Tag Deutschlandfunk

Der Grund, warum ich die GEZ-Gebühren entschieden verteidige: der Deutschlandfunk. Sein Name ist zwar selten dämlich, und seine Politikredaktion bringt mich regelmäßig zur Verzweiflung. Aber er hat z.B. mit Forschung aktuell oder auch Freistil auch wirklich hervorragende Sendungen. Und spätestens, nachdem ich eine Presseschau gehört habe, erinnere ich mich wieder daran, dass selbst die Politikredaktion in Relation zu privaten Medien immer noch das deutlich kleinere Übel ist.

  • Lieblingsgesetze

    Ich bin in den letzten Tagen unabhängig voneinander zwei Mal auf Gesetze gestoßen, die nach Titel oder Inhalt großartig sind, so großartig, dass ich bestimmt mal irgendwann auf sie werde zurückgreifen wollen, um etwas wie „…geregelt in, sagen wir, §42 Käseverordnung“ zu sagen. Das waren:

    • Käseverordnung: Laut Wikipedia hat es so eine schon 1934 gegeben; und nur so lässt sich wohl erklären, dass sie Marketroids anbietet, mit Wörtern wie „Vollfettstufe“ (§5 Käseverordnung) zu werben für ihre „frische[n] oder in verschiedenen Graden der Reife befindliche[n] Erzeugnisse, die aus dickgelegter Käsereimilch hergestellt sind“ (aus §1 Käseverordnung). Großartig ist das übrigens nicht nur wegen der Parallelbildung zu Käseblatt, sondern auch, weil in Jasper Ffordes großartigen Thursday Next-Romanen Käseschmuggel aus Wales eine große Rolle spielt und §30 Käseverordnung manchmal schon nach der Bookworld dieser epochalen Werke klingt.
    • Bundeskleingartengesetz: Das geht immerhin bis §22, wobei allerdings ein Paragraph weggefallen ist und §19 lediglich aus „Die Freie und Hansestadt Hamburg gilt für die Anwendung des Gesetzes auch als Gemeinde“ besteht, es dafür aber allen Ernstes zwei Buchstabenparagraphen gibt (§20a, „Überleitungsregelungen aus Anlaß der Herstellung der Einheit Deutschlands“, passt schon vom Titel her großartig zum bierernsten Ton der Gartenregeln). Eingestanden: So albern, wie Gesetze für KleingärtnerInnen zunächst wirken, wird das wohl am Ende nicht sein. Oder doch? Ich kann mich einfach nicht entscheiden, auch nicht, nachdem ich den DLF-Hintergrund vom 18.8. gehört habe (full disclosure: ich weiß nur aufgrund dieser Sendung überhaupt von der Existenz des BKleingG).
  • Keine Mauern mehr

    Das, was in Heidelberg wohl als „Heimatzeitung“ zu bezeichnen ist, die Rhein-Neckar-Zeitung, hat es in die heutige Deutschlandfunk-Presseschau geschafft, und zwar mit folgender patriotischen Erbauung:

    Es [was „es“ ist, bleibt im DLF-zitierten Kontext unklar] sollte auch Ansporn sein, diese Republik als den Idealzustand zu sehen. Wir leben im besten aller bisherigen deutschen Staaten – das bedeutet nicht, dass man ihn nicht verbessern kann. Aber Mauern müssen keine mehr eingerissen werden.

    Nun...

    Polizeigeschützte Mauer

    Der Abschiebeknast von Ingelheim, Stand 2009. Und auch wenn diverse Regierungen in Rheinland-Pfalz diese Mauern schon mal einreißen wollten, ist da zumindest bis 2019 nichts draus geworden.

  • Motivlage im Rassismus

    Unter den tiefautoritären Gesetzen, die die Parlamente in den letzten Jahren so durchgewunken haben, sind das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und das daran angehängte „Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“ (vgl. hier im Januar) insoweit stilbildend, als sie das Konzept von Gedankenverbrechen weiter verdichten. Klar hat es schon vorher allerlei Gesetzgebung zur „Ehrabschneidung“ gegeben – die ganze Gegend von §185 bis §199 StGB etwa – aber in freieren Zeiten war eigentlich klar, dass das Gesetze sind, mit denen sich lediglich ewig gestrige Altverleger, humorlose Prälaten und vertrocknete Politiker gegen lustigen Kram der Titanic wehren und dabei nur noch blöder aussehen.

    Das NetzDG nun erklärt das alberne Rumposen wenig reflektierter Facebook-Produkte zur staatsgefährdenden Tat, ganz so, als sei das die Ursache für hunderte Nazimorde oder die allzu berechtigten Sorgen nicht ganz so Deutscher, in den Randgebieten der Zivilisation aufs Maul zu kriegen. Wegen dieser Fehlanalyse werden kommerzielle Plattformen als Hilfssherriffs eingespannt, fordert der Staat Zugriff auf Passwörter.

    Wie unsinnig das Narrativ von Facebook als Ursache rassistischer Gewalt ist, wird schön im Deutschlandfunk-Hintergrund vom 6.8. deutlich. Facebook ist, das jedenfalls nehme ich (nicht nur) aus dieser Geschichte mit, allenfalls die Echokammer. Die Quelle der Ressentiments hingegen sind Innenministerien, eine erschreckend breite Mehrheit der sich als „bürgerlich“ definierenden klassischen Medien, und leider auch nicht zu knapp viele Staatsanwaltschaften.

    Es lohnt sich durchaus, den ganzen Beitrag zu lesen (oder zu hören), aber die Geschichte in Kürze ist: Die Behördenleiterin des BAMF in Bremen hat tatsächlich die auch mit Rücksicht auf internationale Verpflichtungen relativ (zur Praxis) menschenfreundlichen Regelungen aus der Migrationsgesetzgebung umgesetzt. Daraufhin ist sie von der „lass uns das so rechtswidrig machen wie die anderen auch“-Fraktion in der eigenen Behörde abgesägt und durch wen ersetzt worden, die eher auf der menschenrechtsfeindlichen Linie der Innenministerien liegt.

    Um das ordentlich über die Bühne zu kriegen, wurde die korrekte Vorgängerin noch ein wenig angeschwärzt, was dann von der Staatsanwaltschaft begeistert und von der breiten Presse enthusiastisch aufgenommen wurde. Ein Skandal war geboren, der letztlich alle rassistischen und sexistischen Ressentiments bedient: Eine Bürokratin macht AusländerInnen zu Deutschen, wahlweise für Geld oder weil sie mit – klar: ausländischen – Anwälten anbandeln wollte[1].

