Der Grund, warum ich die GEZ-Gebühren entschieden verteidige: der
Deutschlandfunk. Sein Name ist zwar selten dämlich, und seine
Politikredaktion bringt mich regelmäßig zur Verzweiflung. Aber er hat
z.B. mit Forschung aktuell oder auch Freistil auch wirklich
hervorragende Sendungen. Und spätestens, nachdem ich eine Presseschau
gehört habe, erinnere ich mich wieder daran, dass selbst die
Politikredaktion in Relation zu privaten Medien immer noch das deutlich
kleinere Übel ist.
Ich bin in den letzten Tagen unabhängig voneinander zwei Mal auf Gesetze
gestoßen, die nach Titel oder Inhalt großartig sind, so großartig, dass
ich bestimmt mal irgendwann auf sie werde zurückgreifen wollen, um etwas
wie „…geregelt in, sagen wir, §42 Käseverordnung“ zu sagen. Das waren:
Käseverordnung: Laut Wikipedia hat es so eine schon 1934 gegeben; und
nur so lässt sich wohl erklären, dass sie Marketroids anbietet, mit
Wörtern wie „Vollfettstufe“ (§5 Käseverordnung) zu werben für ihre
„frische[n] oder in verschiedenen Graden der Reife befindliche[n]
Erzeugnisse, die aus dickgelegter Käsereimilch hergestellt sind“ (aus
§1 Käseverordnung). Großartig ist das übrigens nicht nur wegen der
Parallelbildung zu Käseblatt, sondern auch, weil in Jasper Ffordes
großartigen Thursday Next-Romanen Käseschmuggel aus Wales eine
große Rolle spielt und §30 Käseverordnung manchmal schon nach
der Bookworld dieser epochalen Werke klingt.
Bundeskleingartengesetz: Das geht immerhin bis §22, wobei allerdings
ein Paragraph weggefallen ist und §19 lediglich aus „Die Freie und
Hansestadt Hamburg gilt für die Anwendung des Gesetzes auch als
Gemeinde“ besteht, es dafür aber allen Ernstes zwei
Buchstabenparagraphen gibt (§20a, „Überleitungsregelungen aus Anlaß der
Herstellung der Einheit Deutschlands“, passt schon vom Titel her
großartig zum bierernsten Ton der Gartenregeln). Eingestanden: So
albern, wie Gesetze für KleingärtnerInnen zunächst wirken, wird das
wohl am Ende nicht sein. Oder doch? Ich kann mich einfach nicht
entscheiden, auch nicht, nachdem ich den DLF-Hintergrund vom 18.8.
gehört habe (full disclosure: ich weiß nur aufgrund dieser Sendung
überhaupt von der Existenz des BKleingG).
Das, was in Heidelberg wohl als „Heimatzeitung“ zu bezeichnen ist, die
Rhein-Neckar-Zeitung, hat es in die heutige
Deutschlandfunk-Presseschau geschafft, und zwar mit folgender
patriotischen Erbauung:
Es [was „es“ ist, bleibt im DLF-zitierten Kontext unklar] sollte auch
Ansporn sein, diese Republik als den Idealzustand zu sehen. Wir leben
im besten aller bisherigen deutschen Staaten – das bedeutet nicht,
dass man ihn nicht verbessern kann. Aber Mauern müssen keine mehr
eingerissen werden.
Nun...
Der Abschiebeknast von Ingelheim, Stand 2009. Und auch wenn diverse
Regierungen in Rheinland-Pfalz diese Mauern schon mal einreißen
wollten, ist da zumindest bis 2019 nichts draus geworden.
Unter den tiefautoritären Gesetzen, die die Parlamente in den letzten
Jahren so durchgewunken haben, sind das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und
das daran angehängte „Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und
der Hasskriminalität“ (vgl. hier im Januar) insoweit stilbildend, als
sie das Konzept von Gedankenverbrechen weiter verdichten. Klar hat es
schon vorher allerlei Gesetzgebung zur „Ehrabschneidung“ gegeben – die
ganze Gegend von §185 bis §199 StGB etwa – aber in freieren Zeiten war
eigentlich klar, dass das Gesetze sind, mit denen sich lediglich ewig
gestrige Altverleger, humorlose Prälaten und vertrocknete Politiker
gegen lustigen Kram der Titanic wehren und dabei nur noch blöder
aussehen.
Das NetzDG nun erklärt das alberne Rumposen wenig reflektierter
Facebook-Produkte zur staatsgefährdenden Tat, ganz so, als sei das die
Ursache für hunderte Nazimorde oder die allzu berechtigten Sorgen nicht
ganz so Deutscher, in den Randgebieten der Zivilisation aufs Maul zu
kriegen. Wegen dieser Fehlanalyse werden kommerzielle Plattformen als
Hilfssherriffs eingespannt, fordert der Staat Zugriff auf Passwörter.
Wie unsinnig das Narrativ von Facebook als Ursache rassistischer Gewalt
ist, wird schön im Deutschlandfunk-Hintergrund vom 6.8. deutlich.
Facebook ist, das jedenfalls nehme ich (nicht nur) aus dieser Geschichte
mit, allenfalls die Echokammer. Die Quelle der Ressentiments hingegen
sind Innenministerien, eine erschreckend breite Mehrheit der sich als
„bürgerlich“ definierenden klassischen Medien, und leider auch nicht zu
knapp viele Staatsanwaltschaften.
Es lohnt sich durchaus, den ganzen Beitrag zu lesen (oder zu hören),
aber die Geschichte in Kürze ist: Die Behördenleiterin des BAMF in
Bremen hat tatsächlich die auch mit Rücksicht auf internationale
Verpflichtungen relativ (zur Praxis) menschenfreundlichen Regelungen aus
der Migrationsgesetzgebung umgesetzt. Daraufhin ist sie von der „lass
uns das so rechtswidrig machen wie die anderen auch“-Fraktion in der
eigenen Behörde abgesägt und durch wen ersetzt worden, die eher auf der
menschenrechtsfeindlichen Linie der Innenministerien liegt.
Um das ordentlich über die Bühne zu kriegen, wurde die korrekte
Vorgängerin noch ein wenig angeschwärzt, was dann von der
Staatsanwaltschaft begeistert und von der breiten Presse enthusiastisch
aufgenommen wurde. Ein Skandal war geboren, der letztlich alle
rassistischen und sexistischen Ressentiments bedient: Eine Bürokratin
macht AusländerInnen zu Deutschen, wahlweise für Geld oder weil sie mit –
klar: ausländischen – Anwälten anbandeln wollte[1].
