Libellen aufs Kreuz gelegt

Eine Königslibelle sitzt senkrecht an einem Stück Holz; seitlich hängt eine leere Hülle einer Libellenlarve.

Diese Libelle – ausweislich der leeren Larvenhülle halbrechts unten wahrscheinlich gerade erst geschlüpft – ist hoffentlich Zeit ihres Lebens (ein paar Wochen im Sommer 2020) mit sehenden Augen in der Gegend vom Weißen Stein herumgeflogen.

Als ich in den Kurzmeldungen in Forschung aktuell vom 16.5. (ab Minute 1:50) davon hörte, wie Leute Libellen auf den Rücken gedreht und dann fallen gelassen haben, habe ich unmittelbar Lausbuben assoziiert, die strampelnden Käfern zusehen. Das hörte sich nach einer vergleichsweise eher gutgelaunten Angelegenheit für meine fiktionale Ethikkommission an. Jetzt, wo ich die zugrundeliegende Arbeit, „Recovery mechanisms in the dragonfly righting reflex“, Science 376 (2022), S. 754, doi:10.1126/science.abg0946, gelesen habe, muss ich das mit der guten Laune etwas relativieren.

Zunächst beeindruckt dabei der interdisziplinäre Ansatz. Hauptautorin ist Jane Wang, Physikerin von der Cornell University (kein Wunder also, dass im Paper eine Differentialgleichung gelöst wird), mitgeholfen haben der Luftfahrtingenieur James Melfi (auch von Cornell; kein Wunder, dass rechts und links Euler-Winkel gemessen werden) und der Neurobiologe Anthony Leonardo, der am Janelia Resarch Campus in Virgina arbeitet, augenscheinlich eine Biomed-Edeleinrichtung im Umland von Washington DC.

Zusammen haben sie mit Hochgeschwindingkeitskameras eine Variante des Schwarzweiß-Klassikers „Wie eine Katze auf den Füßen landet[1] aufgenommen, dieses Mal eben mit Libellen. Dabei haben sie den Libellen einen Magneten auf den Bauch geklebt, sie mit diesem in Rückenlage an einem Elektromagneten festgeklemmt, gewartet, bis sich die Tiere beruhigt hatten und dann den Strom des Elektromagneten abgeschaltet, so dass die Libellen (im physikalischen Sinn) frei fielen.

Libellen rollen präzise nach rechts

Wenn das exakt so gemacht war, war offenbar sehr vorhersehbar, was die Libellen taten. Wang et al geben an, es sei ganz entscheidend, dass die Füße der Tiere in der Luft hängen, weil sonst einerseits eigene Reflexe von den Beinen ausgelöst würden und andererseits die Libellen selbst starten wollen könnten: „voluntary take-off via leg-kicks introduces a large variability“.

Bis dahin regt sich meine Empathie nur wenig. Zwar schätzen es die Libellen ganz sicher nicht, auf diese Weise festgehalten zu werden. Aber andererseits ist das alles ganz gut gemacht, und die Ergebnisse der Studie sind soweit ganz überzeugend und beeindruckend. Die Tiere drehen sich konsistent um ihre Längsachse, um wieder auf den Bauch zu kommen, fangen mit der Drehung nach gerade mal 100 ms an (als Reaktionszeit für Menschen gelten so etwa 300 ms; aber ok, wir haben auch viel längere Nerven) und sind dann nach gut zwei Zehntelsekunden oder vier Flügelschlägen fertig, also bevor unsereins überhaupt beschlossen hätte, was zu tun ist.

Für mich unerwarteterweise findet die Drehung sehr kontrolliert und offenbar vorgeplant statt. Ich lese das aus der Tatsache, dass die Winkelgeschwindigkeit der Drehung zwischen 170 Grad (fast auf dem Rücken) und vielleicht 40 Grad (schon recht gut ausgerichtet) praktisch konstant ist. Abbildung 2 B des Papers fand ich in der Hinsicht wirklich erstaunlich: nicht vergessen, das Tier bewegt derweil ja seine Flügel.

