Fledermäuse und die Schallgeschwindigkeit

Via Forschung aktuell vom 5. Mai (ab 18:35) bin ich über ein weiteres Beispiel für vielleicht nicht mehr ganz vertretbare, aber leider doch sehr spannende Experimente an Tieren gestolpert: Eran Amichai und Yossi Yovel von der Uni Tel Aviv und dem Dartmouth College haben festgestellt, dass (jedenfalls) Weißrandfledermäuse eine angeborene Vorstellung von der Schallgeschwindigkeit haben („Echolocating bats rely on innate speed-of-sound reference“, https://doi.org/10.1073/pnas.2024352118; ich glaube, den Volltext gibts außerhalb von Uninetzen nur über scihub).

Flughunde vor Abendhimmel

Die beeindruckendsten Fledertiere, die ich je gesehen habe: Große Flughunde, die abends in großen Mengen am Abendhimmel von Pune ihre Runden drehen. Im Hinblick auf die Verwendung dieses Fotos bei diesem Artikel etwas blöd: Diese Tiere machen gar keine Echoortung.

Das ist zunächst mal überraschend, weil die Schallgeschwindigkeit in Gasen und Flüssigkeiten von deren Dichte abhängig ist und sie damit für Fledermäuse je nach Habitat, Wetter und Höhe schwankt. Für ideale Gase lässt sie sich sogar recht leicht ableiten, und das Ergebnis ist: c = (κ p/ρ)½, wo c die Schallgeschwindigkeit, p der Druck und ρ die Dichte ist. Den Adiabatenexponent κ erklärt bei Bedarf die Wikipedia, er ändert sich jedenfalls nur, wenn die Chemie des Gases sich ändert. Luft ist, wenn ihr nicht gerade in Hochdruckkammern steht (und da würdet ihr nicht lange stehen), ideal genug, und so ist die Schallgeschwindigkeit bei konstantem Luftdruck in unserer Realität in guter Näherung umgekehrt proportional zur Wurzel der Dichte der Luft.

Nun hat Helium bei Normalbedingungen eine Dichte von rund 0.18 kg auf den Kubikmeter, während Luft bei ungefähr 1.25 kg/m³ liegt (Faustregel: 1 m³ Wasser ist rund eine Tonne, 1 m³ Luft ist rund ein Kilo; das hat die Natur ganz merkfreundlich eingerichtet). Der Adiabatenexponent für Helium (das keine Moleküle bildet) ist zwar etwas anders als der von Stickstoff und Sauerstoff, aber so genau geht es hier nicht, und deshalb habe ich 1/math.sqrt(0.18/1.25) in mein Python getippt; das Ergebnis ist 2.6: grob so viel schneller ist Schall in Helium als in Luft (wo es rund 300 m/s oder 1000 km/h sind; wegen des anderen κ sind es in Helium bei Normalbedingungen in Wahrheit 970 m/s).

Flattern in Heliox

Das hat für Fledermäuse eine ziemlich ärgerliche Konsequenz: Da sich die Tiere ja vor allem durch Sonar orientieren und in Helium die Echos 3.2 mal schneller zurückkommen würden als in Luft, würden an Luft gewöhnte Fledermäuse glauben, all die Wände, Wanzen und Libellen wären 3.2-mal näher als sie wirklich sind. Immerhin ist das die sichere Richtung, denn in einer Schwefelhexaflourid-Atmosphäre (um mal ein Gas mit einer sehr hohen Dichte zu nehmen, ρ = 6.6 kg/m³) ist die Schallgeschwindigkeit nur 44% von der in Luft (wieder ignorierend, dass das Zeug einen noch anderen Adiabatenexponenten hat als He, O2 oder N2), und die Tiere würden sich noch zwanzig Zentimeter von der Wand weg wähnen, wenn sie in Wirklichkeit schon mit den Flügeln an sie anschlagen könnten – die Weißrandfledermäuse, mit denen die Leute hier experimentiert haben, haben eine Flügelspannweite von rund 20 Zentimetern (bei 10 Gramm Gewicht!). Wer mal Fledermäuse hat fliegen sehen, ahnt, dass das wohl nicht gut ausgehen würde.

Aber das ist natürlich Unsinn: In Schwefelhexaflourid ist die Trägheit des Mediums erheblich größer, und das wird die Strömungseigenschaften und damit den dynamischen Auftrieb der Fledermausflügel drastisch ändern[1]. Was auch umgekehrt ein Problem ist, denn in einer Helium-Atmosphäre mit der um fast einen Faktor 10 geringeren spezifischen Trägheit funktionieren die Fledermausflügel auch nicht ordentlich. Ganz zu schweigen davon natürlich, dass die Tiere darin mangels Sauerstoff ersticken würden.

