Der Grund, warum ich die GEZ-Gebühren entschieden verteidige: der
Deutschlandfunk. Sein Name ist zwar selten dämlich, und seine
Politikredaktion bringt mich regelmäßig zur Verzweiflung. Aber er hat
z.B. mit Forschung aktuell oder auch Freistil auch wirklich
hervorragende Sendungen. Und spätestens, nachdem ich eine Presseschau
gehört habe, erinnere ich mich wieder daran, dass selbst die
Politikredaktion in Relation zu privaten Medien immer noch das deutlich
kleinere Übel ist.
Die ziemlich hörenswerte Miniserie über Pilze und Menschen in der
Deutschlandfunk-Sendung Wissenschaft im Brennpunkt (Teil
1, Teil 2) endet mit folgenden Worten von (ich glaube) Oliver Kurzai
von der Uni Würzburg:
Deswegen müssen wir glaub ich nicht damit rechnen, dass wir in
absehbarer Zeit tasächlich, ich sag mal, eine Killerpilz-Pandemie
kriegen, die auch den normalen, gesunden Menschen bedroht.
Wenn unsere Realität irgendeine Ähnlichkeit hat mit einem zünftigen
Katastrophenfilm, wisst ihr, was als Nächstes passieren wird.
Vielleicht sind die vielen Einflussfaktoren ein Grund, warum auf
diesem Gebiet überhaupt wenig geforscht wird. Die Bessi-Collaboration
zur Erforschung sozialer, Umwelt- und Verhaltens-Pandemiemaßnahmen
zählt aktuell nur 18 veröffentlichte Studien aus diesem Bereich, aber
974 zu Impfstoffen oder Medikamenten.
Das hat mich daran erinnert, dass ich spätestens seit Oktober 2021
eine ziemlich grundsätzliche Lücke bei unserem Verständnis der
Epidemiologie von SARS-2 gewittert habe, und zwar ganz unabhängig von
meinen misslungenen Vorhersagen im letzten Herbst. Ich habe
nämlich bis genau heute aufgrund von, Fanfare, Unabhängigkeitsargumenten
für sehr unplausibel gehalten, dass sich die Varianten gegenseitig
verdrängen. Lasst mich spoilern: Mein Instinkt, dass da was nicht
stimmen kann, war falsch, Mensch soll einfach nie die
Exponentialfunktion unterschätzen.
Aber langsam. Zunächst habe mir die R-Wert-Schätzungen des RKI
vorgenommen. Zur Erinnerung: Der R-Wert soll sagen, wie viele Leute
einE InfizierteR zu einer bestimmten Zeit im Mittel ansteckt; ist er
konstant größer als eins, wächst die Inzidenz exponentiell, ist er
konstant kleiner als eins, schrumpft sie exponentiell.
Ich möchte auf der Basis der R-Werte den Pandemieverlauf nacherzählen,
um der Variantenverdrängung auf die Spur zu kommen. Dabei nutze dabei
die Kurvenfarbe als Indikator für die geschätzte Inzidenz – beachtet,
dass sowohl die Skalen auf dieser Hilfsachse als auch auf der Ordinate
von Bild zu Bild drastisch verschieden sind.
Plausibler Anfang
Dabei habe ich mir nacheinander ein paar Phasen vorgenommen. Von März
bis Juli 2020 konnte mich mir alles prima zusammenreimen:
Fig 1: R-Werte der ersten Welle
Die unkontrollierte Infektion lief anfangs mit dem geschätzten
R0 (also: wie groß ist das R ganz ohne Maßnahmen und
Immunität?) der Wuhan-Variante (im Winter etwas wie 3) los, dann griffen
die Maßnahmen, und wie sie nacheinander so griffen, fiel auch der
R-Wert.
Ich war damals mit dieser Interpretation soweit glücklich, auch wenn
Leute immer mal wieder an den Zeitskalen rumgemäkelt haben: Reagiert das
nicht schon vor den Maßnahmen? Hätte das nicht schneller auf Schul- und
Betriebsschließungen reagieren müssen? Zu letzterem Punkt zumindest ist
einzuwenden, dass es einerseits zwei, drei Wochen gedauert hat, bis
die Leute wirklich im Coronamodus waren. Andererseits sind für die
Mehrzahl der Fälle auch nur Melde-, nicht aber Infektionszeitpunkte
bekannt. Da diese ohne Weiteres um ein oder zwei Wochen
auseinanderliegen können, wäre selbst eine scharfe Stufe in R in
den RKI-Schätzungen weich ausgeschmiert; ein weiteres Beispiel übrigens
für die Gefahren von Big Data.
Ein merkwürdiger Balanceakt
Gegen Ende des ersten Coronasommers kam mir aber schon komisch vor, wie
sehr sich das effektive R immer ziemlich genau um die Eins herum hielt.
Bei sowas Kitzligem wie einem Infektionsprozess, der davon lebt, dass
sich immer mal wieder ein ganzer Haufen Leute ansteckt, ist es alles
andere als einfach, diese Sorte von Gleichgewicht (es stecken sich
in jeder Zeiteinheit ungefähr genauso viele Leute an wie gesund werden)
zu halten – die Überdispersion der Wuhan-Variante soll was wie 0.1
gewesen sein, so dass vermutlich überhaupt nur ein oder zwei von zehn
Infizierten zur Ausbreitung der Krankheit beitrugen (dann aber auch
gleich richtig, also mit mehreren Angesteckten).
Unter diesen Umständen einen R-Wert von um die eins zu haben, ist ein
Balanceakt ganz ähnlich der Steuerung eines AKW (das zudem nicht mit der
Überdispersion zu kämpfen hat): mach ein bisschen zu wenig und die
Infektion stirbt rapide aus (der Reaktor wird kalt); mach ein bisschen
zu viel und du bist gleich wieder bei enormen Zahlen (der Reaktor geht
durch). Dennoch hat sich der R-Wert (abgesehen vom Tönnies-Zacken Mitte
Juni, der ganz gut demonstriert, was ich mit „kitzlig“ meine) im Sommer
doch recht gut rund um 1 bewegt:
Fig 2: R-Werte im Sommer 2022
Was hat R so (relativ) fein geregelt? Sind die Leute in Zeiten
ansteigender R-Werte wirklich vorsichtiger geworden? Und waren sie
unvorsichtiger, wenn die R-Werte niedrig waren? Erschwerend im Hinblick
auf so eine Regelung kamen zumindest im Juli und August nennenswert
viele Infektionen nicht durch Reproduktion im Land zustande, sondern
kamen mit Rückreisenden aus Gegenden mit höheren Inzidenzen. Wie das
genau lief, ist aber wieder schwierig zu quantifizieren.
Mein erstes kleines Rätsel wäre also, warum die Inzidenz im Sommer 2020
über ein paar Monate hinweg im Wesentlichen konstant war. Im Herbst
2020 schien mir das eher wie eine Anekdote, zumal es recht erwartbar
weiterging:
Fig 3: R-Werte der zweiten und dritten Wellen
Die hohen R-Werte im Oktober sind überaus zwanglos durch Schulen,
Betriebe und ganz kurz auch Unis mit allenfalls lockeren Maßnahmen bei
lausig werdendem Wetter zu erklären. Der Abfall zum November hin wäre
dann der „Lockdown Light“. Wieder mag mensch sich fragen, warum der
Abstieg schon Mitte Oktober einsetzte, während der Lockdown Light ja
erst Anfang November in Kraft trat, aber seis drum. Der nächste
Buckel, hier schon in rot, weil mit für damalige Zeiten enormen
Inzidenzen einhergehend, dürfte ganz grob Weihnachtsmärkte (Aufstieg)
und deren Schließung (Abstieg; ok, es hat auch noch einige weitere
Lockdown-Verstärkungen gegeben) im Dezember 2020 reflektieren.
Verdrängt oder nicht verdrängt?
Dass bei gleichbleibenden Maßnahmen der R-Wert ab Mitte Februar stieg,
habe auch ich mir damals dadurch erklärt, dass die Alpha-Variante
infektöser ist. Richtig schöne Grafiken dazu gibt es erst später, so
etwa hier aus dem RKI-Wochenbericht vom 7.10 (der gerade nicht im
RKI-Archiv zu finden ist):
Fig 4: Anteile der verschiedenen Varianten vom Oktober 2021 (Rechte:
RKI)
Während der, sagen wir, ersten 13 Kalenderwochen des Jahres 2021 hat
also Alpha den Wuhan-Typ im Wesentlichen kompett, nun ja, verdrängt.
Und das schien mir bis jezt sehr unplausibel. Anschaulich gesprochen
nämlich kann Alpha den Wuhan-Typ nur dann verdrängen, wenn die Varianten
„sich sehen“, also überhaupt nennenswert viele Menschen, die der
Wuhan-Typ infizieren möchte, schon zuvor Alpha gehabt hätten[1].
Das war im Frühling 2021 ganz klar nicht so. Der RKI-Bericht vom
16.4.2021 (in dem sich übrigens auch die damaligen Gedanken zu den
Varianten spiegeln) spricht von rund 3 Millionen Infizierten. Plausible
Dunkelziffern werden den Anteil der bereits mit SARS-2 (in der Regel noch
nicht mal Alpha) Infizierten kaum über 10% heben. Die Wuhan-Variante
kann also im Wesentlichen nichts von Alpha gesehen haben, und damit kann
sie auch nicht verdrängt worden sein[2].
Mit einem zweiten Blick stellt sich heraus, dass es das auch nicht
brauchte, denn unter den recht drakonischen Maßnahmen vom Januar 2021 –
wir reden hier von der Zeit nächtlicher Ausgangssperren – hatte der
Wuhan-Typ so in etwa einen R-Wert von 0.9 (das lese ich jedenfalls aus
Fig. 3). Nun rechnet(e) das RKI den R-Wert in etwa so, dass er
das Verhältnis der Infektionen in einem Viertageszeitraum zum vorherigen
Viertageszeitraum angibt; der Gedanke ist, dass es (die „Serienlänge”)
von einer Infektion bis zur Ansteckung in der nächsten Generation bei
SARS-2-Wuhan sowas wie eben die vier Tage dauern sollte[3].
Unter der angesichts konstanter Maßnahmen wenigstens plausiblen Annahme
eines konstanten R-Werts (gegen Ende des Zeitraums mag er wegen Wetter
sogar noch weiter gefallen sein), kann mensch ausrechnen, dass nach 13
Wochen vom Wuhan-Typ nur noch
0.913⋅7 ⁄ 4 ≈ 10%
übrig waren, und weil bei hinreichend niedrigen Inzidenzen der Bestand
eines im Wesentlichen ausbruchsgetriebenen Erregers wie der
Wuhan-Variante eh schon prekär ist: Eigentlich reicht das schon, um das
praktische Verschwinden der Wuhan-Variante ganz ohne Verdrängung durch
Alpha zu erklären.
Zero Covid vs. die vierte Welle
Wenn das die Erklärung ist, wäre das in gewisser Weise eine gute
Nachricht für die Zero Covid-Fraktion: Wir haben Corona schon mal
ausgerottet, inzwischen sogar drei Mal, nämlich den Wuhan-Typ, Alpha und
(wahrscheinlich) Delta. Die „Maßnahmen“ für die jeweils infektiösere
Variante haben offenbar ausgereicht, ihre Vorgänger (praktisch)
vollständig auszurotten. Damit wäre zwar immer noch nicht das
Langfrist-Problem gelöst – denn global wird SARS-2 sicher nicht
verschwinden –, so dass ich nach wie vor eifrig gegen Zero Covid
argumentieren würde, aber ein lokales Ende von Corona haben wir offenbar
schon mehrfach hinbekommen.
Gehen wir weiter in der Zeit:
Fig 5: R-Werte während des Anlaufs zur vierten Welle.
Im Anlauf zur vierten Welle wird es unübersichtlich, weil nennenswert
viele Menschen geimpft waren. Es mag sein, dass der Wuhan-Typ etwas
empfindlicher auf die Impfung reagiert als Alpha, so dass es vielleicht
glaubhaft ist, dass der R-Wert des Wuhan-Typs nicht wieder auf das „gut
1“ aus dem Sommer 2020 zurückgeschnappt ist, nachdem die Beschränkungen
aus dem Winter 20/21 nach und nach wegfielen; dann wäre zumindest klar,
warum der Wuhan-Typ nicht wiederkam.
Bei Alpha und Delta liegen die Verhältnisse wahrscheinlich
komplizierter. Der Umschlag von Alpha auf Delta war noch schneller als
der von Wuhan auf Alpha; abgeschätzt aus Fig. 4 vielleicht zwischen den
Kalenderwochen 21 und 27. Davor, also im Juni, lag der R-Wert um 0.8,
angesichts relativ entspannter Verhältnisse zu diesem Zeitpunkt
vermutlich bereits eher durch Impfung als durch nichtpharamzeutische
Maßnahmen bedingt. Sechs Wochen R = 0.8 bringen die Inzidenzen,
immer noch unter der Annahme der Unabhängigkeit der konkurrierenden
Infektionsprozesse, wiederum runter auf
0.86⋅7 ⁄ 4 ≈ 10%
– das Aussterben von Alpha kommt also erneut so in etwa hin, wenn …
Am 11. April gedachte das DLF-Kalenderblatt dem Massaker von Chios, das
vor 200 Jahren den Höhe- oder eher Tiefpunkt einer jedenfalls
rückblickend betrachtet völlig durchgeknallten Verkettung von
Gewalttaten und Vergeltungsaktionen markierte.
Ich muss gestehen, dass mir die ganze Geschichte völlig neu war; in
der Kürze beim DLF klang es für mich zunächst so, als habe der
osmanische Sultan die Bevölkerung der reichen Ägaisinsel Chios
ausradieren lassen, weil sie gegen ihre manifesten (ökonomischen)
Interessen mit Aufständischen paktiert hatte, die wiederum zuvor andere
Untertanen des Sultans massakriert hatten.
Mir klang das nach einem guten Beispiel, wie das allseite Nachgeben
gegenüber der autoritären Versuchung zu einer Spirale von Bestialität
führt, bei der jede Seite die moralische Berechtigung, wenn nicht gar
Verpflichtung fühlt, den Feind zu töten. Da der Abstand den Blick
schärfen mag, der bei analogen Ereignissen in der Nähe derzeit ganz
offenbar vielfach getrübt ist, habe ich mir heute den zugehörigen
Wikipedia-Artikel zu Gemüte geführt.
Die Vorgeschichte
Sehr bemerkenswert fand ich schon mal, dass die Wikipedia für die
Vorgeschichte auf den Frieden von Küçük Kaynarca verweist, den 1774 das
osmanische Reich und Russland geschlossen hatten. Bemerkenswert ist das
einerseits, weil es damals schon um die jetzt gerade wieder umstrittenen
Gebiete ging: Russland hat sich in diesem Vertrag den Süden der späteren
Ukraine einverleibt, die Krim – die für zehn Jahre noch als autonomes
Khanat weiterexistierte – folgte 1783. Nach allem, was danach kam, von
Krimkrieg über die Verheerungen des zweiten Weltkriegs bis zum jetzigen
Stellvertreterkrieg: Was für eine geschundene Gegend.
Andererseits war diese Niederlage des osmanischen Sultans offenbar ein
Segen für jedenfalls nennenswerte Teile seiner Untertanenschaft. In den
Worten der Wikipedia:
Wie im Rest Griechenlands wuchs nach dem Friedensvertrag von
Kutchuk-Kaïnardji 1774 der Wohlstand auf Chios.
Das bezieht sich, wie gesagt, auf die Verliererseite des
Russisch-Türkischen Krieges von 1768-1774. Erneut zeigt sich die alte
Weisheit, dass es weit schlimmer ist, einen Krieg zu führen als einen zu
verlieren.
Das Verhängnis von Chios begann indes, auch recht typisch, mit
Patrioten, und zwar in diesem Fall mit griechischen. Diese nämlich
legten 1821 einen zünftigen Aufstand auf der Peloponnes hin, als viele
der dortigen (osmanischen) Besatzungssoldaten andernorts gebraucht
wurden, nämlich für Kämpfe innerhalb der osmanischen Elite und weil,
ganz modern, russische Truppen in das noch osmanische Moldawien
eingefallen waren.
Der zünftige Aufstand schlug erwartungsgemäß schnell in Barbarei um.
Die tapferen und frommen Freiheitskämpfer eroberten^Wbefreiten im
Oktober 1821 die Provinzhauptstadt Tripoli (nicht zu verwechseln mit
dem zuerst durch unsere Flugverbotszone befreiten und dann seit
inzwischen einem Jahrzehnt glühend umkämpften libyschen Tripolis) und
metzelten gegen 8000 der verbliebenen BewohnerInnen nieder – schon
während der Belagerung hatte sich die Bevölkerung auf etwa 15000
halbiert. Immerhin sind wohl nicht alle anderen 15000 dem Krieg zum
Opfer gefallen, einige haben rechtzeitig fliehen können.
Eine weitere Weisheit: Wenn es nach Krieg riecht, verpiss dich
rechtzeitig. In der jungen Welt gab es am Wochenende eine
Geschichte, wie es ganz aktuell zugeht, wenn du das mit dem
„rechtzeitig“ nicht hinbekommst.
In Chios
Aber dies ist ja eine Geschichte über Chios, eine vor 1821 in
weitgehender christlicher Autonomie von achtzehn, großartiger Titel,
Demogeronten für den Sultan regierten Insel nicht weit vor der Küste der
heutigen Türkei.
Die DLF-Erzählung einer durch Mastix-Produkion und -Handel reich
gewordenen Gemeinde trägt wohl; jedenfalls hatten die Demogeronten
schon im April 1821 klar angesagt, dass sie lieber Wohlstand als
(nationalen) Aufstand haben wollen. Für solche Anliegen hatten die
Patrioten von der Peloponnes wenig Verständnis. Ein „Admiral“ Iakovos
Tombazis – bei einem derart jungen Aufstand dürfte so ein „Admiral“
ungefähr drei Jollen befehligt haben – landete auf Chios, zog mit seinen
Leuten ein wenig herum, um die satt & glücklich-Bevölkerung dort zum
Abfall vom Sultan und zur Unterwerfung unter die neue
christlich-griechische Regierung zu bewegen. Chios ist die zehntgrößte
Insel im ganzen Mittelmeer, so dass er dafür elf Tage brauchte. Dann
verschwanden er und seine Leute wieder.
Bekannte von Bekannten berichten von ähnlichen Stunts der aktuellen PKK
im türkischen Kurdistan. Zumindest diese Bekannten von Bekannten hat
das nicht zu Fans der PKK gemacht, denn die Reaktion der derzeitigen
türkischen Regierung ist in etwa so wie die der damaligen. In den
Worten der Wikipedia:
Der Dīwān entsandte den Gouverneur Vehid-Pacha. Er richtete sich in
der Festung von Chora ein. Um sicherzustellen, dass die Chioten sich
ruhig halten, forderte er 40 Geiseln an (darunter den Erzbischof
Platon Franghiadi, die Demogeronten und Mitglieder der wichtigsten
Familien der Insel [...]).