    Diese abstruse Geschichte aus der rechten Mottenkiste („großer Bevölkerungstausch“ oder wie diese Leute das auch immer nennen) beschäftigte die Nation samt ihrer öffentlichen VertreterInnen für Wochen, und eigentlich niemand traute sich zu sagen, dass das schon von Anfang an rassistische Kackscheiße ist, denn selbst wenn jemand mal einen Hauch großzügiger duldete oder gar einbürgerte: Für wen – von verstockten RassistInnen mal abgesehen – wäre das eigentlich ein Problem, geschweige denn eines, für das irgendwer ins Gefängnis sollte?

    Wer solche Diskurse anfängt und lautstark anheizt, wer die rassistische Denke als Staatsraison markiert, darf sich nicht wundern, wenn autoritäre Charaktere die Logik dieser Staatsraison in private Gewalt umsetzen.

    Dass diese Umsetzung in private Gewalt stattfindet, ist seit dem Lübcke-Mord immerhin ansatzweise ins öffentliche Bewusstsein gelangt (mit 30-jähriger Verspätung). In dieser Situation und nachdem das ganze rechte Phantasma ums Bremer BAMF implodiert ist, wäre das Mindeste für die ProtagonistInnen der öffentlichen Hassrede damals, allen voran Stefan Mayer und Horst Seehofer, nun Familienpackungen von Asche auf ihre Häupter streuen. Aber nichts davon. Stattdessen, das kann ich zuversichtlich vorhersagen, folgt ganz gewiss der nächste Menschenrechtsabbau im Stil des NetzDG. Was weniger ärgerlich wäre, wenn die Vorlagen dazu nicht eben von den Hassrednern („hochkriminell, kollusiv und bandenmäßig“) in diesem Fall kommen würden.

    [1]Dass sich die Staatsanwaltschaft zu diesem rechten Urmotiv von „uns“ die Frauen raubenden Ausländermännern hat hinreißen lassen, ist übrigens nochmal ein ganz spezieller Skandal. Findet da auch 250 Jahre nach Kant überhaupt keine Aufklärung statt?
  • Post-Wettbewerb: Echt jetzt?

    Unter den Branchen, in denen Privatisierung am alleroffensichtlichsten Quatsch ist, sehe nicht nur ich die Post ganz vorne. Denn: Alle sollen die Post nutzen können, aber die Kosten für die Infrastruktur schwanken um Größenordnungen zwischen Metropole und Provinz. Unter solchen Bedingungen eine halbwegs gleichmäßige Abdeckung mit privatwirtschaftlichen Unternehmen herzustellen, wäre ein regulatorischer Kraftakt, der abgesehen von viel Zeitverschwendung am Schluss wieder darin enden würde, dass die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert werden – wovon nun wirklich niemand[1] was hat.

    Aber auch wer in der Stadt wohnt, muss sich fragen, welchen Zweck es wohl haben könnte, wenn statt des einen zuverlässigen, halbwegs ordentlich bezahlten und beamteten Postboten im Dienst der weiland Bundespost nun fünf arme Schlucker die Viertel abfahren, die alle mehr oder minder am Mindestlohn kratzen, im Akkord arbeiten und entsprechend unzuverlässig sind: Noch nicht mal die verbohrtesten Marktpriester wollten das rechtfertigen, wenn ich sie darauf angesprochen habe.

    Und dabei fange ich noch nicht mal beim Kulturverlust an. Vor der Privatisierung konnte das Postamt als Ausspielstelle des Staates fungieren, praktisch wie die Bürgerämter unserer Zeit, nur dichter gespannt. Heute korrelieren die Außenposten der Post im Wesentlichen mit Branchen wie Glücksspiel oder Restposten.

    Kurz: Wäre ich Marktpriester, der Postdienst wäre das letzte, über das ich reden wollte.

    Um so mehr hat mich der DLF-Hintergrund vom 4.8. überrascht, in dem Mischa Ehrhardt versucht, ein Problem auszumachen, weil „die Deutsche Post den Markt dominiert“, natürlich ohne zu sagen, wie ausgerechnet mehr Markt irgendeines der angesprochenen Probleme lösen könnte – und genau keine Stimme den offensichtlichen Weg nach vorne, nämlich die Rückverstaatlichung des Postdienstes, auch nur anspricht.

    Stattdessen wird Walther Otremba – nach einer Karriere als CDU-Mann, Staatsekretär im Finanz- und Militärministerium und Bahn-Aufsichtsrat jetzt Frühstücksdirektor und Lobbyist für die nichtpostigen Postklitschen, also die, die ihre AusträgerInnen im Schnitt noch mieser behandeln als die privatisierte Post – zitiert mit:

    Ich kann ja eigentlich die Deutsche Post AG nicht kritisieren. Die tut halt, was sie machen muss, nämlich versuchen, möglichst hohe Gewinne zu erzielen.

    Öhm… Warum genau soll die Post möglichst hohe Gewinne machen müssen? Ist nicht eigentlich völlig offensichtlich, dass Aufgabe der Post ist, möglichst flott und mit wenig gesellschaftlichem Aufwand Briefe zu transportieren (und dann vielleicht noch Postsparbücher zu betreiben und ggf. mit Postämtern in der Fläche auch ein paar staatliche Aufgaben in die Hand zu nehmen)? Wer, außer ein paar AnlegerInnen, hätte umgekehrt etwas davon, wenn sie möglichst hohe Gewinne machen würde? Wer also könnte das wollen oder die Post gar dazu zwingen?

    Wohlgemerkt, der Otremba, der da solche Klopfer durchs Radio schickt, war in seinen großen Zeiten (z.B. im „Finanzmarktstabilisierungsfonds“) einer der ganz großen Mover und Shaker. Bei derart verwirrten Gedanken muss wohl nicht mehr verwundern, was für eine Lachnummer (zuletzt bei Cum-Ex und Wirecard) die BaFin zumindest in Wirtschaftskreisen ist. Immerhin haben er und seine KollegInnen die ja erfunden.

    Es gäbe noch einige weitere komplett auf dem Kopf stehende Argumente in dem DLF-Beitrag zu korrigieren, so etwa die abseitige Kritik an der Quersubventionierung; natürlich will mensch z.B. Briefe durch Telefon quersubventionieren, wenn das gesellschaftlich geboten ist, was es zumindest früher mal war. Aber wichtiger wäre mir, noch Otrembas nächsten Satz zu prüfen, denn der spiegelt einen verbreiteten Irrglauben wider:

    Es sind die Rahmenbedingungen, die nicht geliefert wurden rechtzeitig, um im Briefgeschäft ähnliche Erfolge, wie zum Beispiel in der Telekommunikation, die ja parallel liberalisiert wurde, zu erzeugen

    „Erfolge“? In der Telekommunikation, in der halb-betrügerische Verträge mehr die Regel sind als die Ausnahme und die Verbraucherzentralen gar nicht mehr aus dem Klagen rauskommen? In der drei (oder sind es wieder vier?) Mobilfunknetze konkurrieren, so dass es die gleiche Infrastruktur in den Metropolen dreifach und dafür gar keine am Land gibt?

