgenommen. Zur Erinnerung: Der R-Wert soll sagen, wie viele Leute einE InfizierteR zu einer bestimmten Zeit im Mittel ansteckt; ist er konstant größer als eins, wächst die Inzidenz exponentiell, ist er konstant kleiner als eins, schrumpft sie exponentiell.
Ich möchte auf der Basis der R-Werte den Pandemieverlauf nacherzählen, um der Variantenverdrängung auf die Spur zu kommen. Dabei nutze dabei die Kurvenfarbe als Indikator für die geschätzte Inzidenz – beachtet, dass sowohl die Skalen auf dieser Hilfsachse als auch auf der Ordinate von Bild zu Bild drastisch verschieden sind.
Plausibler Anfang
Dabei habe ich mir nacheinander ein paar Phasen vorgenommen. Von März bis Juli 2020 konnte mich mir alles prima zusammenreimen:
Die unkontrollierte Infektion lief anfangs mit dem geschätzten R0 (also: wie groß ist das R ganz ohne Maßnahmen und Immunität?) der Wuhan-Variante (im Winter etwas wie 3) los, dann griffen die Maßnahmen, und wie sie nacheinander so griffen, fiel auch der R-Wert.
Ich war damals mit dieser Interpretation soweit glücklich, auch wenn Leute immer mal wieder an den Zeitskalen rumgemäkelt haben: Reagiert das nicht schon vor den Maßnahmen? Hätte das nicht schneller auf Schul- und Betriebsschließungen reagieren müssen? Zu letzterem Punkt zumindest ist einzuwenden, dass es einerseits zwei, drei Wochen gedauert hat, bis die Leute wirklich im Coronamodus waren. Andererseits sind für die Mehrzahl der Fälle auch nur Melde-, nicht aber Infektionszeitpunkte bekannt. Da diese ohne Weiteres um ein oder zwei Wochen auseinanderliegen können, wäre selbst eine scharfe Stufe in R in den RKI-Schätzungen weich ausgeschmiert; ein weiteres Beispiel übrigens für die Gefahren von Big Data.
Ein merkwürdiger Balanceakt
Gegen Ende des ersten Coronasommers kam mir aber schon komisch vor, wie sehr sich das effektive R immer ziemlich genau um die Eins herum hielt. Bei sowas Kitzligem wie einem Infektionsprozess, der davon lebt, dass sich immer mal wieder ein ganzer Haufen Leute ansteckt, ist es alles andere als einfach, diese Sorte von Gleichgewicht (es stecken sich in jeder Zeiteinheit ungefähr genauso viele Leute an wie gesund werden) zu halten – die Überdispersion der Wuhan-Variante soll was wie 0.1 gewesen sein, so dass vermutlich überhaupt nur ein oder zwei von zehn Infizierten zur Ausbreitung der Krankheit beitrugen (dann aber auch gleich richtig, also mit mehreren Angesteckten).
Unter diesen Umständen einen R-Wert von um die eins zu haben, ist ein Balanceakt ganz ähnlich der Steuerung eines AKW (das zudem nicht mit der Überdispersion zu kämpfen hat): mach ein bisschen zu wenig und die Infektion stirbt rapide aus (der Reaktor wird kalt); mach ein bisschen zu viel und du bist gleich wieder bei enormen Zahlen (der Reaktor geht durch). Dennoch hat sich der R-Wert (abgesehen vom Tönnies-Zacken Mitte Juni, der ganz gut demonstriert, was ich mit „kitzlig“ meine) im Sommer doch recht gut rund um 1 bewegt:
Was hat R so (relativ) fein geregelt? Sind die Leute in Zeiten ansteigender R-Werte wirklich vorsichtiger geworden? Und waren sie unvorsichtiger, wenn die R-Werte niedrig waren? Erschwerend im Hinblick auf so eine Regelung kamen zumindest im Juli und August nennenswert viele Infektionen nicht durch Reproduktion im Land zustande, sondern kamen mit Rückreisenden aus Gegenden mit höheren Inzidenzen. Wie das genau lief, ist aber wieder schwierig zu quantifizieren.
Mein erstes kleines Rätsel wäre also, warum die Inzidenz im Sommer 2020 über ein paar Monate hinweg im Wesentlichen konstant war. Im Herbst 2020 schien mir das eher wie eine Anekdote, zumal es recht erwartbar weiterging:
Die hohen R-Werte im Oktober sind überaus zwanglos durch Schulen, Betriebe und ganz kurz auch Unis mit allenfalls lockeren Maßnahmen bei lausig werdendem Wetter zu erklären. Der Abfall zum November hin wäre dann der „Lockdown Light“. Wieder mag mensch sich fragen, warum der Abstieg schon Mitte Oktober einsetzte, während der Lockdown Light ja erst Anfang November in Kraft trat, aber seis drum. Der nächste Buckel, hier schon in rot, weil mit für damalige Zeiten enormen Inzidenzen einhergehend, dürfte ganz grob Weihnachtsmärkte (Aufstieg) und deren Schließung (Abstieg; ok, es hat auch noch einige weitere Lockdown-Verstärkungen gegeben) im Dezember 2020 reflektieren.