Deshalb haben Amichal und Co mit Luft-Helium-Mischungen („Heliox“) experimentiert. Dabei haben sie die Schallgeschwindigkeit in einigen Experimenten um 27% erhöht, in der Regel aber nur um 15%[2]. Dass die beiden zwei Helioxmischungen am Start hatten, wird wohl einerseits daran liegen, dass die 15% allenfalls knapp über der natürlichen Schwankungsbreite der Schallgeschwindigket durch Temperatur, Luftdruck und Luftfeuchtigkeit (die gehen ja auch alle auf die Dichte) liegen. Mit 27% aber hatten die Fledermäuse doch zu große Probleme mit dem Fliegen, und das wäre keine Umwelt, in der kleine Fledermäuse aufwachsen sollten.

Im Artikel schreiben die Leute dazu etwas hartherzig:

“Category I” [von Fehlflügen] included flights in which the bat clearly did not adjust motor responses to the lessened lift and landed on the floor less than 50 cm from takeoff.

– was eine recht zurückhaltende Umschreibung von „Absturz“ ist. Einige Tiere hatten davon schnell die Nase voll:

Treatments [nennt mich pingelig, aber die Bezeichnung der Experimente als „Behandlung“ ist für mich schon auch irgendwo am Euphemismus-Spektrum] were completed in one session with several exceptions: two individuals refused to fly at 27% SOS after 2 d, and those treatments were therefore done in two sessions each, separated by 1 d in normal air.

Unter diesen Umständen liegt auf der Hand, dass „Köder gefangen und gefressen“ kein gutes Kriterium ist dafür, ob sich die Fledermäuse auf Änderungen der Schallgeschwindigkeit einstellen können – viel wahrscheinlicher waren sie einfach mit ihren Flugkünsten am Ende.

Tschilpen und Fiepen

Es gibt aber einen Trick, um die Effekte von Wahrnehmung und Fluggeschick zu trennen. Jagende Fledermäuse haben nämlich zwei Modi der Echoortung: Auf der Suche und aus der Ferne orten sie mit relativ lang auseinanderliegenden, längeren Pulsen, also etwa Tschilp – Tschilp – Tschilp. In der unmittelbaren Umgebung der Beute (in diesem Fall so ab 40 cm wahrgenommener Entfernung) verringern sie den Abstand zwischen den Pulsen, also etwa auf ein Fipfipfipfip. Auf diese Weise lässt sich recht einfach nachvollziehen, welchen Abstand die Tiere selbst messen, wobei „recht einfach“ hier ein Aufnahmegerät für Ultraschall voraussetzt. Wenn sie in zu großer Entfernung mit dem Fipfipfip anfangen, nehmen sie die falsche Schallgeschwindigkeit an.

Bei der Auswertung von Beuteflügen mit und ohne Helium stellt sich, für mich sehr glaubhaft, heraus, dass Fledermäuse auch nach längerem Aufenhalt in Heliox immer noch unter Annahme der Schallgeschwindigkeit in (reiner) Luft messen: Diese muss ihnen also entweder angeboren sein, oder sie haben sie in ihrer Kindheit fürs Leben gelernt.

Das Hauptthema der Arbeit ist die Entscheidung zwischen diesen beiden Thesen – nature or nurture, wenn mensch so will. Deshalb haben Amichal und Co 24 Fledermausfrauen aus der Wildnis gefangen, von denen 16 schwanger waren und die schließlich 18 Kinder zur Welt gebracht haben. Mütter und Kinder mussten für ein paar Wochen im Labor leben, wo sie per Kunstlicht auf einen für die Wissenschaftler_innen bequemen Tagesrhythmus gebracht wurden: 16 Stunden Tag, 8 Stunden Nacht, wobei die Nacht, also die Aktivitätszeit der Tiere, zwischen 10 und 17 Uhr lag. Offenbar haben BiologInnen nicht nennenswert andere Bürozeiten als AstronomInnen.

Mit allerlei Mikrofonen wurde überprüft, dass die Tiere während ihres Tages auch brav schliefen; auf die Weise musste die Heliox-Mischung nur während der Arbeitszeit aufrechterhalten werden, während die Käfige in der Nacht lüften konnten, ohne dass die Heliox-Fledermäuse sich wieder an richtige Luft hätten gewöhnen können.

Jeweils acht Fledermausbabys wuchsen in normaler Luft bzw. Heliox-15 auf, den doch recht argen Heliox-27-Bedingungen wurden sie nur für spätere Einzelexperimente ausgesetzt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Kinder unabhängig von ihrer Kindheitsatmosphäre in gleicher Weise orten: Der Umschlag von Tschilp-Tschip nach Fipfip passierte jeweils bei gleichen Schall-Laufzeiten unabhängig von der wirklichen Distanz.