    „Aber es ist doch alles viel billiger geworden,“ höre ich euch einwenden. Nun – das ist es bereits vor der Privatisierung.

    Es gibt dazu eine ganz interessante Untersuchung von A. Michael Noll, in Telecommunications Policy 18 (5), 255f (1994): „A study of long distance rates. Divestiture revisted“ (DOI 10.1016/0308-5961(94)90051-5; sorry, ist Elsevier). Wohlgemerkt: das ist 1994 erschienen; wir hätten also in der BRD vor der Zerschlagung der Bundespost davon lernen können. Jaja, die Auflösung von AT&T in den USA, die Noll da untersucht, war nicht exakt eine Privatisierung, aber sie war in Anlage und Ziel nicht wesentlich anders, und sie war auch die Blaupause für all die anderen marktradikalen Kreuzzüge gegen staatliche Daseinsvorsorge im Kommunikationsbereich.

    Ein Ergebnis seiner Arbeit: Die Preise für Ferngespräche folgten über fast 100 Jahre einem Abwärtstrend, nur kurz unterbrochen von einer Panikphase vor der Öffnung des Wettbewerbs im Jahr 1984:

    Fallender Graph

    Fig. 1 aus doi:10.1016/0308-5961(94)90051-5: Kosten für Ferngespräche in den USA, 1910 bis ca. 1995. Der Wettbewerb hat nicht für rascher fallende Preise gesorgt. Rechte leider bei Elsevier.

    Wenn ihr in anderen Papern seht, dass nach der Zulassung von Konkurrenz die Preise ganz schnell gefallen sind: hier ist der Hintergrund. Dazu kommt übrigens noch, wie die Wikipedia zum Ende des Bell-Systems schreibt:

    One consequence of the breakup was that local residential service rates, which were formerly subsidized by long-distance revenues, began to rise faster than the rate of inflation.

    Also: Nicht nur sind die Ferngespräche nicht schneller billiger geworden als vorher – Überschüsse aus ihnen sind auch nicht mehr in die Grundversorgung geflossen, so dass diese teuerer wurde. Statt dieser (ebenfalls sinnvollen) Quersubventionierung ging das Geld stattdessen an InvestorInnen (also: „die Reichen“) und öffentliche Belästigung (also: „Werbung“). Bei Noll sieht das so aus:

    Steigender Graph

    Fig. 4 aus doi:10.1016/0308-5961(94)90051-5: Marketingkosten von AT&T zwischen 1970 und 1993. Mit der Ende staatlicher Regulierung ging Geld statt in die Grundversorgung in die Werbung. Rechte leider bei Elsevier.

    Die Geschichte von den fallenden Preisen durch Privatisierung kehrt sich also in ihr Gegenteil.

    Nein: Was dafür gesorgt hat, dass Leute jetzt für in etwa das gleiche Geld viel mehr telefonieren können als, sagen wir, 1995, nennt sich technischer Fortschritt, in diesem Fall insbesondere die (von öffentlich finanzierten Unis und Instituten aufs Gleis gesetzte) stürmische Entwicklung paketvermittelter Netze – was nicht nur das Internet war. Ja, kann sein, dass deren Einführung mit der alten Bundespost etwas länger gedauert hätte, zumal, wenn Leute wie Otrembas Parteifreund Christian Schwarz-Schilling sie als Selbstbedienungsladen nutzten.

    Aber wärs wirklich so schlimm gewesen, wenn wir das Klingelton-Zeitalter übersprungen hätten und stattdessen nicht Öko- und Sozialkatastrophen (die Mobiltelefone nun mal sind) als Werbegeschenke windiger Knebelvertraghöker abwehren müssten?

    [1]Außer ein paar AnlegerInnen, UnternehmensberaterInnen und GeschäftsführerInnen; aber das darf guten Gewissens als Fehlsteuerung durch Marktkräfte eingeordnet werden.
  • Geistesgegenwart um Mitternacht: Tut sie aber nicht

    Ich bin ja eigentlich niemand, der „Handarbeit“ als Qualitätsprädikat sonderlich schätzt, aber es ist gerade bei Radio schön, wenn sich zeigt, dass der Kram zwar aus dem Computer kommt, aber doch noch Menschen vor dem Computer sitzen.

    So ging das am letzten Samstag (3.7.), kurz nach Mitternacht. Mein Rechner schneidet da immer den Mitternachtskrimi aus dem Live-Programm des Deutschlandfunks mit und hat dabei dieses großartige Stolpern aufgenommen:

    (um die Bediengeräusche besser herauszubringen, habe ich das Audio etwas komprimiert). Ich muss sagen, dieses kurze Selbstgespräch fand ich sehr beeindruckend – und ich habe mich wiedererkannt, denn in dieser Sorte experimentellen Diskurses mit der Maschine versuche auch ich mich dann und wann.

    Zu diesem schönen Ausschnitt habe ich zwei Einwürfe zu bieten.

    Erstens war die dann doch noch folgende Sendung eine leicht expressionistische Hörspielfassung des Kleist-Klassikers Das Erdbeben in Chili, die ich hier liebend gerne verteilen würde, weil sie schön zeigt, was für ein garstiges Gift reaktionäre Hetzerei ist; ich kann mir nur schwer vorstellen, dass, wer das gehört hat, noch auf das Gift von, sagen wir, Innenminister Seehofer hereinfallen könnte.

    Aber nun, das Urheberrecht hindert mich daran, was mein Argument von neulich gegen das „geistige Eigentum“ schön illustriert: Das Hörspiel, vermutlich eine öffentlich-rechtliche Produktion, gäbe es natürlich auch, wenn ich es jetzt verteilen dürfte, und die Leute, die das damals gemacht haben, sind hoffentlich schon dabei ordentlich bezahlt worden und werden kaum auf ein paar Cent für einen Download durch euch angewiesen sein. Die Existenz des Textes hat offensichtlich nichts mit Urheberrecht zu tun, denn zu Kleists Zeiten gab es gar keins. Hier wirken die heutigen („Post-Micky-Maus“) Regelungen diametral gegen den ursprünglichen Zweck des Urheberrechts, nämlich, der Gesellschaft eine möglichst reichhaltige Kultur zur Verfügung zu stellen.

