Das Verschwinden der Nacht in der Skulpturensammlung

Eine Sternkarte von Pegasus und Andromeda, in der die Position des Andromeda-Nebels markiert ist.

Für große Gefühle im September: Verpasst nicht, einen Blick auf den Andromedanebel zu werfen – es ist einfacher, als ihr vielleicht glaubt.

Die Frankfurter Liebieghaus-Skulpturensammlung (Warnungen: Google Analytics, ohne Javascript kaputt, besonders bizarres Cookiebanner[1]) stellt Skulpturen aller Art aus. In diese Dauerausstellung ist derzeit in ziemlich origineller Weise eine Sonderausstellung mit dem farbigen Namen Maschinenraum der Götter eingeflochten. Diese will die Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft in etlichen Kulturen Eurasiens beleuchten. So kommt es, dass plötzlich Uhrmacherei aus dem goldenen Zeitalter des Islams vor stilistischen Erwägungen zu irgendwelchen christlich-atavistischen Pieta-Figuren diskutiert wird.

Lobenswert finde ich auch das Bestreben, der irgendwie aus dem Zeitalter des Imperialismus in heutige Laienvorstellungen herübergeschwappten Erzählung entgegenzutreten, dass es Fortschritt grob im perkleischen Athen und bei uns seit der Renaissance gab, während ansonsten wegen römischer Dekadenz, finsterem Mittelalter und Nicht-Europa-Sein nicht viel los war. Allerdings lassen sich die KuratorInnen im antikolonialen Überschwang manchmal zu etwas kurzsichtigen Aussagen hinreißen, etwa, wenn sie über Keilschrifttäfelchen von ca. 2000 vdcE[2], die die Aussage des Satzes des Pythagoras enthalten (dürften) den entscheidenden Beitrag der griechischen Mathematik – die Idee des Beweises – unnötig kleinreden.

Wenn Gründe wichtiger sind als Fehler

Manchmal mag es auch nur etwas fachfremdes Sprachstolpern sein, beispielsweise beim an sich hinreißenden Modell des Riesensextanten in Ulug Begs Observatorium (kurz vor 1500 ndcE), wo es klingt, als sei dort die (Rate der) Änderung der Schiefe der Ekliptik bestimmt worden. Was Ulug Beg dazu gedacht hat, weiß ich nicht, aber wirklich bekannt ist die Samarkander Astronomie für die verblüffende Genauigkeit ihrer Bestimmung der Größe selbst. Das ganz zu recht: mit einem Detektor, der nur etwa 2 Bogenminuten auflösen kann (das menschliche Auge) eine Größe auf ein paar Bogensekunden genau zu bestimmen, ist bereits aufregend genug.

Von solchen Kleinigkeiten hätte ich mich jedoch nicht an die Tastatur rufen lassen. Postwürdig fand ich erst die Beschriftung des Himmelglobus von ʿAbd ar-Raḥmān aṣ-Ṣūfī (im Westen – mir aber bisher auch nicht – eher als Azophi bekannt; wir sind jetzt ca. 950 ndcE), und zwar weniger wegen Fehlern als wegen der Gründe dieser Fehler:

Ein fotografierter Text, in dem u.a. steht „die sogenannte Große Magellan'sche Wolke [...] und den Andromedanebel auf, zwei Galaxien des südlichen Sternenhimmels“

Dass der_die KuratorIn den Andromedanebel auf den Südhimmel schiebt, ist ein Alarmzeichen für Menschen wie mich, die den Nachthimmel für ein schützenswertes Gut halten.

Von einem dunklen Platz aus ist der Andromedanebel nämlich klar am Nordhimmel mit dem bloßen Auge zu sehen. Wer das Ding mal gesehen hat und vielleicht dazu erzählt bekam, dass die Photonen, die das Nebelfleckchen auf die Netzhaut zaubern, gut 2 Millionen Jahre unterwegs waren, dass es damit auch gleich das entfernteste Objekt ist, das Menschen ohne technische Unterstützung sehen können, wird den Andromedanebel, so bin ich überzeugt, nicht mehr vergessen. Wer ihn umgekehrt mit „sogenannt“ qualifiziert auf den Südhimmel packt, hat ihn wahrscheinlich noch nie im Himmelskontext gesehen.

Das finde ich von der Naturbetrachtung her ebenso schade wie angesichts einer verpassten Chance, eine Kopfzahl auf der kosmischen Entfernungsleiter mitzubekommen: „Die nächste ordentlich große Galaxie ist 2.2 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße weg“.

Der Lichtverschmutzung ein wenig entkommen

Aber leider haben wir praktisch unseren gesamten Lebensraum so beleuchtet, dass vermutlich viele Menschen noch nicht mal die Milchstraße mit eigenen Augen gesehen haben, geschweige denn den viel unauffälligeren Andromedanebel. Nennt mich einen Naturwissenschafts-Chauvinisten, aber ich halte das für eine Bildungslücke von nachgerade Homer'schen Ausmaßen.

Die gute Nachricht ist: schon mit einem winzigen Fernglas ist der Andromeda-Nebel demnächst wieder auch aus etwas dunkleren Stadtstandorten (ein Friedhof müsste reichen) zu sehen, wenn es mal etwas aufklart. Dazu habe ich mit dem großartigen Stellarium die Suchkarte oben gebastelt, die den Anblick Ende September gegen zehn Uhr (Sommerzeit) am Abend wiedergibt, wenn ihr grob nach Osten schaut. Das große Viereck des Pegasus könnt ihr am realen Himmel nicht übersehen, und wenn ihr das habt, ist der sich nach links erstreckende Anhang der Andromeda mit den paar nach oben strebenden Sternen nicht zu verfehlen (die Richtungen beziehen sich auf die Abendsichtbarkeit).

