Nachdem mich gestern die Publikationen der Gruppe von Kathelijne Koops so gelockt haben, habe ich gleich eine durchgeblättert, und zwar „How to measure chimpanzee party size? A methodological comparison“ von Kelly van Leeuwen und KollegInnen (doi:10.1007/s10329-019-00783-4, Preprint).
Bevor ich das lobe, muss ich etwas mosern. Erstens, weil das Ganze von unfreier Software nur so strotzt – die statistische Auswertung ist mit SPSS gemacht (geht ja auch anders), und das Paper wurde wohl in Word geschrieben, auch wenn die Metadaten des Preprints etwas verwirred aussehen (leicht redigiert):
$ pdftk ZORA198831.pdf dump_data InfoKey: ModDate InfoValue: D:20220128142734+01'00' InfoKey: Creator InfoValue: Acrobat PDFMaker 17 für Word InfoKey: CreationDate InfoValue: D:20220128142734+01'00' InfoKey: Producer InfoValue: GPL Ghostscript 9.25
Warum da nacheinander ein „PDFMaker für Word“ und dann (?) nochmal ein Ghostscript drübergelaufen sind? Hm. Das PDF vom Verlag ist übrigens nochmal anders gemacht und meldet „Acrobat Distiller 10.1.8 (Windows)“ als die Software, die das PDF geschrieben hat. Uh. Ein wenig neugierig wäre ich nun schon, woraus das destilliert wurde.
Zweitens ist nicht schön, dass die Open-Access-Webseite der Uni Zürich „You need to enable JavaScript to run this app.“ sagt. Das ist in diesem Fall um so weniger angebracht, als sie auch ohne Javascript eine ganz brauchbare Seite ausliefert. Allerdings fehlen in dem Word-generierten PDF die Abbildungen und Tabellen, und sie sind auch nicht erkennbar verlinkt. Immerhin sind beim Verlag (Springer) „Online Resources“ offen (während sie von Leuten, die nicht für hinreichend reiche Unis arbeiten, absurde 37.40 Euro fürs formatierte PDF haben wollen). Zumindest im Falle der ziemlich sinnlos gestapelten Ergebnisse der verschiedenen Methoden in Abbildung 1 ist das Fehlen der Abbildungen aber hier vielleicht sogar verschmerzbar.
Ich würde noch nicht mal auf die Tests, die die AutorInnen so durchgeklickt haben, furchtbar viel geben, auch wenn sie immerhin ein wenig statistsiche Abbitte geleistet haben (das ist die realweltliche Bedeutung des dann und wann angerufenen hl. Bonferroni).
Wirklich schade ist es aber um die Tabelle 1 (wenn die Abbildung hier nicht reicht: Libgen kann helfen). Sie liefert eine schöne Quintessenz der qualitativen Betrachtungen zu möglichen systematischen Fehlern, und die geben gute – und vor allem im Vergleich zu entsprechenden Betrachtungen in der Physik auch recht greifbare – Beispiele für das, von dem ich in meinem Lob von small data geredet habe. Van Leeuwen et al schätzen nämlich die Größe von umherziehenden Schimpansengruppen. Weil die Tiere nun in den Baumkronen umherturnen und noch dazu vielleicht nicht so gern gezählt werden, ist das nicht ganz einfach, und die Leute probieren vier verschiedene Verfahren:
- Hingehen und Affen zählen
- Eine Fotofalle aufstellen und sehen, wie viele Schimpansen auf den Bildern sind
- Anrücken, wenn die Tiere weg sind und zählen, wie viele Tagesnester – leichte Konstrukte aus Blättern und Zweigen, in denen Schimpansen kleine Nickerchen halten – in den Bäumen sind
- Anrücken, wenn die Tiere weg sind und zählen, wie viele Schlafnester – elaborierte Konstruktionen, in denen ein Schimpanse die Nacht (aber immer nur eine) verbringt – in den Bäumen sind.