Klar: Das war auch völlig überflüssiger Terror. Anständige Leute tun
sowas nicht. Aber wer könnte es, „denkt an Tripoli!“, dem armen Dīwān
verübeln, wenn er den Aggressor in die Schranken weist? Dazu gehören
natürlich auch Soldaten. Erwartbarerweise sorgten diese Soldaten
mitnichten dafür, dass irgendwas besser wurde:
Es handelte sich um wenig disziplinierte Soldaten, die von der
Plünderungsmöglichkeit angezogen wurden. Sie kontrollierten die
ländlichen Gebiete der Insel und verbreiteten dort Schrecken.
So wurden die ChiotInnen, die sich anfangs aus guten Gründen aus der
ganzen für sie völlig nutzlosen Frage raushalten wollten, ob sie
nun aus dem fernen Konstantinopel oder aus dem noch ferneren Athen
regiert werden sollten, allmählich doch zu PatriotInnen.
Wirklich schlimm wurde es allerdings erst, als bewaffnete Patrioten
aus Samos im März 1822 versuchten, die inzwischen wieder etwas
menschlicher gewordene Militärherrschaft auf Chios durch Rumballern zu
beenden. Fast 3000 christliche Soldaten landeten auf der Insel und
zwangen die osmanischen Truppen zum Rückzug in die Burg der
Hauptstadt Chora.
Das Verhängnis patriotischer Erhebung
An diesem Punkt wurden auch die BäuerInnen aus dem Inselinneren vom
nationalen Taumel erfasst und bewaffneten sich, übrigens gegen das
Flehen ihrer alten Lokalregierung, die ja immer noch in osmanischer
Geiselhaft saß:
Sie zogen mit Kreuzen und Ikonen durch die Straßen und sangen
patriotische Lieder.
Das konnte sich nun wiederum der Sultan nicht bieten lassen und
schickte weitere Verstärkung nach Çeşme, gleich gegenüber von Chios.
Am 11. April 1822 landeten ungefähr 7000 osmanische Soldaten auf der
Insel – ihr merkt, wie sich auch die Zahlen immer weiter aufschaukeln –,
und machen mit christlichen Soldaten wie BäuerInnen recht kurzen
Prozess, zumal ersteren zwischendurch die Munition ausgegangen war.
Es entfaltete sich ein Massaker, das das von Tripoli nochmal weit
überbot. Die Bilanz der Wikipedia ist ähnlich düster wie die
des DLF:
Die Bevölkerung der Insel betrug Anfang 1822 zwischen 100.000 und
120.000 Menschen, davon 30.000 Einwohner in Chora. Es waren auch etwa
2.000 Muslime auf der Insel. Für die Zeit nach den Massakern wird
meist die Einwohnerzahl von 20.000 genannt. [...] Die häufigsten
Schätzungen nennen 25.000 Tote und 45.000 versklavte Menschen. 10.000
bis 20.000 sei die Flucht gelungen.
Zwar hat so schnell niemand den Griechen Panzerhaubitzen geliefert, und
so hatten sie rein materiell keine Möglichkeit zur weiteren Eskalation.
Sie brachten aber in der nächsten Runde immer noch 2000 osmanische
Soldaten um, als sie am 6. Juni 1822 – die Besatzung war wegen
Zuckerfest vermutlich nicht gut beieinander – das osmaische Flaggschiff
in der Bucht von Chora abfackelten. Die türkischen Truppen haben zur
Vergeltung eine weitere, letzte Zerstörungstour über die Insel
unternahmen, konnten da aber auch nicht mehr eskalieren, weil ja schon
fast alle BewohnerInnen tot oder verschleppt waren.
Alles umsonst
Wofür sind die Leute alle gestorben? Aus heutiger Sicht wird
wahrscheinlich niemand bestreiten, dass das alles Quatsch war. Für die
Griechen bestand ihre „Freiheit“ aus einem bayrischen König, der
„Griechenland“ zwar exzessiv „liebte“, 1862 aber von einem britischen
Schiff evakuiert werden musste, weil seine Machtbasis komplett erodiert
war und schon wieder Aufstand herrschte. Sein letzter Nachfolger
schließlich ging 1968 unter, als er selbst einen Militärputsch plante,
ihm andere Militärs aber zuvorkamen (die Ereignisse in der
Wikipedia). Diese Militärs waren wiederum die, über die ich in meinem
Filmtipp von neulich geschäumt habe.
Für die Osmanen hat sich das auch nicht gelohnt, denn die Griechen
gingen mit Chios im Westen ähnlich wie heute die aktuelle ukrainische
Regierung mit russischen Massakern hausieren. Sie konnten viel
Sympathie für diese Sorte „Freiheitskampf“ wecken und bekamen viel
politische Unterstützung für ihre Sezession, die 1830 auch stattfand.
Sicher weniger dramatisch für die Hohe Pforte: Leute wie Lord Byron[1] zogen „für Griechenland” in den Krieg und starben dabei. Chios
selbst ging 1912 doch an Griechenland, noch bevor das osmanische System
zum Ende des ersten Weltkriegs gänzlich implodierte.
Und die Leute auf Chios? Also: die, die übrig geblieben sind? Nun, von
den gut 100'000 BewohnerInnen aus dem Wikipedia-Zitat von oben ist Chios
immer noch weit entfernt; gegenwärtig wohnen rund 50'000 Menschen auf
der Insel.
Ach weh. Wer aus der Geschichte nicht lernen will, wird immer wieder
zehntausende Menschen in irgendwelchen mehr oder minder romantischen
Anwandlungen von Patriotismus umbringen und, wenns ganz schlimm läuft,
auch noch den Rest der Welt davon überzeugen wollen, dass das groß,
wichtig und gut ist. Den Akteuren von 1822, die noch keine Wikipedia
hatten, möchte ich das nicht vorwerfen, auch wenn sie mit etwas mehr
Mühe bereits hinreichend viel Anschauungsmaterial aus der Geschichte
hätten gewinnen können.
Nicht weit vom Edersee – praktisch schon im Kellerwald-Nationalpark –
laufen Hirsche auch mal bei Tageslicht über herbstliche Felder und
bezaubern radelnde TouristInnen. Aber: was machen sie im Zoo?
„Bikeshedding“ bezeichnet das in vielen Entscheidungsgremien zu
beobachtende Phänomen, dass große und tiefgreifende Entscheidungen ohne
große Kontroverse durchgewunken, Nebensächlichkeiten[1] jedoch in
großer Breite diskutiert werden.
Als ich heute morgen die DLF-Sendung Wissenschaft im Brennpunkt vom
15.5. hörte, hatte ich eine Art intellektuelles Bikeshedding. In der
Sendung geht es um höchst raffinierte Verfahren der Metagenomik, bei der
durch Sequenzierung von DNS in mehr oder minder blind aus der Natur
entnommenen Proben tiefe Einsichten in Ökologie und Biologie gewonnen
werden. Dass sowas geht, dass dabei etwas rauskommt, und teils schon,
was dabei rauskommt: Das ist alles sehr beeindruckend.
Doch mein Wow-Moment kam erst bei folgender Passage (bei ca. Minute 23;
der Text auf der DLF-Seite ist leider nicht das Transskript der
Sendung):
Elizabeth Clair [...] berichtete in einer Vorveröffentlichung von
einer DNA-Analyse der Luft in einem englischen Zoo. [...] DNA von 25
Arten konnte das Team aufspüren, darunter 17 Zootierarten [...],
einige davon bis zu 300 m von der Untersuchungsstelle entfernt.
Außerdem ein paar Wildtiere wie Igel und Hirsch.
Ein wilder Hirsch? Im Zoo? Wie bitteschön soll das denn zugehen?
Setzen die elegant über den Zaun des Zoos? Um den gefangenen Tieren
vielleicht eine lange Nase zu drehen? Ich gebe zu, dass das verglichen
mit den Wundern von Massensequenzierungen doch eher trivial wirkt. Aber
ich wüsste wirklich gerne, was der Hirsch dort wollte.
Aufbauend auf dieser Erfahrung würde ich „behirschen“ als neues Verb
vorschlagen, mit der Bedeutung „sich an einer (scheinbaren)
Nebensächlichkeit in einer Forschungsarbeit aufhängen und damit deren
AutorInnen auf die Nerven gehen“? Nur nebenbei: Ich vermute, wir
behirschen in der modernen Wissenschaft fast alle deutlich zu wenig.
Nachtrag (2022-07-01)
Auf eine Nachfrage von @StephanMatthiesen hin hat mich die Sache doch
nicht losgelassen, und ich musste mal nach dem Paper sehen, von dem im
DLF-Zitat die Rede ist. Es scheint, als sei es bereits Anfang 2021
erschienen, und zwar als „Measuring biodiversity from DNA in the air“
von Elizabeth Clare et al, Current Biology (2021),
doi:10.1016/j.cub.2021.11.064. Darin heißt es:
Of special interest was the detection of the European hedgehog
(Erinaceus europaeus) in three samples [...] As of 2020, the hedgehog
was listed as vulnerable to extinction in the United Kingdom
(https://www.mammal.org.uk/science-research/red-list/), making it
vital to develop additional methods to monitor and protect existing
populations. [...] One commonly cited application of eDNA approaches
is the detection of invasive species. We detected muntjac deer
(Muntiacus reevesi) in five samples. These muntjacs are native to
China but became locally invasive after multiple releases in England
in the 19th century. They are now well established in eastern
England, the location of the zoological park, and are frequently seen
on site. They are also provided in food for several species; thus, the
detection of muntjacs may reflect either food or wildlife.
(Hervorhebung von mir, um die Verbindung zu den Igeln und Hirschen
aus der DLF-Sendung zu belegen). Mithin: Wir reden hier von keinem
stattlichen Zwölfender, der majestitisch an den Gittern
entlangschreitet. Wir reden von Muntjaks, die, so die Wikipedia,
„zwischen 14 und 33 Kilogramm“ wiegen und offenbar nur mit Mühe die
Größe von Damhirschen erreichen. Und obendrauf kann es gut sein, dass
die DNS dadurch in die Luft kam, dass andere Tiere die Muntjaks vertilgt
haben und dabei eher ruppig vorgegangen sind.
Selbst wenn die DNS nicht von Futter, sondern von einem Wildtier
abgesondert worden wäre, wäre ihr Vorkommen kaum erstaunlich, wenn
mensch die Lage des Tierparks bedenkt. Manchmal (aber selten)
verlieren die Dinge doch ein wenig von ihrem Zauber, wenn mensch näher
nachsieht.
Der Begriff „Bikeshedding“ bezieht sich tatsächlich auf
überdachte Fahrradstellplätze; dass gerade so eine zentrale und
wichtige Einrichtung als Prototyp des Nebensächlichen herhalten muss,
sagt natürlich schon einiges aus über unsere Gesellschaft und den
weiten Weg, den wir bis zur Befreiung vom Auto noch vor uns haben.
Am ersten Mai hatte ich mich an dieser Stelle gefragt, wann wohl die
„Dauerbeflimmerung“ – also: leuchtende Werbedisplays am Straßenrand – an
der Heidelberger Jahnstraße dazu führen wird, dass Leute einander
kaputtfahren. Fünf Tage später lief in Forschung aktuell ein
Beitrag, der einen ganz speziellen Blick auf Gefahren durch Beflimmerung
vom Straßenrand warf.
Grundlage des Beitrags ist der Artikel „Can behavioral interventions be
too salient? Evidence from traffic safety messages“ der Wirtschafts-
hrm -wissenschaftler Jonathan Hall und Joshua Madsen aus Toronto und
Madison, WI, erschienen in Science vom 22.4.2022
(doi:10.1126/science.abm3427)[1].
Bevor ich den Blick nachvollziehen konnte, musste ich mich zunächst
ärgern, denn alles, was ich beim Folgen des DOI gesehen habe, war das
hier:
Der Fairness halber will ich einräumen, dass die drei Punkte animiert
waren, und dann und wann hat die Seite, als ich ihr erstmal Javascript
erlaubt hatte, einen Reload geworfen und dann eine neue „Ray ID“
angeboten. Dennoch ist das gleich in mehreren Richtungen Mist,
verschärft hier dadurch, dass Landing Pages von DOIs statisch sein
können und sollen. Es lässt sich kein Szenario denken, in dem mensch
für statische Seiten auf einem ordentlichen Webserver einen
„DDoS-Schutz“ (was immer das sein mag) braucht, und schon gar keinen,
der ohne Javascript, Referrer und weiß ich noch was nicht funktioniert.
Ich muss gestehen: ich war es müde, den Mist zu debuggen. Da der
Artikel leider noch nicht bei libgen (die – Science, horche auf! –
diese Sorte Unfug nicht nötig haben) war, habe ich in den sauren Apfel
gebissen und statt meines Standardbrowsers einen überpermissiv
konfigurierten Firefox genommen, der der Cloudflare-Scharlatanerie
schließlich akzeptabel schien. Auch eine Art, das Web kaputtzumachen.
Zur Sache
In Texas hat das Verkehrsministerium über viele Jahre hinweg „Campaign
Weeks“ gemacht, während derer auf den elektronischen Großanzeigen an
vielbefahrenen Straßen – wer Falling Down gesehen hat, weiß, wovon
die Rede ist – unbequeme Wahrheiten („Für Menschen zwischen 5 und 45 ist
der Straßenverkehr die führende Todesursache“) angezeigt wurden.
Der Effekt: Offenbar fahren die Leute nach so einer Mahnung nicht
vorsichtiger, sondern abgelenkter. Jedenfalls gehen die Unfallraten
hinter solchen Nachrichten merklich nach oben. In Abbildung eins des
Papers sieht das so aus:
Das „DMS” in der Beschriftung heißt „dynamic message signs“ – zumindest
im Untersuchungszeitraum zwischen 2012 und 2017 war das aber sicher
richtig fades Zeug im Vergleich zu moderner Werbebeflimmerung. Bei den
roten Punkten kamen nach der ersten Tafel für 10 km keine weiteren mehr,
so dass das das sauberere Signal ist.
Auch wenn der Effekt im Vergleich zu den Fehlerbalken nicht sehr groß
ist und es allerlei versteckte Confounder geben mag – die Autoren gehen
aber erfreulich vielen nach und können viele glaubhaft kontrollieren –,
überzeugt mich das Paper davon, dass mindestens auf dem Kilometer nach
der Tafel die von alarmierenden Zahlen beunruhigten Menschen ein paar
Prozent mehr Unfälle bauen.
Ein Grund für meine Einschätzung der Zuverlässigkeit des Effekts ist,
dass offenbar die Zunahme der Unfälle mit der Drastik der Nachrichten
korrelierte: Spät im Jahr, wenn texanische Autos schon tausende Menschen
zermalmt haben und also entsprechend große Zahlen auf den Tafeln zu
sehen sind, sind die Effekte deutlich stärker als früh im Jahr:
Zwar ist die Null auch hier überall innerhalb von „zwei sigma“, also
der doppelten Fehlerbalken, so dass ich das nicht völlig überbewerten
würde. Ich könnte insbesondere nicht erklären, woher ein negativer
Achsenabschnitt der Ausgleichsgerade kommen könnte, warum Leute also
besser fahren sollten, wenn die Zahlen klein (oder ihre Neujahrsvorsätze
noch frisch?) sind. Dennoch entsteht, nimmt mensch alle Evidenz
zusammen, durchaus ein recht robustes Signal, das wiederum nur schwer
durch Confounder zu erklären ist.
Und auch wenn was wie 5% nicht nach viel klingen: Der Straßenverkehr ist
mörderisch (in den USA gibt es, Kopfzahl, in jedem Jahr so um die
50000 direkte Verkehrstote), und es gibt einen Haufen dieser
Displays. Hall und Madsen schätzen, dass ihr Effekt in den 28 Staaten,
die das ähnlich wie Texas machen, 17000 Unfälle mit 100 Toten
verursachen dürfte.
Verblüffung am Rande: Für ein Kontrollexperiment haben Hall und Madsen
nach Tafeln gesucht, die mindestens 10 km vor sich keine andere Tafel
haben (damit sich die Effekte der Vortafel hoffentlich bereits gelegt
haben). Das hat die Samplegröße um 75% reduziert. 75%! Dass diese
DMSe so sehr clustern – denn es sich sicherlich undenkbar, dass über das
ganze riesige Straßennetz von Texas hinweg alle paar Kilometer Tafeln
stehen –, hätte ich nicht erwartet. Warum planen Leute sowas?
Und Werbetafeln?
Nun gebe ich zu, dass Hall und Madsen über ganz andere Dinge reden als
die Werbe-Displays von Ströer und JCDecaux, sie ja sogar auf die
Wichtigkeit der Natur der Nachricht abheben und so das Medium eher aus
dem Blick nehmen.
Sie zitieren aber auch Literatur, die sich allgemeiner um die Frage der
Ablenkung durch Beflimmerung kümmert. Davon gibts einiges, und offenbar
ist umstritten, wie tödlich Werbetafeln wirklich sind. Vermutlich wäre
es ein wertvolles Projekt, die Drittmittelgeber der entlastenden Studien
zu ermitteln.
Was Hall und Madsen zitieren, ist leider nichts in dieser Richtung.
Dennoch habe ich mir ihre Quelle „Driving simulator study on the
influence of digital illuminated billboards near pedestrian“ von Kirstof
Mollu (aus dem Dunstkreis der Wiwis an der Universiteit Hasselt,
Belgien) et al, Transportation Research Part F 59 (2018), S. 45
(doi:10.1016/j.trf.2018.08.013) kurz angesehen. Das braucht immerhin
keine Beschwörungen von Cloudflare, ist aber wieder kein Open Access und
zwingt NutzerInnen erstmal den "Elsevier Enhanced Reader" auf, der ohne
Javascript gar nichts tut – eine sehr aufwändige Art, ein PDF
runterzuladen.
Nun: Mollu et al haben sieben Handvoll Führerscheinhabende rekrutiert
und in einen einfachen Fahrsimulator (zwar force-feedback, aber keine
Beschleunigungssimulation) gesetzt, in das Szenerio verschieden hektisch
flimmernde Displays integriert und dann gesehen, wo die Leute hingucken
und wie oft sie übersehen, dass FußgängerInnen über die Straße wollen.
Wenig überraschende Einsicht: Die Leute gucken mehr, wenn die Bilder nur
3 Sekunden (statt 6 Sekunden) stehen bleiben. Was Filmchen (bei denen
Bilder ja nur was wie 1/25stel Sekunde stehenbleiben) anrichten,
untersuchen sie nicht. Überhaupt macht der Artikel quantitativ
nicht viel her. Oh, abgesehen von Zahlen, die sie selbst nur zitieren:
In den Fahrradländern Niederlande und Dänemark sterben nur
drei bis vier FußgängerInnen pro Million Einwohner und Jahr.
In den jüngst wild motorisierten Lettland und Litauen ist es ein
Faktor 10 mehr, also etwas wie 35 pro Million und Jahr.
Zur Einordnung will ich nicht verschweigen, dass ausweislich der
aktuellen RKI-Zahlen SARS-2 in der BRD 1500 Menschen auf eine Million
EinwohnerInnen umgebracht hat und das auch schlimmer hätte kommen können
(aber: Caveat bezüglich dieser Sorte Zahlen). Andererseits: Wollte
mensch den gesamten Blutzoll des Autos bestimmen, Verkehrstote, durch
Verkehrsverletzungen verfrühte Tode, Opfer von Lärm und
Luftverschmutzung, vielleicht gar von Bewegungsmangel, wäre es wohl
nicht schwer, für die BRD auf 700 Autoopfer pro Million und Jahr zu kommen
und damit ziemlich genau in den Bereich des durch Maßnahmen und Impfung
gezähmten SARS-2. Aber diese Rechnung braucht mal einen anderen Post.