Diese abstruse Geschichte aus der rechten Mottenkiste („großer
Bevölkerungstausch“ oder wie diese Leute das auch immer nennen)
beschäftigte die Nation samt ihrer öffentlichen VertreterInnen für
Wochen, und eigentlich niemand traute sich zu sagen, dass das schon von
Anfang an rassistische Kackscheiße ist, denn selbst wenn jemand mal
einen Hauch großzügiger duldete oder gar einbürgerte: Für wen – von
verstockten RassistInnen mal abgesehen – wäre das eigentlich ein
Problem, geschweige denn eines, für das irgendwer ins Gefängnis sollte?
Wer solche Diskurse anfängt und lautstark anheizt, wer die rassistische
Denke als Staatsraison markiert, darf sich nicht wundern, wenn
autoritäre Charaktere die Logik dieser Staatsraison in private Gewalt
umsetzen.
Dass diese Umsetzung in private Gewalt stattfindet, ist seit dem
Lübcke-Mord immerhin ansatzweise ins öffentliche Bewusstsein gelangt
(mit 30-jähriger Verspätung). In dieser Situation und nachdem das ganze
rechte Phantasma ums Bremer BAMF implodiert ist, wäre das
Mindeste für die ProtagonistInnen der öffentlichen Hassrede damals,
allen voran Stefan Mayer und Horst Seehofer, nun Familienpackungen von
Asche auf ihre Häupter streuen. Aber nichts davon. Stattdessen, das
kann ich zuversichtlich vorhersagen, folgt ganz gewiss der nächste
Menschenrechtsabbau im Stil des NetzDG. Was weniger ärgerlich wäre,
wenn die Vorlagen dazu nicht eben von den Hassrednern („hochkriminell,
kollusiv und bandenmäßig“) in diesem Fall kommen würden.
Dass sich die Staatsanwaltschaft zu diesem rechten Urmotiv von
„uns“ die Frauen raubenden Ausländermännern hat hinreißen lassen, ist
übrigens nochmal ein ganz spezieller Skandal. Findet da auch 250
Jahre nach Kant überhaupt keine Aufklärung statt?
Unter den Branchen, in denen Privatisierung am alleroffensichtlichsten
Quatsch ist, sehe nicht nur ich die Post ganz vorne. Denn: Alle sollen
die Post nutzen können, aber die Kosten für die Infrastruktur
schwanken um Größenordnungen zwischen Metropole und Provinz. Unter
solchen Bedingungen eine halbwegs gleichmäßige Abdeckung mit
privatwirtschaftlichen Unternehmen herzustellen, wäre ein
regulatorischer Kraftakt, der abgesehen von viel Zeitverschwendung am
Schluss wieder darin enden würde, dass die Gewinne privatisiert und die
Verluste sozialisiert werden – wovon nun wirklich niemand[1] was hat.
Aber auch wer in der Stadt wohnt, muss sich fragen, welchen Zweck es
wohl haben könnte, wenn statt des einen zuverlässigen, halbwegs
ordentlich bezahlten und beamteten Postboten im Dienst der weiland
Bundespost nun fünf arme Schlucker die Viertel abfahren, die alle
mehr oder minder am Mindestlohn kratzen, im Akkord arbeiten und
entsprechend unzuverlässig sind: Noch nicht mal die verbohrtesten
Marktpriester wollten das rechtfertigen, wenn ich sie darauf
angesprochen habe.
Und dabei fange ich noch nicht mal beim Kulturverlust an. Vor der
Privatisierung konnte das Postamt als Ausspielstelle des Staates
fungieren, praktisch wie die Bürgerämter unserer Zeit, nur dichter
gespannt. Heute korrelieren die Außenposten der Post im Wesentlichen
mit Branchen wie Glücksspiel oder Restposten.
Kurz: Wäre ich Marktpriester, der Postdienst wäre das letzte, über das
ich reden wollte.
Um so mehr hat mich der DLF-Hintergrund vom 4.8. überrascht, in dem
Mischa Ehrhardt versucht, ein Problem auszumachen, weil „die Deutsche
Post den Markt dominiert“, natürlich ohne zu sagen, wie ausgerechnet mehr
Markt irgendeines der angesprochenen Probleme lösen könnte – und genau
keine Stimme den offensichtlichen Weg nach vorne, nämlich die
Rückverstaatlichung des Postdienstes, auch nur anspricht.
Stattdessen wird Walther Otremba – nach einer Karriere als CDU-Mann,
Staatsekretär im Finanz- und Militärministerium und Bahn-Aufsichtsrat
jetzt Frühstücksdirektor und Lobbyist für die nichtpostigen
Postklitschen, also die, die ihre AusträgerInnen im Schnitt noch mieser
behandeln als die privatisierte Post – zitiert mit:
Ich kann ja eigentlich die Deutsche Post AG nicht kritisieren. Die tut
halt, was sie machen muss, nämlich versuchen, möglichst hohe Gewinne
zu erzielen.
Öhm… Warum genau soll die Post möglichst hohe Gewinne machen müssen?
Ist nicht eigentlich völlig offensichtlich, dass Aufgabe der Post ist,
möglichst flott und mit wenig gesellschaftlichem Aufwand Briefe zu
transportieren (und dann vielleicht noch Postsparbücher zu betreiben und
ggf. mit Postämtern in der Fläche auch ein paar staatliche Aufgaben in
die Hand zu nehmen)? Wer, außer ein paar AnlegerInnen, hätte umgekehrt
etwas davon, wenn sie möglichst hohe Gewinne machen würde? Wer also
könnte das wollen oder die Post gar dazu zwingen?
Wohlgemerkt, der Otremba, der da solche Klopfer durchs Radio schickt,
war in seinen großen Zeiten (z.B. im „Finanzmarktstabilisierungsfonds“)
einer der ganz großen Mover und Shaker. Bei derart verwirrten Gedanken
muss wohl nicht mehr verwundern, was für eine Lachnummer (zuletzt bei
Cum-Ex und Wirecard) die BaFin zumindest in Wirtschaftskreisen ist.
Immerhin haben er und seine KollegInnen die ja erfunden.