    Der zweite Einwurf: Über die vergangenen 20 Jahre hatte ich verschiedene Hacks, um Radio-Streams mitzuschneiden – ich schaudere, wenn ich an die schlimmen Tage von RealAudio und das Rausfummeln des Signals über preloaded libraries zurückdenke, die das write der libc überschrieben haben. Nun, der proprietäre Client wollte kein Speichern der Streams zulassen (schon wieder das Copyright-Gift!).

    Inzwischen ist das Mitschneiden dank ffmpeg und offener Standards auf der Seite der Radiostationen nur noch ein schlichtes Shellscript. Ich verwende seit ein paar Jahren das hier:

    #!/bin/bash
    
    if [ ! $# -eq 3 ]; then
            echo "Usage $0 time-to-record m3u-url output-file"
            exit 1
    fi
    
    
    case "$2" in
            dlfhq)
                    stream=https://st01.sslstream.dlf.de/dlf/01/high/opus/stream.opus
                    oopts=""
                    ;;
            dlf)
                    stream=https://st01.sslstream.dlf.de/dlf/01/low/opus/stream.opus
                    oopts="-ac 1 -ar 22500"
                    ;;
            dradio)
                    stream=`curl -s http://www.deutschlandradio.de/streaming/dkultur_lq_ogg.m3u | head`
                    ;;
            *)
                    stream="$2"
                    ;;
    esac
    
    ffmpeg -y -nostdin -loglevel error -i "$stream"  $oopts -start_at_zero -to $1  -c:a libvorbis "$3"
    

    (wahrscheinlich ist die dradio-Regel kaputt, aber das ist sicher leicht repariert). Das lege ich an eine passende Stelle, und cron sorgt für den Rest. Die crontab-Zeile, die mir schon viele Mitternachtskrimis und eben auch die Perle von oben mitgeschnitten hat, sieht so aus:

    05 00 * * sat /path/to/oggsnarf 1:00:00 dlf ~/media/incoming/mitternachtskrimi`date +\%Y\%m\%d`.ogg
    

    Nachtrag (2021-11-01)

    Nach ein paar Monaten fällt mir auf, dass nur ganz kurz nach diesem Post und meiner zustimmenden Erwähnung der Mitternachtskrimis (die allerdings schon damals zu „blue crime“ geworden waren) der Deutschlandfunk den seit mindestens meiner späten Kindheit den Krimis gehörenden Programmplatz am Samstag um 0:05 auf aktuelle Kulturberichterstattung („Fazit“) umgewidmet hat. Die Crontab-Zeile hat also nicht mehr viel Wert (und ist längst aus meiner crontab verschwunden). Ich glaube, die Idee der ProgrammplanerInnen wird gewesen sein, den Krimi Hörspiel-Podcast als Ersatz anzubieten.

  • Zu vollgefressen zum Abheben

    Ein Eichhörnchen turnt durch Zweige

    Keine Zikaden in Weinheim: das Eichhörnchen im dortigen Arboretum konnte noch munter turnen.

    Wieder mal eine Tier-Geschichte aus Forschung aktuell am Deutschlandfunk: In der Sendung vom 25.5. gab es ein Interview mit Zoe Getman-Pickering, die derzeit eine Massenvermehrung von Zikaden an der US-Ostküste beobachtet. Im Gegensatz zu so mancher Heuschreckenplage kam die nicht unerwartet, denn ziemlich verlässlich alle 17 Jahre schlüpfen erstaunliche Mengen dieser Insekten und verwandeln das Land in ein

    All-You-Can-Eat-Buffet. Es gibt schon Berichte von Eichhörnchen und Vögeln, die so fett sind, dass sie nicht mehr richtig laufen können. Die sitzen dann einfach nur herum und fressen eine Zikade nach der anderen.

    Es war dieses Bild von pandaähnlich herumhockenden Eichhörnchen, die Zikaden in sich reinstopfen eine einE Couch Potato Kartoffelchips, das meine Fantasie angeregt hat.

    Gut: Gereizt hat mich auch die Frage, wo auf der Fiesheitssakala ich eigentlich einen intervenierenden Teil der Untersuchung ansiedeln würde, der im Inverview angesprochen wird: Um

    herauszufinden [ob die Vögel noch Raupen fressen, wenn sie Zikaden in beliebigen Mengen haben können], haben wir auch künstliche Raupen aus einem weichen Kunststoff. Die setzen wir auf die Bäume. Und wenn sich dann Vögel für die künstlichen Raupen interessieren, dann picken sie danach

    und sind bestimmt sehr enttäuscht, wenn sie statt saftiger Raupen nur ekliges Plastik schmecken. Na ja: verglichen mit den abstürzenden Fledermäuse von neulich ist das sicher nochmal eine Stufe harmloser. Balsam für die Ethikkommission, denke ich. Das Ergebnis übrigens: Ja, die Zikadenschwemme könnte durchaus eine Raupenplage nach sich ziehen.

    Die Geschichte hat ein Zuckerl für Mathe-Nerds, denn es ist ja erstmal etwas seltsam, dass sich die Zikaden ausgerechnet alle 17 Jahre verabreden zu ihren Reproduktionsorgien. Warum 17? Bis zu diesem Interview war ich überzeugt, es sei in ÖkologInnenkreisen Konsens, das sei, um synchronen Massenvermehrungen von Fressfeinden auszuweichen, doch Getman-Pickering hat mich da eines Besseren belehrt:

    Aber es gibt auch Theorien, nach denen es nichts mit den Fressfeinden zu tun hat. Sondern eher mit anderen Zikaden. Der Vorteil wäre dann, dass die Primzahlen verhindern, dass unterschiedliche Zikaden zur gleichen Zeit auftreten, was dann schlecht für die Zikaden sein könnte. Und dann gibt es auch noch einige Leute, die es einfach nur für einen Zufall halten.

    Das mit dem Zufall fände ich überzeugend, wenn bei entsprechenden Zyklen in nennenswerter Zahl auch nichtprime Perioden vorkämen. Und das mag durchaus sein. Zum Maikäfer zum Beispiel schreibt die Wikipedia: „Maikäfer haben eine Zykluszeit von drei bis fünf, meist vier Jahren.“

    Aua. Vier Jahre würden mir eine beliebig schlechte Zykluszeit erscheinen, denn da würde ich rein instinktiv Resonanzen mit allem und jedem erwarten. Beim Versuch, diesen Instinkt zu quantifizien, bin ich auf etwas gestoßen, das, würde ich noch Programmierkurse geben, meine Studis als Übungsaufgabe abbekommen würden.