Leider hat Science den Artikel, dessen AutorInnen fast
sicher aus öffentlichem Geld bezahlt wurden und die jedenfalls
öffentliche Infrastruktur (U Toronto, Vrije Uni Amsterdam, U
Minnesota) nutzten, weggesperrt, und er ist im Augenblick auch noch
nicht auf libgen. Hmpf.
Die Staudte-Verfilmung von Klaus Manns Untertan (DDR 1951) illustriert
die militarisierte Gesellschaft durch eine Revuenummer, in der Frauen
mit Pickelhauben zu uniformiertem Gesang von der „Elite der Nation“
halb tanzen, halb marschieren. Olivindex: 1. (Rechte bei… na ja, wer
immer den DEFA-Kram halt gekauft hat.)
Wer in den frühen 1990er Jahren Filme wie Der Untertan oder, etwas
leichtherziger, den Hauptmann von Köpenick gesehen hat, wird die
Verehrung des Militärischen, die dort gezeigt wurde, für eine unfassbare
historische Verirrung gehalten haben, eine Art kollektive Psychose,
lächerlich und zugleich gruselig, aber jedenfalls vom anderen Ende der
Geschichte.
Dann kam die Zeitenwende; nicht etwa jetzt, sondern im Laufe der
1990er, in denen sich die Bundeswehr zurückrobbte an diverse Plätze an der
Sonne, angefangen mit Jagdbombern, die im Januar 1991 US-Jets in der
Türkei ersetzten, damit diese für die Wiedereinsetzung des Emirs von
Kuwait töten konnten. Es folgten die ersten Truppen außerhalb des
NATO-Gebiets in Kambodscha im Mai 1992, wo im Oktober 1993 auch der
erste Held anfiel (for the record: Alexander Arndt), dann mit
AWACS-Flügen über Jugoslawien und so weiter und so fort. Langsam, aber
bestimmt überschritt das Militär immer wieder zuvor sicher geglaubte
Grenzen. Der große Zusammenbruch, oder wegen mir die Zeitenwende, kam
aber erst ganz am Ende der 1990er Jahre: Militärminister Rühe hatte
noch 1997 verkündet, nie wieder dürfe ein Stiefel eines deutschen
Soldaten in Jugoslawien auftreten. 1999 griff die Bundeswehr Serbien an
und marschierte im Kosovo ein, geschmackloserweise gerade unter Verweis
auf die Verbrechen der deutschen Großväter (die damals ja noch in großer
Zahl lebten).
Nach diesem Tabubruch schlichen sich Reden von Helden, Tapferkeit und
Vaterland in immer mehr Salons, kehrte der Glaube zurück, Militär an
sich und schon gar deutsches Militär könne irgendwo und schon gar im
Ausland Zustände verbessern. Mit der schon aus fünf Schritt Entfernung
offensichtlich dystopischen Erzählung vom R2P wurde ab 2005 aus dem
„Können“ allmählich ein „Müssen“ – also: dort, wo es bequem war und
gegen die richtigen Feinde ging.
„Rohrkrepierer“ ist eine Diagnose – von Sprache
Die Militarisierung des Diskurses fand nicht nur nach außen statt.
Eines der exteremen Beispiele: 2005 sollte die Bundeswehr für die
Polizei Zivilflugzeuge abschießen dürfen – was das Verfassungsgericht
2006 zum Glück nochmal einfangen konnte (vgl. Luftsicherheitsgesetz in
der Wikipedia). Dass der Corona-Krisenstab einen General als
Vorsitzenden bekam, war kurzfristig ein neuer Höhepunkt der
Preußen-Renaissance. Wieder half das Glück der Zivilgesellschaft, denn
dieses Gremium stellte sich schnell als Rohrkrepierer (um mich auch kurz
an Militärsprache zu versuchen) heraus.
Nach dem Umschlagen der jüngsten Aufrüstungsrunde (das verlinkte PDF
ist von 2019; der Kram ist also nicht neu) in einen weiteren Krieg hat
eine giftige Mischung aus Patriotismus und Militarismus wenigstens
vorläufig die… unbestrittene Lufthoheit. Zeitweise waren und sind
Kommentare, die sich positiv auf deutsche Eingriffe in Kriege bezogen,
in der Presseschau im Deutschlandfunk in der breiten Mehrheit,
während in der Tagesschau oft kaum ein Beitrag ohne Olivgrün daherkommt.
Ein Thermometer fürs Kriegsfieber
Auch ein erklärter Feind von Metriken wie ich kann an dieser Stelle
nicht widerstehen. Es braucht eine Zahl zur Charakterisierung des
gesellschaftlichen Kriegsfiebers[1]. Nun, hier ist meine Zahl:
Der Oliv-Index. Der von heute ist 0.55, wobei 0 „alles zivil oder
unpatriotisch“ und 1 „der Kaiser schickt seine Soldaten aus“ bedeutet.
Etwas weniger blumig ist der Oliv-Index ist das Verhältnis der Zahl der
patriotisch-militaristischen Kommentarauszüge zu allen, die an einem
Tag in der Morgen-Presseschau des DLF zitiert werden.
Der Olivgrün-Index zwischen siebtem und 21. Mai: Je oliver, desto
höher das patriotisch-militärische Fieber im Blätterwald der Republik.
Nachtrag (2022-06-09)
Ich führe den Olivindex tatsächlich fort, und für eine Weile ist die
aktuelle Lage jeweils am Fuß der Blogseiten. Und, jeweils aktuell,
solange ich das Elend auswerte, hier:
Ich habe das in den vergangenen zwei Wochen ausprobiert, schon, um zu
sehen wie viele Zweifelsfälle es geben würde. Tatsächlich war es
beispielsweise nicht immer einfach, die Kommentare zur Entthronung von
Gerhard Schröder korrekt einzuordnen: Was davon war allgemeine
patriotische Empörung, was davon Empörung über Vaterlandsverrat im
Krieg? Und – nicht, dass das für den Oliv-Index eine Rolle spielen
würde: Was war Abwiegelung aus Staatsraison, was Abwiegelung aus kühlem
Kopf? Die naheliegende Position „wenn ihr ihn wegen Kosovo und Hartz
IV, wegen Afghanistan und Riesterrente, wegen BamS und lupenreinen
Demokraten nicht abgesägt habt, müsst ihr es jetzt auch nicht mehr
machen“ kam leider nicht vor.
Dennoch sind Zweifelsfälle nach meinem ersten Eindruck nicht furchtbar
dramatisch. Ich würde vermuten, dass andere Menschen meine Scores
innerhalb von vielleicht 10% reproduzieren würden.
Wer das probieren will, ist herzlich eingeladen. Dazu könnt ihr meine
codes.txt inspizieren und sehen, ob ihr meine Einschätzungen teilt,
solange die Presseschauen nicht depubliziert sind (was derzeit leider
sehr schnell geht). In so einem Code steht von links nach rechts jedes
Zeichen für einen Kommentarauszug, von oben nach unten gelesen. Ein o
steht für einen oliven, also patriotisch-militaristischen Artikel, ein
Punkt für einen anderen.
Ihr könnt auch das Programm, das die Plots macht, ziehen: olivin. Da
dürfte sich in der nächsten Zeit noch das eine oder andere ändern, denn,
das gebe ich gleich mal zu, ich hoffe, am Schluss etwas Ähnliches zu
produzieren wie die längst zu Popkultur gewordenen Climate Stripes
von Ed Hawkins. Nur eben, ich bin ja Optimist, als Illustration
einer vielleicht wieder allmählich sinkenden Begeisterung für Militär
und Vaterland.
Nachtrag (2023-06-17)
Nach über einem Jahr mit der DLF-Presseschau hat mich jetzt die Lust
verlassen; die letzte Presseschau, die ich verdaut habe, ist die vom
20.5.2023. Hier sind die military stripes von damals:
Verschiedene braune Bänder lassen sich den Ereignissen der Zeit
zuordnen; so entspricht das starke Feature rechts von 2023-01-16
der Großaufregung für die Lieferung von Kampfpanzern aus der
Produktion der Rüstungsschmieden Krupp^W Krauss-Maffei-Wegmann und
Rheinmetall an die Regierung der Ukraine; die darauf folgende
weiße Beruhigung illustriert, dass der militärisch-patriotische
Komplex durchaus auch mal für ein paar Tage zufrieden sein kann.
Aber erstens war die militärisch-patriotische Begeisterung schon im
letzten Sommer insgesamt überschaubar, und zweitens artet das alles in
Arbeit aus. Wenn aber wer mal mit inzwischen über einem Jahr
DLF-Presseschauen spielen will (ich könnte mir z.B. vorstellen, dass ein
darauf nachtrainiertes LLM ausgesprochen bizarre Sachen sagen
würde), möge sich bei mir rühren.
Nun ja: Für die Leute, die die Metriken definieren, sind sie
ja schon nützlich, denn natürlich wird mensch die so definieren, dass
sie den eigenen Interessen dienlich sind. Insofern bin ich natürlich
kein Feind von Metriken, die ich definiere.
Wie prioritär die Auflösung der Bundeswehr ist, zeigt derzeit nicht nur
die allabendliche Berichterstattung zu den Folgen von Krieg[1].
Nein, eine von der Gesellschaft getragene Armee macht diese – die
Gesellschaft – auch furchtbar anfällig für anderweitige autoritäre
Versuchungen. So ist schon Existenz einer Armee das Nachgeben
gegenüber der maximalen autoritären Versuchung, denn ihr zugrunde liegt
ja die Überzeugung, eine große Klasse von Problemen ließe sich lösen,
indem mensch hinreichend viele der richtigen Menschen tötet – und dieses
Töten sei auch gerechtfertigt, wenn nicht gar geboten.
Außerhalb des engeren Tötungsgeschäfts fallen militärisch insprierte
Antworten normalerweise etwas weniger final aus, doch bleibt auch dort
ethisch kaum ein Stein auf dem anderen, wenn die Armee interveniert.
Ein gutes und aktuelles Beispiel ist das Projekt, von dem die
Computerlinguistin Michaela Geierhos von der Universität der
Bundeswehr in Computer und Kommunikation vom 9.4.2022 berichtet.
Im Groben will die ihre Gruppe statistische und vielleicht linguistische
Werkzeuge („künstliche Intelligenz“) zur – immerhin noch polizeilichen
und nicht militärischen – Massenüberwachung von Telekommunikation
nutzen. In den Geierhos' Worten:
…den Ermittler zu unterstützen, überhaupt mal zu erkennen, was es in
Millionen von Zeilen, wo kommen da überhaupt Namen vor von Personen,
was ist ne Adressangabe, gehts jetzt hier um Drogen oder gehts
vielleicht um ganz was anderes.
Mit anderen Worten: Die Polizei soll richtig viele Menschen
abschnorcheln – denn sonst kommen ja keine „Millionen von Zeilen“
zusammen – und dann per Computer rausbekommen, welche der Überwachten
die bösen Buben sind. Das ist der gute, alte Generalverdacht, und
Menschen mit einem Mindestmaß an menschenrechtlichem Instinkt werden so
etwas ganz unabhängig von den verfolgten Zwecken ablehnen. Grundfeste
des Rechtsstaats ist nun mal der Gedanke, dass allenfalls dann in deine
Grundrechte eingegriffen wird, wenn es einen begründbaren Verdacht gibt,
du habest gegen Gesetze verstoßen – und auch dann können nur sehr
konkrete Hinweise auf schwere Verstöße so schwere Eingriffe wie die
„TKÜ“ rechtfertigen (vgl. §100a StPO).
2008 zierte dieses Transparent das Berliner bcc, während der CCC dort
tagte.
In den Beispielen von Geierhos hingegen geht es um ein von vorneherein
zweckloses Unterfangen wie die repressive Bekämpfung des illegalen
Handels mit und Gebrauchs von Rauschmitteln. Das völlige Scheitern
dieses Ansatzes ist ein besonders schönes Beispiel dafür, wie trügerisch
die autoritäre Versuchung ist. Wie so oft mögen die (staats-)
gewalttätigen Lösungsansätze naheliegend sein. Das heißt aber noch lange
nicht, dass sie tatsächlich funktionieren, schon gar nicht auf Dauer.
Und da habe ich noch nicht mit den schweren Nebenwirkungen angefangen.
Leider ist auch der Moderator Manfred Kloiber – versteht mich nicht
falsch: das ist, soweit ich das nach Plaudereien mit ihm im DLF-Studio
beim Chaos Communication Congress beurteilen kann, ein sehr netter
Mensch – schon der autoritären Versuchung erlegen, wenn er fragt:
Auf der anderen Seite würde man sich ja wünschen, dass man genau davon
[z.B. von Drogengeschichten] ein unabhängiges System findet, was
eben halt über die Bereiche hinweg Kriminalität oder anormale Vorgänge
feststellen kann.
Ich weiß nicht, ob ihm klar war, was er sich da wünscht, und die eher
stolpernden Worte mögen andeuten, dass die Frage so nicht geplant war.
Jedenfalls: Eine universelle Verhaltensüberwachung, die nonkonformes
Verhalten (nichts anderes sind ja „anormale Vorgänge“ im sozialen
Kontext) polizeilicher Intervention zugänglich machen soll? Wer könnte
sich sowas unter welchen Umständen zur Lösung welcher Probleme wünschen?
Zum „wer“ kann mensch immerhin schon mal antworten: Wissenschaftlerinnen
der Universität der Bundeswehr, denn Geierhos antwortet ungerührt:
Ja, das ist eine sehr große Vision, aber von dieser Vision sind wir
leider noch weit entfernt.
(Hervorhebung von mir).
Zu weiteren „Kriminalitätsbereichen“, in denen Geierhos ihr digitales
Stahlnetz gerne auswerfen würde, sagt sie:
Also, Wirtschaftskriminalität, wie gesagt, schwieriger, dass wir das
synthetisch herstellen können […] Aber so Chatprotokolle, Telegram und
wie sie alle heißen, da kann man definitiv ansetzen, wir gucken uns
aber auch an, Hasskriminalität beispielsweise, Mobbing, dass es in die
Richtung geht.
Klar, das sind Probleme, deren autoritäre Behandlung (in Wahrheit wohl:
Verschlimmerung) das Aushebeln selbst noch basalster
Menschenrechtsstandards rechtfertigt.
Oh je. Wie genau haben Costa Rica und Island es geschafft, ihr Militär
loszuwerden? Können wir das bitte auch ganz schnell haben?
Bei den Bildern vom Krieg bleibt, nebenbei, zu bedenken,
dass an ihnen im Gegensatz zum offenbar noch verbreiteten Eindruck
nichts neu ist: Armeen, auch „unsere“ Armeen und die „unserer“
Verbündeten, haben seit jeher und auch in den letzten Jahren ganz
ähnliche und noch schlimmere Gräuel angerichtet. Dass nennenswert
viele sogar halbwegs gutwillige Menschen die aktuellen Gräuel zum
Anlass nehmen, „unsere“ Fähigkeiten zum Anrichten von Gräueln
verbessern zu wollen: Das wird künftige HistorikerInnen wohl ebenso
verwundern wie uns heute die Freude, mit der nennenswerte Teile der
kaiserlichen Untertanen in den ersten Weltkrieg gezogen sind. Mich
verwundert schon heute beides in gleichem Maße. Aber das ist nun
wirklich nicht Thema dieses Artikels.
Ob diese Krähe überlegt, wie sie das Schwein lenken kann?
Und wenn sie rauskriegt, wie das geht, könnte sie es ihren Kindern
sagen? (Das ist übrigens im Käfertaler Wildpark)
Auf meinem Mal-genauer-ansehen-Stapel lag schon seit der
Forschung aktuell-Sendung vom 25. Januar die Geschichte von den
Schimpansen und den Steinen. In aller Kürze: Irgendwo in Guinea leben
zwei Schimpansengruppen (-stämme?), deren eine seit vielen Jahren mit
großer Selbstverständlichkeit Nüsse mit Steinen knackt, deren andere
aber das noch nicht mal tut, wenn mensch ihnen Steine und Nüsse frei
Haus liefert. Der Clou: die beiden Gruppen wohnen nur ein paar
Kilometer voneinander entfernt.
Ich fand diese Geschichte sehr bemerkenswert, und zwar einerseits, weil
ich Schimpansen grundsätzlich für kreativ genug gehalten hätte, um bei
so viel Nachhilfe schnell selbst aufs Nüsseknacken zu kommen. Krähen
zum Beispiel – jedenfalls die im Handschuhsheimer Feld – werfen Nüsse aus
großer Höhe auf Teerstraßen, nicht aber auf normale Erde. Na gut, das
mag auch soziales Lernen gewesen sein, aber ich will eigentlich schon
glauben, dass so eine Krähe da auch selbst draufkommt. Und a propos
„sozial“: Wer Möwen kennt, wird wohl wie ich sicher sein, dass deren
Muschelknacktechniken, wenn überhaupt, nur durch antisoziales Lernen
vermittelt werden könnten.
Wenn jedoch die Schimpansen zu vernagelt sein sollten, um rasch selbst
auf die Nutzung eines Steins zum Nüsseknacken zu kommen, finde ich es
andererseits fast unglaublich, dass Gruppen, die nur ein paar
Kilometer voneinander entfernt leben, so wenig Austausch haben, dass sich
so eine Kultur innerhalb von Jahrzehnten nicht sozusagen intertribal
verbreitet. Es gehen doch immer wieder einzelne Tiere auf Wanderschaft,
oder nicht?
Ein Gedanke, der mich beim Hören ein wenig beschäftigt hat, war: Was,
wenn das nicht ganz ordinäre Dummheit ist, sondern dessen verschärfte
Form, nämlich Patriotismus? In seinem Buch „Collapse – how societies
choose to fail or succeed“ (gibts in der Imperial Library) spekuliert
Jared Diamond, die mittelalterliche Wikingerkultur auf Grönland sei
untergegangen, weil ihre Mitglieder darauf bestanden haben, wie „in der
Heimat“, also von Getreide und Viehzucht, zu leben und nicht, wie die
Inuit, die sie garantiert beobachtet haben werden, von Fisch. Das
Bauernmodell habe die gegen Ende des mittelalterlichen Klimaoptimums
sinkende Temperatur einfach nicht mitgemacht.
That [the Greenland Norse] did not hunt the ringed seals, fish, and
whales which they must have seen the Inuit hunting was their own
decision. The Norse starved in the presence of abundant unutilized
food resources. Why did they make that decision, which from our
perspective of hindsight seems suicidal?
Actually, from the perspective of their own observations, values, and
previous experience, Norse decision-making was no more suicidal than
is ours today.