Verdrängt oder nicht verdrängt?
Dass bei gleichbleibenden Maßnahmen der R-Wert ab Mitte Februar stieg, habe auch ich mir damals dadurch erklärt, dass die Alpha-Variante infektöser ist. Richtig schöne Grafiken dazu gibt es erst später, so etwa hier aus dem RKI-Wochenbericht vom 7.10 (der gerade nicht im RKI-Archiv zu finden ist):
Während der, sagen wir, ersten 13 Kalenderwochen des Jahres 2021 hat also Alpha den Wuhan-Typ im Wesentlichen kompett, nun ja, verdrängt. Und das schien mir bis jezt sehr unplausibel. Anschaulich gesprochen nämlich kann Alpha den Wuhan-Typ nur dann verdrängen, wenn die Varianten „sich sehen“, also überhaupt nennenswert viele Menschen, die der Wuhan-Typ infizieren möchte, schon zuvor Alpha gehabt hätten[1].
Das war im Frühling 2021 ganz klar nicht so. Der RKI-Bericht vom 16.4.2021 (in dem sich übrigens auch die damaligen Gedanken zu den Varianten spiegeln) spricht von rund 3 Millionen Infizierten. Plausible Dunkelziffern werden den Anteil der bereits mit SARS-2 (in der Regel noch nicht mal Alpha) Infizierten kaum über 10% heben. Die Wuhan-Variante kann also im Wesentlichen nichts von Alpha gesehen haben, und damit kann sie auch nicht verdrängt worden sein[2].
Mit einem zweiten Blick stellt sich heraus, dass es das auch nicht brauchte, denn unter den recht drakonischen Maßnahmen vom Januar 2021 – wir reden hier von der Zeit nächtlicher Ausgangssperren – hatte der Wuhan-Typ so in etwa einen R-Wert von 0.9 (das lese ich jedenfalls aus Fig. 3). Nun rechnet(e) das RKI den R-Wert in etwa so, dass er das Verhältnis der Infektionen in einem Viertageszeitraum zum vorherigen Viertageszeitraum angibt; der Gedanke ist, dass es (die „Serienlänge”) von einer Infektion bis zur Ansteckung in der nächsten Generation bei SARS-2-Wuhan sowas wie eben die vier Tage dauern sollte[3].
Unter der angesichts konstanter Maßnahmen wenigstens plausiblen Annahme eines konstanten R-Werts (gegen Ende des Zeitraums mag er wegen Wetter sogar noch weiter gefallen sein), kann mensch ausrechnen, dass nach 13 Wochen vom Wuhan-Typ nur noch
übrig waren, und weil bei hinreichend niedrigen Inzidenzen der Bestand eines im Wesentlichen ausbruchsgetriebenen Erregers wie der Wuhan-Variante eh schon prekär ist: Eigentlich reicht das schon, um das praktische Verschwinden der Wuhan-Variante ganz ohne Verdrängung durch Alpha zu erklären.
Zero Covid vs. die vierte Welle
Wenn das die Erklärung ist, wäre das in gewisser Weise eine gute Nachricht für die Zero Covid-Fraktion: Wir haben Corona schon mal ausgerottet, inzwischen sogar drei Mal, nämlich den Wuhan-Typ, Alpha und (wahrscheinlich) Delta. Die „Maßnahmen“ für die jeweils infektiösere Variante haben offenbar ausgereicht, ihre Vorgänger (praktisch) vollständig auszurotten. Damit wäre zwar immer noch nicht das Langfrist-Problem gelöst – denn global wird SARS-2 sicher nicht verschwinden –, so dass ich nach wie vor eifrig gegen Zero Covid argumentieren würde, aber ein lokales Ende von Corona haben wir offenbar schon mehrfach hinbekommen.
Gehen wir weiter in der Zeit:
Im Anlauf zur vierten Welle wird es unübersichtlich, weil nennenswert viele Menschen geimpft waren. Es mag sein, dass der Wuhan-Typ etwas empfindlicher auf die Impfung reagiert als Alpha, so dass es vielleicht glaubhaft ist, dass der R-Wert des Wuhan-Typs nicht wieder auf das „gut 1“ aus dem Sommer 2020 zurückgeschnappt ist, nachdem die Beschränkungen aus dem Winter 20/21 nach und nach wegfielen; dann wäre zumindest klar, warum der Wuhan-Typ nicht wiederkam.