    Die Fragestellung ist ganz grob: Wenn alle n Jahre besonders viele Fressfeinde auftreten und alle m Jahre besonders viele Beutetiere, wie oft werden sich die Massenauftreten überschneiden und so den (vermutlichen) Zweck der Zyklen, dem Ausweichen massenhafter Fressfeinde, zunichte machen? Ein gutes Maß dafür ist: Haben die beiden Zyklen gemeinsame Teiler? Wenn ja, gibt es in relativ kurzen Intervallen Jahre, in denen sich sowohl Fressfeinde als auch Beutetiere massenhaft vermehren. Haben, sagen wir, die Eichhörnchen alle 10 Jahre und die Zikaden alle 15 Jahre Massenvermehrungen, würden die Eichhärnchen alle drei Massenvermehrungen einen gut gedeckten Tisch und die Zikaden jedes zweite Mal mit großen Eichhörnchenmengen zu kämpfen haben.

    Formaler ist das Problem also: berechne für jede Zahl von 2 bis N die Zahl der Zahlen aus dieser Menge, mit denen sie gemeinsame Teiler hat. Das Ergebnis:

    Balkendiagramm: Gemeinsame Teiler für 2 bis 20

    Mithin: wenn ihr Zikaden seid, verabredet euch besser nicht alle sechs, zwölf oder achtzehn Jahre. Die vier Jahre der Maikäfer hingegen sind nicht so viel schlechter als drei oder fünf Jahre wie mir mein Instinkt suggeriert hat.

    Ob die Verteilung von Zyklen von Massenvermehrungen wohl irgendeine Ähnlichkeit mit dieser Grafik hat? Das hat bestimmt schon mal wer geprüft – wenn es so wäre, wäre zumindest die These vom reinen Zufall in Schwierigkeiten.

    Den Kern des Programms, das das ausrechnet, finde ich ganz hübsch:

    def get_divisors(n):
      return {d for d in range(2, n//2+1) if not n%d} | {n}
    
    
    def get_n_resonances(max_period):
      candidates = list(range(2, max_period+1))
      divisors = dict((n, get_divisors(n)) for n in candidates)
    
      return candidates, [
          sum(1 for others in divisors.values()
            if divisors[period] & others)
        for period in candidates]
    

    get_divisors ist dabei eine set comprehension, eine relativ neue Einrichtung von Python entlang der altbekannten list comprehension: „Berechne die Menge aller Zahlen zwischen 2 und N/2, die N ohne Rest teilen – und vereinige das dann mit der Menge, in der nur N ist, denn N teilt N trivial. Die eins als Teiler lasse ich hier raus, denn die steht ohnehin in jeder solchen Menge, weshalb sie die Balken in der Grafik oben nur um jeweils eins nach oben drücken würde – und sie würde, weit schlimmer, die elegante Bedingung divisors[period] & others weiter unten kaputt machen. Wie es ist, gefällt mir sehr gut, wie direkt sich die mathematische Formulierung hier in Code abbildet.

    Die zweite Funktion, get_n_resonances (vielleicht nicht der beste Name; sich hier einen besseren auszudenken wäre auch eine wertvolle Übungsaufgabe) berechnet zunächt eine Abbildung (divisors) der Zahlen von 2 bis N (candidates) zu den Mengen der Teiler, und dann für jeden Kandidaten die Zahl dieser Mengen, die gemeinsame Elemente mit der eigenen Teilermenge haben. Das macht eine vielleicht etwas dicht geratene generator expression. Generator expressions funktionieren auch wie list comprehensions, nur, dass nicht wirklich eine Liste erzeugt wird, sondern ein Iterator. Hier spuckt der Iterator Einsen aus, wenn die berechneten Teilermengen (divisors.values()) gemeinsame Elemente haben mit den Teilern der gerade betrachteten Menge (divisors[period]). Die Summe dieser Einsen ist gerade die gesuchte Zahl der Zahlen mit gemeinsamen Teilern.

    Obfuscated? Ich finde nicht.

    Das Ergebnis ist übrigens ökologisch bemerkenswert, weil kleine Primzahlen (3, 5 und 7) „schlechter“ sind als größere (11, 13 und 17). Das liegt daran, dass bei einem, sagen wir, dreijährigen Zyklus dann eben doch Resonanzen auftauchen, nämlich mit Fressfeindzyklen, die Vielfache von drei sind. Dass 11 hier so gut aussieht, folgt natürlich nur aus meiner Wahl von 20 Jahren als längsten vertretbaren Zyklus. Ganz künstlich ist diese Wahl allerdings nicht, denn ich würde erwarten, dass allzu lange Zyklen evolutionär auch wieder ungünstig sind, einerseits, weil dann Anpassungen auf sich ändernde Umweltbedingungen zu langsam stattfinden, andererseits, weil so lange Entwicklungszeiten rein biologisch schwierig zu realisieren sein könnten.

    Für richtig langlebige Organismen – Bäume zum Beispiel – könnte diese Überlegung durchaus anders ausgehen. Und das mag eine Spur sein im Hinblick auf die längeren Zyklen im Maikäfer-Artikel der Wikipedia:

    Diesem Zyklus ist ein über 30- bis 45-jähriger Rhythmus überlagert. Die Gründe hierfür sind nicht im Detail bekannt.

    Nur: 30 und 45 sehen aus der Resonanz-Betrachtung jetzt so richtig schlecht aus…

  • Tintenfische und der Erfolg im Leben

    Ein Oktopus im Porträt

    Gut: Es ist keine Sepie. Aber dieser Oktopus ist bestimmt noch viel schlauer.

    Mal wieder gab es in Forschung aktuell ein Verhaltensexperiment, das mich interessiert hat. Anders als neulich mit den Weißbüschelaffen sind dieses Mal glücklicherweise keine Primaten im Spiel, sondern Tintenfische, genauer Sepien – die mir aber auch nahegehen, schon, weil das „leerer Tab“-Bild in meinem Browser eine ausgesprochen putzige Sepie ist. Den Beitrag, der mich drauf gebraucht hat, gibt es nur als Audio (1:48 bis 2:28; Fluch auf die Zeitungsverleger), aber dafür ist die Original-Publikation von Alexandra Schnell et al (DOI 10.1098/rspb.2020.3161) offen.