Schon, weil dieser Artikel mit Wissenschaft getaggt ist, muss ich
anmerken, dass Diamonds Argumente vielleicht nicht immer die
stichhaltigsten sind und auch die Sache mit der Kälte zwar naheliegend,
aber nicht alternativlos ist (vgl. Wissenschaft im Brennpunkt vom
14.11.2019) und wenigstens nach Zhao et al (2022),
doi:10.1126/sciadv.abm4346, wegen Nicht-kälter-werden inzwischen
regelrecht unplausibel wird. Und doch: Dass Kulturen Dinge aus völlig
albernen Gründen tun (ich sage mal: Autos fahren und, schlimmer noch,
parken) und noch mehr nicht tun (ich sage mal: Alltagsradeln), ist
wahrlich nichts Neues. Was also, wenn sich die nichtknackenden Affen
die Nüsse quasi vom Mund absparen, um nur sich nur ja nicht gemein zu
machen mit den knackenden Affen von nebenan? Ich würde das Experiment
ja gerne mal mit anderen, weiter entfernten Gruppen probieren.
Mit solchen Gedanken habe ich die Webseite der im DLF-Beitrag zitierten
Kathelijne Koops von der Uni Zürich besucht. Ein Paper zur
Nussgeschichte habe ich nicht gefunden – basierte der Beitrag im Januar
auf einem Preprint? einer Pressemitteilung der Uni Zürich? –, aber
dafür jede Menge anderer Papers, die es direkt in meinen
Mal-genauer-ansehen-Stapel schaffen: „Quantifying gaze conspicuousness:
Are humans distinct from chimpanzees and bonobos?“, „Chimpanzee termite
fishing etiquette“ oder, im Hinblick auf meinen Dauerbrenner „Was taugen
diese Zahlen eigentlich?“ besonders reizvoll: „How to measure chimpanzee
party size?“. Ich bin ganz hingerissen.
Bandwürmer im großartigen Naturhistorischen Museum in Wien: Den
besonders lange in der Mitte soll sich der Arzt wohl so zur k.u.k.Zeit
selbst gezogen haben. Auch „bei uns“ hatten also selbst wohlhabende
Menschen noch vor recht kurzer Zeit beeindruckende Würmer.
In den DLF-Wissenschaftsmeldungen vom 15. Februar ging es ab Sekunde
50 um römische Archäologie mit Bandwürmern. Ich gestehe ja einen
gewissen Römerfimmel ein, und ich fand zudem die Passage
In römerzeitlichen Fundstätten auf Sizilien wurden mehrfach konische
Tongefäße ausgegraben. Bisherigen Interpretationen zufolge wurden
darin Lebensmittel gelagert.
vielversprechend im Hinblick auf mein Projekt interessanter
Selbstkorrekturen von Wissenschaft, denn die neuen Erkenntnisse zeigen
recht deutlich, dass zumindest eines dieser Gefäße in Wahrheit als
Nachttopf genutzt wurde. Und deshalb habe ich mir die Arbeit besorgt,
auf der die Kurzmeldung basiert.
Es handelt sich dabei um „Using parasite analysis to identify ancient
chamber pots: An example of the fifth century CE from Gerace, Sicily,
Italy“ der Archäologin Sophie Rabinow (Cambridge, UK) und ihrer
KollegInnen (DOI 10.1016/j.jasrep.2022.103349), erschienen leider im
Elsevier-Journal of Archeological Science. Ich linke nicht gerne auf
die, zumal der Artikel auch nicht open access ist, aber leider gibts das
Paper derzeit nicht bei der Libgen.
Publikationsethische Erwägungen beiseite: Diese Leute haben einen der
erwähnten „konischen Tongefäße” aus einer spätrömischen Ruine im
sizilianischen Enna hergenommen und den „sehr harten, weißlichen
Rückstand von schuppigem Kalk“ („very hard whitish lime-scale deposit“)
am Boden des Gefäßes untersucht. Vor allem anderen: Ich hätte
wirklich nicht damit gerechnet, dass, was in einem lange genutzten
Nachttopf zurückbleibt, schließlich diese Konsistenz bekommt.
Nie wieder Sandalenfilme ohne Wurmgedanken
Aber so ist es wohl, denn nachdem die Leute das Zeug in Salzsäure
aufgelöst und gereinigt hatten, waren durch schlichte Lichtmikroskopie
(mein Kompliment an die AutorInnen, dass sie der Versuchung widerstanden
haben, coole und drittmittelträchtige DNA-Analysen zu machen)
haufenweise Eier von Peitschenwürmern zu sehen – und das halte auch ich
für ein starkes Zeichen, dass reichlich menschlicher Kot in diesem Pott
gewesen sein dürfte. Auch wenn, wie die AutorInnen einräumen, keine
Kontrollprobe der umgebenden Erde zur Verfügung stand, ist es nicht
plausibel, wie Eier in dieser Menge durch nachträgliche Kontamination in
den „harten, weißen Rückstand“ kommen sollten.
Römer hatten – das war schon vor dieser Arbeit klar – nicht zu knapp
Würmer. Alles andere wäre trotz der relativ ordentlichen Kanalisation
in größeren römischen Siedlungen höchst erstaunlich, da auch in
unserer modernen Welt die (arme) Hälfte der Menschheit Würmer hat (vgl.
z.B. Stepek et al 2006, DOI 10.1111/j.1365-2613.2006.00495.x).
Dennoch guckt sich so ein zünftiger Sandalenfilm (sagen wir, der immer
noch hinreißende Ben Hur) ganz anders an, wenn mensch sich klar
macht, dass die feschen Soldaten und fetten Senatoren alle des öfteren
mal Würmer hatten. Und auch Caesars Gallischer Krieg oder Mark Aurels
Selbstbetrachtungen erhalten, finde ich, eine zusätzliche Tiefe, wenn
mensch sich vorstellt, dass in den Gedärmen jener, die da
Kriegspropaganda oder stoische Philosophie betrieben, parasitische
Würmer mitaßen.
Forschungsprojekt: Wurmbefall in Köln vor und nach 260
Nun schätzen Rabinow et al allerdings, dass ihre Rückstände wohl in der
Mitte des fünften Jahrhunderts entstanden. Damals hatte die römische
Zivilisation und damit auch ihre Kanalisation wahrscheinlich auch in
Sizilien schon etwas gelitten. Die Kölner Eifelwasserleitung etwa –
die eingestandenermaßen technisch besonders anspruchsvoll war und in
einem besonders unruhigen Teil des Imperiums lag – haben „Germanen“
schon im Jahr 260 zerstört, und sie wurde danach nicht mehr in Betrieb
genommen, obwohl Köln bis weit ins 5. Jahrhundert hinein eine römische
Verwaltung hatte.
Ich persönlich wäre überzeugt, dass, wer mit der Rabinow-Methode an
entsprechend datierbare Überreste heranginge, mit dem Jahr 260 eine
sprunghafte Erhöhung der Verwurmung in Köln feststellen würde.
Insofern: Vielleicht hatten Caesar und Mark Aurel, zu deren Zeiten der
römlische Wasserbau noch blühte, ja doch nicht viel mehr Würmer als wir
im kanalisierten Westen?
Ach so: Das mit dem Irrtum – „nee, die Teile hatten sie für Essen“ – war
so wild in Wirklichkeit nicht. Wie üblich in der Wissenschaft waren
die Antworten auch vorher nicht so klar. Rabinow et al schreiben:
A recent study of material at the town of Viminacium in Serbia, where
over 350 identically deep-shaped vessels are known, was able to
confirm at least 3 potential uses: storage for cereals or water,
burial urns, and chamber pots […]. Chamber pots clearly were also
sometimes put to secondary use, for example as a container for
builder’s lime […], while vessels initially destined for other
purposes may have been turned into chamber pots.
Nun, dann und wann kommen sogar Wissenschaft und „gesunder“
Menschenverstand zu recht vergleichbaren Ergebnissen.
Im September 2000, kurz vor dem Ende von Albrights Amtszeit und der
Wahl von George W. Bush: Eine Mahnwache gegen das Embargo gegen den
und das „Flugverbot“ (mit regelmäßigen Bombardements, daher das
Plakat) über dem Irak an der Park Street Station in Boston,
Massachussetts.
In der Nachricht über den Tod der ehemaligen US-Außenministerin
Albright am DLF heißt es, Joe Biden habe sie gewürdigt als
„Vorkämpferin für Demokratie und Menschenrechte“. Das ist auf den
ersten Blick bemerkenswert, weil sich doch noch viele Menschen an
Albrights Interview im US-Politmagazin 60 Minutes aus dem Jahr 1996
erinnern, in dem der Interviewer fragte:
Wir haben gehört, dass eine halbe Million [irakische] Kinder [infolge
der westlichen Sanktionen] gestorben sind. Sehen sie, das sind mehr
Kinder als in Hiroshima gestorben sind. Und, na ja, war es diesen
Preis wert?
In einem klassischen Fall von Klarsprache hat Albright geantwortet:
Ich denke, das war eine sehr schwere Entscheidung. Aber wir glauben,
dass es den Preis wert ist.
(Übersetzung ich; Original z.B. bei der newsweek). In meiner Zeit in
den USA – Albright war damals „meine“ Außenministerin –, war dieses „the
price is worth it“ ein geflügeltes Wort, um bei Demonstrationen und
Mahnwachen wie der oben im Bild die mörderische, zynische und verlogene
Realpolitik zu kommentieren und Zweifel zu äußern, wenn Kriege mit „aber
die Menschenrechte“ (Kosovo, Albright und Bundeswehr dabei) oder „wir
verteidigen uns“ (Irak, Bundeswehr noch nicht und Albright nicht mehr
dabei) rechtfertigt wurden.
Im Rückblick würde ich die Bestürzung über das „it was worth it“ gerne
relativieren. Albright war wahrscheinlich nach Maßstäben ihrer Zunft
wirklich relativ deutlich orientiert auf Menschenrechte und Demokratie,
denn sonst hätte sie diese Antwort vermutlich nicht gegeben und
stattdessen dem Industriestandard folgend in eine andere Richtung
losgeschwafelt[1]. Insofern verdient sie Anerkennung
dafür, die Maßstäbe der Zunft der äußeren Sicherheit klar zu benennen,
denn die erlauben nun mal, zur Durchsetzung von „nationalen“ Interessen
massenhaft Menschen zu töten. Das einzugestehen ist, so glaube ich
heute, ethisch gegenüber dem sonst üblichen Fast Talk deutlich zu
bevorzugen.
Albrights Klarsprache mahnt uns, dass auch Saktionen fürchterliche
Folgen haben können und wir daher gute Gründe für sie einfordern
sollen („nationale Interessen“ sollten für nette Menschen nicht in die
Kategorie „gut“ gehören), und dass „unsere“ Regierungen ebenso bereit
sind, für ihre Interessen zu töten wie alle anderen auch.
Deshalb, um kurz in die Gegenwart zu schalten, muss der Schluss aus dem
Ukrainekrieg eben radikale Abrüstung sein und jedenfalls nicht mehr
Gewaltmittel für Menschen, die sich gegentlich „schwere Entscheidungen“
abringen, die Tote im Millionenmaßstab – es starben ja in den 90ern auch
nicht nur die Kinder im Irak, ganz zu schweigen von der Hinführung auf
den dritten Golfkrieg, an dem im Irak immer noch viele Menschen sterben
– nach sich ziehen.
Damit sind Dinge gemeint wie „das sagen die Russen“,
„Handelswege sichern“, „Verlässlichkeit im Bündnis“ oder viele
ähnliche Platitüden, die längst auswendig kann, wer regelmäßig
die Interviews in den DLF-Informationen am Morgen hört.
„Reimers' Diagramm“: Für 400 Jahre der einzige Hinweis darauf, wie Jost
Bürgi wohl seine Sinustabelle berechnet hat. Nicht mal Kepler hat das
Rätsel lösen können.
Ein Geheimnis, das im antiken Griechenland ein wenig angekratzt wurde,
über das dann Gelehrte in Indien und Arabien nachgedacht haben, für das
in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein wandernder Schweizer
Uhrmacher eine genial einfache Lösung fand, von der aber die Nachwelt
nur ein paar kryptische Referenzen hat, bis ein unerschrockener
Wissenschaftler in den Tiefen längst vergessener Bibliotheken ein
Manuskript entdeckt, das des Rätsels Lösung enthält: Es gibt
Geschichten, die klingen nach einem Roman von Umberto Eco (oder, je nach
Temperament und/oder Geschmack, Dan Brown) und sind doch wahr.
Auf die Geschichte von Jost Bürgis Sinusberechnung bin ich über die
DLF-Sternzeit vom 27.2.2022 gekommen, und sie geht ungefähr so:
Nachdem Hipparchos von Nicäa so um die 150 vdcE[1] nicht nur
den ersten brauchbaren Sternkatalog vorgelegt, sondern auch die ersten
ordentlichen Rezepte angegeben hatte, wie mensch für jede Menge Winkel
den zugehörigen Sinus[2] ausrechnet, gab es zur Berechnung
trigonometrischer Funktionen sehr lange nicht viel Neues.
Klar, der große Ptolomaios, genau, der mit dem Weltbild, hat Hipparchos'
Methode zur Berechnung des Sinus über regelmäßige Vielecke kanonisiert.
In Indien gab es einige Fortschritte – etwa den Übergang von der Sehne
zum Sinus –, in Arabien wurden verschiedene Ergebnisse zusammengetragen
und systematisiert, aber immer war es eine mühsame, geometrisch
insprierte, endlose Rechnerei.
Und dann kommen wir in die frühe Neuzeit in Europa, genauer die zweite
Hälfte des 16. Jahrhunderts. Kopernikus hat noch einmal ganz klassisch
den Sinus mit Vielecken berechnet, während er die Konflikte zwischen
Ptolomaios und der Realität untersuchte. In Italien macht sich
allmählich Galileo bereit, die Physik als experimentelle
Naturwissenschaft zu etablieren. Und in Kassel, beim
wissenschaftsbegeisterten hessischen Landgraf Wilhelm IV, sammeln
sich ein paar Mathe- und Astro-Nerds, die beim ebenso berühmten wie
fiesenTycho gelernt haben, unter ihnen Nicolaus Reimers, der das
kryptische Bild über diesem Post veröffentlicht hat, vermutlich, weil er
versprochen hatte, nicht mehr zu verraten.
Bürgis geniale Methode
Es weist auf ein Verfahren zur Berechnung von Werten der Sinusfunktion
hin, das nichts mehr mit den umschriebenen Polygonen des Hipparchos zu
tun hat. Sein Erfinder, der Toggenburger Uhrmacher-Astronom-Erfinder
Jost Bürgi, hatte zu dieser Zeit ein großes Tabellenwerk vorgelegt,
mit dem mensch auch ohne Taschenrechner rausbekommen konnte, wie viel wohl
sin(27∘ 32’ 16’’) sei[3]. Offensichtlich
funktionierte die Methode. Doch hat Bürgi – Autodidakt und vielleicht
etwas verschroben – die Methode nie richtig veröffentlicht, und so
brüteten MathematikerInnen, unter ihnen wie gesagt Johannes Kepler, der
immerhin die Sache mit den Ellipsenbahnen im Planetensystem rausbekommen
hat, lang über der eigenartigen Grafik. Und kamen und kamen nicht
weiter.
Das war der Stand der Dinge bis ungefähr 2014, als der (emeritierte)
Münchner Wissenschaftshistoriker Menso Folkerts im Regal IV Qu. 38ª
der Universitätsbibliothek in Wrocław auf eine lange übersehene
gebundene Handschrift stieß. Ein wenig konnte er ihre Geschichte
nachvollziehen: Jost Bürgi persönlich hatte das Werk Kaiser Rudolf II
– dem Mäzen von Tycho und Kepler – am 22. Juli 1592 (gregorianisch) in
Prag übergeben, was ihm eine Zuwendung von 3000 Talern eingebracht hat.
Ich habe leider nicht die Spur eines Gefühls, wie sich der Betrag mit
modernen Drittmittelanträgen vergleicht. Die Form des Antrags
jedenfalls ist aus heutiger Sicht als unkonventionell einzustufen.
Das Werk fand seinen Weg in das Augustinerkloster im unterschlesischen
Sagan (heute Żagań). Wie es dort hinkam, ist nicht überliefert, aber
mensch mag durchaus eine Verbindung sehen zu Keplers Aufenthalt in Sagan
in den Jahren von 1628 bis 1630. Vielleicht hat er das Buch ja nach
seinen Diensten in Prag mitgenommen, auf seinen verschiedenen
Wanderungen mitgenommen und schließlich selbst im Kloster gelassen?
Aber warum hätte er dann über Bürgis Methode gerätselt?
Wie auch immer: Im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses wurde das
Kloster 1810 aufgelöst – ich stelle mir das ein wenig vor wie in Poes
„Die Grube und das Pendel“ –, und der Bestand der Bibliothek fiel an die
Universität Breslau, die wiederum nach dem zweiten Weltkrieg zur
polnischen Uni Wrocław wurde.
In diesem geschichtsträchtigen Manuskript erklärt Bürgi seinen
Algorithmus. Dargestellt ist das in der Abhandlung von Folkerts et al
(arXiv:1510.03180), in der sich auf den Seiten 11 und 12 auch die
Auflösung für Reimers' Rätsel findet. Etwas schöner beschreibt das
Verfahren Denis Roegel in seinem Aufsatz Jost Bürgi's skillful
computation of sines. Dort wird auch Bürgis mutmaßliche
Grundeinsicht besser erläutert, nach der der Sinus einfach das Ding ist, das,
modern gesprochen, nach zweifacher Ableitung sich selbst (mal minus
eins) ergibt. Das ist der mathematische Hintergrund dafür, dass
folgendes Stück Python tatsächlich relativ schnell zu einer Tabelle
der Sinuswerte von n im ersten Quadranten gleichverteilten
Winkeln konvergiert:
tot_sines = list(range(n+1))
for iter_index in range(n_iter):
intermediates = [tot_sines[-1]//2]
for tot in reversed(tot_sines[1:-1]):
intermediates.append(intermediates[-1]+tot)
tot_sines = [0]
for diff in reversed(intermediates):
tot_sines.append(tot_sines[-1]+diff)
return dict((k*math.pi/2/n, v/tot_sines[-1])
for k, v in enumerate(tot_sines))
– es ist, glaube ich, unmöglich, zu verstehen, was hier passiert (und
warum), ohne den Roegel oder zumindest den Folkerts gelesen zu haben.
Aber ich könnte andächtig werden angesichts so simpler Manipulationen,
die so schnell zu richtig vielen Stellen einer transzendenten Funktion
wie des Sinus führen.
Ein numerischer Traum
Wie schnell das mit den vielen Stellen bei Bürgis Algorithmus geht,
zeigt folgende Grafik:
Hier läuft horizontal der Winkel – und der Algorithmus funktioniert
wirklich nur, wenn das einen rechten Winkel einschließt –, vertikal die
Iterationen von Bürgis Algorithmus. Die Farben entsprechen dem
dekadischen Logarithmus der Abweichung der Bürgi-Ergebnisse von dem, was
die Python-Standardbibliothek gibt, im Groben also die Zahl der Stellen,
die der Algorithmus richtig hinbekommt. Mehr als 18 geht da schon mal
nicht, weil die Zahlen von Python in 64-bittigen IEEE-Fließkommazahlen
(„double precision“) kommen, und mehr als 18 Dezimalstellen sind da
nicht drin (in der Grafik steckt die Zusatzannahme, dass wir von Zahlen
in der Größenordnung von eins sprechen).
Mithin gewinnt der Algorithmus pro Iteration ungefähr eine
Dezimalstelle, und das gleichmäßig über den ganzen Quadranten.