Es gäbe noch einige weitere komplett auf dem Kopf stehende Argumente in
dem DLF-Beitrag zu korrigieren, so etwa die abseitige Kritik an der
Quersubventionierung; natürlich will mensch z.B. Briefe durch Telefon
quersubventionieren, wenn das gesellschaftlich geboten ist, was es
zumindest früher mal war. Aber wichtiger wäre mir, noch Otrembas
nächsten Satz zu prüfen, denn der spiegelt einen verbreiteten Irrglauben
wider:
Es sind die Rahmenbedingungen, die nicht geliefert wurden rechtzeitig,
um im Briefgeschäft ähnliche Erfolge, wie zum Beispiel in der
Telekommunikation, die ja parallel liberalisiert wurde, zu erzeugen
„Erfolge“? In der Telekommunikation, in der halb-betrügerische
Verträge mehr die Regel sind als die Ausnahme und die
Verbraucherzentralen gar nicht mehr aus dem Klagen rauskommen? In der
drei (oder sind es wieder vier?) Mobilfunknetze konkurrieren, so dass es
die gleiche Infrastruktur in den Metropolen dreifach und dafür gar keine
am Land gibt?
„Aber es ist doch alles viel billiger geworden,“ höre ich euch
einwenden. Nun – das ist es bereits vor der Privatisierung.
Es gibt dazu eine ganz interessante Untersuchung von A. Michael Noll, in
Telecommunications Policy 18 (5), 255f (1994): „A study of long
distance rates. Divestiture revisted“ (DOI
10.1016/0308-5961(94)90051-5; sorry, ist Elsevier). Wohlgemerkt: das
ist 1994 erschienen; wir hätten also in der BRD vor der Zerschlagung
der Bundespost davon lernen können. Jaja, die Auflösung von AT&T in den
USA, die Noll da untersucht, war nicht exakt eine Privatisierung, aber
sie war in Anlage und Ziel nicht wesentlich anders, und sie war auch die
Blaupause für all die anderen marktradikalen Kreuzzüge gegen staatliche
Daseinsvorsorge im Kommunikationsbereich.
Ein Ergebnis seiner Arbeit: Die Preise für Ferngespräche folgten über
fast 100 Jahre einem Abwärtstrend, nur kurz unterbrochen von einer
Panikphase vor der Öffnung des Wettbewerbs im Jahr 1984:
Fig. 1 aus doi:10.1016/0308-5961(94)90051-5: Kosten für
Ferngespräche in den USA, 1910 bis ca. 1995. Der Wettbewerb hat
nicht für rascher fallende Preise gesorgt. Rechte leider bei Elsevier.
Wenn ihr in anderen Papern seht, dass nach der Zulassung von Konkurrenz
die Preise ganz schnell gefallen sind: hier ist der Hintergrund. Dazu
kommt übrigens noch, wie die Wikipedia zum Ende des Bell-Systems
schreibt:
One consequence of the breakup was that local residential service
rates, which were formerly subsidized by long-distance revenues, began
to rise faster than the rate of inflation.
Also: Nicht nur sind die Ferngespräche nicht schneller billiger geworden
als vorher – Überschüsse aus ihnen sind auch nicht mehr in die
Grundversorgung geflossen, so dass diese teuerer wurde. Statt dieser
(ebenfalls sinnvollen) Quersubventionierung ging das Geld stattdessen an
InvestorInnen (also: „die Reichen“) und öffentliche Belästigung
(also: „Werbung“). Bei Noll sieht das so aus:
Fig. 4 aus doi:10.1016/0308-5961(94)90051-5: Marketingkosten von
AT&T zwischen 1970 und 1993. Mit der Ende staatlicher Regulierung
ging Geld statt in die Grundversorgung in die Werbung. Rechte leider
bei Elsevier.
Die Geschichte von den fallenden Preisen durch Privatisierung kehrt sich
also in ihr Gegenteil.
Nein: Was dafür gesorgt hat, dass Leute jetzt für in etwa das gleiche
Geld viel mehr telefonieren können als, sagen wir, 1995, nennt sich
technischer Fortschritt, in diesem Fall insbesondere die (von öffentlich
finanzierten Unis und Instituten aufs Gleis gesetzte) stürmische
Entwicklung paketvermittelter Netze – was nicht nur das Internet war.
Ja, kann sein, dass deren Einführung mit der alten Bundespost etwas
länger gedauert hätte, zumal, wenn Leute wie Otrembas Parteifreund
Christian Schwarz-Schilling sie als Selbstbedienungsladen nutzten.
Aber wärs wirklich so schlimm gewesen, wenn wir das Klingelton-Zeitalter
übersprungen hätten und stattdessen nicht Öko- und Sozialkatastrophen
(die Mobiltelefone nun mal sind) als Werbegeschenke windiger
Knebelvertraghöker abwehren müssten?
Außer ein paar AnlegerInnen, UnternehmensberaterInnen und
GeschäftsführerInnen; aber das darf guten Gewissens als Fehlsteuerung
durch Marktkräfte eingeordnet werden.
Ich bin ja eigentlich niemand, der „Handarbeit“ als Qualitätsprädikat
sonderlich schätzt, aber es ist gerade bei Radio schön, wenn sich zeigt,
dass der Kram zwar aus dem Computer kommt, aber doch noch Menschen vor
dem Computer sitzen.
So ging das am letzten Samstag (3.7.), kurz nach Mitternacht. Mein
Rechner schneidet da immer den Mitternachtskrimi aus dem Live-Programm
des Deutschlandfunks mit und hat dabei dieses großartige Stolpern
aufgenommen:
(um die Bediengeräusche besser herauszubringen, habe ich das Audio etwas
komprimiert). Ich muss sagen, dieses kurze Selbstgespräch fand ich sehr
beeindruckend – und ich habe mich wiedererkannt, denn in dieser Sorte
experimentellen Diskurses mit der Maschine versuche auch ich mich dann
und wann.
Zu diesem schönen Ausschnitt habe ich zwei Einwürfe zu bieten.
Erstens war die dann doch noch folgende Sendung eine leicht
expressionistische Hörspielfassung des Kleist-Klassikers Das Erdbeben
in Chili, die ich hier liebend gerne verteilen würde, weil sie schön
zeigt, was für ein garstiges Gift reaktionäre Hetzerei ist; ich kann mir
nur schwer vorstellen, dass, wer das gehört hat, noch auf das Gift von,
sagen wir, Innenminister Seehofer hereinfallen könnte.