In einer idealen Welt würde für eine gegebene Gruppe immer die gleiche (kleine natürliche) Zahl rauskommen, also vielleicht 5. Und ich finde die erste wertvolle Einsicht schon mal: Selbst einer 5 kann mensch in vielen Bereichen der Wissenschaft nicht vertrauen. Na gut: Als Astronom sollte ich da nicht mit Steinen werfen, denn wir kommen ja auch mit acht, neun oder zehn (Planeten im Sonnensystem) ins Schleudern.
Wenig überraschenderweise lieferten verschiedene Methoden tatsächlich verschiedene Ergebnisse, und zwar systematisch. Zur Erklärung schlagen die AutorInnen unter anderem vor:
- Direkte Beobachtungen werden vermutlich große Gruppengrößen bevorzugen, da sich kleinere Gruppen noch scheuer gegenüber Menschen verhalten werden als große – und umgekehrt die Menschen größere Gruppen wegen mehr Geschrei auch leichter finden.
- Umgekehrt werden direkte Beobachtungen eher einzelne Tiere übersehen, wenn diese besonders scheu sind, was zu einer systematischen Unterschätzung speziell bei besonders wenig an Menschen gewöhnten Gruppen führen wird.
- Die Fotofallen könnten ähnliche Probleme haben, wenn die Schimpansen ihre Existenz spitzkriegen. Offenbar gibt es da Vermeidungsverhalten. Und natürlich haben Fotofallen nur ein endliches Gesichtsfeld, so dass sie bei realen Schimpansengrupen recht wahrscheinlich einzelne Tiere nicht erfassen werden.
- Bei den Tagesnestern werden eher Tiere übersehen, weil einige sich gar keine Tagesnester bauen, etwa, weil sie gar kein Nickerchen halten. Und außerdem sind diese Nester häufig so locker gezimmert, dass Menschen sie übersehen. Das kann aber durchaus auch zu einer Überschätzung der mittleren Gruppengröße führen, weil kleinere Tageslager gar nicht auffallen; ähnlich würde es sich auswirken, wenn sich ein Tier zwei oder gar mehr Tagesnester baut.
- Bei Nachtnestern könnte die Gruppengröße überschätzt werden, weil sich vielleicht mehrere Gruppen zur Übernachtung zusammentun (was dann den Übergang von systematischen Fehlern in interessante Ergebnisse markiert). Demgegenüber dürften die Probleme mit übersehenen kleinen Nachtlagern wie auch mit übersehenen Nestern bei Nachtnestern weniger ins Gewicht fallen als bei Tagnestern, einfach weil sie viel aufwändiger gebaut sind.
Nun reichen die Daten von van Leeuwen et al nicht, diese Systematiken ordentlich zu quantifizieren, zumal sie sehr wahrscheinlich auch von allerlei Umweltbedingungen abhängig sind – im Paper geht es in der Hinsicht vor allem um die Verfügbarkeit von Obst (mit der die Gruppengröße wachsen könnte, weil mehr Tiere gleichzeitig essen können, ohne sich in die Quere zu kommen) und um die Anwesenheit fortpflanzungsbereiter Schimpansinnen.
Dass systematische Fehler sehr wohl qualitative Ergebnisse ändern können, zeigt die Studie schön. So werden Gruppen laut Fotofallenmethode größer, wenn sie fortpflanzungsbereite Frauen umfassen; dieses Ergebnis verschwindet aber, wenn die Gruppengrößen durch direkte Beobachtungen geschätzt werden. Durch Nestzählung ist zu dieser Frage keine Aussage möglich, weil jedenfalls ohne viel Kletterei nicht herauszubekommen ist, wie es mit Geschlecht und Zykluslage der NestbauerInnen ausgesehen haben mag.
Und auch wenn die Arbeit nicht auseinanderhalten kann, wie weit die größeren Gruppen, die sich bei Betrachtung der Nachtnester ergeben, Folge systematischer Fehler bei der Erfassung sind oder durch das Verhalten der Tiere verursacht werden: Klar ist jedenfalls, dass mensch bis auf Weiteres lieber keine Schlüsse von Nachtzählungen aufs Tagesverhalten zieht.
Was ja auch ein schönes Ergebnis ist.