DemoprogrammiererInnen: billiger kommt ihr, glaube ich, nicht an eine
beliebig präzise Sinustabelle ran.
Spannend fand ich noch die kleinen dunkelblauen Klötzchen ganz unten in
der Grafik: Hier werden sich Bürgi und Python offenbar auf Dauer nicht
einig. So, wie ich das geschrieben habe, würde ich fast eher Bürgi
vertrauen, denn bei den Ganzzahlen, die da verwendet werden, kann
eigentlich nichts schief gehen. Andererseits sind Fließkommazahlen eine
heikle Angelegenheit, insbesondere, wenn es ums letzte Bit geht. Um
mich zu überzeugen, dass es nur um genau jenes unheimliche letzte Bit
geht, habe ich mir geschwind eine Funktion geschrieben, die die
Fließkommazahlen vinär ausgibt, und der Code gefällt mir so gut, dass
ich sie hier kurz zeigen will:
import struct
_BYTE_LUT = dict((v, "{:08b}".format(v)) for v in range(256))
def float_to_bits(val):
return "".join(_BYTE_LUT[v] for v in struct.pack(">d", val))
Mit anderen Worten lasse ich mir geschwind ausrechnen, wie jedes Byte in
binär aussehen soll (_BYTE_LUT), wobei die Python-Bibliothek mit dem
08b-Format die eigentliche Arbeit macht, und dann lasse ich mir die
Bytes der Fließkommazahl vom struct-Modul ausrechnen. Der einzige Trick
ist, dass ich das Big-end-first bestellen muss, also mit dem
signfikantesten Byte am „linken“ Ende. Tue ich das nicht, ist z.B. auf
Intel-Geräten alles durcheinander, weil die Bits in der konventionellen
Schreibweise daherkommen, die Bytes aber (wie bei Intel üblich)
umgedreht, was ein furchtbares Durcheinander gibt.
Jedenfalls: Tatsächlich unterscheiden sich die Werte schon nach 20
Iterationen nur noch im letzten bit, was für 45 Grad alias π/4 z.B. so
aussieht:
Ich lege mich jetzt mal nicht fest, was das „bessere“ Ergebnis ist; ich
hatte kurz überlegt, ob ich z.B. mit gmpy2 einfach noch ein paar
Stellen mehr ausrechnen sollte und sehen, welches Ergebnis näher dran
ist, aber dann hat mich meine abergläubische Scheu vor dem letzten Bit
von Fließkommazahlen davon abgehalten.
Wer selbst spielen will: Meine Implementation des Bürgi-Algorithmus, der
Code zur Erzeugung der Grafik und die Bitvergleicherei sind alle
enthalten in buergi.py.
Das vdcE bringe ich hiermit als Übertragung von BCE, before
the Christian era, in Gebrauch. Und zwar, weil v.Chr völlig albern
ist (es ist ja nicht mal klar, ob es irgendeine konkrete Figur
„Christus“ eigentlich gab; wenn, ist sie jedenfalls ganz sicher nicht
zur aktuellen Epoche – also dem 1. Januar 1 – geboren) und „vor
unserer Zeitrechnung“ ist auch Quatsch, denn natürlich geht
Zeitrechnung (wenn auch mangels Jahr 0 etwas mühsam) auch vor der
Epoche. „Vor der christlichen Epoche“ hingegen bringt ganz schön auf
den Punkt, was das ist, denn die „Epoche“ ist in der Zeitrechnung
einfach deren Nullpunkt (oder halt, vergurkt wie das alles ist, hier
der Einspunkt).
Na ja, in Wirklichkeit hat er mit der Länge der Sehne
gerechnet, die ein Winkel in einem Kreis aufspannt, aber das ist im
Wesentlichen das Gleiche wie der Sinus, der ja gerade der Hälfte
dieser Sehne entspricht.
Diese Biene würde vielleicht schon zwischen den Staubbeuteln
rumrüsseln, wenn die Blume sich nur etwas mehr Mühe beim Würzen
gegeben hätte.
In Marc-Uwe Klings Qualityland (helle Ausgabe in der Imperial Library)
gibt es das großartige Konzept der FeSaZus, eines Nahrungsmittels, das zu
je einem Drittel aus Fett, Salz und Zucker besteht und zumindest für das
Proletariat von Qualityland in einigen – nicht zu vielen! –
Darreichungsformen (FeSaZus im Cornflakesmantel, Muffins mit
FeSaZu-Füllung, Schmalz-FeSaZus mit Speckgeschmack) eine wichtige
Ernährungsgrundlage darstellt.
Via den Wissenschaftsmeldungen vom 3.2.2022 in DLF Forschung aktuell
bin ich nun auf den Artikel „Sodium-enriched floral nectar increases
pollinator visitation rate and diversity“ von Carrie Finkelstein und
KollegInnen (Biology Letters 18 (3), 2022, DOI
10.1098/rsbl.2022.0016) gestoßen, der recht überzeugend belegt, dass
Insekten im Schnitt einen Geschmack haben, der sich vom Qualityländer
Durchschnittsgeschmack gar nicht so arg unterscheidet.
Finkelstein et al haben an der Uni von Vermont mindestens je zwölf
Exemplare von fünf örtlich üblichen Blumenarten blühen lassen. Je
Experiment (und davon gab es einige) haben sie sich pro Art sechs
Individuen ausgesucht und mit Kunstnektar versehen. Bei dreien war das
einfach eine 35%-ige Zuckerlösung, bei den anderen drei kam dazu noch 1%
Kochsalz. In Wasser aufgelöst ist 1% Salz schon ziemlich schmeckbar.
Ich habe darauf verzichtet, im Selbstversuch zu überprüfen, ob 1% Salz
in so konzentriertem Sirup menschlichen Zungen überhaupt auffällt.
Und dann haben sie gewartet, bis bestäubende Insekten kamen und diese
gezählt. Das zentrale (und jedenfalls von außen betrachtet trotz etwas
Voodoo bei der Auswertung auch robuste) Ergebnis: An den Pflanzen, die
Salz anboten, waren doppelt so viele Insekten – am stärksten vertreten
übrigens allerlei Sorten von Bienen – wie an denen, die das nicht taten,
und zwar ziemlich egal, um welche Blume es nun gerade ging. Mit anderen
Worten: Insekten sind nicht wild auf faden Nektar.
Allerdings: So ein Faktor zwei in der Präferenz ist gar nicht so viel.
Zwischen den BesucherInnenzahlen bei Schafgarbe (laut Paper 54.1 ± 6.3)
und dem blutroten Storchschnabel (16.6 ± 3.5) liegt eher ein Faktor
drei. Dennoch ist recht deutlich, dass die Insekten eher wenig
Verständnis haben für Lauterbachs salzarme Ernährung. Dabei will ich
nicht argumentieren, dass ein Durchschnittsmensch auf Dauer 150 mg
Salz pro Kilogramm Körpergewicht und Tag essen könnte, ohne schließlich
mit Hypertonie und Nierenversagen kämpfen zu müssen. Aber 10 oder 15
Gramm Salz am Tag kriegt mensch, wie Samin Nosrat in ihrem wunderbaren
Kochbuch Salt, Fat, Acid, Heat (auch in der Imperial Library)
ausführt, durch selbstsalzen oder auch den Salzgebrauch in
selbstkochender Gastronomie, kaum hin[1]; salzarms Kochen und
fades Essen mag mithin positive gesundheitliche Folgen haben, aber
vermutlich kaum mehr als etwa der Einsatz von Himalayasalz, Voodoopuppen
oder anderen potenten Placebos.
Erfreulich fand ich im Paper noch die Aussage „All analyses were
performed in R (v. 4.0.2)“ – dass auch in weniger technologieaffinen
Wissenschaftsbereichen proprietäre Software (in diesem Fall ganz
vornedran SAS und SPSS) auf dem Weg nach draußen ist, halte ich für eine
ausgezeichnete Nachricht.
Weniger schön fand ich das Bekenntnis, dass es in Anwesenheit von
BiologInnen ganz offenbar gefährlich ist, einer unüblichen Spezies
anzugehören:
If we were unable to identify a floral visitor in the field, we
collected it and stored it in 75% ethanol.
Arme kleine Fliegen und arme VertreterInnen ungewöhnlicher Bienenarten.
Wären sie stinknormale Honigbienen gewesen, hätten sie ihren Ausflug zu
den verlockenden Blüten mit dem fein gesalzenen Nektar überlebt.
Nosrat argumentiert in ihrem Buch für mich zumindest plausibel
(und durch meine eigene Kochpraxis bestätigt), dass Lauterbauchs Kritik
am „Salzgeschmack“ zumeist am Thema vorbeigeht – in aller Regel
vermittelt Kochsalz etwa durch Kontrolle von Osmolaritäten ziemlich
nichttriviale Prozesse beim Garen und Verarbeiten von Lebensmitteln,
und diese sind für den Geschmack der fertigen Speisen viel wichtiger
als das Salz selbst. Aber das ist dann wirklich eine andere Geschichte.
2014 in Lissabon: nach einer Nacht im Barrio Alto hat sich an der
Straße ein Pfund Plastik gesammelt. Ihr guckt auf etwa ein
Millardstel der gegenwärtigen Weltjahresproduktion.
In der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell gab es am 2. März ein
Segment mit einer Zahl, die ich im Kopf haben sollte: Die
Weltproduktion von Kunststoffen liegt derzeit bei 460 Millionen Tonnen
oder einer halben Gigatonne pro Jahr und hat seit dem Jahr
2000 um ziemlich genau den Faktor 2 zugenommen.
In den Größenordnungen von Naturkatastrophen gesprochen braucht es
5⋅108 t ⁄ (25 t/Container), also 20
Millionen TEU-Container, um den ganzen Mist (von der Masse her) bewegt
zu kriegen. Wenn das alles durch einen Hafen ginge, müsste da öfter als
alle zwei Sekunden so ein Container randvoll mit Plastik rein bzw. raus.
Mit der Annahme, dass Rohöl 1:1 in Kunststoff umgesetzt wird –
(wahrscheinlich eher konservativ) – hat es 5⋅108 t ⁄ (5⋅105 t/Tanker), also überraschende
1000 große Supertanker gebraucht, um das Öl für das Zeug zu den
Chemiefabriken zu bringen. Das sind sowas wie drei am Tag. Ganz
ehrlich kommt mir diese Zahl enorm, fast unglaublich groß vor.
Wahrscheinlich werden doch ganz schön viele der Fabriken durch Pipelines
beliefert, zumal wohl auch Gas ein beliebter Ausgangsstoff für viele
Kunststoffe ist.
Mit den Kopfzahlen für Flächen geht noch eine andere
Veranschaulichung, denn zufällig ist ja die Fläche der Erde auch so etwa
450 Millionen Quadratkilometer. Mithin produzieren wir für jeden
Quadratkilometer Erdoberfläche ziemlich genau eine Tonne Plastik,für
jeden Quadratkilometer Land gar drei Tonnen. Wiederum scheint mir das
unglaublich viel.
Um das weiter in Relation zu setzen: Kunststoffe wie Polyethylen haben
ungefähr die Dichte von Wasser, also
1000 kg ⁄ m3, und Folie daraus ist etwas wie
0.01 mm oder 10 − 5 m dick (ich nehme mal dieses
Angebot als repräsentativ). Weil die Dichte ρ gleich Masse
m pro Volumen V und Volumen Fläche A mal Dicke
b ist, kann mensch die mit einer Tonne PE-Folie bedeckbare
Fläche zu
A = (m)/(ρb) = (1000 kg)/(1000 kg/m3⋅10 − 5 m)
und also 100'000 Quadratmetern ausrechnen (Gegenrechnung: ein Kilo Folie
könnte so 100 Quadratmeter oder eine größere Wohnung abdecken; das
klingt plausibel). Unsere Tonne Plastikfolie bedeckt von unserem
Quadratkilometer immerhin ein Zehntel (bzw. zehn von den
Hektaren aus den Flächen-Kopfzahlen, die mensch in zwei Minuten durchqueren
konnte).
Ist es tröstlich, dass wir auch bei der gegenwärtigen Plastikproduktion
immer noch 10 Jahre bräuchten, bis wir den Planeten ganz in
Frischhaltefolie eingewickelt hätten? Na gut, wenn wir das Meer
unverpackt ließen, würden wir es auch in drei Jahren schaffen. Wir
müssten nur den ganzen anderen Plastikquatsch für drei Jahre
weiterwenden, um die Produktion für das große Verpackungsprojekt
freizukriegen.
[Die „Stabilitätsorientierung“ der Bundesbank] hat auch historische
Gründe: Die Erfahrungen der galoppierenden Inflation zum Ende der
Weimarer Republik prägen die Deutschen auch fast ein Jahrhundert
danach noch.
Das ist sachlich falsch. „Zum Ende der Weimarer Republik“ herrschte
Deflation. In der Tat trug diese auch nach Einschätzung konservativer
Wirtschafts„wissenschaftler“Innen ganz gewiss dazu bei, dass die
Weltwirtschaftskrise im Gefolge des Schwarzen Freitags ein gutes (na ja,
schlechtes) halbes Jahrzehnt anhielt. Es war diese Beobachtung, die
John Maynard Keynes zu seiner nach Maßstäben der Disziplin
erstaunlich vernünftigen Wirtschaftstheorie brachte und auch den New
Deal in den USA inspirierte.
Nun könnte mensch einen xkcd 386 aufrufen und weitergehen:
Aber ganz so einfach ist es hier vielleicht doch nicht, denn es schwingt
in der Aussage ein höchst destruktiver Subtext mit, in etwa „die
Inflation hat Hitler gemacht“. Nein: Die galoppierende Inflation im
deutschen Reich fand 1923 statt und hatte im Wesentlichen nichts mit
Wirtschaftspolitik zu tun, dafür aber viel mit durchgedrehtem
Nationalismus auf mehreren Seiten (vgl. Ruhrbesetzung). Danach kam
zunächst die auch rückblickend jedenfalls kulturell erstaunlich liberale
Zeit der „goldenen Zwanziger“, während der NSDAP und DNVP zusammen
bei Wahlen so im Bereich der heutigen AfD abschnitten.
Der Subtext von Faschismus-durch-Inflation ist an dieser Stelle fast
sicher keine bewusste Manipulation, denn Brigitte Scholtis, die Autorin
der Sendung, mag selbst Weltwirtschaftskrise und Inflation vermengt
oder jedenfalls nicht darüber nachgedacht haben.
Er ist dennoch ein Symptom für die bleibende Lüge der deutschen
Nachkriegsgesellschaft. Die NS-Herrschaft war kein Unfall, keine Folge
von „wachsender Zerrissenheit der Gesellschaft“ oder gar der
bolschewistischen Sowjetregierung. Nein, sie war offensichtlich Folge
der Tatsache, dass die Eliten der Weimarer Republik in Justiz, Polizei,
Militär, Wirtschaft und zu guten Stücken auch Politik (nicht jedoch in
der Kultur) in ihrer überwältigenden Mehrheit völkisch, nationalistisch,
autoritär und jedenfalls rabiat antikommunistisch dachten. Sie
teilten das NS-Programm – eingestandenermaßen fast durchweg mit weniger
eliminatorischem Antisemitismus – von Anfang an. Das war und ist eine
unbequeme Wahrheit für die Befreiten von 1945 und danach, die sich ja
sehr häufig in der Tradition dieser Eliten sahen.
Diese Wahrheit anzuerkennen würde helfen, solche scheinbar kleinen
Fehler zu vermeiden – und auch ganz gewaltige Fehler wie die
Extremismustheorie, die es ohne planmäßige Leugung dieser unschönen
Geschichte vermutlich gar nicht gäbe.
Das DLF-Kalenderblatt vom 27. Januar erinnerte an Luise Zietz, die
100 Jahre zuvor gestorben war. Zietz war die erste Frau im Vorstand
einer deutschen Partei – der SPD, ab 1908. Der DLF-Beitrag berichtete
auch:
Während des Ersten Weltkriegs sprach sich Luise Zietz als Pazifistin
gegen die Bewilligung von Kriegskrediten aus und wurde aus dem
SPD-Parteivorstand geworfen.
Luise Zietz neben Friedrich Ebert, im SPD-Parteivorstand von 1909; es
ist Zietz hoch anzurechnen, dass sie nicht mehr neben Ebert stand, als
dieser mit Wehrmacht und Freikorps die fortschrittlichen Aufstände am
Anfang der Weimarer Republik niedermetzeln ließ (Quelle).
Gerade dieser Punkt hat mir imporiert, zumal ich, bevor diese Sendung in
meinem aynchronen Radio kam, den großen patriotischen Taumel in den
Informationen am Morgen vom Dienstag miterleben musste. In diesem
kamen, soweit ich ihn verfolgt habe, nur Leute zu Wort wie Jürgen
Hardt (der immerhin nur die blinde Gewissheit des Patrioten an den Tag
legte, „wir“ seien die Guten) oder wie Michael Gahler (der sich zu
„totaler Kriegserklärung“ und „völkisch-faschistischem Verständnis“
verstieg – wo sind die Mahner gegen kreischkrumme Vergleiche, wenn
mensch sie braucht?) – jedoch niemand, der_die mal über die Symmetrie
der Situation geredet hat, dass „wir“ nämlich nicht nur aus russischer
Sicht in etwa ebenso schurkig sind wie „sie“, und dass wirklich niemand
die doofen Turf Wars zwischen verschiedenen Schurkengangs haben will.
Dass die Moderatorin penetrant Bekenntnisse ausgerechnet zu
Waffenlieferungen einforderte, tat ein Übriges: Ich sehnte mich intensiv
nach aufrechten Pazifistinnen.
Wie schön wäre es da gewesen, wenn es im SPD-Parteivorstand von 1914
wirklich eine gegeben hätte, die Liebknechts einsame Ablehnung der
Kriegskredite – und es wird heute wohl niemand mehr bestreiten, dass er
im ganzen weiten Reichstag der einzige war, der sich in dieser Sache vor
der Geschichte nicht verstecken muss – unterstützte und dafür noch mit
ihrem Amt bezahlt hat.
Zwar hatte Luise Zietz 1912 in ihrem Buch Die Frauen und der
politische Kampf dazu aufgerufen, sich gegen den drohenden Krieg zu
stellen, doch an der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz
1915 in Bern, die vom Parteivorstand nicht gebilligt worden war, nahm
sie nicht teil. Im Laufe der ersten beiden Kriegsjahre scheint sich
ihre Einstellung jedoch geändert zu haben. Sie äußerte sich seither
deutlich kritischer zur Burgfriedenspolitik der SPD und stellte ihre
Mitarbeit im Nationalen Frauendienst ein.
Zietz war 1914 mit dem ganzen Parteivorstand im patriotischen Taumel und
ist mit der SPD in den Krieg gezogen. Ich fühle mich fast versucht,
ihre Wikipedia-Seite, die derzeit das verkürzte Narrativ des DLF
übernommen hat, diesbezüglich zu verbessern. Aber immerhin hatte sie
Augen im Kopf und ein Mindestmaß an Mitgefühl, und so hat sie
schließlich ihren Fehler eingesehen. 1917 hat sie die USPD
mitgegründet, was durchaus als erfolgreicher Beitrag zur Dämpfung von
Patriotismus und mithin zur Verkürzung des Gemetzels gelten darf. Zudem
hat sie später als USPD-Abgeordnete erfreulichen Klartext geredet, etwa
als die Ebert-SPD von Mutterschutz und elementaren Beschäftigtenrechten
bei Krankheit nichts mehr wissen wollte: „Kapitalsinteressen wurden
höher bewertet als warmes Menschenleben“.