Aber nun, das Urheberrecht hindert mich daran, was mein Argument von
neulich gegen das „geistige Eigentum“ schön illustriert: Das Hörspiel,
vermutlich eine öffentlich-rechtliche Produktion, gäbe es natürlich
auch, wenn ich es jetzt verteilen dürfte, und die Leute, die das damals
gemacht haben, sind hoffentlich schon dabei ordentlich bezahlt worden
und werden kaum auf ein paar Cent für einen Download durch euch
angewiesen sein. Die Existenz des Textes hat offensichtlich nichts mit
Urheberrecht zu tun, denn zu Kleists Zeiten gab es gar keins. Hier
wirken die heutigen („Post-Micky-Maus“) Regelungen diametral gegen den
ursprünglichen Zweck des Urheberrechts, nämlich, der Gesellschaft eine
möglichst reichhaltige Kultur zur Verfügung zu stellen.
Der zweite Einwurf: Über die vergangenen 20 Jahre hatte ich
verschiedene Hacks, um Radio-Streams mitzuschneiden – ich schaudere,
wenn ich an die schlimmen Tage von RealAudio und das Rausfummeln des
Signals über preloaded libraries zurückdenke, die das write der libc
überschrieben haben. Nun, der proprietäre Client wollte kein Speichern
der Streams zulassen (schon wieder das Copyright-Gift!).
Inzwischen ist das Mitschneiden dank ffmpeg und offener Standards auf
der Seite der Radiostationen nur noch ein schlichtes Shellscript. Ich
verwende seit ein paar Jahren das hier:
(wahrscheinlich ist die dradio-Regel kaputt, aber das ist sicher leicht
repariert). Das lege ich an eine passende Stelle, und cron sorgt für
den Rest. Die crontab-Zeile, die mir schon viele Mitternachtskrimis
und eben auch die Perle von oben mitgeschnitten hat, sieht so aus:
05 00 * * sat /path/to/oggsnarf 1:00:00 dlf ~/media/incoming/mitternachtskrimi`date +\%Y\%m\%d`.ogg
Nachtrag (2021-11-01)
Nach ein paar Monaten fällt mir auf, dass nur ganz kurz nach diesem
Post und meiner zustimmenden Erwähnung der Mitternachtskrimis (die
allerdings schon damals zu „blue crime“ geworden waren) der
Deutschlandfunk den seit mindestens meiner späten Kindheit den Krimis
gehörenden Programmplatz am Samstag um 0:05 auf aktuelle
Kulturberichterstattung („Fazit“) umgewidmet hat. Die Crontab-Zeile
hat also nicht mehr viel Wert (und ist längst aus meiner crontab
verschwunden). Ich glaube, die Idee der ProgrammplanerInnen wird
gewesen sein, den Krimi Hörspiel-Podcast als Ersatz anzubieten.
Keine Zikaden in Weinheim: das Eichhörnchen im dortigen Arboretum
konnte noch munter turnen.
Wieder mal eine Tier-Geschichte aus Forschung aktuell am
Deutschlandfunk: In der Sendung vom 25.5. gab es ein Interview mit
Zoe Getman-Pickering, die derzeit eine Massenvermehrung von Zikaden
an der US-Ostküste beobachtet. Im Gegensatz zu so mancher
Heuschreckenplage kam die nicht unerwartet, denn ziemlich verlässlich
alle 17 Jahre schlüpfen erstaunliche Mengen dieser Insekten und
verwandeln das Land in ein
All-You-Can-Eat-Buffet. Es gibt schon Berichte von Eichhörnchen und
Vögeln, die so fett sind, dass sie nicht mehr richtig laufen können.
Die sitzen dann einfach nur herum und fressen eine Zikade nach der
anderen.
Es war dieses Bild von pandaähnlich herumhockenden Eichhörnchen, die
Zikaden in sich reinstopfen eine einE Couch Potato Kartoffelchips, das
meine Fantasie angeregt hat.
Gut: Gereizt hat mich auch die Frage, wo auf der Fiesheitssakala ich
eigentlich einen intervenierenden Teil der Untersuchung ansiedeln würde,
der im Inverview angesprochen wird: Um
herauszufinden [ob die Vögel noch Raupen fressen, wenn sie Zikaden in
beliebigen Mengen haben können], haben wir auch künstliche Raupen aus
einem weichen Kunststoff. Die setzen wir auf die Bäume. Und wenn sich
dann Vögel für die künstlichen Raupen interessieren, dann picken sie
danach
und sind bestimmt sehr enttäuscht, wenn sie statt saftiger Raupen
nur ekliges Plastik schmecken. Na ja: verglichen mit den abstürzenden
Fledermäuse von neulich ist das sicher nochmal eine Stufe harmloser.
Balsam für die Ethikkommission, denke ich. Das Ergebnis übrigens: Ja,
die Zikadenschwemme könnte durchaus eine Raupenplage nach sich ziehen.
Die Geschichte hat ein Zuckerl für Mathe-Nerds, denn es ist ja
erstmal etwas seltsam, dass sich die Zikaden ausgerechnet alle 17 Jahre
verabreden zu ihren Reproduktionsorgien. Warum 17? Bis zu diesem
Interview war ich überzeugt, es sei in ÖkologInnenkreisen Konsens, das
sei, um synchronen Massenvermehrungen von Fressfeinden auszuweichen,
doch Getman-Pickering hat mich da eines Besseren belehrt:
Aber es gibt auch Theorien, nach denen es nichts mit den Fressfeinden
zu tun hat. Sondern eher mit anderen Zikaden. Der Vorteil wäre dann,
dass die Primzahlen verhindern, dass unterschiedliche Zikaden zur
gleichen Zeit auftreten, was dann schlecht für die Zikaden sein
könnte. Und dann gibt es auch noch einige Leute, die es einfach nur
für einen Zufall halten.
Das mit dem Zufall fände ich überzeugend, wenn bei entsprechenden Zyklen
in nennenswerter Zahl auch nichtprime Perioden vorkämen. Und das mag
durchaus sein. Zum Maikäfer zum Beispiel schreibt die Wikipedia:
„Maikäfer haben eine Zykluszeit von drei bis fünf, meist vier Jahren.“
Aua. Vier Jahre würden mir eine beliebig schlechte Zykluszeit
erscheinen, denn da würde ich rein instinktiv Resonanzen mit allem und
jedem erwarten. Beim Versuch, diesen Instinkt zu quantifizien, bin ich
auf etwas gestoßen, das, würde ich noch Programmierkurse geben, meine
Studis als Übungsaufgabe abbekommen würden.