Die AutorInnen betrachten weiter die Stellung der beiden Flügelpaare im Detail, um herauszubekommen, wie genau die Libellen die präzise Drehung hinbekommen. Das ist bestimmt sehr aufregend, wenn mensch irgendwas von Flugzeugbau versteht, aber weil ich das nicht tue, hat mich das weniger begeistert. Außerdem war ich zu dem Zeitpunkt bereits etwas voreingenommen, nachdem ich erfahren hatte, dass, um die Flügelstellung mit den Analyseprogrammen, die Wang et al hatten, rekonstruieren zu können, die Libellen mit Nagellack sechs Punkte auf die Flügel gemalt bekamen.

Die Erzählung wird düsterer

Für die Libellen noch unangenehmer dürfte, so denke ich mir, das kleines Y-förmige Plastikgestell gewesen sein, das ihnen die ExperimentatorInnen auf den Thorax geklebt haben. Sie sagen, es sei nötig, um das Bezugssystem der fallenden Libelle bestimmen zu können. Und dann gibts noch den Magneten, der die Libelle vor dem Abwurf hält: alles zusammen wiegt ungefähr 25 mg, bei einer Libelle, die selbst gerade mal ein Viertelgramm wiegt. Andererseits, und das will ich gerne glauben, nehmen heranwachsende Libellen bis zu 50 mg am Tag zu (sie haben ja auch nur ein paar Wochen Zeit als Imago), so dass sie Massenänderungen dieser Art vielleicht wirklich nicht belasten.

Tote Königslibelle hängt in der Luft an einem Spinnfaden

Wie es eine Spinne hinbekommen hat, diese Libelle zu erlegen, weiß nicht nicht. Aber immerhin sind ihre Augen und Ocellen nicht zugepinselt.

Wirklich geregt hat sich mein Mitleid – unter der Maßgabe der letzten Absätze der Geschichte mit den Wespen – aber, als es um die Frage ging, woher Libellen eigentlich ihre Orientierung kennen, woher sie also wissen, ob sie gerade auf dem Rücken fliegen oder vielleicht auf der Seite.

Die Arbeitshypothese von Wang et al war offenbar, dass das im Wesentlichen der Sehsinn ist. Moment: „Der Sehsinn“? Nein: „Die Sehsinne“. Libellen haben nämlich gleich zwei davon, einerseits ihre Facettenaugen, dazu jedoch noch einfache, nicht abbildende Sensoren, die Ocellen. Ich sags ganz ehrlich: Ich habe das Paper vor allem gelesen, weil ich wissen wollte, wie sie den Libellen die Augen und Ocellen verbunden haben.

Da ich das jetzt weiß, kenne ich die Stelle, an der ich als Ethikkommission nein gesagt hätte, denn die Sinne der Tiere wurden mit einem bestimmt nicht mehr entfernbarem Pamp aus schwarzer Farbe vermischt mit UV-blockierendem Kleber zugekleistert. Die Versuchsreihe mit geblendeten Libellen haben Wang und ein lediglich in den Acknowledgements erwähnter Leif Ristroph unabhängig von der ersten durchgeführt, dramatischerweise im Courant-Institut, grob als „Angewandte Mathe“ zu klassifizieren, unangenehm nah an dem, wofür ich bezahlt werde.

„Drei kamen durch“ ist kein Rezept für gute Wissenschaft

Diese beiden haben also vierzehn Libellen in New York City gefangen und elf weitere von KollegInnen bekommen. Und jetzt (aus dem Supplementary PDF):

Beim Bemalen der Augen und Ocellen ist es wichtig, einen feinen Pinsel zu verwenden, damit keine Farbe auf den Hals oder Mund [des Tieres] tropft.

Aus dieser Sammlung von Libellen haben drei die vollständigen Experimente überlebt, zwei der Gattung Perithemis tenera, eine der Gattung Libellula lydia. Dies umfasste die Tests mit normalem Sehsinn und mit blockierten Sehsinnen. Alle waren präzise [? Original: rigorous] Flieger. Mit funktionierendem Sehsinn rollten sie nach rechts. Sie überlebten auch mindestens zwei Kältephasen im Kühlschrank, eine vor dem Ankleben des Magnets, eine weitere vor dem Bemalen der Augen.