Luise Zietzs anfängliche Unterstützung des ersten Weltkriegs ist schon
ein wenig erschütternd, zumal sie vor der nationalen Erregung von 1914
offenbar recht vernünftige Ansichten zur Nation und dem Töten für diese
geäußert hat. Aber die Demonstration, dass mensch sich von
Kriegspolitik abwenden kann, dass mensch bereit ist, für die Einsicht in
die eigene patriotische Verblendung auch einen Posten im Parteivorstand
aufzugeben: Davon bräuchte es heute erneut viel mehr, hier bei „uns“ wie
auch bei all den „sie“-s rund um den Globus. Weil Zietz diese Großtat
1917 hinbekommen hat, ist sie durchaus eine echte Heldin; vielleicht
etwas gebrochen, aber doch Heldin.
Da helfen nicht mal mehr Ameisenarmeen: Ein Faultier in einem
Cecropia-Baum. Von hier unter GFDL.
In den Wissenschaftsmeldungen der Forschung aktuell-Sendung am
Deutschlandfunk vom 4.1.22 gab es ab Minute 2:50 eine Geschichte einer
doch sehr überraschenden Symbiose: Ameisen, so heißt es da, verbinden
verletzte Bäume. Nun würde mich so ein Verhalten nicht völlig vom
Hocker hauen – ich bin ja ein Feind der Soziobiologie und
halte das „egoistische Gen“ für einen methodischen Fehler –, aber
Krankenpflege ist schon innerhalb einer Spezies bemerkenswert (gibts
bei Ameisen). Geht sie gar über Speziesgrenzen hinaus, weckt das schon
meine Neugier. Darum habe ich mir das zugrundeliegende Paper
rausgesucht: „Azteca ants repair damage to their Cecropia host plants“
aus dem Journal of Hymenoptera Research, Band 88,
doi:10.3897/jhr.88.75855.
Das erste, was auffällt, ist die Autorenliste: geschrieben haben das
Ding Alex Wcislo, Xavier Graham, Stan Stevens, Johannes Ehoulé Toppe,
Lucas Wcislo, und William T. Wcislo. Das sind einen Haufen Wcislos,
und die Erklärung findet mensch in den Affiliations. William T. ist vom
Tropeninstitut der Smithsonian Institution, alle anderen Autoren kommen
von der International School of Panama – wo ein Forscher-Expat seine
Kinder wohl hinschicken wird – beziehungsweise von der Metropolitan
School in Panama.
In diesem Licht bekommt die Eröffnung des Artikels einen ganz eigenen
Charme, der in dem DLF-Kurzbeitrag ganz und gar fehlt (da war nur die
übliche Rede von „den Forschenden“):
One of us (AW) used a sling shot to shoot a clay ball (9 mm diameter)
at high velocity through an upper internode of a large Cecropia tree,
making clean entry and exit wounds. Within 24 hours both holes were
nearly sealed. This anecdotal observation...
Also: Da hat der kleine Nick^W^W der Sohn des Smithsonian-Biologen mit
einer Zwille oder Steinschleuder rumgeballert und hat es geschafft, ein
Loch durch ein Internodium, also so eine Art Zweig, zu schlagen; nun,
tropische Bäume sind oft relativ weich. Der Lausejunge war aber
Professorenkind genug, um genauer hinzuschauen und festzustellen, dass
Ameisen am Loch rumlaufen und es offenbar zunähen.
Daraufhin haben er, seine Freunde und sein Vater ein richtiges Programm
aufgelegt, um aus der Anekdote etwas wie Wissenschaft zu machen. Sie
haben dazu systematisch Löcher in rund zwanzig Ameisenbäume im Stadtwald
(„opportunistically selected“ schreiben sie) gebohrt, in denen
Aztekenameisen Azteca alfari wohnten. Über deren Symbiose war bisher
vor allem bekannt, dass die Bäume Ameisen schicken, wenn andere Tiere
an ihren Blättern knabbern. Die Ameisen dürfen dafür in den erwähnten
Internodien wohnen (die sind hohl und haben dünne Wände, damit die
Ameisen leicht reinkommen) und bekommen darin sogar lecker Futter (na
ja, im Zweifel Futter für ihre Blattläuse).
Und dann haben die Schülis dokumentiert, was passiert. Das war nicht
immer einfach, wie sie ehrlich berichten:
But ants [also die Ameisen, die an einem Loch arbeiteten] were not
marked so the total size of the repair force is unknown. […]
We greatly thank the Cárdenas police patrols for allowing us to work
safely outdoors during the early days of a pandemic, and tolerating
our activity during severe restrictions on movement.
Sie mussten sich auch auf junge Bäume beschränken, denn die Ameisen
wohnen gerne so weit oben wie möglich und merken dann nicht mehr, was
unten vor sich geht, während die Schülis nicht höher als zwei Meter
kamen: „we selected internodes as high up as we could reach“.
Die resultierende Beobachtung mochte dann schon wieder Material für die
Ethikkommission sein, denn sooo viel anders als bei den ganz
klassischen Begegnungen von Lausbuben und Ameisenhaufen ging es auch
nicht ab, jedenfalls aus Sicht der Ameisen: Diese retteten erstmal
ihre Brut, bevor sie tatsächlich recht oft und überzeugend die
Bohrungen verschlossen. Dieses Gesamtbild aber lässt schon ahnen, dass
sie eher ihren Bau reparierten als ihrem Baum medizinische Hilfe
angedeihen ließen. Dafür spricht auch, dass der Baum im Anschluss ein
eigenes Heilprogramm anwarf und die Wunde komplett mit eigenem Gewebe
auffüllte.
Andererseits: Vielleicht sehen wir hier gerade der Evolution zu, denn es
könnte ja sein, dass Bäume, die Ameisen zu besserer medizinischer
Versorgung anhalten – und das übliche survival of the fittest[1]
würde jetzt dafür sorgen – auch deutlich besser leben als welche, die
einfach nur ganz normale Baumheilung machen?
Was es auch sei: ich war sehr angetan davon, mal ein paar Seiten aus
dem Journal of Hymenoptera Research zu lesen. Dafür, dass es solche
Publikationen gibt, liebe ich die Wissenschaft.
Meine tatsächliche Erfahrung mit vulkanischem Schwefel geht nicht weit
über die paar Gramm hinaus, die die Solfatara an dieser Fumarole
abgelagert hat.
In Forschung aktuell vom 18.1. ging es um den Ausbruch des Hunga
Tonga Hunga Ha'apai (spätestens seit dem Ausbruch des Eyjafjallajökull
ist klar, dass viele Vulkane großartige Namen haben). Darin hieß es,
dass bei der Eruption wohl um die 400'000 Tonnen Schwefeldioxid
entstanden sind, und dass das nicht viel sei, weil ein wirklich großer
Vulkanausbruch – als Beispiel dient der Pinatubo-Ausbruch von 1991 –
20 Millionen Tonnen Schwefeldioxid emittiert.
Bei dieser Gelegenheit ist mir aufgefallen, dass mir diese 20
Millionen Tonnen spontan alarmierend wenig sagten. Und drum dachte ich
mir, ich sollte mal ein paar Kopfzahlen zu eher großen Massen und –
weil ein Kubikmeter Wasser eine Masse von einer Tonne hat, hängt das eng
zusammen – Volumen sammeln.
Einfach war noch, die 20 Megatonnen mit meiner praktischen
Kohlendioxid-Kopfzahl von neulich, 2/3 Gigatonnen CO₂ pro Jahr aus
der BRD, zu vergleichen. Nun ist SO₂ eine ganz andere Nummer als CO₂
(ich erinnere mich an atemberaubende Vulkanbesuche und den weit größeren
Schrecken des Chemiepraktikums), aber als Vorstellung finde ich es
hilfreich, dass so ein ordentlicher Vulkanausbruch in etwa so viel
Schwefeldioxid freisetzt wie die BRD in zehn Tagen (nämlich: ein
dreißigstel Jahr) Kohlendioxid.
Was SO₂-Emissionen selbst angeht, sieht das natürlich ganz anders aus;
laut einer Grafik des Umweltbundesamts hat die BRD am Höhepunkt der
Saure-Regen-Bekämpfung 1990 lediglich knapp 6 Megatonnen pro Jahr
emittiert, also rund ein Viertel Pinatubo, und ist jetzt bei einer
halben Megatonne, also in etwa einem Hunga Tonga Hunga Ha'apai (der Name
begeistert mich erkennbar). In diesem Zusammenhang gar nicht erwartet
hätte ich, dass laut einer IMO-Studie von 2016 der Schiffsverkehr
weltweit nur 10 Mt Schwefeldioxid emittiert haben soll, also kaum
doppelt so viel wie die BRD 1990, und inzwischen, im Rahmen einer in
einschlägigen Kreisen offenbar besorgt beäugten Initiative namens IMO
2020, noch eine ganze Ecke weniger emittieren dürfte.
Nur vorsorglich: Wer den DLF-Beitrag gelesen hat, mag sich erinnern,
dass der Pinatubo das Weltklima um ein halbes Kelvin abgekühlt haben
wird. Die sechs Megatonnen Schwefeldioxid aus der 1990er BRD haben
jedoch sicher nicht ein achtel Kelvin ausgemacht, und zwar, weil sie
fast ausschließlich bodennah entstanden sind. Damit Schwefeldioxid
ordentlich klimawirksam wird, muss mensch es in die Stratosphäre
bringen. Das ist für einen zünftigen Vulkan kein Problem. Und wäre
leider auch für Menschen möglich.[1]
Wenn sich der Schwefel des Pinatubo wie im Foto oben niederschlägt, wie
viel ist das dann? Nun, erstmal ist der Masseanteil von Schwefel im SO₂
recht leicht auszurechnen, denn üblicher Schwefel hat Atommasse 32,
während Sauerstoff bei 16 liegt, zwei davon also auch bei
32. Damit ist die Hälfte der Masse von Schwefeldioxid Schwefel, und der
Pinatubo hat 10 Megatonnen Schwefel ausgespuckt. Bei einer Dichte von
2000 kg ⁄ m3 (hätte ich geringer eingeschätzt, muss ich
sagen) macht das 5⋅106 m3 aus und würde einen
Würfel von (5⋅106)1 ⁄ 3 oder runden 170 Metern Kantenlänge
füllen.
Um so ein Volumen einzuordnen, erkläre ich nachträglich den
Neckar-Abfluss aus dem Flächen-Post, 150m3 ⁄ s im Jahresmittel, zur Kopfzahl. Dann entspricht
der ganze Katastrophenschwefel des Pinatubo dem Wasser, das in 30
Kilosekunden (coole Einheit: gerade in der Röntgenastronomie wird die
viel verwendet) oder knapp 10 Stunden durchläuft. Und das alles
Schwefel. Whoa. Vielleicht nehmen wir doch lieber den nächstgrößeren
Fluss:
Der Rhein bei Köln; als ich das Foto gemacht habe, wars eher heiß und
Sommer, und so mag das sogar etwas weniger als Normalwasserstand sein.
Im Rhein bei Köln fließen bei Normalwasserstand
2000 m3 ⁄ s (hatte ich nicht im Kopf, will ich mir als
ein Dutzend Neckare merken), und da bräuchte der
Pinatubo-Schwefel 2500 Sekunden oder eine Dreiviertelstunde. Immer noch
beängstigend. Legen wir also nochmal eins drauf und nehmen den
Amazonas. Der führt an der Mündung 70-mal mehr Wasser als der Rhein
(was ungefähr 1000 Neckare wären). In dem wäre der
Pinatubo-Schwefel in so etwa einer halben Minute durch. Puh. Aber auch
nicht sehr tröstlich, denn, wie die Wikipedia ausführt, ist der
Amazonas
der mit Abstand wasserreichste Fluss der Erde und führt an der Mündung
mehr Wasser als die sechs nächstkleineren Flüsse zusammen und ca.
70-mal mehr als der Rhein.
Etwas anfassbarer, gerade für Menschen, die dann und wann im URRmEL
sind, ist ein Transportcontainer. Die kurzen davon („TEU“) wiegen leer
2300kg, voll fast 25 Tonnen
und fassen[2]33 m3. Unsere 5 Millionen
Kubikmeter Pinatubo-Schwefel entsprichen also rund 150'000 solcher
Container – oder rund 1000 ziemlich langen Güterzügen. Aber das Volumen
wäre hier nicht mal das Problem: Angesichts des 25-Tonnen-Limits braucht
es für die 10 Megatonnen Schwefel mindestens 400'000 Container (die nicht
ganz voll sein dürfen).
Für solche Containerzahlen braucht es Schiffe. Eines wie die Ever
Given, die im letzten März im Suezkanal steckenblieb und vorher schon
2019 eine (liegende) Passagierfähre in Blankenese umgenietet hatte, trägt
rund 20'000 TEUs. Für den Pinatubo-Schwefel bräuchte es mithin naiv
gerechnet 20 Ever Givens[3].
Beim Schiffgucken bin ich leider in der Wikipedia versunken. Als ich
wieder rausgekommen bin, hatte ich albern viel Zeit mit der Liste der
größten Schiffe verbracht und mir vorgekommen, mir als Kopfzahlen für
große Massen die Titanic (50'000 Tonnen; moderne
Kreuzfahrtschiffe oder Flugzeugträger kommen auch nur auf rund 100'000)
und richtig große Tanker (500'000 Tonnen) zu merken, von
denen entsprechend einer reichen würde für das angemessen verdichtete
Schwefeldioxid vom Hunga Tonga Hunga Ha'apai. Und wo ich so weit war,
habe ich festgestellt, dass ich die die 3000 Tonnen der
großen Rheinschiffe aus meiner Kraftwerks-Abschätzung schon wieder
vergessen hatte. Das erkläre ich jetzt auch zu einer Kopfzahl, im
Hinblick auf die Sammlung, die ich demnächst anlegen werde.
Während meiner Wikipedia-Expedition hat mich ein Artikel ganz besonders
fasziniert: Fruchtsafttanker. Oh! Ein ganzes Schiff voll
Orangensaft! Ein Paradies!
Es gibt, so sagt die Wikipedia, „weltweit weniger als 20 Schiffe“, die
als Fruchtsafttanker betrieben werden. Aber dafür trägt eines davon
gleich mal über 10'000 Kubikmeter Saft. Dass es so etwas wirklich gibt,
könnte mich glatt zum Kapitalismus bekehren.
Das heißt nicht, dass Seiteneffekte der Kohleverbrennung
nicht doch kühlende Effekte gehabt hätten; vgl. etwa Klimawirkung von
Aerosolen. Es gibt ernsthafte Spekulationen (die rauszusuchen ich
jetzt zu faul bin), dass die CO₂-bedingte Erderwärmung erst ab den
1970er Jahren so richtig auffällig wurde, weil vorher erstaunliche
Mengen Kohlenruß in der Atmosphäre waren Das große Fragezeichen dabei
ist, ob dessen kühlende Wirkungen (Nebel- und Wolkenbildung) seine
heizenden Wirkungen (etwa, indem er Schneeflächen verdreckt und damit
ihre Albedo reduziert oder vielleicht sogar ähnliches mit Wolken
anstellt) wirklich überwiegen.
Das Containervolumen ist über „Zwanzig Fuß mal ungefähr zwei
Meter mal ungefähr zwei Meter als 2⋅2⋅20 ⁄ 3 oder rund 25
Kubikmeter so gut abschätzbar, dass ich da keine Kopfzahl draus machen
würde.
In Wahrheit braucht es deutlich mehr als 20 Ever
Givens. Als Tragfähigkeit des Schiffs gibt die Wikipedia nämlich
200'000 Tonnen (dabei ist mir wurst ob metrisch oder long), was bei
20'000 Containern bedeutet, dass ein Container im Schnitt nur 10 und
nicht 25 Tonnen wiegen darf. Das reime ich mir so zusammen, dass
einerseits auf diesen Schiffen vor allem 40-Fuß-Container fahren
werden, die aber nur 30 Tonnen wiegen dürfen, also 2/3 der
Maximaldichte der 20-Fuß-Container erlauben – und damit, dass in
Containern normalerweise eher Stückgut ist, und selbst wenn an dem
viel Metall sein sollte – ohnehin unwahrscheinlich in unserer
Plastikgesellschaft – wirds normalerweise schwierig sein, das Zeug so
eng zu packen, dass es am Schluss auch nur die Dichte von Wasser hat.
Alufelgen für Autos: Ist das Innovation oder kann das weg?
Mag „Chancengleichheit“ auch der Klassiker der Antisprache sein:
„Innovation“ verdient jedenfalls einen Großpreis fürs Lebenswerk. Der
Grundtrick dabei ist, menschenfeindlichen Quatsch gegen Kritik zu
immunisieren, indem er als neu und schon von daher nützlich und gut –
das ist der antisprachliche Subtext der „Innovation“ – hingeredet wird.
Kritisiert dennoch jemand, kann im Wesentlichen jeder Mumpitz verteidigt
werden mit dem Argument, ewig Gestrige hätten ja schon das Rad oder das
Buch oder Antibiotika verdammt.
Das ist Antisprache, denn natürlich ist es vernünftig, bei irgendwelchen
Plänen oder Techniken erstmal zu überlegen, ob sie überhaupt einem
nachvollziehbarem Zweck dienen könnten und dann, ob dieser Zweck in
einem irgendwie erträglichen Verhältnis zum Dreck steht, den das Zeug
macht. Dass es gelegentlich wirklich nützliche Erfindungen gibt (Rad,
Buch, Antibiotika, LED-Scheinwerfer am Fahrrad), bedeutet nicht, dass
solche Überlegungen irgendwie rückwärtsgewandt sind. Im Gegenteil.
Ohne sie bekommen wir noch regelmäßiger Mist wie, sagen wir, Stuttgart
21 oder gar die Autogesellschaft. Ich gebe zu, dass
„Technikfolgenabschätzung“ klingt wie ein sonnengebleichter
Bürokratenfurz. Aber es ist trotzdem keine schlechte Idee.
Demgegenüber kann „Innovation” auf eine etwas befremdliche Weise
durchaus unterhaltsam werden, etwa wenn mit ernstem Gesicht so
offensichtlich absurdes Zeug vorgetragen wird, dass ich den Verdacht von
Kommunikationsguerilla kaum vermeiden kann. Ein gutes Beispiel für
diese Kategorie (vielleicht unfreiwillig) kenntlicher Antisprache war
Teil der CES-Berichterstattung in Forschung aktuell vom 8. Januar.
Darin versucht Mary Barra, Vorstand von General Motors, ab Minute 4:20
ihr „softwaredefiniertes“ Auto mit folgenden Beispielen schmackhaft zu
machen (Übersetzung DLF):
Das macht es Kunden möglich, die Software ihres Fahrzeuges zu
aktualisieren und neue Inhalte drahtlos herunterzuladen. [...] Die
Technik ermöglicht es beispielsweise, eine Softwareoption
herunterzuladen, um die Beschleunigung des Fahrzeugs zu erhöhen.