Die Fragestellung ist ganz grob: Wenn alle n Jahre besonders viele
Fressfeinde auftreten und alle m Jahre besonders viele Beutetiere, wie
oft werden sich die Massenauftreten überschneiden und so den
(vermutlichen) Zweck der Zyklen, dem Ausweichen massenhafter
Fressfeinde, zunichte machen? Ein gutes Maß dafür ist: Haben die beiden
Zyklen gemeinsame Teiler? Wenn ja, gibt es in relativ kurzen
Intervallen Jahre, in denen sich sowohl Fressfeinde als auch Beutetiere
massenhaft vermehren. Haben, sagen wir, die Eichhörnchen alle 10 Jahre
und die Zikaden alle 15 Jahre Massenvermehrungen, würden die
Eichhärnchen alle drei Massenvermehrungen einen gut gedeckten Tisch und
die Zikaden jedes zweite Mal mit großen Eichhörnchenmengen zu kämpfen
haben.
Formaler ist das Problem also: berechne für jede Zahl von 2 bis N die
Zahl der Zahlen aus dieser Menge, mit denen sie gemeinsame Teiler hat.
Das Ergebnis:
Mithin: wenn ihr Zikaden seid, verabredet euch besser nicht alle sechs,
zwölf oder achtzehn Jahre. Die vier Jahre der Maikäfer hingegen sind
nicht so viel schlechter als drei oder fünf Jahre wie mir mein Instinkt
suggeriert hat.
Ob die Verteilung von Zyklen von Massenvermehrungen wohl irgendeine
Ähnlichkeit mit dieser Grafik hat? Das hat bestimmt schon mal wer
geprüft – wenn es so wäre, wäre zumindest die These vom reinen Zufall in
Schwierigkeiten.
Den Kern des Programms, das das ausrechnet, finde ich ganz hübsch:
def get_divisors(n):
return {d for d in range(2, n//2+1) if not n%d} | {n}
def get_n_resonances(max_period):
candidates = list(range(2, max_period+1))
divisors = dict((n, get_divisors(n)) for n in candidates)
return candidates, [
sum(1 for others in divisors.values()
if divisors[period] & others)
for period in candidates]
get_divisors ist dabei eine set comprehension, eine relativ neue
Einrichtung von Python entlang der altbekannten list comprehension:
„Berechne die Menge aller Zahlen zwischen 2 und N/2, die N ohne Rest
teilen – und vereinige das dann mit der Menge, in der nur N ist, denn
N teilt N trivial. Die eins als Teiler lasse ich hier raus, denn
die steht ohnehin in jeder solchen Menge, weshalb sie die Balken in der
Grafik oben nur um jeweils eins nach oben drücken würde – und sie würde,
weit schlimmer, die elegante Bedingung divisors[period] & others
weiter unten kaputt machen. Wie es ist, gefällt mir sehr gut, wie
direkt sich die mathematische Formulierung hier in Code abbildet.
Die zweite Funktion, get_n_resonances (vielleicht nicht der beste
Name; sich hier einen besseren auszudenken wäre auch eine wertvolle
Übungsaufgabe) berechnet zunächt eine Abbildung (divisors) der
Zahlen von 2 bis N (candidates) zu den Mengen der Teiler, und dann
für jeden Kandidaten die Zahl dieser Mengen, die gemeinsame Elemente mit
der eigenen Teilermenge haben. Das macht eine vielleicht etwas dicht
geratene generator expression. Generator expressions funktionieren auch
wie list comprehensions, nur, dass nicht wirklich eine Liste erzeugt
wird, sondern ein Iterator. Hier spuckt der Iterator Einsen aus, wenn
die berechneten Teilermengen (divisors.values()) gemeinsame Elemente
haben mit den Teilern der gerade betrachteten Menge
(divisors[period]). Die Summe dieser Einsen ist gerade die gesuchte
Zahl der Zahlen mit gemeinsamen Teilern.
Das Ergebnis ist übrigens ökologisch bemerkenswert, weil kleine
Primzahlen (3, 5 und 7) „schlechter“ sind als größere (11, 13 und 17).
Das liegt daran, dass bei einem, sagen wir, dreijährigen Zyklus dann
eben doch Resonanzen auftauchen, nämlich mit Fressfeindzyklen, die
Vielfache von drei sind. Dass 11 hier so gut aussieht, folgt natürlich
nur aus meiner Wahl von 20 Jahren als längsten vertretbaren Zyklus. Ganz
künstlich ist diese Wahl allerdings nicht, denn ich würde erwarten, dass
allzu lange Zyklen evolutionär auch wieder ungünstig sind, einerseits,
weil dann Anpassungen auf sich ändernde Umweltbedingungen zu
langsam stattfinden, andererseits, weil so lange Entwicklungszeiten rein
biologisch schwierig zu realisieren sein könnten.
Für richtig langlebige Organismen – Bäume zum Beispiel – könnte diese
Überlegung durchaus anders ausgehen. Und das mag eine Spur sein
im Hinblick auf die längeren Zyklen im Maikäfer-Artikel der
Wikipedia:
Diesem Zyklus ist ein über 30- bis 45-jähriger Rhythmus überlagert.
Die Gründe hierfür sind nicht im Detail bekannt.
Nur: 30 und 45 sehen aus der Resonanz-Betrachtung jetzt so richtig
schlecht aus…
Gut: Es ist keine Sepie. Aber dieser Oktopus ist bestimmt noch
viel schlauer.
Mal wieder gab es in Forschung aktuell ein Verhaltensexperiment, das
mich interessiert hat. Anders als neulich mit den Weißbüschelaffen
sind dieses Mal glücklicherweise keine Primaten im Spiel, sondern
Tintenfische, genauer Sepien – die mir aber auch nahegehen, schon, weil
das „leerer Tab“-Bild in meinem Browser eine ausgesprochen putzige Sepie
ist. Den Beitrag, der mich drauf gebraucht hat, gibt es nur als
Audio (1:48 bis 2:28; Fluch auf die Zeitungsverleger), aber dafür ist
die Original-Publikation von Alexandra Schnell et al (DOI
10.1098/rspb.2020.3161) offen.
Grober Hintergrund ist der Marshmallow-Test. Bemerkenswerterweise
zitiert der Wikipedia-Artikel bereits die Sepien-Publikation, nicht
jedoch kritischere Studien wie etwa die auf den ersten Blick ganz gut
gemachte von Watts et al (2018) (DOI: 10.1177/0956797618761661).
