Antisprache: Chancengleichheit

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Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit am Rathaus des fünften Pariser Arrondissements. Ok, die „Brüderlichkeit“ sollte heute besser „Solidarität“ sein. Klar ist aber: Mit „Chancengleichheit“ in der Losung wäre das 1789 nichts geworden.

Ein Klassiker der Antisprache – Wörtern, die von normalen Wörtern übertragene Information zerstrahlen wie Antimaterie normale Materie – ist „Chancengleichheit”. Seit meinem Schurken und Engel-Post, der eine reale Chancengleichheit modelliert hat, hatte ich immer mal diskutieren wollen, warum das eine sehr unrealistische Annahme war. Jetzt ist ein guter Anlass dafür da – siehe unten.

Zunächst aber will ich meine Fantasie loswerden, wie zwei gewissenlose Werbefuzzis die Chancengleichheit ausgekocht haben:

A: „Die Leute finden es irgendwie doof, dass ein Vorstand so viel kostet wie 1000 Leute, die die Arbeit machen [ok: Als dieses Gespräch stattgefunden haben könnte, war der Faktor vielleicht 100]. Wir müssen was tun.“

B: „Da springen wirklich ein paar Knallköpfe rum, die finden, alle sollten gleich viel verdienen. Haha. Wo kämen wir denn da hin? Also: Erstmal müssen wir denen klarmachen, dass Gleichheit totaler und fieser Quatsch ist.”

A: „Das ist einfach: Lass uns von Mao-Einheitskleidung erzählen. Das wird unser claim: Gleichheit ist eintönig!“

B: „Genau! Und nicht die Gewalt, die die krassen Eigentumsunterschiede aufrechterhält, ist Zwang, nein, es wäre total fieser Zwang, wenn die Reichen nicht mehr die anderen für sich arbeiten lassen dürften. Gleichmacherei! Das wäre die üble Bevormundung, das ist mal klar.“

A: „Aber… die Leute werden es immer noch doof finden, dass der Vorstand hässliche Protzbauten bauen lässt und endlos in der Welt rumjettet, während die Zeitungsausträger noch nicht mal Mindestlohn [ups: den hat es in der Geburtsstunde der Chancengleichheit in der BRD noch nicht gegeben] kriegen.“

B: „Ah bah. Denen müssen nur eben bescheidstoßen, dass sie selbst schuld sind. Wäre der Zeitungsausträger halt auch Vorstand geworden. Er hätte ja die Chance gehabt. Vor allem die Chance, sich andere Eltern auszusuchen.“

A: „Chance… Chance… Ich habs: Wir sagen »Chancengleichheit«. Damit ist ein bisschen von der Gleichheit drin, die die Leute ja immer irgendwie gerecht finden, aber noch der letzte Hirni versteht, dass es ihm nur deshalb dreckig geht, weil er seine Chancen verplempert hat.“

B: „Brilliant. Mit ein bisschen Glück glauben sie sogar so arg dran, dass sie versuchen, ihren Kindern die Chancen, haha, wirklich zu geben, und wir können noch einen 1a Bildungsmarkt aufmachen. Heia Bruttosozialprodukt!“

Also gut, ich kann jetzt nicht versprechen, dass das Gespräch genau so stattgefunden hat, vielleicht irgendwann in den 70ern. Ich finde das aber ziemlich plausibel. „Chancengleichheit“ ist jedenfalls ein zutiefst reaktionäres Konzept, das einerseits Ungleichheit legitimiert und andererseits Armen die Schuld an ihrer Situation zuschiebt.

Ein Moment der Überlegung entlarvt diesen Begriff sofort: Niemand kann sich irgendwelche Verhältnisse vorstellen, in denen die Tochter eines armen, strukturell analphabetischen Paars auch nur irgendwie vergleichbare „Chancen“ hat wie der Sohn des Klischee-Paares aus Prof und Anwältin. Nicht auf Bildung, nicht auf ordentlich bezahlte oder gar halbwegs befriedigende Jobs, nicht auf eine Machtposition und auch nicht auf einen Sitzplatz in der Oper. Und selbst wenn sie die Chance hätte: würde das die dramatischen Unterschiede bei Existenzsicherheit, Lebenserwartung, Stinkigkeit der Jobs rechtfertigen, die wir in unserer Gesellschaft haben?

Für mich ganz zweifellos: Würde es nicht. Die Ungleichheit ist das Problem, nicht irgendwelche Gemeinheiten, die ein paar Privilegierten ein Abo auf die Sonnenseiten (für irgendwelche vielleicht seltsamen Begriffe von Sonne) geben. Die zentrale Antisprachlichkeit von Chancengleichheit besteht im Versuch, das Gleichheitsgebot zu diskreditieren und zu demontieren. Demgegenüber fast schon verzeihlich wäre der innere Widerspruch, dass eine Gleichheit von Chancen überhaupt nur bei halbwegs gleicher gesellschaftlicher Teilhabe, also mindestens sozialer Gleichheit, vorstellbar ist. Etwas gedrechselt: die Chancengleichheit hat paradoxerweise die Gleichheit, deren Fehlen sie legitimieren würde, zur Voraussetzung.

Natürlich bin ich nicht der erste, dem das auffällt, und so ist übers letzte Jahrzehnt oder so die „Chancengerechtigkeit“ populär geworden, vermutlich zunächst aus dem Gedanken heraus, Arme müssten gerechtigkeitshalber halt mehr Chancen bekommen als Reiche, damit es am Schluss „gerecht“ zugeht, ein wenig im Stil der affirmative action.

Leider hilft das fast nichts. Auch die Chancengerechtigkeit legitimiert jede Ungleichheit („du hattest deine gerechte Chance und hast sie nicht genutzt“) und schiebt die Schuld für individuelles Elend nur noch mehr den Armen zu („wir haben dich ja sogar extra gefördert, aber dann hast du nur handygedaddelt und RTL 2 geschaut“).

Nein: die richtige Forderung ist die nach Gleichheit, und erfreulicherweise hat die GEW im Gastkommentar der Erziehung und Wissenschaft 11/2021 Christian Baron das auf den Punkt bringen lassen:

Die Formel muss also lauten: Erst die Umverteilung, dann die Bildung. Oder anders gesagt: Ein Goethe-Gedicht kann Wunder bewirken. Essen kann man es aber nicht. Anstatt Bildung als Weg aus der Armut zu verkaufen und ihr damit einen rein nutzenmaximierenden Ballast aufzuladen, sollte die Politik lieber dafür sorgen, dass kein Mensch mehr in Armut leben muss.

Nur wäre die GEW nicht die GEW, wenn nicht in der gleichen Ausgabe das kritisierte Konzept im Titel eines Artikels auftauchen würde: „20 Jahre PISA: Schlusslicht in Sachen Chancengleichheit“. Nee: Nur, weil ein Hochamt der Metrik- und Marktreligion wie PISA für eine Weile mal Argumente für eigenen Interessen liefert (oder zu liefern scheint), ist das noch lang kein Grund, den Mist zu verwenden. Oder gar, die damit transportierte Antisprache gegen die eigenen LeserInnen einzusetzen.

Zitiert in: Antisprache: Innovation, Teil 1

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