Wow. Die Updateritis muss, wenn mein weiteres soziales Umfeld nicht
komplett exotisch ist, so in etwa der unpopulärste Aspekt der
„Digitalisierung“ überhaupt sein. Das zu ermöglichen (und damit: zu
verlangen, denn was ins Netz kann, muss für rasche Bugfixe geplant
werden) soll jetzt ein Argument sein, sich eine „Innovation“
einzutreten?
Der zweite Teil von Barras Sales Pitch ist eigentlich noch wilder: GM
hat ja meine Sympathie, wenn es seine Fahrzeuge per Computer
runterregelt. Aber so offen zugeben, dass sie planen, künstlich
verschlechterten Kram zu verkaufen – denn mal ehrlich: solange mensch
keinen neuen Motor runterladen kann, sind die Extra-PS, die ein Download
liefern kann, in einem bereits ab Werk ordentlich designten System eher
dürftig –, um obendrauf den KundInnen Freischaltungen für Krempel
anzudrehen, den sie eigentlich schon bezahlt haben: das ist schon stark.
Hätte Frau Barra das in einem Beichtstuhl gesagt, hätte ihr nach so
offenen Bekenntnissen Absolution erteilt. Wenn sie hinreichend viel Reue
gezeigt hätte.
„I dreamed I saw Joe Hill last night, alive as you and me“ – so fängt
ein Klassiker des Arbeiterlieds an, der mich spätestens bei „And smiling
with his eyes,/ says Joe, what they could never kill/ went on to organize“
immer sehr ergriffen hat, auch in seinen Aktualisierungen wie etwa I
dreamed I saw Judi Bari last night von David Rovics.
Was ich nicht wusste: In das Bewusstsein der (halbwegs) modernen Linken
hat das Lied Joan Baez gebracht, als sie es beim Woodstock Festival
aufführte. Trivia? Klar. Noch viel mehr davon habe ich gestern
gehört, als der Deutschlandfunk-Freistil vom 12.12.2021 („Die Asche
von Joe Hill”) in meinem asynchronen Radio drankam.
Diese Sendung hätte ich offen gestanden als außerhalb der Grenzen des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks liegend eingeschätzt. Einerseits, weil
es um grenzwertig kannibalistische Praktiken geht – allerdings stark
grotesk-gutgelaunte (lest zumindest mal die Zusammenfassung). Das ist
nicht anders zu erwarten, da Abbie Hoffman im Spiel ist, der schon
mal als Angeklagter in Richterroben auflief, sich mit dem Stinkefinger
vereidigen ließ und wesentlichen Anteil hatte, dass um ein Haar ein
Schwein US-Präsidentschaftskandidat (statt des heute zu Recht
vergessenen Hubert Humphrey) geworden wäre.
Andererseits finde ich die Sendung doch recht DLF-mutig, weil sie am Ende
schon nachgerade revolutionär wird. Schon die Beschreibung der blutigen
Repression gegen die Wobblies in den USA bereitet auf klare Worte vor:
Mit dem Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg erlebten die Wobblies
eine brutale Verfolgung. Sie wurden als unpatriotisch gebrandmarkt
[ich hoffe doch: zu Recht!], viele wurden verhaftet, einige gelyncht,
manche verließen das Land.
Dies ist natürlich auch eine Erinnerung daran, dass es schlicht keine
größere Katastrophe gibt als Kriege und es wirklich Zeit wird, auch im
Interesse des liberalen Rechtsstaats endlich Schluss zu machen mit
all dem Militärquatsch.
Vor allem aber schließt der Film mit der Sorte revolutionärem
Optimismus, der mir in der derzeitigen radikalen Linken eigentlich fast
überall fehlt. Ich mache ja die generelle Miesepetrigkeit, Coolness und
Belehrsucht in unseren Kreisen schon etwas mitverantwortlich dafür, dass
„konservative“ bis faschistische Gedanken in erstaunlich vielen
Studihirnen (und, schlimmer noch, unter weniger Privilegierten) Raum
greifen.
Wie viel hoffnungsvoller klingt, womit Otis Gibbs die HörerInnen aus der
Sendung entlässt (Übersetzung des DLF; das Original, wo ich es hören
kann, scheint mir noch eine Spur ergreifender):
Ich habe ein sehr gutes Gefühl, was die Zukunft angeht, und ich denke,
es ist nur eine Frage der Zeit, bis sehr gute Sachen in Amerika
passieren. Jetzt lastet noch eine Dunkelheit auf uns allen, und ich
spüre sie wie jedeR andere auch. Aber ich treffe auch Menschen, die
einem Mut machen, und sie sind alle jung. Sie sind Idealisten. Wir
müssen nur diese schreckliche Zeit, in der wir leben, überleben, bis
die jungen Leute das Ruder übernehmen und die Welt zu einem viel
besseren Ort machen.
So ganz von selbst wird das wohl nicht gehen, aber es ist jedenfalls der
viel bessere Ansatz als… na ja, wie ich gerade damit zu hadern, dass
unser schnarchiger DGB beängstigend nahe dran ist an der One Big Union,
die Joe Hill und die Wobblies mal im Sinn hatten. Jaja, ich hadere ja
schon nicht mehr.
Ich persönlich bin ja überzeugt, dass Public Health-Studien in einer
mindestens ebenso dramatischen Replikationskrise stecken wie Studien
in der Psychologie. Die Überzeugung resultiert in erster Linie aus
einer Überdosis von Papern zu Broccoli oder Spirulina als „Superfoods“,
aber eigentlich glaube ich im Groben gar keiner Studie, die
Lebensgestaltung mit Lebenserwartung zusammenbringt, ohne eine
wenigstens annähernd plausible mechanistische Begründung zu liefern (im
Idealfall natürlich so stringent wie bei der erblichen
Hypomagniesiämie).
Manchmal jedoch sind epidemiologische Befunde einfach zu schön für
Skepsis. Der Wille zum Glauben regte sich bei mir beispielsweise bei
„Accelerometer-derived sleep onset timing and cardiovascular disease
incidence: a UK Biobank cohort study“ von Shahram Nikbakhtian et al
(doi:10.1093/ehjdh/ztab088). Politikkompatibel formuliert
behauptet die Arbeit, mensch solle zwischen 10 und 11 ins Bett gehen, um
möglichst alt zu werden; so in etwa war es auch in Forschung aktuell
vom 9.11.2021 zu hören (ab 2:58).
Aus dem Paper von Nikbakhtian et al: Ein „graphical abstract“. Wer
bitte ist auf die Idee gekommen, alberne Piktogramme würden beim
Verständnis eines wissenschaftlichen Aufsatzes helfen? CC-BY-NC
Nikbakhtian et al.
Angesichts meiner spontanen Sympathie für das Ergebnis wollte ich ein
besser fundiertes Gefühl dafür bekommen, wie sehr ich dieser Arbeit
misstrauen sollte – und was sie wirklich sagt. Nun: abgesehen vom
„graphical abstract“, das auf meinem crap-o-meter schon nennenswerte
Ausschläge verursacht, sieht das eigentlich nicht unvernünftig aus. Die
AutorInnen haben um die 100000 Leute eine Woche lang mit
Beschleunigungsmessern schlafen lassen, und ich glaube ihnen, dass sie
damit ganz gut quantifizieren können, wann da wer eingeschlafen und
wieder aufgewacht ist.
Dann haben sie fünf Jahre gewartet, bis sie in der UK Biobank – einer
richtig großen Datenbank mit allerlei Gesundheitsdaten, in die
erstaunlich viele BritInnen erstaunlich detaillierte Daten bis hin zu
ihren Gensequenzen spenden[1] – nachgesehen haben, was aus ihren
ProbandInnen geworden ist.
Eigentlich nicht schlecht
Ein Projekt, das sich fünf Jahre Zeit lässt, ist schon mal nicht ganz
verkehrt. Weiter haben sie ihre Datenanalyse mit R und Python gemacht
(und nicht mit proprietärer klicken-bis-es-signifikant-istware wie
SPSS oder SAS, oder gar, <gottheit> bewahre, Excel), was auch kein
schlechtes Zeichen ist. Klar, es gibt ein paar kleine technische
Schwierigkeiten. So haben sie zum Beispiel notorische SchnarcherInnen
(„Schlafapnoe“) ausgeschlossen, so dass von ihren gut 100000
ProbandInnen am Schluss zwar gut 50000 Frauen, aber nur knapp 37000
Männer übrig geblieben sind.
Dann gibt es Dinge, die in der Tabelle 1 (S. 4 im PDF) seltsam wirken,
aber wohl plausibel sind. So schätzen sich ein Drittel der
TeilnehmerInnen selbst als „more morning type“ ein – wo sind all die
Morgentypen in meiner Bekanntschaft? Und warum schätzen sich 27% der
Leute, die erst nach Mitternacht einschlafen, als „more morning type“
ein (14% sogar als „morning type“)? Kein Wunder, dass die armen Leute
dann allenfalls sechs Stunden Schlaf kriegen, die
Nach-Mitternacht-SchläferInnen sogar nur fünfeinhalb. Oh grusel.
Und die Tabelle gibt her, dass die Diabetesrate bei den
Nach-Mitternacht-SchläferInnen erheblich höher ist als bei den
Früher-SchläferInnen (fast 9% gegen um die 5.5%) – ist das eine Folge
von Chips auf dem Sofa beim Fernsehkonsum? Ganz überraschend fand ich
schließlich den niedrigen Anteil von RaucherInnen, der in allen Gruppen
deutlich unter 10% lag. Das, denke ich, würde in der BRD auch bei der
betrachteten Altersgruppe (meist älter als 50) noch ganz anders
aussehen. Aber ich vermute eher, dass RaucherInnen in der (nach
meiner Erinnerung auf freiwilliger Rekrutierung basierenden) Biobank
stark unterrepräsentiert sind. Das wirft dann natürlich Fragen
bezüglich anderer Auswahleffekte in der Testgruppe auf.
Wie dem auch sei: Das Ergebnis am Schluss war, grafisch zunächst sehr
beeindruckend (Abbildung 2 in der Arbeit), dass Leute, die zwischen 10
und 11 einschlafen, deutlich weniger Herz-Kreislauf-Probleme haben als
die anderen, ein Ergebnis, das mir gut gefällt, denn ich werde recht
zuverlässig gegen 22 Uhr müde und bin dann froh, wenn ich ins Bett kann.
Aber leider: Wenn mensch z.B. die erhöhte Diabetesrate rausrechnet,
bleibt von dem Schlaf-Effekt nicht mehr viel übrig, jedenfalls nicht bei
Männern, bei denen nur die Frühschläfer gegenüber Andersschläfern
signifikant erhöhte Risiken hatten. Diese ließen sich recht zwanglos
erklären, wenn das z.B. Schichtarbeiter gewesen wären, denn die
Korrelation zwischen Schichtarbeit und Herzgeschichten ist wohlbekannt.
Das ist aus meiner Sicht ohnehin die größte Schwierigkeit des Papers: Da
Armut und Reichtum in westlichen Gesellschaften der beste Prädiktor für
die Lebenserwartung ist[2], hätte ich gerne eine Kontrolle gegen die
Klassenzugehörigkeit gesehen. Aber ich vermute, dass die Biobank
solchen Einschätzungen aus dem Weg geht.
Was verständlich ist, denn diese könnten ja den Schwefelgeruch des
Klassenkampfs verströmen. Der wäre bei der vorliegenen Studie sicher
auch deshalb besonders unwillkommen, weil die AutorInnen alle für den
Gesundheitshöker Huma arbeiten, der, wenn ich den Wikipedia-Artikel
richtig lese, auch im Geschäft mit Fitnesstrackerei unterwegs ist.
In deren Welt jedoch ist jedeR seiner/ihrer Gesundheit Schmied, so dass
für Klassenfragen besonders wenig Platz ist.
Global Burden of Disease
Eine weitere Entdeckung habe ich beim Reinblättern ins Paper gemacht,
weil ich schon den ersten Satz nicht glauben wollte:
Cardiovascular disease (CVD) continues to be the most significant
cause of mortality worldwide, with an estimated 18.6 million deaths
each year.
Das schien mir gewagt, denn unter der (falschen) Annahme eines
Gleichgewichts müssten bei rund 8 Milliarden Menschen mit einer
Lebenserwartung von 100 Jahren 80 Millionen im Jahr sterben; auf einen
Faktor zwei wird das trotz starken Wachstums vor allem in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts (senkt die Todesrate, weil ja mehr Menschen
relativ jung sind) sowie gegenläufig geringerer Lebenserwartung schon
stimmen. Wenn die 80 Millionen hinkämen, würden
Herz-Kreislaufgeschichten 20% der Todesursachen ausmachen. Das soll
schon die Nummer 1 sein? Tja – ich bin dem Literaturverweis gefolgt.
Dabei kommt mensch bei den Global Burden of Disease-Daten (GBD) eines
Institute for Health Metrics and Evaluation an der University of
Washington heraus, einer Übersicht über das, woran die Leute auf der
Welt so sterben und wie viele Lebensjahre was kostet. Nur nur, weil da
„Metrik“ drinsteht, wäre an der ganzen Anlage der Daten schon viel zu
kritisieren – die Wikipedia bespricht z.B. in ihrem Artikel zu DALY
einige Punkte. Und natürlich ist das „Tool“, über das mensch die Daten
nutzen soll, wieder so eine Javascript Only-Grütze.
Aber spannend ist das doch, angefangen bei der Ansage von GBD, es
stürben derzeit weltweit rund 56.5 Millionen Menschen pro Jahr. Dabei
geben die GBD-Leute ein – Vorsicht, unverantwortlicher Natwi-Jargon – 2
σ-Intervall, also 95%-Konfidenzbereich, von 53.7 bis 59.2 Millionen; so
große Fehlerbereiche verstärken tatsächlich mein Zutrauen zu diesen
Daten, denn wenn ich mir so das globale Meldewesen vorstelle, scheint es
sehr nachvollziehbar, dass drei Millionen Tote mehr oder weniger nicht
ohne weiteres auffallen. Sie verlören, und dabei wirds allmählich
wirtschafts„wissenschaftlich“, dabei 1.7 Milliarden Lebenjahre an
Krankheiten und ähnliches.
Ich muss mich demnächst mal mehr damit beschäftigen. Schade, dass der
November schon vorbei ist. Das wäre eine sehr jahreszeitgemäße
Tätigkeit gewesen.
Auch einer meiner Lieblingskollegen tut das. Als wir uns
mal drüber unterhalten haben, meinte er etwas wie: Ich dachte mir
schon, dass du das komisch findest. Meine Antwort war: Nun, nicht per
se, aber doch in einem Staat, der selbst von Kindern DNA-Profile
einsammelt, um damit flächendeckend Ladendiebstahl aufzuklären.
Gut, das ist jetzt etwas provokant, zumal „bester“ ja immer
eine Menge braucht, innerhalb derer verglichen wird, und über dieser
eine Totalordnung, was für ziemlich viele praktisch relevante Mengen
schon mal nicht (eindeutig) gilt. Hier: klar ist der Unterschied der
Lebenserwartung für Leute mit und ohne amyotrophe Lateralsklerose noch
größer als der zwischen armen und reichen Menschen, so dass „hat ALS”
mit einigem Recht als „besserer“ Prädiktor bezeichnet werden könnte.
Aber „ist arm“ erlaubt für weit mehr Menschen eine recht
starke Aussage. Deshalb kann ich, ohne nur zu provozieren, mit
mindestens gleichem Recht von „besser“ reden. Ist halt eine andere
Ordnungsrelation. Oder eine andere Menge, in der exotische
Prädiktoren gar nicht vorkommen.
Nachdem ich hier schon zwei andere Patzer in Live-Übertragungen
diskutiert habe, wird es klar Zeit für ein neues Tag: Live. Ich habe
nämlich noch eine schöne und motivierende Reaktion auf technische
Probleme in einer Live-Sendung [kommt es nur mir vor, als würde deren
Rate zunehmen? Das wäre dann wohl Beleg für Digitalisierung…].
Wieder sind es vor allem Erinnerungen an eigene Telecons, die mir
Volkart Wildermuths Ausbruch in der Forschung aktuell-Sendung vom
19.11.2021 (Kudos an den DLF, dass sie die Panne nicht aus der
Archiv-Sendung rausgeschnitten haben) so sympathisch machen:
—Rechte beim Deutschlandfunk
Der Seufzer bei Sekunde 27! Ich erkenne mich so wieder. Genau mein
Geräusch, wenn der doofe Chromium (wer ist eigentlich auf die
hirnrissige Idee gekommen, ausgerechnet in Webbrowsern Telecons zu
halten?) wieder genau das Alsa-Audiodevice nicht findet, über das ich
sprechen will.
„Mann! Dann ruft mich an.“ Absolut ich. Bis in den Tonfall.
„Das glaub ich jetzt nicht.“ Wie oft habe ich das schon gesagt speziell
seit Corona, etwa, wenn der fiese closed-source zoom-Client (immerhin
kein Web-Browser!) genau das xephyr-Fenster nicht zum Screenshare
anbietet, in dem ich den Kram zeigen wollte (stattdessen aber alle
Fenster von Dockapps, die er jetzt wirklich anhand ihrer Properties
hätte rausfiltern können)? Das ganze Elend mistiger und unfixbarer
proprietärer Software, der Horror von Javascript-Salat, zu deren Nutzung
mich die Technikfeindlichkeit (im Sinne von: ich nehme halt das
Bequemste und Vorgekochteste, was es nur gibt) meiner doch angeblich so
digitalisierungslustigen Umwelt so nötigt: „Ach, Mann, das glaub ich
jetzt nicht.“
Abgesehen von der Panne fand ich in der Sendung übrigens speziell das
das Segment über Flussblindheit wirklich hörenswert: Ich muss
gestehen, dass ich diese komplett vermeidbare Dauerkatastrophe
zwischenzeitlich verdrängt hatte. Noch so ein Ding, bei dem in hundert
Jahren zurückblickende Menschen den Kopf schütteln werden: Wie konnten
die eine so einfach behandelbare Krankheit so viele Opfer fordern
lassen? Während sie, um nur ein besonders bizarres Beispiel zu nennen,
gleichzeitig mit unfassbarem Aufwand High Frequency Trading gespielt
haben?
Ich bin kein besonderer Freund von Pro/Contra-Formaten wie der
Streitkultur am Deutschlandfunk. Warum? Nun, ich denke, die dabei
diskutierbaren Fragen lassen sich in drei Gruppen einteilen:
Es gibt keine klare Antwort, und mensch muss sich auch nicht einigen.
Beispiel: „Ist die Musik von Richard oder einem der Johann Strauße
besser oder die von den Rolling Stones?“ – natürlich braucht das nur
unter der Annahme keine Einigung, dass die Beteiligten sich
aktustisch aus dem Weg gehen können; aber können sie das nicht,
sollte vielleicht das repariert werden.
Es gibt keine klare Antwort, und mensch muss sich irgendwie einigen,
z.B. „Wollen wir hier im Flur noch ein Regal aufstellen?“ Das
braucht eine Einigung unter der Annahme, dass die Beteiligten sich
den Flur teilen, und es ist nicht klar entscheidbar unter der
Annahme, dass der Flur auch mit Regal noch grob benutzbar bleibt.
