Frankenstein und Frankenstein: Eine Geschichte von Touristinformation

Eine offensichtlich modern restaurierte Burg mit einem behaubten Turm.

So wüst gefälscht wie die Hardenburg: Burg Frankenstein oberhalb von Darmstadt-Eberstadt.

Ich sitze gerade auf der Burg Frankenstein, und zwar der hessischen Fassung, mit etwas baumbehinderten Ausblick auf die Oberrheinebene. Abgesehen von Burgherren mit dem bemerkenswerten Vornamen Arbogast weckte dabei vor allem eine Beobachtung meine Bloglust: Quellenkritik ist wichtig. Es stellt sich nämlich angesichts des popkulturell belegten Nachnamens der Arbogasts die zentrale Frage: Hat hier wer künstliche Menschen gemacht?

Mir fiel auf, dass darüber in der von mir mitgebrachten und der vor Ort installierten Literatur wenig Einigkeit besteht.

Fangen wir mit der Fassung des ziemlich seriös daherkommenden Rother-Wanderführers „Rund um Frankfurt“ von Gerard Heimler und Thorsten Lensing (2021) an:

Obwohl es zu Mary Shelleys Roman „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ keine über den Namen hinausegehende Verbindung gibt, finden sich auf der erstmals 1252 urkundlich erwähnten Wehranlage Halloweenpartys und Gruseldinner statt.

Das mit den Dinners dürfte im Augenblick Fake News sein, weil die bemerkenswert hässlich hingeklotzte Gastronomie derzeit offenbar pächterlos ist. Macht bis auf Weiteres nicht meinen Fehler und hofft auf Sättigung hier oben – immerhin gibts aber Wasser auf der Toilette.

Demgegenüber weiß das buntere, großformatigere „52 kleine & große Eskapaden in der Region Rhein-Main“ von Sarah Waltinger (Dumont 2020, also immerhin vom Verlag her auch nicht ganz ohne Reputation) zu erzählen:

Man munkelte, der Alchimist Johann Konrad Dippel, 1673 auf der Burg Frankenstein geboren, habe aus Leichenteilen und dem Blut von Jungfrauen einen neuen Menschen erschaffen. In einem Brief soll Jacob Grimm von den unheimlichen Vorfällen einer gewissen Mary Jane Clairmont berichtet haben, die keine Geringere als die Stiefmutter von Mary Shelley war. Ob die Autorin auf diesem Wege zu ihrem Weltbesteseller „Frankenstein“ inspiriert wurde und Johann Konrad Dippel als reale Vorlage für den verrückten Professor diente? Darüber streiten sich die Experten.

Viele reale Namen, Jahreszahlen und alles: Die Geschichte klingt doch sehr plausibel. Wussten die Rother-Autoren nichts davon? Oder halten sie es für frei erfunden? Gibt es einen Briefwechsel der Grimms mit den englischen Gothics?

Nun, vor Ort bekommt mensch auf einer Tafel das hier angeboten:

Abfotografierter Text auf einer Informationstafel: „In der Nacht des 2.Septembers 1814 machte die englische Autorin Mary Shelley während einer Rheinreise ein paar Stunden Rast in Gernsheim (15 km westlich der Burg).  Dabei soll sie auf die Burg Frankenstein aufmerksam geworden sein.  Von Germsheim ist die Burg jedoch – selbst bei Tage – kaum zu erkennen.  Es ist daher unwahrscheinlich, dass es einen direkten Bezug zwischen der Burg und dem Schauerroman gibt.“

Das steht zwar nicht in direktem Widerspruch zu den beiden anderen Fassungen (je nach dem, wie mensch „direkt“ interpretieren möchte), so richtig passen will es aber auch nicht.

Der etwa auch wegen der großartigen Geschichte vom Goldrausch auf der Burg durchaus lesenwerte Wikipedia-Artikel zur Burg erklärt, mit einigen Ergänzungen der letzten Jahre:

Berühmtheit verdankt die Burg Frankenstein der Tatsache, dass sie als Namensgeber für Mary Shelleys bekanntes Buch „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ dargestellt wird, das auch mehrfach verfilmt wurde. Eine Verbindung Mary Shelleys mit der Burg wird von verschiedenen Autoren aus Gründen der beschriebenen Lokalitäten angezweifelt – zudem wird in dem Roman keine Burg erwähnt. Da das Ehepaar Shelley auf der Reise nach Genf aber durch das Rheintal kam, wird vermutet, dass die Schriftstellerin den Namen der Burg bzw. des Adelsgeschlechtes übernahm (der Held im Buch, Viktor Frankenstein, wird als Patriziersohn beschrieben, der aber aus der Schweiz stammt). […]

Verbreitung fanden diese „neuen“ Legenden über Dippel durch ein 1999 erschienenes Buch des Autors und selbsternannten Burgschreibers der Burg Frankenstein, Walter Scheele, in dem auch behauptet wurde, dass Dippel das historische Vorbild für Mary Shelleys Buch Frankenstein oder der moderne Prometheus sei, eine These, die aufgrund fehlender Belege und Hinweise von Historikern des Geschichtsvereins Eberstadt-Frankenstein abgelehnt wird.

Ich habe die Belege aus dem Wikipedia-Zitat entfernt (guckt bei Bedarf selbst), bis auf einen. Die Abhandlung des Geschichtsvereins macht einen ernsthaften Eindruck, und sie würde ich als Autorität akzeptieren, bis einE VertreterIn der „Grimmforschung“ widerspricht. Und so: Shame on you, Dumont: Es sind nicht etwa „Experten“, die da streiten.

Letzte Ergänzungen