    Grober Hintergrund ist der Marshmallow-Test. Bemerkenswerterweise zitiert der Wikipedia-Artikel bereits die Sepien-Publikation, nicht jedoch kritischere Studien wie etwa die auf den ersten Blick ganz gut gemachte von Watts et al (2018) (DOI: 10.1177/0956797618761661). Schon dessen Abstract nimmt etwas die Luft aus dem reaktionären Narrativ der undisziplinierten Unterschichten, die selbst an ihrem Elend Schuld sind:

    an additional minute waited at age 4 predicted a gain of approximately one tenth of a standard deviation in achievement at age 15. But this bivariate correlation was only half the size of those reported in the original studies and was reduced by two thirds in the presence of controls for family background, early cognitive ability, and the home environment. Most of the variation in adolescent achievement came from being able to wait at least 20 s. Associations between delay time and measures of behavioral outcomes at age 15 were much smaller and rarely statistically significant.

    Aber klar: „achievement“ in Zahlen fassen, aus denen mensch eine Standardabweichung ableiten kann, ist für Metrikskeptiker wie mich auch dann haarig, wenn mich die Ergebnisse nicht überraschen. Insofern würde ich die Watts-Studie jetzt auch nicht überwerten. Dennoch fühle ich mich angesichts der anderen, wahrscheinlich eher noch schwächeren, zitierten Quellen eigentlich schon aufgerufen, die Wikipedia an dieser Stelle etwas zu verbessern.

    Egal, die Tintenfische: Alexandra Schnell hat mit ein paar Kolleg_innen in Cambridge also festgestellt, dass Tintenfische bis zu zwei Minuten eine Beute ignorieren können, wenn sie damit rechnen, später etwas zu kriegen, das sie lieber haben – und wie üblich bei der Sorte Experimente ist der interessanteste Teil, wie sie es angestellt haben, die Tiere zu irgendeinem Handeln in ihrem Sinn zu bewegen.

    Süß ist erstmal, dass ihre ProbandInnen sechs Tintenfisch-Jugendliche im Alter von neun Monaten waren. Die haben sie vor einen Mechanismus (ebenfalls süß: Die Autor_innen finden den Umstand, dass sie den 3D-gedruckt haben, erwähnenswert genug für ihr Paper) mit zwei durchsichtigen Türen gesetzt, hinter denen die Sepien jeweils ihre Lieblingsspeise und eine Nicht-so-Lieblingsspeise (in beiden Fällen irgendwelche ziemlich ekligen Krebstiere) sehen konnten. Durch irgendwelche Sepien-erkennbaren Symbole wussten die Tiere, wie lange sie würden warten müssen, bis sie zur Leibspeise kommen würden, zum langweiligen Essen konnten sie gleich, und sie wussten auch, dass sie nur einen von beiden Ködern würden essen können; dazu gabs ein recht durchdachtes Trainingsprotokoll.

    Na ja, in Wirklichkeit wars schon etwas komplizierter mit dem Training, und ahnt mensch schon, dass nicht immer alles optimal lief:

    Preliminary trials in the control condition showed that Asian shore crabs were not a sufficiently tempting immediate reward as latencies to approach the crab, which was baited in the immediate-release chamber, were excessive (greater than 3 min) and some subjects refused to eat the crab altogether.

    Ich kann mir richtig vorstellen, wie die Gruppe vor dem Aquarium stand und fluchte, weil die doofen Viecher ihre Köder nicht schlucken wollten: „Wie zum Henker schreiben wir das nachher ins Paper?“ – um so mehr, als alle Sepien konsequent die gleichen Präferenzen hatten (was ich ja auch schon für ein bemerkenswertes Resultat halte, das bei n=6 und drei Auswahlmöglichkeiten kaum durch Zufall zu erklären ist – vielleicht aber natürlich durch das, was die Sepien sonst so essen).

    Und dann wieder Dinge in der Abteilung „was alles schiefgehen kann, wenn mensch mit Tieren arbeitet“:

    Subjects received one session of 6 trials per day at a specific delay. This number of trials was chosen to minimize satiety and its effects on eating behaviour.

    Schon die Abbildung 2 des Artikels finde ich wirklich erstaunlich: Alle Sepien bekommen es hin, 30 Sekunden auf ihre Lieblingsspeise zu warten – wow. Ok, kann natürlich sein, dass sie so lange brauchen, um sich zu orientieren, aber Schnell und Co scheinen mir schon viel getan zu haben, um das unwahrscheinlich zu machen.

    Was jedenfalls rauskommen sollte, war eine Korrelation der Wartezeit mit, na ja, der „Intelligenz“ (ich halte mich raus bei der genaueren Bestimmung, was das wohl sei), und um die zu messen, mussten die Sepien in ihren Aquarien zunächst lernen, das „richtige“ unter einem dunklen und einem hellen Stück Plastik aussuchen. Anschließend, das war der Intelligenztest, mussten sie mitbekommen, wenn die Versuchsleitung die Definition von „richtig“ verändert hat. Dazu haben sie laut Artikel im Mittel 46 Versuche gebraucht – gegenüber 27 Versuchen beim ersten Lernen. Nicht selbstverständlich auch: Sepien, die beim ersten Lernen schneller waren, waren auch schneller beim Begreifen der Regeländerung. Da ist Abbildung 3 schon ziemlich eindrücklich: einer der Tintenfische hat das Umkehrlernen in gut 20 Schritten bewältigt, ein anderer hat fast 70 Schritte gebraucht. Uiuiui – entweder haben die ziemlich schwankende Tagesform, oder die Gerissenheit von Sepien variiert ganz dramatisch zwischen Individuen.

    Die erwartete Korrelation kam selbstverständlich auch raus (Abbildung 4), und zwar in einer Klarheit, die mich schon etwas erschreckt angesichts der vielen Dinge, die beim Arbeiten mit Tieren schief gehen können; der Bayes-Faktor, den sie im Absatz drüber angeben („es ist 8.83-mal wahrscheinlicher, dass Intelligenz und Wartenkönnen korreliert sind als das Gegenteil“) ist bei diesem Bild ganz offensichtlich nur wegen der kleinen Zahl der ProbandInnen nicht gigantisch groß. Hm.

    Schön fand ich noch eine eher anekdotische Beobachtung:

    [Andere Tiere] have been shown to employ behavioural strategies such as looking away, closing their eyes or distracting themselves with other objects while waiting for a better reward. Interestingly, in our study, cuttlefish were observed turning their body away from the immediately available prey item, as if to distract themselves when they needed to delay immediate gratification.

    Ich bin vielleicht nach der Lektüre des Artikels nicht viel überzeugter von den verschiedenen Erzählungen rund um den Marshmallow-Test.

    Aber ich will auch mit Sepien spielen dürfen.

