Inzidenzen mögen nicht mehr das ideale Mittel sein, um die aktuelle Corona-Gefährdungslage zu beschreiben, auch wenn es zumindest so lange kaum ein schnelleres Signal geben wird, wie nicht flächendeckend PCR auf Abwässer läuft. Aber sie ist bei allen auch hier angemäkelten Defiziten und Ungenauigkeiten doch kaum zu schlagen, wenn es um ein nach Zeit und Ort aufgelöstes Bild davon geht, was das Virus – Verzeihung, die Viren – so getrieben haben.
Und nachdem ich neulich angefangen hatte, mit dem großen Infektions-Datensatz des RKI zu spielen, ist mir aufgefallen, dass es ausgehend von dem dort diskutierten Code nicht schwierig sein sollte, einen Film zu basteln, der die Inzidenzverläufe auf Kreisebene visualisiert. Nun, das habe ich gemacht:
(sollte euer Browser das vermurksen: Download; Kreispolygone: © GeoBasis-DE / BKG 2021). Im Unterschied zu den bekannten Bildern aus dem RKI-Bericht (die die Inzidenz nach dem Meldedatum rechnen) verwende ich hier übrigens das Referenzdatum, also wenn möglich das Datum der Infektion und nur andernfalls das Meldedatum.
Nachtrag (2021-11-03)
Nur damit sich niemand wundert, wie Herbst-Zahlen in einen Post vom August kommen: Ich habe den Film bis November 2021 fortgesetzt und werde ihn künftig wohl noch ein paar Mal aktualisieren.
Ein paar Dinge, die ich daraus gelernt habe:
- Es gab offenbar schon vor Heinsberg einiges an Corona-Rauschen in der Republik (am Anfang vom Video). Wie viel davon einfach Tippfehler sind, ist natürlich schwer zu sagen. Aber einiges wird schon real sein, und dann ist sehr bemerkenswert, dass es in keiner dieser Fälle zu einem klinisch auffallenden Ausbruch gekommen ist. Das wäre eine sehr deutliche Illustration der hohen Überdispersion zumindest des ursprünglichen Virus: fast alle Infizierten steck(t)en [1] niemanden an, so dass, solange die Ausbrüche klein sind, sie schnell wieder verschwinden.
- Ich hatte ganz vergessen, wie schnell am Anfang der Pandemie die Folgen des Bierfests in Tirschenreuth die des Kappenabends in Heinsberg überrundet hatten (nämlich so um den 10.3. rum). Es lohnt sich, im März 2020 Ostbayern im Blick zu halten.
- Die etwas brodelnde Erscheinung des Bildes speziell in ruhigeren Phasen – wie ein träge kochender Brei vielleicht, bei dem an mehr oder minder zufälligen Stellen immer mal wieder eine Blase hochkommt – zeigt wieder, dass sich Corona vor allem in Ausbrüchen ausbreitet. Das tut es bestimmt auch in weniger ruhigen Phasen, aber dann sind überall Blasen („sprudelnd kochend“), so dass das nicht mehr auffällt.
- Die großen Ausbrüche des Sommers 2020 (vor allem Gütersloh und Dingolfing) waren erstaunlich allein stehende Ereignisse. Wenn mensch bedenkt, dass es ja schon einen Haufen Schlachthöfe und andere ähnlich furchtbare Betriebe in der BRD gibt, fragt sich schon, warum es nicht mehr Ausbrüche im Tönnies-Stil gab. Waren die anderen Läden alle vorsichtiger? Oder hatten die einfach Glück, weil niemand mit hoher Virusausscheidung in ihre Betriebshallen gekommen ist? Sind vielleicht Ausbrüche übersehen worden? Rein demographisch nämlich waren beispielsweise die Tönnies-Leute so jung und fit, dass nur wenige im Krankenhaus landeten und keineR gestorben ist.
- Auch in den zweiten und dritten Wellen blieb erstaunlich viel Struktur im Infektionsgeschehen – mehr, als ich nach Betrachtung der statischen RKI-Plots und der relativ parallelen Bundesländer-Inzidenzen erwartet hätte, vor allem aber entgegen der Einlassung, das Geschehen sei „diffus“. Angesichts des weiter bestehenden „Brodelns“ würde mich eigentlich überraschen, wenn sich B.1.1.7 oder die B.1.617.x so viel anders ausbreiten würden als der ursprüngliche Wildtyp.
- Insbesondere gibt es auch in den späteren Wellen Kreise, die kurz „hochbubbeln“ und dann auch wieder rasch unauffällig werden. Es wäre bestimmt aufschlussreich, wenn mensch wüsste, warum das mit dem Rasch-Unauffällig-Werden in den Kreisen in Südsachsen und -thüringen über lange Zeit nicht passiert ist.
Technics
Nachtrag (2022-10-27)
Der Code ist jetzt am Codeberg.
Es war übrigens doch nicht so ganz einfach, diesen Film zu machen, und zwar vor allem, weil ich eine Weile mit den Polygonen für die Kreise gerungen habe. Mein erster Plan war, die einfach aus der Openstreetmap zu ziehen. Ich wollte aber nicht an einem kompletten OSM-Dump herumoperieren, und so war ich sehr angetan von osm-boundaries. Mit diesem Dienst ließen sich eigentlich recht leicht die „administrative boundaries“ von Kreisen (das wäre dort Level 6) in geojson bekommen.