Schon dessen Abstract nimmt etwas die Luft aus dem reaktionären
Narrativ der undisziplinierten Unterschichten, die selbst an ihrem Elend
Schuld sind:
an additional minute waited at age 4 predicted a gain of approximately
one tenth of a standard deviation in achievement at age 15. But this
bivariate correlation was only half the size of those reported in the
original studies and was reduced by two thirds in the presence of
controls for family background, early cognitive ability, and the home
environment. Most of the variation in adolescent achievement came from
being able to wait at least 20 s. Associations between delay time and
measures of behavioral outcomes at age 15 were much smaller and rarely
statistically significant.
Aber klar: „achievement“ in Zahlen fassen, aus denen mensch eine
Standardabweichung ableiten kann, ist für Metrikskeptiker wie mich
auch dann haarig, wenn mich die Ergebnisse nicht überraschen. Insofern
würde ich die Watts-Studie jetzt auch nicht überwerten. Dennoch fühle
ich mich angesichts der anderen, wahrscheinlich eher noch schwächeren,
zitierten Quellen eigentlich schon aufgerufen, die Wikipedia an dieser
Stelle etwas zu verbessern.
Egal, die Tintenfische: Alexandra Schnell hat mit ein paar Kolleg_innen
in Cambridge also festgestellt, dass Tintenfische bis zu zwei
Minuten eine Beute ignorieren können, wenn sie damit rechnen, später
etwas zu kriegen, das sie lieber haben – und wie üblich bei der Sorte
Experimente ist der interessanteste Teil, wie sie es angestellt haben,
die Tiere zu irgendeinem Handeln in ihrem Sinn zu bewegen.
Süß ist erstmal, dass ihre ProbandInnen sechs Tintenfisch-Jugendliche im
Alter von neun Monaten waren. Die haben sie vor einen Mechanismus
(ebenfalls süß: Die Autor_innen finden den Umstand, dass sie den
3D-gedruckt haben, erwähnenswert genug für ihr Paper) mit zwei
durchsichtigen Türen gesetzt, hinter denen die Sepien jeweils ihre
Lieblingsspeise und eine Nicht-so-Lieblingsspeise (in beiden Fällen
irgendwelche ziemlich ekligen Krebstiere) sehen konnten. Durch
irgendwelche Sepien-erkennbaren Symbole wussten die Tiere, wie lange
sie würden warten müssen, bis sie zur Leibspeise kommen würden, zum
langweiligen Essen konnten sie gleich, und sie wussten auch, dass sie
nur einen von beiden Ködern würden essen können; dazu gabs ein recht
durchdachtes Trainingsprotokoll.
Na ja, in Wirklichkeit wars schon etwas komplizierter mit dem Training,
und ahnt mensch schon, dass nicht immer alles optimal lief:
Preliminary trials in the control condition showed that Asian shore
crabs were not a sufficiently tempting immediate reward as latencies
to approach the crab, which was baited in the immediate-release
chamber, were excessive (greater than 3 min) and some subjects refused
to eat the crab altogether.
Ich kann mir richtig vorstellen, wie die Gruppe vor dem Aquarium stand
und fluchte, weil die doofen Viecher ihre Köder nicht schlucken wollten:
„Wie zum Henker schreiben wir das nachher ins Paper?“ – um so mehr, als
alle Sepien konsequent die gleichen Präferenzen hatten (was ich ja auch
schon für ein bemerkenswertes Resultat halte, das bei n=6 und drei
Auswahlmöglichkeiten kaum durch Zufall zu erklären ist – vielleicht aber
natürlich durch das, was die Sepien sonst so essen).
Und dann wieder Dinge in der Abteilung „was alles schiefgehen kann, wenn
mensch mit Tieren arbeitet“:
Subjects received one session of 6 trials per day at a specific delay.
This number of trials was chosen to minimize satiety and its effects
on eating behaviour.
Schon die Abbildung 2 des Artikels finde ich wirklich erstaunlich: Alle
Sepien bekommen es hin, 30 Sekunden auf ihre Lieblingsspeise zu warten
– wow. Ok, kann natürlich sein, dass sie so lange brauchen, um sich zu
orientieren, aber Schnell und Co scheinen mir schon viel getan zu haben,
um das unwahrscheinlich zu machen.
Was jedenfalls rauskommen sollte, war eine Korrelation der Wartezeit
mit, na ja, der „Intelligenz“ (ich halte mich raus bei der genaueren
Bestimmung, was das wohl sei), und um die zu messen, mussten die Sepien
in ihren Aquarien zunächst lernen, das „richtige“ unter einem dunklen
und einem hellen Stück Plastik aussuchen. Anschließend, das war der
Intelligenztest, mussten sie mitbekommen, wenn die Versuchsleitung die
Definition von „richtig“ verändert hat. Dazu haben sie laut Artikel im
Mittel 46 Versuche gebraucht – gegenüber 27 Versuchen beim ersten
Lernen. Nicht selbstverständlich auch: Sepien, die beim ersten Lernen
schneller waren, waren auch schneller beim Begreifen der Regeländerung.
Da ist Abbildung 3 schon ziemlich eindrücklich: einer der Tintenfische
hat das Umkehrlernen in gut 20 Schritten bewältigt, ein anderer hat fast
70 Schritte gebraucht. Uiuiui – entweder haben die ziemlich schwankende
Tagesform, oder die Gerissenheit von Sepien variiert ganz dramatisch
zwischen Individuen.
Die erwartete Korrelation kam selbstverständlich auch raus (Abbildung
4), und zwar in einer Klarheit, die mich schon etwas erschreckt
angesichts der vielen Dinge, die beim Arbeiten mit Tieren schief
gehen können; der Bayes-Faktor, den sie im Absatz drüber angeben
(„es ist 8.83-mal wahrscheinlicher, dass Intelligenz und Wartenkönnen
korreliert sind als das Gegenteil“) ist bei diesem Bild ganz
offensichtlich nur wegen der kleinen Zahl der ProbandInnen nicht
gigantisch groß. Hm.
Schön fand ich noch eine eher anekdotische Beobachtung:
[Andere Tiere] have been shown to employ behavioural strategies such
as looking away, closing their eyes or distracting themselves with
other objects while waiting for a better reward.
Interestingly, in our study, cuttlefish were observed turning their
body away from the immediately available prey item, as if to distract
themselves when they needed to delay immediate gratification.
Ich bin vielleicht nach der Lektüre des Artikels nicht viel überzeugter von
den verschiedenen Erzählungen rund um den Marshmallow-Test.