  • Wundern über Schurken

    Vor einer guten Woche habe ich inspiriert von dem, was inzwischen „Masken-Affäre“ heißt[1] gezeigt, wie eine ganz einfache Theorie sehr natürlich erklärt, warum die mittlere Schurkigkeit mit der Hierarchiestufe recht rapide steigt. Für mich eher unerwartet ist diese Masken-Affäre übers Wochenende richtig explodiert, bis hin zum puren Rock'n'Roll, dass Abgeordnete – und dann noch welche von CDU und CSU – wegen Selbstbedienung aus der Fraktion fliegen.

    Noch verdrehter fand ich allerdings heute morgen die Presseschau im Deutschlandfunk:

    • „untergräbt in schwerer Zeit das Vertrauen in die politisch Verantwortlichen” (Südkurier),
    • „trifft das pandemiemüde Land wie ein Donnerschlag” (Neue Osnabrücker Zeitung),
    • „kein kleiner Fehltritt“ (Badische Neueste Nachrichten),
    • „eine moralische Bankrotterklärung“ (Rheinische Post).

    Dieser Chor von Überraschung und Empörung ist deshalb zumindest bizarr, weil alle diese Medien normalerweise feiern, wenn sich „Fleiß und Einfallsreichtum aufs private Fortkommen richten“, wie die Hessische Niedersächsische Allgemeine zum gleichen Thema so schön formuliert – und sich mit dieser zutreffenden Beschreibung des Verhaltens von Nüßlein und Löbel zumindest mal den Preis für den am wenigsten verdrehten Kommentar an diesem Morgen verdient hat.

    Tatsächlich ist Vertreter_innen entsprechender Ideen zumeist mit etwas Mühe die Konzession abzuringen, natürlich sei eine Wirtschaft zu bevorzugen, die in einem gesellschaftlichen Prozess plant, welcher Kram produziert werden soll und wie das mit möglichst wenig Belastung für Mensch („Arbeit“) und Natur hinzukriegen sei. Aber, so ist dann das finale und kaum widerlegbare Argument, das sei nicht zu machen, weil der Mensch schlecht sei und egoistisch und drum, wenn die Wirtschaft nicht auf die Bedürfnisse von ehrgeizigen Schurken ausgerichtet sind, der Hungertod droht.

    Demgegenüber wandele ein moderat regulierter Kapitalismus die Niederträchtigkeit der Einzelnen in den größtmöglichen Nutzen des Staates und in der Folge der Gesellschaft – was unter der Bedingung, dass die Leute, von Mutter Theresa mal abgesehen, durchweg Gesindel sind, oberflächlich plausibel klingt[2].

    Und nun sind genau die Leute, die bei jeder Gelegenheit die Alternativlosigkeit von Markt und Wettbewerb für die Volkswirtschaft aus der Schurkigkeit des Menschen an sich ableiten, empört, weil ihre Vertreter_innen, und zumal die mit dem eklatantesten der-Mensch-ist-schlecht-Programm, bescheißen, so gut sie können. Hm.

    Es war schon lange meine Vermutung, dass die Fähigkeit, rechtzeitig mit den Ableitungen aus den eigenen Ideen aufzuhören, ganz entscheidend ist für die Erhaltung einer, nun ja, konservativen Gesinnung.

    [1]Montag 19:45 gibt es erstaunlicherweise noch keine Wikipedia-Seite „Masken-Affäre“, aber der Relevanzkriterien-Widerstand in der Sache dürfte innerhalb von Stunden bröckeln.
    [2]Jedenfalls solange, bis mensch sich klar macht, dass wir derzeit Jahr um Jahr fossile Kohlenwasserstoffe verbrauchen, die sich innerhalb von einigen 100000 Jahren gebildet haben (sprich: wir durch diese Ressourcen gehen, als hätten wir einige 105 Erden) und trotzdem noch Jahr um Jahr Milliionen von Menschen an Armut sterben.
  • Solidarität ist... charmant

    Ein Weißbüschelaffe

    Sucht nach netten Genoss_innen: ein Weißbüschelaffe – Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

    An sich halte ich ja Soziobiologie für irgendwas zwischen Mumpitz und reaktionärer Zumutung, jedenfalls soweit sie verstanden wird als Versuch, menschliches Verhalten oder gar gesellschaftliche Verhältnisse durch biologische Befunde (oder das, was die jeweiligen Autor_innen dafür halten) zu erklären und in der Folge zu rechtfertigen.

    Hier ist aber eine Geschichte (DOI 10.1126/sciadv.abc8790), die so putzig ist, dass ich mir in der Beziehung etwas mehr Toleranz von mir wünschen würde. Und zwar hat eine Gruppe von Anthropolog_innen um Rahel Brügger aus Zürich das Kommunikationsverhalten von Weißbüschelaffen untersucht (Disclaimer: Nee, ich finde eigentlich nicht, dass mensch Affen in Gefangenschaft halten darf, aber in diesem Fall scheint zumindest das expermimentelle Protokoll halbwegs vertretbar).

    Dabei haben sie zunächst zwei Dialoge zwischen (den Proband_innen unbekannten) Affen aufgenommen: Ein Affenkind hat einen erwachsenen Affen um Futter angebettelt. Im einen Fall hat der erwachsene Affe abgelehnt, im anderen Fall wohl etwas wie „schon recht“ gemurmelt.

    Dann haben sie die Aufnahmen anderen Affen vorgespielt und haben dann geschaut, ob diese lieber weggehen oder lieber nachsehen, wer da geplaudert hat. Und siehe da: Die Tiere wollten viel lieber die netten Affen sehen als die doofen. Bei den netten Affen haben nach gut 10 Sekunden schon die Hälfte der Proband_innen nachgesehen, wer das wohl war, bei den doofen war das mehr so 30 Sekunden. Und bis zum Ende der jeweiligen Versuche nach zwei Minuten wollten immerhin ein Viertel der Proband_innen nichts von den doofen Affen sehen, aben nur ein Zehntel nichts von den netten.

    Moral: Seid nett, und die Leute mögen euch.

    Ja, ok, kann sein, dass die Äffchen nur gehofft haben, dass sie auch Essen kriegen, wenn schon das Kind was bekommen hat. Pfft. Ich sag ja, Soziobiologie stinkt.

    Nachbemerkung 1: Ich habe das auch nicht gleich in Science Advances gefunden (da gäbs andere Journals, die ich im Auge haben sollte), sondern in den Meldungen vom 4.2. des sehr empfehlenswerten Forschung aktuell im Deutschlandfunk.

    Nachbemerkung 2: Ich weiß, Literatur soll mensch nicht erklären, aber die Überschrift ist natürlich ein Einwand gegen einen der Wahlsprüche der Roten Hilfe: „Solidarität ist eine Waffe“. So klasse ich die Rote Hilfe finde, der entschlossene Pazifist in mir hat die Parole nie so recht gemocht. Mensch will ja eigentlich weniger Waffen haben, aber ganz bestimmt mehr Solidarität.

