Noch vor einem Jahr hatte sich kaum jemand vorstellen können, wie schnell die Staaten die Grenzen im März 2020 geschlossen haben – aber, das lässt sich hier leider wirklich nicht wegdiskutieren, im Prinzip können Bewegungseinschränkungen bei so einer Pandemie je nach Verteilung und Entwicklung schon mal nicht einfach nur atavistische Reflexe sein, und so will ich einmal nicht allzu sehr die Zähne fletschen.
Das nun „je nach Verteilung und Entwicklung“ hat das RKI im Epidemiologischen Bulletin 8/2021 (DOI 10.25646/7955) für die Folgen der Sommerferien etwas genauer betrachtet.
Die Ergebnisse in der zentralen Frage – letztlich: Wärs besser gewesen, wir wären alle daheim geblieten? – sind wenig überraschend, wie auch das Fazit zur Frage der Massentests für Heimkehrer_innen:
Ein längeres Angebot zur freiwilligen, kostenlosen Testung für Reiserückkehrer hätte vielleicht die Eintragungen vor und während der Herbstferien besser erfasst, die zweite Infektionswelle aber nicht verhindert.
Richtig bemerkenswert fand ich hingegen folgende Abbildung in dem Artikel:
Sie entstand, indem die RKI-Leute erstmal als Zeiteinheit „Tage vor oder nach dem Beginn der Sommerferien im jeweiligen Bundesland“ gewählt haben. An der Ordinate stehen die üblichen Wocheninzidenzen pro 100000 Einwohner_innen, und zwar für Fälle, für die eine Exposition im Ausland bekannt ist. Insofern ist es kein Wunder, dass die Zahlen im Laufe der Zeit hochgehen. Das muss schon allein aufgrund der gestiegenen Reisetätigkeit so sein.
Wertvoll wird die Abbildung aber als Mahnung, bei allen Metriken immer zu bedenken, was wie gemessen wurde. Denn richtig auffallend verhalten sich hier Bayern und Baden-Württemberg scheinbar anders als alle anderen: Ihre Kurven steigen erhebnlich früher und steiler als die der anderen Bundesländer.
Es wäre jedoch unvernünftig, anzunehmen, die Dinge hätten sich in den anderen Bundesländern in der Realität wesentlich anders verhalten (jedenfalls, soweit es die westlichen Bundesländer betrifft). Und in der Tat liefert schon das RKI die Erklärung für den Unterschied: Die Südländer hatten einfach so spät Ferien, dass ihre Reiserückkehrenden in die allgemeine Testpflicht fielen sind und mithin die Erfassung Infizierter früher in deren Krankheitsverlauf und darüber hinaus bereits bei den Indexfällen passierte.
Ob das jetzt eine weise Verwendung von Ressourcen war oder nicht, muss ich glücklicherweise nicht entscheiden. Zumindest für die nächsten Jahre aber – solange sich die Menschen noch an die Diskussion um die Massentests im Sommer 2020 erinnern – ist diese Grafik aber, glaube ich, eine wunderbare Art, den Einfluss von Messung (und in diesem Fall von Politik) auf scheinbar unumstößliche Grafiken und Metriken zu illustrieren.
Ich werde das beim nächsten Mensen-Ranking auspacken. Oder, wenn wieder mal das Bruttoinlandsprodukt verkündet wird.
Zitiert in: (Un)verstandene Infektionsdynamik