Vor einer guten Woche habe ich inspiriert von dem, was inzwischen
„Masken-Affäre“ heißt[1]gezeigt, wie eine ganz einfache
Theorie sehr natürlich erklärt, warum die mittlere Schurkigkeit mit der
Hierarchiestufe recht rapide steigt. Für mich eher unerwartet ist diese
Masken-Affäre übers Wochenende richtig explodiert, bis hin zum puren
Rock'n'Roll, dass Abgeordnete – und dann noch welche von CDU und CSU –
wegen Selbstbedienung aus der Fraktion fliegen.
Dieser Chor von Überraschung und Empörung ist deshalb zumindest bizarr,
weil alle diese Medien normalerweise feiern, wenn sich „Fleiß und
Einfallsreichtum aufs private Fortkommen richten“, wie die Hessische
Niedersächsische Allgemeine zum gleichen Thema so schön formuliert – und
sich mit dieser zutreffenden Beschreibung des Verhaltens von Nüßlein und
Löbel zumindest mal den Preis für den am wenigsten verdrehten Kommentar
an diesem Morgen verdient hat.
Tatsächlich ist Vertreter_innen entsprechender Ideen zumeist mit etwas
Mühe die Konzession abzuringen, natürlich sei eine Wirtschaft zu
bevorzugen, die in einem gesellschaftlichen Prozess plant, welcher Kram
produziert werden soll und wie das mit möglichst wenig Belastung für
Mensch („Arbeit“) und Natur hinzukriegen sei. Aber, so ist dann das
finale und kaum widerlegbare Argument, das sei nicht zu machen, weil der
Mensch schlecht sei und egoistisch und drum, wenn die Wirtschaft nicht
auf die Bedürfnisse von ehrgeizigen Schurken ausgerichtet sind, der
Hungertod droht.
Demgegenüber wandele ein moderat regulierter Kapitalismus die
Niederträchtigkeit der Einzelnen in den größtmöglichen Nutzen des
Staates und in der Folge der Gesellschaft – was unter der Bedingung,
dass die Leute, von Mutter Theresa mal abgesehen, durchweg Gesindel
sind, oberflächlich plausibel klingt[2].
Und nun sind genau die Leute, die bei jeder Gelegenheit die
Alternativlosigkeit von Markt und Wettbewerb für die Volkswirtschaft aus
der Schurkigkeit des Menschen an sich ableiten, empört, weil ihre
Vertreter_innen, und zumal die mit dem eklatantesten
der-Mensch-ist-schlecht-Programm, bescheißen, so gut sie können. Hm.
Es war schon lange meine Vermutung, dass die Fähigkeit, rechtzeitig mit
den Ableitungen aus den eigenen Ideen aufzuhören, ganz entscheidend ist
für die Erhaltung einer, nun ja, konservativen Gesinnung.
Montag 19:45 gibt es erstaunlicherweise noch keine
Wikipedia-Seite „Masken-Affäre“, aber der Relevanzkriterien-Widerstand
in der Sache dürfte innerhalb von Stunden bröckeln.
Jedenfalls solange, bis mensch sich klar macht, dass wir derzeit
Jahr um Jahr fossile Kohlenwasserstoffe verbrauchen, die sich
innerhalb von einigen 100000 Jahren gebildet haben (sprich: wir durch diese
Ressourcen gehen, als hätten wir einige 105 Erden) und
trotzdem noch Jahr um Jahr Milliionen von Menschen an Armut sterben.
Sucht nach netten Genoss_innen: ein Weißbüschelaffe – Raimond Spekking /
CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)
An sich halte ich ja Soziobiologie für irgendwas zwischen Mumpitz und
reaktionärer Zumutung, jedenfalls soweit sie verstanden wird als Versuch,
menschliches Verhalten oder gar gesellschaftliche Verhältnisse durch
biologische Befunde (oder das, was die jeweiligen Autor_innen dafür
halten) zu erklären und in der Folge zu rechtfertigen.
Hier ist aber eine Geschichte (DOI 10.1126/sciadv.abc8790), die so
putzig ist, dass ich mir in der Beziehung etwas mehr Toleranz von mir
wünschen würde. Und zwar hat eine Gruppe von Anthropolog_innen um Rahel
Brügger aus Zürich das Kommunikationsverhalten von Weißbüschelaffen
untersucht (Disclaimer: Nee, ich finde eigentlich nicht, dass mensch
Affen in Gefangenschaft halten darf, aber in diesem Fall scheint
zumindest das expermimentelle Protokoll halbwegs vertretbar).
Dabei haben sie zunächst zwei Dialoge zwischen (den Proband_innen
unbekannten) Affen aufgenommen: Ein Affenkind hat einen erwachsenen
Affen um Futter angebettelt. Im einen Fall hat der erwachsene Affe
abgelehnt, im anderen Fall wohl etwas wie „schon recht“ gemurmelt.
Dann haben sie die Aufnahmen anderen Affen vorgespielt und haben dann
geschaut, ob diese lieber weggehen oder lieber nachsehen, wer da
geplaudert hat. Und siehe da: Die Tiere wollten viel lieber die netten
Affen sehen als die doofen. Bei den netten Affen haben nach gut 10
Sekunden schon die Hälfte der Proband_innen nachgesehen, wer das wohl
war, bei den doofen war das mehr so 30 Sekunden. Und bis zum Ende der
jeweiligen Versuche nach zwei Minuten wollten immerhin ein Viertel der
Proband_innen nichts von den doofen Affen sehen, aben nur ein Zehntel
nichts von den netten.
Moral: Seid nett, und die Leute mögen euch.
Ja, ok, kann sein, dass die Äffchen nur gehofft haben, dass sie auch
Essen kriegen, wenn schon das Kind was bekommen hat. Pfft. Ich sag ja,
Soziobiologie stinkt.
Nachbemerkung 1: Ich habe das auch nicht gleich in Science Advances
gefunden (da gäbs andere Journals, die ich im Auge haben sollte),
sondern in den Meldungen vom 4.2. des sehr empfehlenswerten Forschung
aktuell im Deutschlandfunk.
Nachbemerkung 2: Ich weiß, Literatur soll mensch nicht erklären, aber
die Überschrift ist natürlich ein Einwand gegen einen der Wahlsprüche
der Roten Hilfe: „Solidarität ist eine Waffe“. So klasse ich die
Rote Hilfe finde, der entschlossene Pazifist in mir hat die Parole nie
so recht gemocht. Mensch will ja eigentlich weniger Waffen haben, aber
ganz bestimmt mehr Solidarität.