  • Brahms war ein Schurke

    Im Kalenderblatt zum 18.1.2021 heißt es (möglicherweise in erster Linie zur Rechtfertigung eines Musikteppichs): »Johannes Brahms komponierte nach den Siegen preußisch-deutscher Truppen über das französische Heer im Jahr 1870 das „Triumphlied“ opus 55.«

    Mag sein, dass ich mich als Banause oute, weil mir das neu war, aber für mich war das die zentrale Nachricht des Beitrags: Brahms hat sich in Kriegsverherrlichung betätigt, in chauvinistischem Tschingdarassabumm. Will mensch Musik von so einem Schuft eigentlich noch hören?

    Und damit gehts direkt zur Frage der Relation zwischen Werk und Schöpfer_in, die ja letztlich hinter den sinnvolleren Teilen der „Cancel Culture“-Debatte steht. Darf ich Dinge mögen, obwohl sie von Leuten gemacht wurden, deren Handlungen jetzt mal wirklich unakzeptabel sind?

    Da hängt leider viel dran. Während mir Brahms' Schmachtfetzen vielleicht nicht so fehlen würden, wäre es für mich um die Gedanken von John Searle schon sehr schade (auch wenn ich sie zu guten Stücken für... unrichtig halte); allein der Chinese Room stellt ganz viele richtige Fragen, und seine beißende Kritik des Dualismus ist zumindest mal gut geschrieben.

    Nun: Searle hat offenbar recht routinemäßig zumindest im Graubereich der Vergewaltigung gehandelt, um das mal maximal freundlich für Searle zu formulieren.

    Kann ich mich jetzt nicht mehr am Chinese Room reiben? Ich würde sehr hoffen, dass die Abwägungen, die dahin führen, nicht zwingend sind. Umgekehrt gehts nun auch nicht, dass „wir“ (oder „die Gesellschaft“) einfach achselzuckend drüber hinweggehen, im üblichen „große Männer haben halt auch ihre Schwächen“-Duktus, schon, weil Militarismus, Chauvinismus und Vergewaltigung durch regelmäßige gesellschaftliche Ächtung tatsächlich bekämpft werden können, wie trotz aller Barbarei der Gegenwart der Vergleich zwischen heute und Brahms' Zeiten klar zeigt.

    Ich fürchte, das ist ein wenig wie oft in Fragen der Ethik: es gibt nichts, das immer „richtig“ wäre, und mensch muss in jedem Einzelfall wieder rauskriegen, wie weit Werk und Schöpfer_in zusammengehen (ich sag mal Leni Riefenstahl) oder halt nicht. Klingt nach Mesoteslehre. Und wer klingt wie Aristoteles hat ja meistens Unrecht... Ach Mist.

  • Das letzte Bild

    Pale Blue Dot, hochgezoomt

    Das Pale Blue Dot-Bild, mit Gimps Lens Distortion ordentlich verhackstückt, damit es auch wirklich blassblau wird.

    In meinem asynchronen Radio habe ich heute Voyager 3 gehört, ein Feature über... na ja, alles mögliche, insbesondere aber die kulturellen Implikationen der Golden Records an Bord der Voyagers. Streckenweise wars großartig; manchmal sind diese freistil-Features ja offensiv langweilig, aber dann lassen mich solche Highlights doch immer an meiner (na ja, der meines Computers) Mitschneideroutine am Sonntagabend festhalten.

    In dieser Sendung gab es erstmal ein paar Genau-mein-Humor-Witze zu den Platten, etwa:

    Warum ist da nicht mehr Bach drauf? – Wir wollten nicht so angeben.

    Gefakte Durchsage der (vielleicht der NASA): Es ist nicht viel, aber es ist die erste Nachricht einer fremden Zivilisation. Vier Worte: Send more Chuck Berry.

    Natürlich sind die Golden Records selbst schon zutiefst anrührend und romatisch. Aber dann kam gegen Ende der Sendung noch etwas, das ich, nennt mich einen irren Nerd, besonders anrührend fand. Sie haben nämlich die Geschichte vom Pale Blue Dot (PBD) erzählt, nach dem Voyager 1, bevor die Kamera endgültig abgeschaltet wurde, umgedreht wurde und aus gut 40 Astronmischen Einheiten Entfernung die Erde portraitiert hat.

    Diese Geschichte kannte ich als Carl-Sagan-Fan natürlich schon, aber in dieser Darstellung klang es so, als sei der PBD das letzte Bild der Kamera gewesen, und dabei kam mir der ergreifende Gedanke: oh wow, da haben sie das Bild der Erde sozusagen in die Netzhaut der sterbenden Kamera (ihr Band) eingebrannt, und wenn dann dermaleinst Aliens die Sonde bergen, würden sie das eben diese Erinnerung an die Ursprungswelt dort noch finden.

    Leider ist das natürlich alles Quatsch. Erstens war das PBD-Bild gar nicht das letzte, das die Kamera geschossen hat, schon, weil die Kamera (wie eigentlich immer noch alle wissenschaftlichen Kameras in der Astronomie) monochrom war und es drum schon mal drei Aufnahmen gewesen wäre, aber auch, weil Voyager als Teil der Rückschau einen ganzen Haufen anderer Aufnahmen machte und so zuletzt vielleicht die Sonne oder Neptun angeschaut hat, aber nicht die Erde.

    Aber selbst wenn die Erd-Bilder die letzten gewesen wären, wären sie wahrscheinlich nicht auf dem Bandlaufwerk geblieben, denn die Voyagers nehmen ja immer noch Daten, und ich habe bis eben angenommen, dass die immer noch auf dem Bandlaufwerk zwischengespeichert werden. Allerdings berichtet hackaday, dass zumindest Voyager 1 inzwischen offenbar kein übers RAM funktioniert (beeindruckend, denn alle drei Rechner an Bord kommen zusammen gerade so über 64kB).

    Leider würde es auch nichts helfen, wenn es das PBD-Bild irgendwie geschafft hätte, trotz der weiteren Aktivitäen von Voyager 1 auf dem Band zu bleiben: Selbst bei den tiefen Temperaturen dort draußen wird die Magnetisierung des Bandes allein schon wegen der kosmischen Strahlung bald verschwunden sein. Die Aliens werden eben leider doch nicht die Erde als letztes Bild der sterbenden Kamera verewigt sehen. Schade.

    Ach übrigens: Voyager 1 steht übrigens gerade im Schlangenträger. Ganz einsam. Was auch eine gewisse Romantik hat, denn im Schlangenträger steht auch der einsamste Stern am Himmel.

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