Es gibt eine ethisch oder sachlich klar gebotene Antwort, und es ist
allenfalls statthaft, noch nachzusehen, wie viel Bequemlichkeit
mensch sich gegen das gebotene Verhalten rausnehmen kann („können
wir nicht 22 Grad machen in der Wohnung?“; „kann ich mir eine
Flasche Kokos-Ananas-Saft kaufen?“).
Beim ersten und dritten Typ hat so ein Pro/Contra-Format keinen Sinn; im
ersten Fall ist der Streit Zeitverschwendung, weil weder Notwendigkeit
noch Möglichkeit einer Einigung besteht. Im dritten Fall hingegen muss
mindestens ein Part in der Diskussion entweder ethischen Bankrott oder
Realitätsverweigerung erklären, wenn die ganze Veranstaltung nicht eine
rhetorische Übung werden soll[1] (was mithin fast notwendig
passiert).
Nur bei Fragen vom Typ 2 hat so ein Format eigentlich Sinn. Es ist aber
gar einfach, nichttriviale Beispiele für solche Fragen zu finden. Die
in der Streitkultur vom 13.11. debattierte war jedenfalls nicht von
diesem Typ: „Brauchen wir ein Einwanderungsrecht nach kanadischem
Vorbild?“ Ethisch ist völlig klar, dass es nicht angeht, Menschen nach
ihrer Herkunft zu sortieren, und so wäre das kanadische Modell
vielleicht schon ein wenig besser als das, was wir jetzt haben, aber
immer noch ein Tiefschlag gegen Ethik und Menschenrecht.
Natürlich wurde das in der Sendung nicht so analysiert. Wie auch, wenn
sich ein „Migrationsforscher“ (Dietrich Thränhardt, der immerhin schon
seit den 1980er Jahren das „Gastarbeiter“-Narrativ bekämpft hat) mit
einem VWL-Prof aus dem FDP-Sumpf (Karl-Heinz Paqué) herumschlagen muss.
Dennoch fand ich die Sendung bemerkenswert, und zwar aus drei Gründen.
Erstens gab es mal wieder so einen Dickens-Moment, also eine Aussage,
mit der ganz analog die Reichen in der Zeit von Charles Dickens das
katastrophale Elend gleich nebenan wegignorieren konnten. Wer sich
fragt, wie Verhältnisse aus Oliver Twist (oder meinethalben dem kleinen
Lord; Weihnachten steht ja vor der Tür) und weit Schlimmeres für die
Menschen damals ertragbar waren: Nun, wir haben ganz ähnliche
Verhältnisse immer noch, nur eben nicht mehr zwischen dem Manor House
und der Taglöhnersiedlung, sondern zwischen globalem Norden und Süden.
Und Paqué ist völlig klar, dass „wir“ diese schockierende Ungleichheit
mit Gewalt aufrechterhalten und vertritt nonchalant, dass die Ausübung
dieser Gewalt unser Recht, ja unsere Pflicht ist (ab Minute 9:12):
Die Freizügigkeit innerhalb Europas kann man nicht mit einer globalen
Freizügigkeit vergleichen. Wir haben hier eine gänzlich andere
Situation, wie wir übrigens auch bei dem Migrationsstrom im
Zusammenhang mit unserem Asylrecht sehen, das man natürlich ganz
scharf von einem Zuwanderungspunktesystem unterscheiden muss. [...]
Das ist nicht auf die Welt übertragbar. Hier muss man eine Auswahl
treffen [... Minute 13:30] Bis wir diesen Punkt erreichen, eines
globalen Arbeitsmarkts, den ich mir natürlich auch wünschen würde, als
Liberaler, werden noch einige Jahrzehnte vergehen, da brauchen Sie
eine Übergangslösung.
Was ist der Unterschied zwischen Europa und der Welt? Nun, woanders
sind die Leute noch schlimmer dran als in Rumänien oder Polen. Das
damit verbundene Elend hat Paqué ganz offenbar völlig wegabstrahiert,
als einen quasi naturgesetzlich „noch einige Jahrzehnte“ fortbestehenden
Sachzwang. Genau so muss das die viktorianische Gentry auch gedacht
haben, als sie die Kinder ihrer ArbeiterInnen zu 14-Stunden-Schichten
in die Minen einfahren ließen.
Immerhin, und das ist mein zweiter Punkt, hat Paqué eine realistische
Selbsteinschätzung (Minute 14:05).
Ich wäre als habilitierter Volkswirt völlig ungeeignet, um eine
technische Aufgabe in einem Unternehmen zu lösen.
Wenn das die anderen Volks- und Betriebswirte auch einsehen und aufhören
würden, die Leute zu „managen“, die nachher die „technischen Aufgaben“
erledigen: Das wäre ein klarer Fortschritt.
Und schließlich verriet Paqué, in welcher Zeit er sich sieht:
Deutschland war zwar immer faktisch zu einem relativ hohen Grad ein
Einwanderungsland, auch schon am Ende des letzten Jahrhunderts, im
wilhelminischen Boom…
Der „wilhelminische Boom“ heißt unter Nichtvolkswirten „Gründerzeit“.
Beide Bezeichnungen sind etwa gleich dämlich, um so mehr angesichts des
oben für die entsprechende Epoche in England diskutierten
himmelschreienden Massenelends. Großzügig gerechnet geht es um ein paar
Jahre um 1870 herum. Der Boom war, das nur nebenbei, schnell vorbei und
mündete in rund zwanzig Jahre Krise.
Diese Zeit noch im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends als
„letztes Jahrhundert“ zu bezeichnen: Nun, das passt gut zu jemand, der
erkennbar immer noch Marktwirtschaft pfundig findet und möglicherweise
sogar die ökonomischen Rezepte von damals für im Prinzip richtig, aber
schlecht umgesetzt hält.
Damit will ich nicht gesagt haben, eine gemeinsame Klärung der
Verhältnisse und Verhältnismäßigkeiten sei nicht sinnvoll. Das wären
dann Fragen wie: was müssen wir noch rauskriegen, um eine verlässliche
Antwort zu finden? Wie viel subjektiven Gewinn habe ich von einer
Verletzung der physisch („Newton war ein Schwätzer: 10 m über dem
Boden hört die Gravitation auf”) oder ethisch („Bei den Temperaturen
setz ich mich nicht aufs Fahrrad.“) gebotenen Antwort? Aber genau
dieser zweifellos sinnvolle Diskurs findet in Pro/Contra-Formaten
konzeptionell und in aller Regel auch real nicht statt.
Die SARS-2-Pandemie ist historisch: relative Änderungen der
Lebenserwartungen nach Jahren für Männer, soweit
doi:10.1016/S2214-109X(21)00386-7 brauchbare Daten hatte. In Blau
ist die Veränderung 2020 (also vor allem durch SARS-2) markiert. Es
lohnt sich, die Abbildung detailliert in einem eigenen Browserfenster
anzusehen: Von den demographischen Folgen des Zusammenbruchs der alten
Ordnung in vielen Ex-Ostblockstaaten über die Spanische Grippe und die
verschiedenen Kriege bis hin zum Rauschen der kleinen Zahlen in
Island ist viel zu entdecken. CC-BY Aburto et al.
In den Informationen am Morgen im Deutschlandfunk hat der Moderator
Rainer Brandes heute berichtet, dass die deutsche Regierung nun
Einreisesperren für Menschen aus dem südlichen Afrika verhängt hat und
fuhr fort mit dem Satz: „Das trifft die Menschen dort natürlich hart“.
Wenn das ein Versuch von Empathie war, ist der ziemlich misslungen.
Einerseits, weil „die Menschen“ in der Region im Schnitt sicher nicht
gerade jetzt (es ist eiskalt!) dringend in die BRD wollen. Tatsächlich
wäre ich überrascht, wenn das Land als Reise- oder Fluchtdestination
überhaupt schon in vielen Köpfen aufgetaucht wäre, schon aus
Sprachgründen.
Weiter geht aus der Übersicht zur Visumspflicht des Auswärtigen
Amts hervor, dass die BewohnerInnen aller Staaten des südlichen Afrikas
(Südafrika/Azania, Eswatini, Lesotho, Simbabwe, Botsuana, Angola,
Mosambik und sogar die unseres alten Schlachtfeldes Namibia) ohne Visum
nicht reinkommen. Wie groß sind wohl die Chancen eines
Durchschnittsmenschen aus, sagen wir, Namibia ohne bereits bestehende
Kontakte hierher, so ein Visum zu bekommen?
Der wirklich wesentliche Punkt in Sachen Empathie ist aber: Für fast
die gesamte EinwohnerInnenschaft des südlichen Afrika stellt sich die
Visafrage nicht, und auch nicht die coronabedingter Reisebeschränkungen:
Die Leute sind schlicht zu arm, und bevor sie darüber nachdenken, wo sie
nächste Woche hinfliegen könnten[1], müssen sie erstmal
klarkriegen, was sie morgen zu beißen haben.
Angesichts der oft wirklich schreienden Armut in der weiteren Region
(und auch unserer eigenen Visapolitiken) ausgerechnet die coronabedinge
Einreisesperre in die BRD als „hart“ zu bezeichnen – nun, das ist
entweder verwegen oder ignorant.
Etwas Ähnliches ist mir neulich beim Hören eines Interviews mit Arne
Kroidl vom Tropeninstitut der
GSU
LMU München zu einer Corona-Seroprävalenzstudie in Äthiopien durch den
Kopf gegangen. Hintergrund ist das Paper
doi:10.1016/S2214-109X(21)00386-7, in dem berichtet wird, dass es
zwischen August 2020 und und Februar 2021 im eher ländlich geprägten
Jimma Inzidenzen im Bereich von im Schnitt 1600/100000/Woche gegeben
haben muss, in Addis Abeba sogar über 4500; was das für Inzidenzen
während der tatsächlichen Ausbrüche bedeutet, ist unschwer vorstellbar.
Das ist dort offenbar nicht besonders aufgefallen, es hat ein
Forschungsprojekt gebraucht, um es zu merken. In einer im Wesentlichen
völlig ungeimpften Bevölkerung.
Das ist kein Argument dafür, dass SARS-2 doch harmlos ist. Es ist ein
Symptom der Nonchalance, mit der „wir“ Verhältnisse hinnehmen, in denen
Menschen an einem Fleck recht normal finden, was woanders (zu recht) als
wirklich ganz schlimme Gesundheitskrise empfunden würde. Bei aller
Reserviertheit gegenüber Metriken und Zweifeln am Meldewesen: Laut CIA
World Factbook ist die Lebenserwartung in Äthiopien 68 Jahre. Die
Vergleichszahl für die BRD sind 81 Jahre.
Aburto et al, doi:10.1093/ije/dyab207, schätzen, dass Corona, wo es
wirklich schlimm durchgelaufen ist (Spanien, Belgien), etwa anderthalb
Jahre Lebenserwartung gekostet hat (in der BRD: ca. 6 Monate). Wie viel
schlimmer das ohne Lockdown geworden wäre, ist natürlich Spekulation,
aber da es gerade die besonders verwundbaren Bevölkerungsgruppen ohnehin
besonders schlimm erwischt hat, dürfte ein Faktor fünf zwischen dem
realen Verlauf und dem schlimmsten Szenario eine sehr plausible
Obergrenze geben, oder etwa eine um acht Jahre reduzierte
Lebenserwartung. Auch damit wäre die BRD immer noch fünf Jahre über den
offiziösen Zehlen in Äthiopien.
Was in dieser Metrik[2] hier im Land ein unvorstellbares Gemetzel
ist (denn fünf Mal Belgien wäre hier bundesweit Bergamo), ist dort
Normalzustand, und zwar zu guten Stücken aus völlig vermeidbaren
Gründen, wie beispielsweise unserer Völlerei; vgl. dazu How food and
water are driving a 21st-century African land grab aus dem Guardian
von 2010. Oder den IWF-Strukturanpassungsmaßnahmen, die, wo immer sie
zuschlugen, das öffentliche Gesundheitswesen ruinierten und die Menschen
Evangelikalen und anderen Hexendoktoren in die Arme trieben. Am
Beispiel Peru illustriert zwangen „wir“ mit unseren marktradikalen
Zivilreligion zwischen 1981 und 1990 die dortige Regierung zur Senkung
der Gesundheitsausgaben um 75%.
Verglichen mit solchen Totalabrissen sind unsere Gesundheitsreformen
kaum mehr als das Niederlegen einer Hälfte der Doppelgarage vor der
Villa. Dass „wir“ bei sowas dezent in die andere Richtung schauen, das
ist ein noch größeres Empathieversagen als das vom Anfang dieses Posts.
Nachtrag (2022-03-28)
Der Hintergrund Politik vom 11. März wirft weitere Blicke auf die
SARS-2-Situation in Afrika. In der Sendung berichtet Kondwani Jambo
beispielsweise, dass BlutspenderInnen in Malawi im Februar 2022 bereits
zu 80% SARS-2-positiv waren; auch in einem Land mit einem – laut Angaben
der Sendung – Durchschnittsalter von knapp 18 hätte eine derart hohe
Welle eigentlich stark auffallen müssen. Die Vermutung,
Kreuzimmunitäten mit lokal verbreiteten anderen Coronavieren könnten
geholfen haben, findet Jambo nicht bestätigt. Seine in der Sendung
unverbindlich angebotene Erklärung über „schnellere“ Monozyten in Malawi
gegenüber einer britischen Vergleichsgruppe finde ich allerdings spontan
auch nicht allzu überzeugend.
Wie immer sollte die Metrik nicht überbewertet werden;
metriktheoretisch lesenswert ist in diesem Zusammenhang das
Methoden-Kapitel der Aburto-Arbeit. Mensch sollte insbesondere klar
haben, dass sich ein Tod weniger junger Menschen in der
Lebenserwartung bei Geburt nicht von einem Tod vieler alter Menschen
(wie bei SARS-2, wo der Verlust von Lebenserwartung bei Männern bei
Aburto et al fast überall durch Tode in der Altersgruppe 60-79
dominiert ist) unterscheiden lässt. Mensch muss nicht Boris Palmer
sein, um zwischen diesen Situationen unterscheiden zu wollen. Aber
schon meine Erfahrungen mit Notaufnahmen in den USA (näher bin ich,
eingestandenermaßen, Krankenhäusern im globalen Süden nie gekommen)
sagen mir, dass die Lebenserwartungs-Zahlen eben doch oft sehr konkrete
Not beim Zugang zu medizinischer Versorgung spiegeln.
Nun: Ich würde XLS deutlich weniger trauen als der Autor dieser
Grafik, Randall Munroe. Argumente dafür folgen unten. CC-BY-NC
XKCD.
Erstens gab es ein Interview mit Regina Riphan von der Uni Erlangen
(nun: sie ist an deren WISO-Fakultät, sitzt also in Wirklichkeit in
Nürnberg), in dem sie zur Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch
die Politik ab Minute 2:20 berichtet,
dass die wissenschaftlichen Analysen am häufigsten verwendet werden,
wenn sie thematisch und redaktionell aufbereitet sind
und dann weiter ab 3:35:
damit die Nutzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen steigen kann,
müssen die Texte gut verständlich sein und kurz zusammengefasst sein.
Übersetzt: Wissenschaft bitte nur in Powerpoint. Eine Implikation
dieser Erwartung zeigt der XKCD oben.
Allein: Wenn etwas eindeutig ist, leicht konsumierbar runtergekocht und
kurz zusammengefasst werden kann, ist es im besten Fall Lehrbuchwissen,
aber jedenfalls nicht mehr Wissenschaft.
Wissenschaft im Sinne von „was wir gerade erforschen” hat immer
Voraussetzungen, Fehlerbetrachtungen und Einschränkungen, ohne die die
Aussage nicht sinnvoll eingeordnet werden kann. Natürlich können auch
wissenschaftliche Aussagen schon mal auf einen Satz zusammenschnurren
(„Cygnus X-3 enthält ein schwarzes Loch von 17 Sonnenmassen.”), aber
der ist fast immer zu ergänzen mit einem „…wenn A, B und C so stimmen“.
Ohne solche Einschränkungen wird es meist mehr oder weniger falsch
(„…aber wenn das so wäre, könnten wir das nicht im Röntgen sehen, und
deshalb kann es gut sein, dass da stattdessen nicht mal ein weniger
exotisches schwarzes Loch ist.“).
Wer sich fragt, warum auch weit über den Umgang mit SARS-2 hinaus
politisches Handeln oft ziemlich plemplem wirkt, könnte hier die Antwort
finden. Wer Entscheidungen auf wissenschaftlicher Evidenz basieren will,
muss sich auf Wisschenschaft einlassen, und das bedeutet in aller Regel,
Papers zu lesen. Das dauert auch mit fachkundiger Erläuterung zumindest
im Bereich der Naturwissenschaften Stunden. Für ein erstes Verständnis.
Wer das nicht will, sollte vielleicht lieber nicht so viel entscheiden.
Oder jedenfalls nicht sagen, seine/ihre Politik sei irgendwie anders als
durch soziale Zwänge, Interessen, Fast Talk, Loyalität und Bauchgefühl
geleitet.
Dabei bleibt einzuräumen, dass ein großer Teil von Wissenschaft am Ende
schlicht gar nicht hinhaut – wenn es einfach wäre, bräuchte es keine
Forschung. Und gelegentlich ist Kram auch nicht nur falsch, weil er
sackschwierig ist. Eine erstaunlich irre Geschichte in dieser Abteilung
wird in einem zweiten Beitrag der Sendung erzählt: Da nutzen Leute
ernsthaft Excel für Wissenschaft, etwas, das mir selbst in der
Astronomie immer wieder mit fatalen Ergebnissen begegnet[1]. Wo
Leute über Genetik reden, hat das besonders lachhafte Folgen:
Der Name des Gens Septin 4, abgekürzt Sept4, wird automatisch in den
vierten September umgewandelt.
Das ist auch Mark Ziemann und KollegInnen von der Deakin University in
Melbourne aufgefallen, die daraufhin nachgesehen haben, wie groß das
Problem wohl in publizierten Arbeiten sein mag (PLOS Comput. Biol.
17(7), e1008984, doi:10.1371/journal.pcbi.1008984). Im DLF-Beitrag:
[Ziemann:] „Die Ergebnisse waren kurz gesagt viel schlechter als bei
unserer ersten Analyse 2016.“ [...] In fast jeder dritten Studie war
ein Gen-Name in ein Datum gewandelt worden. [... Ziemann:] „Zunächst
sollte Genomik nicht in eine Tabellenkalkulation aufgenommen werden.
Es ist viel besser, Software zu nehmen, die für umfangreiche
Datenanalysen geeignet ist.“
Dem Appell am Ende des Zitats kann ich mal mit ganzem Herzen zustimmen,
und zwar wie gesagt weit über das Feld der Genetik hinaus. Eine so
klare und offensichtlich wahre Aussage verlässt das Feld der
Wissenschaft. Ich kanonisiere sie hiermit zu Lehrbuchwissen.
Richtig schräg wird es, wenn Leute in Tabellenkalkulationen mit
vorzeichenbehafteten sexagesimalen Koordinaten wie -80° 14' 27"
rechnen. Klar, das sollten sie auch ohne Excel nicht tun, aber Leute,
die immer noch Excel verwenden, haben offensichtlich besonders große
Schwierigkeiten, sich von problematischen Traditionen zu lösen.