Nennt mich angesichts dessen, was wir täglich 108-fach mit Hühnern, Schweinen, Rindern und Schafen machen, sentimental, aber wenn ein Protokoll von 25 Tieren 22 tötet, bevor das Experiment fertig ist, ist es nicht nur roh, sondern fast sicher auch Mist. Es ist praktisch unvorstellbar, dass bei so einer Selektion nicht dramatische Auswahleffekte auftreten, die jedes Ergebnis mit Fragezeichen in 72 pt Extra Bold, blinkend und rot, versehen.

In diesem Fall war das Ergebnis übrigens, dass die Libellen ohne Ocelli etwa 30% später mit dem Drehen anfingen und anschließend nicht mehr ins Gleichgewicht kamen, bevor die Kamera voll war (ich hätte es trotzdem nett gefunden, wenn Wang wenigstens anekdotisch berichten würde, ob sie es am Schluss geschafft haben). Mit zugepinselten Facettenaugen sind die Libellen ins Gleichgewicht gekommen, wenn auch langsamer und weniger kontrolliert. Waren Ocellen und Facettenaugen blockiert, sind die Libellen häufig einfach nur runtergefallen „like leaves“.

Was aber, wenn – ja vielleicht im Einzelfall doch existierende – nichtoptische Gleichgewichtsorgane Libellen anfälliger dafür macht, die Torturen des Experiments nicht zu überleben? Was, wenn auch die überlebenden Libellen anfangs ein nichtoptisches Gleichgewichtsorgan hatten, das aber durchs Einfrieren oder eine andere überwiegend tödliche Prozedur kaputt gegangen ist?

Hätte ich das Vorhaben ethisch begutachten müssen, wäre ich vermutlich eingestiegen auf Abschnitt 2.3 der ergänzenden Materialien (wenn etwas in der Art im Antrag gewesen wäre), in dem es heißt, „Dragonflies perform mid-air righting maneuvers often during their prey-capture maneuvers”.

Also… wenn die solche Manöver auch freiwillig fliegen, wäre es dann nicht besser gewesen, sie in solchen Situationen zu filmen? Klar, das wäre dann wahrscheinlich fies den Ködern gegenüber, die mensch ziemlich sicher fest positionieren (und damit ihrerseits festkleben) müsste, damit das mit dem Hochgeschwindigkeitsfilmen klappt. Aber trotzdem: Für mich wäre das das mildere Mittel gewesen.

Außerdem hätten die Köder ja Mücken sein können.

Nachtrag (2022-07-11)

Meine Sorgen über ethisch grenzwertige bis unhaltbare Experimente mit Insekten liegen offenbar im wissenschaftlichen Trend. Am 10. Juli haben die Science Alerts einen Beitrag über die Schmerzwahrnehmung von Insekten veröffentlicht, der einige weitere beunruhigende Experimente anführt (etwa zu Phantomschmerzen bei Drosophilen). Immer mehr sieht es aber so aus, als fände bei vielen Insekten durchaus Schmerzverarbeitung statt, auch wenn diese im Detail etwas anders funktioniert als bei uns.

[1]

Das Genre „Wir drehen Tiere auf den Rücken und lassen sie fallen“ ist ausweislich des Papers beeindruckend fruchtbar. Zumindest heißt es dort:

Aerial righting behavior has been found in different animal taxa, including small mammals (2), flightless insects (3), reptiles (4), flying insects (5), birds (6), and bats (7), suggesting a convergent behavior that may shed light on the origin of flight (8)

Ich vermute, dass Referenzen zwei bis sieben viel weiteres Material für meine Ethikkommission-Rubrik böten. Referenz 7, die schon wieder gegen Fledermäuse geht, lässt vom Titel „falling with style“ her allerdings hoffen.

Letzte Ergänzungen