Im Kalenderblatt zum 18.1.2021 heißt es (möglicherweise in erster
Linie zur Rechtfertigung eines Musikteppichs): »Johannes Brahms
komponierte nach den Siegen preußisch-deutscher Truppen über das
französische Heer im Jahr 1870 das „Triumphlied“ opus 55.«
Mag sein, dass ich mich als Banause oute, weil mir das neu war, aber für
mich war das die zentrale Nachricht des Beitrags: Brahms hat sich in
Kriegsverherrlichung betätigt, in chauvinistischem Tschingdarassabumm.
Will mensch Musik von so einem Schuft eigentlich noch hören?
Und damit gehts direkt zur Frage der Relation zwischen Werk und
Schöpfer_in, die ja letztlich hinter den sinnvolleren Teilen der
„Cancel Culture“-Debatte steht. Darf ich Dinge mögen, obwohl sie von
Leuten gemacht wurden, deren Handlungen jetzt mal wirklich unakzeptabel
sind?
Da hängt leider viel dran. Während mir Brahms' Schmachtfetzen
vielleicht nicht so fehlen würden, wäre es für mich um die Gedanken von
John Searle schon sehr schade (auch wenn ich sie zu guten Stücken für...
unrichtig halte); allein der Chinese Room stellt ganz viele richtige
Fragen, und seine beißende Kritik des Dualismus ist zumindest mal gut
geschrieben.
Kann ich mich jetzt nicht mehr am Chinese Room reiben? Ich würde sehr
hoffen, dass die Abwägungen, die dahin führen, nicht zwingend sind.
Umgekehrt gehts nun auch nicht, dass „wir“ (oder „die Gesellschaft“)
einfach achselzuckend drüber hinweggehen, im üblichen „große Männer
haben halt auch ihre Schwächen“-Duktus, schon, weil Militarismus,
Chauvinismus und Vergewaltigung durch regelmäßige gesellschaftliche
Ächtung tatsächlich bekämpft werden können, wie trotz aller Barbarei der
Gegenwart der Vergleich zwischen heute und Brahms' Zeiten klar zeigt.
Ich fürchte, das ist ein wenig wie oft in Fragen der Ethik: es gibt
nichts, das immer „richtig“ wäre, und mensch muss in jedem Einzelfall
wieder rauskriegen, wie weit Werk und Schöpfer_in zusammengehen (ich sag
mal Leni Riefenstahl) oder halt nicht. Klingt nach Mesoteslehre. Und
wer klingt wie Aristoteles hat ja meistens Unrecht... Ach Mist.
Das Pale Blue Dot-Bild, mit Gimps Lens Distortion ordentlich
verhackstückt, damit es auch wirklich blassblau wird.
In meinem asynchronen Radio habe ich heute Voyager 3 gehört, ein
Feature über... na ja, alles mögliche, insbesondere aber die kulturellen
Implikationen der Golden Records an Bord der Voyagers. Streckenweise
wars großartig; manchmal sind diese freistil-Features ja offensiv
langweilig, aber dann lassen mich solche Highlights doch immer an meiner
(na ja, der meines Computers) Mitschneideroutine am Sonntagabend
festhalten.
In dieser Sendung gab es erstmal ein paar Genau-mein-Humor-Witze zu den
Platten, etwa:
Warum ist da nicht mehr Bach drauf? – Wir wollten nicht so angeben.
Gefakte Durchsage der (vielleicht der NASA): Es ist nicht viel, aber
es ist die erste Nachricht einer fremden Zivilisation. Vier Worte:
Send more Chuck Berry.
Natürlich sind die Golden Records selbst schon zutiefst anrührend und
romatisch. Aber dann kam gegen Ende der Sendung noch etwas, das ich,
nennt mich einen irren Nerd, besonders anrührend fand. Sie haben
nämlich die Geschichte vom Pale Blue Dot (PBD) erzählt, nach dem
Voyager 1, bevor die Kamera endgültig abgeschaltet wurde, umgedreht
wurde und aus gut 40 Astronmischen Einheiten Entfernung die Erde
portraitiert hat.
Diese Geschichte kannte ich als Carl-Sagan-Fan natürlich schon, aber in
dieser Darstellung klang es so, als sei der PBD das letzte Bild der
Kamera gewesen, und dabei kam mir der ergreifende Gedanke: oh wow, da
haben sie das Bild der Erde sozusagen in die Netzhaut der sterbenden
Kamera (ihr Band) eingebrannt, und wenn dann dermaleinst Aliens die
Sonde bergen, würden sie das eben diese Erinnerung an die Ursprungswelt
dort noch finden.
Leider ist das natürlich alles Quatsch. Erstens war das PBD-Bild gar
nicht das letzte, das die Kamera geschossen hat, schon, weil die
Kamera (wie eigentlich immer noch alle wissenschaftlichen Kameras in
der Astronomie) monochrom war und es drum schon mal drei Aufnahmen
gewesen wäre, aber auch, weil Voyager als Teil der Rückschau einen ganzen
Haufen anderer Aufnahmen machte und so zuletzt vielleicht die Sonne oder
Neptun angeschaut hat, aber nicht die Erde.
Aber selbst wenn die Erd-Bilder die letzten gewesen wären, wären sie
wahrscheinlich nicht auf dem Bandlaufwerk geblieben, denn die Voyagers
nehmen ja immer noch Daten, und ich habe bis eben angenommen, dass die
immer noch auf dem Bandlaufwerk zwischengespeichert werden. Allerdings
berichtet hackaday, dass zumindest Voyager 1 inzwischen offenbar kein
übers RAM funktioniert (beeindruckend, denn alle drei Rechner an Bord
kommen zusammen gerade so über 64kB).
Leider würde es auch nichts helfen, wenn es das PBD-Bild irgendwie
geschafft hätte, trotz der weiteren Aktivitäen von Voyager 1 auf dem
Band zu bleiben: Selbst bei den tiefen Temperaturen dort draußen wird
die Magnetisierung des Bandes allein schon wegen der kosmischen
Strahlung bald verschwunden sein. Die Aliens werden eben leider doch
nicht die Erde als letztes Bild der sterbenden Kamera verewigt sehen.
Schade.
Ach übrigens: Voyager 1 steht übrigens gerade im Schlangenträger. Ganz
einsam. Was auch eine gewisse Romantik hat, denn im Schlangenträger
steht auch der einsamste Stern am Himmel.