Abgesehen davon aber, dass die interaktive Auswahl gerne mit „cannot download tree“ scheiterte, mein Webkit lange am Javascript kaute, und Cloudflare die Downloads regelmäßig zu früh abbrach (die MacherInnen von osm-boundaries verstehen das selbst nicht so ganz), sind die Label der Kreise doch sehr verschieden von dem, was das RKI hat: „Solingen (Klingenstadt)“ auf RKI-Seite war ebenso lästig wie fehlende Unterscheidung zwischen Stadt- und Landkreisen in den Bezeichnungen der Openstreetmap (was immerhin durch Betrachtung der Flächen zu umgehen war).
Aber auch, als ich mir die Abbildung zwischen den verschiedenen Bezeichnern zusammengehackt hatte, blieben einige weiße Flecken, Kreise also, die ich in der Openstreetmap schlicht nicht finden konnte. An dem Punkt bin ich zur offiziellen Quelle gegangen, nämlich dem Bundesamt für Kartographie und Geodäsie, speziell zum VG2500-Datensatz, der zu meiner großen Erleichterung auch die Kreis-Identifier des RKI (1001 etwa für Flensburg-Stadt) enthält. Na ja, abgesehen von Berlin, das das RKI aufteilt, was wiederum etwas Gefummel zur Wiedervereinigung von Berlin im Code braucht.
Aber leider: Der Kram kommt als Shape, wie das BKG sagt ein „De-facto-Industriestandard“, mit dem allerdings ich noch nie etwas zu tun hatte und der als über einige Dateien verteilte Binärsoße daherkommt. Immerhin: das Debian-paketierte Cartopy kann damit umgehen. Puh. Nur: frech add_geometries auf die Geometrien loslassen, die aus dem Reader herausfallen, führt zu einer leeren Karte.
Im Folgenden bin ich etwas untergegangen in all den Referenzsystemen, mit denen sich die GeographInnen so rumschlagen müssen. Ach, haben wir es gut in der Astronomie. Ja, klar, auch wir haben einen Haufen verschiedene Äquatoren und Nullpunkte (z.B. zwei verschiedene Systeme für galaktische Koordinaten, und haufenweise historische äquatoriale Systeme, die zudem durch verschiedene Sternkataloge definiert waren): Aber letztlich sind das im Wesentlichen Drehungen mit winzigen Knitterungen, und schlimmstenfalls kommen die Dinge halt am falschen Platz raus, was für meine gegenwärtigen Zwecke völlig wurst gewesen wäre.
Aber hier: Nichts auf der ganzen Karte. Es braucht beim Plotten zwingend das richtige Quell-Bezugssystem, hier (wie aus dem .prj des VG2500 hervorgeht) das EPSG-System Nummer 25832 (Fünfundzwanzigtausenachthundertzweiundreißig! Holy Cow!). Damit kann Cartopy sogar umgehen, aber es zieht dann bei jedem Programmlauf die Beschreibung des Systems erneut von einem Onlinedienst, und das geht in meiner Welt gar nicht. Deshalb habe ich mir geschwind eine Proj4Projection-Klasse gefummelt, die den String, der von dem Online-Dienst kommt, händisch in die zugrundeliegende Bibliothek packt. Warnung: Das ist ohne Sachkenntnis geschrieben; dass ich da die Gültigkeitsgrenzen völlig fake, ist vermutlich Gift außerhalb dieser spezifischen Anwendung.
Der Rest des Codes ist harmloses Python, das die Eingabedaten hinmassiert. Weil die RKI-Daten leider nach Kreis und nicht nach Datum sortiert sind, muss ich den kompletten Datensatz ins RAM nehmen; auf nicht völlig antiker Hardware ist das aber kein Drama.
Was für den optischen Eindruck noch ziemlich wichtig ist: Ich interpoliere linear zwischen den Tagen (die iter_interpolated-Funktion). Das ist nützlich, weil damit die Übergänge nicht so hart sind, und auch, damit der Film nicht nur 25 Sekunden (also rund 600 Frames) lang ist, sondern etwas wie zwei Minuten läuft.
Wers nachbauen will oder z.B. Altersgruppen-spezifische Filme machen will oder welche mit dem Median des Alters – das würde der Datensatz durchaus hergeben – oder welche, die nicht alles über 350 saturiert darstellen oder so etwas, braucht mkmovie.py und corona.py. Die Quelldaten werden in einem in corona.py definierten externen Verzeichnis erwartet (DATA_DIR); welche, und woher die kommen, steht am Kopf von mkmovie.py.
[1] | Bei den späteren Virusvarianten mag es eingestandenermaßen nicht mehr ganz so einfach sein, weshalb ich hier so ein vorsichtiges Präteritum schreibe. |
Zitiert in: 34 Monate Corona im Film Halbwegs gute Nachrichten Corona: Neue Filme, Alte Zahlen Die Intensiv-Antwort Corona-Film, Teil 2