Warum tun sie das?

Diese Befunde sind (aus meiner Sicht leider) nur recht schwer wegzudiskutieren, das wirkt alles recht wasserdicht gemacht. Was die Frage aufwirft, warum die Tiere so hinevolutioniert sind. Amichal und Yovel spekulieren, ein Einlernen der Schallgeschwindigkeit habe sich deshalb nicht herausgebildet, weil Weißrandfledermäuse in der Wildnis sehr schnell erwachsen werden und selbst jagen müssen, weshalb es nicht genug Zeit zum Üben und Lernen gebe.

Das wäre wohl testbar: Ich rate jetzt mal, dass größere (oder andere) Fledermäuse längere Kindheiten haben. Vielleicht lernen ja die das? Oder vielleicht hängt die festverdrahtete Physik auch daran, dass Weißrandfledermäuse eigentlich durchweg mit ziemlich konstanter Schallgeschwindigkeit leben? Dann müsste das etwa bei mexikanischen Bulldoggfledermäusen (die aus dem Bacardi-Logo) anders sein, für die der Artikel Flughöhen von 3 km zitiert.

Auch wenn die Sache mit dem Einsperren und Abstürzenlassen von Fledermäusen schon ein wenig gruselig ist: die Wortschöpfungen „Luftwelpen“ und „Helioxwelpen“ haben mich beim Lesen schon angerührt – wobei „Welpe“ für das Original „pup“ eingestandermaßen meine Übersetzung ist. Gibt es eigentlich einen deutsches Spezialausdruck für „Mauskind“?

Abschließend doch noch ein Schwachpunkt: In der Studie habe ich nichts zum Einfluss des Mediums auf die Tonhöhe der Rufe gelesen[3]. Den muss es aber geben – die Demo von PhysiklehrerInnen, die Helium einatmen und dann mit Micky Maus-Stimme reden, hat wohl jedeR durchmachen müssen. Die Schallgeschwindigkeit ist ja einfach das Produkt von Frequenz und Wellenlänge, c = λ ν, und da λ hier durch die Länge der Stimmbänder (bei entsprechender Anspannung des Kehlkopfs) festliegen sollte, müsste die Frequenz der Töne in 27%-Heliox eben um einen Faktor 1.27, also ungefähr 5/4, niediger liegen. In der Musik ist das die große Terz, etwa das Lalülala einer deutschen Polizeisirene. Und jetzt frage mich mich natürlich, ob das die Fledermäuse nicht merken müssten, und noch mehr, warum sie das nicht zur Eichung der Schallgeschwindigkeit einsetzen.

Oder erzeugen die Fledermäuse ihre Töne mit anderer Physik, die die Frequenz konstant hält? Das wäre auch interessant, denn wenn die Tiere wirklich in der gleichen Frequenz klicken würden, wäre die Wellenlänge ihrer Rufe entsprechend um 5/4 größer. Die Wellenlänge aber gibt so in etwa die maximale Auflösung der Wahrnehmung; in gewisser Weise würden die Fledermäuse also um ein Viertel schlechter „sehen“. Ich frage mich ja, ob sie sich dann, na ja, kurzsichtig fühlen würden.

Also: wenn ich die Studie begutachtet hätte, hätte ich da nochmal nachgefragt.

[1]Der fünfmal größere statische Auftrieb in SF6 dürfte demgegenüber wohl keine große Rolle spielen, denn auch Fledermäuse haben ungefähr die Dichte von Wasser, und sie dürften wohl nicht merken, ob jetzt nur ein Tausendstel oder ein Zweihundertstel ihrer Masse vom Medium getragen werden.
[2]Wenn Textaufgaben nicht nur Teil des doofen gesellschaftlichen Sortiersystems wären, würde ich „Ihr wollt Fledermäuse verwirren, indem ihr den Schall 15% schneller macht. Wie viel Helium müsst ihr eurer Luft beimischen?“ für den Physikunterricht vorschlagen. Oder, na ja, wegen des Problems mit dem Adiabatenexponenten doch lieber Wasserstoff (das den gleichen wie Stickstoff und Sauerstoff hat). Aber dann würde der Kram natürlich explodieren, Knallgas und so. Ach, ein Glück, dass ich keine Textaufgaben stellen muss.
[3]Abgesehen von einem für mich etwas kryptischen „The increased SOS [speed of sound] had no effect or a negligible one on the resonant qualities of the bats’ vocal tract“ und Bemerkungen über Energieverteilung in den Obertönen, die aber wohl andere mögliche Effekte meinen.

Zitiert in: Libellen aufs Kreuz gelegt Zu vollgefressen zum Abheben

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