Peilt mit eurem Fernglas den obersten Stern der aufstrebenden Sternkette an und sucht (bei höheren Vergrößerungen; bei niedriger Vergrößerung habt ihr den Nebel direkt im Blick) dann etwas rum. Der Andromeda-Nebel ist nicht zu übersehen. Wenn euch das noch nicht ergreift, dann macht euch nochmal klar, dass auf eurer Netzhaut gerade Photonen platzen, die das letzte Mal mit Materie interagiert haben, als der Homo Erectus sich gerade irgendwie aus dem Stammgestrüpp des Menschen herauswand.

Wo ihr dann schon mit einem Fernglas unter dem Herbsthimmel draußen seid, haltet weiter Ausschau nach dem Perseus – das ist ein Sternbild, das ein wenig aussieht wie ein π. Darin befindet sich – leicht durch Absuchen in Streifen findbar – der wunderschöne Doppel-Sternhaufen h und χ Persei, der mit bloßem Auge schon bei nur schwacher Lichtverschmutzung sichtbar (ihr würdet indirekt blicken müssen) ist, im Fernglas aber auch innerorts klasse aussieht. Klar, kein bisschen so bunt wie das, was die Presseabteilungen von NASA und ESA unter die Leute bringen – aber in einer ganz eigenen Art vielleicht noch aufregender.

Fehlende Daten aus dem Süden?

Der dunkelheitsvergessene Text der Liebieg-KuratorInnen stand übrigens bei einem schimmernden Himmelsglobus, zu dem es weiter hieß: „Fuat Sezgin und dem Frankfurter Institut für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften ist der Nachbau des Himmelsglobus des ʿAbd ar-Raḥmān al-Ṣūfī gelungen.“ Ich würde auch da leise Zweifel anmelden: Das überlieferte Werk von al-Ṣūfī ist ein Himmelsatlas mit flach projizierten Karten, und eine oberflächliche Recherche hat nichts von einem Globus aus seinem Umfeld erbracht, der hätte „nachgebaut“ werden können. Und wenn er wirklich einen gebaut hat, wäre der fast sicher nicht im „material design“ metallschimmernd gewesen, sondern zeittypisch kunterbunt.

Aber sei es drum – wirklich spannend im Hinblick auf das, was wir Magellanische Wolken nennen, ist die Südpolkappe, die bei den Liebiegs so aussieht:

Schimmernder Südpol eines Messing-Himmelsglobus mit eingelegten silberfarbenen Sternen.  Auf ca. 10 Grad um den Südpol herum befinden sich keine Sterne.

Bemerkenswert dabei finde ich, dass al-Ṣūfī offenbar keine Daten für die südlichsten, sagen wir, zehn Grad des Himmels hatte – denn natürlich gibt es auch in der auf dem Globus leeren Zone Sterne. Um diese beobachten zu können, müsste mensch sich aber etwas südlich vom Äquator befinden, denn es ist selbst bei guten Bedingungen – die in den Tropen fast überall rar sind – sehr schwer, in der Nähe des Horizonts nützliche Sternbeobachtungen anzustellen. Nun ist zur Geschichte des Sansibar-Archipels (auf fast sieben Grad Süd) in der Wikipedia zu lesen:

Als die ersten Besucher gelten arabische Händler, die im 8. Jahrhundert die Insel bereisten. […] Schon im 10. Jahrhundert hatten Araber Niederlassungen in der Region gegründet, die sich zu blühenden Republiken entwickelten.

Arabische Reisende waren also zu al-Ṣūfīs Zeiten schon weit genug im Süden gewesen, und da sie Seefahrende waren, konnten sie vermutlich Sterne vermessen. Ich wäre neugierig, ob bekannt ist, warum ihre Erkenntnisse nicht in al-Ṣūfīs Sternkarten eingeflossen sind.

So eine Frage, das gestehe ich gerne zu, ist vielleicht doch zu nerdig für ein Museum dieser Art. Die bei aller Mäkelei an Details sehr sehenswerte Ausstellung bei den Liebiegs ist noch bis zum 24.1.2024 zu sehen.

Der unvermeidliche Bahn-Rant

Abschließend: Wer in Frankfurt wohnt, mag vermuten, dass ich mit dieser Geschichte zu einer Ausstellung, die schon seit März läuft, ausgerechnet jetzt komme, weil ich das Museumsufer-Fest zum Besuch einzeln vielleicht nicht ganz so attraktiver Museen genutzt habe. Das stimmt. Dieses Geständnis gibt mir Anlass zu einem Mikrorant gegen die Bahn: An drei Tagen hintereinander war die jeweils von mir angestrebte Ausgabe des RE 60 von Frankfurt nach Süden durchweg ein schlimmer Schmerz.

Am Freitag fiel er ganz aus, am Samstag veranstaltete die Bahn neben der quasi obligatorischen Verspätung von 30 Minuten in Weinheim ein munteres Bahnsteighopping in Frankfurt von 11 auf 13 auf 12, am Sonntag schließlich war die davor auf der Strecke fahrende Regionalbahn ausgefallen und deshalb der RE knallvoll.

Mein Beileid denen, die sich als Beschäftigte in diesem Laden abkämpfen. Ich hätte längst sieben Nervenzusammenbrüche erlitten, wenn ich das alles organisieren müsste – und wäre nach der Reha Vollzeit in den Kampf um eine Rückkehr der BeamtInnenbahn eingestiegen.

[1]Wo ich schon über Techno-Murks jammere: Dass die Audiokommentare zur Ausstellung weggeschlossen sind in einer „App“, die Rootzugriff für Apple oder Google voraussetzt statt (zumindest auch) über die Webseite zugänglich zu sein: das ist auch doof.
[2]Vgl. diese Fußnote

Letzte Ergänzungen