In der diesjährigen Buchmesse-Sendung von Forschung aktuell am Deutschlandfunk ging es vor allem um Bücher zur Zukunft an und für sich. In der Anmoderation dazu sagte Ralf Krauter:
Die Geschichte der Menschheit ist denn auch voll von krass falschen Prognosen. Die vielleicht bekannteste – oder eine meiner Favoriten – kennen Sie womöglich. Tom Watson, der fühere IBM-Chef, sagte im Jahr 1943 mal: Ich denke, es gibt einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer. Kam dann anders, wie wir alle wissen, aber es zeigt schon: Selbst die Prognosen von absoluten Fachleuten sind mit Vorsicht zu genießen.
Als ich das gerade gehört habe, wollte ich spontan einwenden, dass das Urteil über Thomas Watsons Prognose noch aussteht. Natürlich wird es auf absehbare Zeit hunderte Milliarden von Mikroprozessoren geben, aber die meisten von denen tun Dinge, für die es früher vielleicht diskrete Steuerungen oder Analogelektronik gegeben hätte – sie dienen genau nicht als die universellen programmierbaren Geräte, die Watson bei seiner Schätzung im Kopf gehabt haben wird.
Viele andere sind verbaut in den späten Erben der Fernschreiber und Terminals der Großrechnerära: Den Mobiltelefonen, die heute vielfach kaum mehr sind als Ein-/Ausgabegeräte für eine Handvoll großer Computer. Dabei muss mensch nochmal die Augen etwas zusammenkneifen; wenn wir Watson geben, dass er von riesigen Mainframes gesprochen hat, mit vielen, vielen CPUs, dann sind die heutigen „Clouds“ von Google, Facebook, Microsoft und Alibaba im Wesentlichen jeweils ein Computer im Sinn von Watson. In dieser Zählung – in der Router und Endgeräte nicht, die Rechenzentren der „Hyperscaler“ jeweils als ein Computer zählen – teilen sich in der Tat fünf oder zehn Computer den Großteil der Computernutzung eines Großteils der Menschheit.
Je dominanter das Modell wird, in dem dumme Clients unter Kontrolle von Apple bzw. Google („Smartphones“) Dienste ausspielen, die auf einer kleinen Zahl von Infrastrukturen laufen („Cloud“), desto näher kommen wir wieder Watsons Einschätzung. Noch gibt es natürlich ordentliche Computer in allen möglichen Händen. Wie sehr sich die Menschen jedoch schon an das Konzept gewöhnt haben, dass sie nur Terminals, aber keine eigenen Computer mehr haben, mag eine Anekdote von meiner letzten Bahnreise illustrieren.
Ich sitze im Zug von Würzburg nach Bamberg; er steht noch im Bahnhof. Ich kann mich nicht beherrschen und linse kurz auf den Bildschirm neben mir, und ich bin sehr erfreut, als dort jemand halbwegs ernsthafte Mathematik tippt, natürlich mit dem großartigen TeX. Meine Freude trübt sich etwas auf den zweiten Blick, denn der Mensch benutzt Overleaf, ein System, bei dem mensch in einem Webbrowser editiert und den TeX-Lauf auf einem Server macht, der dann die formatierten Seiten als Bilder wieder zurückschickt.
Ich habe Overleaf, muss ich sagen, nie auch nur im Ansatz verstanden. Ich habe TeX schon auf meinem Atari ST laufen lassen, der ein Tausendstel des RAM der kleinsten heute verkauften Maschinen hatte, dessen Platte in einem ähnlichen Verhältnis zur Größe der kleinsten SD-Karte steht, die mensch heute im Drogeriemarkt kaufen kann. Gewiss, mit all den riesigen LaTeX-Paketen von heute wäre mein Atari ST überfordert, aber zwischen dem TeX von damals und dem TeX von heute ist kein Faktor 1000. LaTeX ist wirklich überall verfügbar, und es gibt gut gewartete und funktionierende Distributionen. Wer mit anderen gemeinsam schreiben will, kann auf eine gut geölte git-Infrastruktur zurückgreifen. Am wichtigsten: die Menschen vom Stamme vi können damit editieren, jene der emacs-Fraktion mit ihrem Lieblingseditor, niemand wird auf das hakelige Zeug von Overleaf gezwungen.
Aber zurück zur Anekdote:
Obwohl er also ganz einfach TeX auch auf seinem Rechner laufen lassen könnte, klickt mein Sitznachbar nur ein wenig hilflos herum, als wir den Bahnhof verlassen und mit dem WLAN auch das Hirn von Overleaf verschwindet. Er versucht dann, mit seinem Telefon die Nabelschnur zum Overleaf-Computer wiederherzustellen, aber (zum Unglück für Herrn Watson) ist die Mobilfunkversorgung der BRD marktförmig organisiert. Die Nabelschnur bleibt am flachen Land, wo zu wenig KundInnen Overleaf machen wollen, gerissen. Schließlich gibt er auf und packt seinen Nicht-Computer weg. Zu seinem Glück geht auf seinem Telefon immerhin noch mindestens ein Spiel ohne Internetverbindung…
Dass die gegenwärtige Welt offenbar gegen die Vorhersagen von Thomas Watson konvergiert, dürfte kein Zufall sein. Watson war ein begnadeter Verkäufer, und er hat vom Markt geredet. Spätestens seit das WWW breite Schichten der Bevölkerung erreicht, wird auch das Internet mehr von begnadeten VerkäuferInnen und „dem Markt“ gestaltet als von BastlerInnen oder Nerds.
Wenn ihr die Welt mit fünf Computern für eine Dystopie haltet und das Internet nicht „dem Markt“ überlassen wollt: Arg schwer ist das nicht, denn zumindest Unix und das Netz haben noch viel vom Erbe der WissenschaftlerInnen und BastlerInnen, die die beiden geschaffen haben. Siehe zum Beispiel die Tags Fediverse und DIY auf diesem Blog.