Ich sage es nicht gerne, aber: Entweder wir machen im Winter wieder einen Lockdown oder wir kriegen ein übles Gemetzel.
Ich hatte ja schon im Januar erzählt, warum ich die Intensivbelegung für die aussagekräftigste Zahl halte, die in den RKI-Berichten vorkommt (natürlich mit dem Nachteil, dass sie für Echtzeitsteuerung nicht taugt, weil sie so weit nachläuft). Und die sieht seit ein paar Wochen übel aus, nämlich praktisch so wie im letzten Oktober:
Die Verdopplungszeit ist derzeit so rund drei Wochen; wir dürften also, wenn nicht ein Wunder geschieht, in sechs Wochen, Mitte Oktober, deutlich über 4000 liegen und damit in der Gegend der Notbremsenbelastung rund um Neujahr 2021.
In der Tat scheint es, als habe die Impfkampagne enttäuschend wenig Einfluss auf diese Zahlen. Heute ist die SARS 2-Intensivbelegung laut RKI-Bericht 1169 bei einer Inzidenz von 80. Eine vergleichbare Belegung war am 23.10.2020 mit 1121 bei einer Inzidenz von 60. Von einer Entkopplung der Intensivbelegung von der Inzidenz kann also keine Rede sein, und schon gar nicht vom „200 ist das neue 50“, das Gesundheitsminister Spahn vor ein paar Wochen wagte. Dazu kommt, dass die Dunkelziffer angesichts des immer noch relativ engen Testregimes in diesem Jahr vermutlich niedriger ist als letztes Jahr und mithin die damalige Inzidenz nach oben korrigiert werden müsste, um mit aktuellen Zahlen vergleichbar zu sein. Selbst ohne so eine Korrektur ist allenfalls 50 ⋅ (80/60) = 66 das neue 50.
Warum kaum ein Impfeffekt sichtbar ist in diesen Zahlen: Tja, das ist eine spannende Frage, und ich bin neugierig auf Christian Drostens Kommentare dazu, wenn es heute abend wieder ein neues Coronavirus-Update gibt (endlich!). Mein persönlicher Verdacht ist etwas gruselig. Wahrscheinlich stimmen die anekdotischen Berichte, dass aus den Alten- und Pflegeheimen in den ersten drei Wellen kaum Menschen in Intensivstationen überwiesen wurden und sie in aller Regel einfach an Ort und Stelle starben. Die jüngeren Menschen hingegen, die es jetzt vermehrt erwischt (auch wenn der Altersmedian weniger schwankt als ich glaubte), erhalten vermutlich erheblich häufiger Intensivpflege. Ich bin nicht sicher, ob ich da ein „hoffe ich“ dazu schreiben möchte.
Ohne einen „Delta-Effekt“ wird diese Erklärung jedoch nicht auskommen, denn von den rund 1000 relativ jungen Menschen, denen im letzten Juni bei Tönnies SARS-2 reingedrückt wurde, landeten, soweit ich weiß, keine auf Intensivstationen – und jedenfalls starben keine. Bei vor drei Wochen (als sich heute eingelieferte so plusminus angesteckt haben werden) rund 30000 RKI-aktiven SARS-2-Fällen und einer derzeit vermutlich mit der Tönnies-Belegschaft vergleichbaren Demographie dürften die Intensivstationen eigentlich nicht volllaufen, wenn das Virus nicht eine ganze Ecke fieser geworden wäre.
Wie dem auch sei: Meine Hoffnung, dass mit jüngeren Kranken und vielen Geimpften höhere Inzidenzen ohne Gemetzel durchhaltbar sind, war klar unbegründet. Das aber macht erneute Notbremsen ab Oktober (und vielleicht schon früher) zu einer praktischen Gewissheit. Ich vermute stark, dass diese Geimpfte anfangs ausnehmen werden. Ich nehme keine Wetten an zur Frage, ob das ausreichen wird. So'n Mist.
Zitiert in: (Un)verstandene Infektionsdynamik Optimierte Inzidenz Corona: Neue Filme, Alte Zahlen Die Intensiv-Antwort