Bei Alpha und Delta liegen die Verhältnisse wahrscheinlich komplizierter. Der Umschlag von Alpha auf Delta war noch schneller als der von Wuhan auf Alpha; abgeschätzt aus Fig. 4 vielleicht zwischen den Kalenderwochen 21 und 27. Davor, also im Juni, lag der R-Wert um 0.8, angesichts relativ entspannter Verhältnisse zu diesem Zeitpunkt vermutlich bereits eher durch Impfung als durch nichtpharamzeutische Maßnahmen bedingt. Sechs Wochen R = 0.8 bringen die Inzidenzen, immer noch unter der Annahme der Unabhängigkeit der konkurrierenden Infektionsprozesse, wiederum runter auf
– das Aussterben von Alpha kommt also erneut so in etwa hin, wenn mensch annimmt, dass Delta wirklich eine Ecke infektiöser ist. Das Tal im R-Wert Mitte September 2021 – es hat mir damals meine Kassandra-Show ruiniert – ist damit nicht erklärt; aber gut: vielleicht war es wirklich ein Aufholen der lokalen Delta-Inzidenzen zu dem, was Leute aus Urlaubsgebieten mitgebracht haben.
Auftritt: Omikron und Derivate
Was bleibt, ist die Entwicklung in der Omikron-Welle dieses Jahr:
Wer weiß, wonach zu suchen ist, sieht drei Hügel, wobei die ersten beiden wohl tatsächlich dem Original-Omikron und anschließend BA.2 entsprechen werden. Zum ersten Mal in der Pandemie würde ich daran glauben, dass sich hier die verschiedenen Stämme „sehen“, also in nennenswertem Umfang auf bereits von einer anderen Variante infizierte Menschen treffen. Der aktuelle RKI-Bericht spricht von „26.809.245“ Infizierten, was nach Murmeln von „Dunkelziffer“ (wer testet sich eigentlich noch, wenigstens gelegentlich mal?) selbst/ge nach Rausrechnen von Mehrfachinfektionen bei etwas zwischen 60 und 80% der Bevölkerung landen dürfte. Fast alle davon hatten zumindest ein Mal irgendein Omikron-Derivat.
Der dritte Berg, in der ganz aktuellen Jetztzeit, könnte schließlich eine beeindruckende Sommerwelle werden. Wir haben ja immer noch Wocheninzidenzen um die 300, so dass wir nach zwei Verdopplungszeiten wieder bei 1200 wären. Zwei Verdopplungszeiten sind bei einem R-Wert von 1.2 und einer Serienlänge von vier Tagen gut zwei Wochen (1.24 ≈ 4, mal vier Tagen sind sechzehn Tage). Vielleicht ist das sogar gut: Im November SARS-2 einfangen ist, behaupte ich, individuell blöder, und angesichts dann bestimmt vollerer Krankenhäuser wahrscheinlich auch gesellschaftlich weniger wünschenswert.
Aber zunächst: Mein Gefühl, dass wir bei der Infektionsdynamik was Wichtiges übersehen haben, war ziemlich sicher falsch. Die alten Varianten sind (bis möglicherweise auf Delta) nicht von den neuen verdrängt worden. Sie kamen nur nicht mit den Maßnahmen zurecht, die wir zur Kontrolle der jeweils neueren Varianten ersonnen haben.
Und doch würde ich gerne verstehen, warum im Sommer 2020 der R-Wert immer so eng um die eins herumschmeichelte…
[1] | Die geeignete mathematische Formulierung wäre: Die Zufallsvariablen Inzidenz-Alpha und Inzidenz-Wuhan dürfen nicht unabhängig sein. Abhängig werden können sie aber nur durch eine kausale Kopplung. Was auch nur das anschauliche Argument wiederholt. |
[2] | Dieses Argument ist übrigens nicht ganz so zwingend wie es scheinen mag. Es baut nämlich darauf, dass sich die Infektionen im Wesentlichen gleichmäßig über die Bevölkerung verteilen. Das tun sie natürlich nicht, die Armen waren zu dem Zeitpunkt weit überrepräsentiert unter den Genesenen. Ich gestehe, dass bis zum Nachrechnen meine Gedanken eher in diese Richtung gingen: Wenn Corona sich im Wesentlichen unter den 10% Ärmsten abspielt, dann würden sich die verschiedenen Varianten sehr wohl auf den Zehen herumstehen, obwohl nur 10% der Bevölkerung überhaupt SARS-2 hatten. Ich will gar nicht sagen, dass Verteilungseffekte dieser Art überhaupt keine Rolle beim Verschwinden der jeweils alten Varianten gespielt haben. Mein Punkt ist nur: Es braucht sie im Wesentlichen nicht. |
[3] | Es war für Omikron mal im Gespräch, die Serienlänge in der Berechnung des R-Werts zu senken, aber das RKI hat das, glaube ich, dann doch nicht gemacht. |