In Forschung aktuell vom 16. Februar war in den Wissenschaftsmeldungen Folgendes zu hören:
Die Forschenden statteten 100 Fahrräder mit Ortungssensoren aus und stellten sie abgeschlossen an öffentlichen Plätzen innerhalb der Stadt ab. Innerhalb eines Jahres wurden 70 der Räder gestohlen. 68 davon konnten anschließend in Amsterdam geortet werden, knapp ein Drittel davon in der Nähe von Second Hand-Läden oder Fahrradschwarzmärkten.
Allein das Wort „Fahrradschwarzmärkte“ hat mich eifrig im Geiste von Graham Greene fantasieren lassen, zumal ich inzwischen der traurigen Thematik Fahrraddiebstahl etwas abgeklärter gegenüberstehe als einstmals: Mein letzter Fahrradverlust durch Diebstahl liegt über 20 Jahre zurück (der hat allerdings wirklich weh getan: an dem Rad war ein Schlumpf Mountain Drive dran). Da ich zudem mit Abschließen nicht mehr allzu sorgfältig bin, hatte ich das Problem Fahrraddiebstahl schon fast für eine Sache der Vergangenheit gehalten.
Aber erstens dürfte dieser Eindruck nur auf einen durch meine täglichen Wege bedingten Selektionseffekt zurückgehen, und zweitens verdient jede Fahrradforschung Aufmerksamkeit. Drittens, nun ja, hätte ich den 1990ern, als mir Räder fast schneller geklaut wurden als ich sie nachbasteln konnte, in dieser Frage beinahe autoritären Versuchungen („Todesstrafe für Fahrraddiebe“) nachgegeben.
Forschung der Stadt Amsterdam
Also: Ich musste die Arbeit hinter der DLF-Meldung lesen. Es handelt sich um „Tracking stolen bikes in Amsterdam“ von Titus Venverloo, Fábio Duarte und Kollegen vom MIT[1] und der Uni Delft, doi:10.1371/journal.pone.0279906, erschienen in PLoS ONE am 15. Februar. Mein erster Wow-Moment war die Finanzierung des zugrundeliegenden Forschungsprojekts: Das Geld kam nämlich insbesondere von der Stadt Amsterdam.
Wer nun allerdings meint, in den Niederlanden wären die Autoritäten generell mehr interessiert an der Wiederbeschaffung geliebter Fahrräder, dürfte sich täuschen:
One of the major hurdles to tackling bike theft is that it is typically seen as a low police priority, and that it is not addressed systematically,
schreiben Vernverloo et al, was sich mit den Erfahrungen deckt, die ich mit der Heidelberger Polizei gemacht habe, als ich Mitte der 90er wie bereits gebeichtet weich geworden war im Hinblick auf autoritäre Versuchungen und die Staatsgewalt in einem Fall um Hilfe bei der Wiederbeschaffung eines gestohlenen Fahrrads bat. Nicht nur ich habe das schnell wieder aufgegeben. Im Paper heißt es:
The municipality [Amsterdam] considers that 40% of the victims of bike theft report it, while Kuppens et al [nicht online] found that in 2012, only 17.1% of the people in the Netherlands reported bike theft, decreasing to 14.2% in 2019.
Dabei sind die Fahrradbeklauten nicht nur eine kleine, radikale Minderheit, die als solche die Polizei abgeschrieben hat:
The regional safety monitor of Amsterdam even indicates that in 2019 the number of residents who experienced bike theft was 18%,
Nochmal Wow. An sich ist es ja erfreulich, wenn Menschen in großer Zahl autoritären Versuchungen entsagen. Andererseits rangiert Fahrraddiebstahl in meiner privaten Rangliste verabscheuungswürdiger Verhaltensweisen nur knapp hinter Waffenhandel, und ich werde besonders empfänglich für wenig freundliche Methoden zum Management sozialer Probleme, wenn meine Verlustschmerzen[2] schnöde Geldgründe haben:
As such the stolen bike market of an estimated 600 million euros in the Netherlands alone remains a very large, somewhat neglected problem.
Allein das schlägt schon vor, dass ein nicht-autoritärer Zugang zum Problem über ein ordentliches Grundeinkommen (oder besser: eine gesellschaftliche Grundversorgung) führen dürfte.
Die Köderräder: 30% Gazelle und Batavus
Nach diesen allgemeinen Betrachtungen gehen Venverloo et al ans Eingemachte und beschreiben das eigentliche Experiment: Sie haben tatsächlich 100 glaubhafte Räder – etwa 30% machen allein die berüchtigten Schinder von Gazelle und Batavus aus, nennenswert viele davon ernsthaft runtergekommen – aufgetan und mit in Reflektoren oder Sätteln eingebauten GPS-Trackern ausgestattet. Die Teile tracken so ein Rad tatsächlich für was wie drei Jahre, mit nur einer Batterie. Ich sehe schon, ich muss ein wenig aufpassen, was da so alles an mein Rad geschraubt wird…
Kein so gutes Gefühl habe ich beim KI-Teil der Arbeit. Und zwar gar nicht mal so sehr wegen der KI – die nutzen sie, um automatisch Fahrräder in Straßenszenen zu zählen, was schon in Ordnung geht, wenn mensch diese Zahl haben will –, sondern, weil sie dann mit den Zahlen nichts nachvollziehbar Vernünftiges machen. Die Autoren korrelieren nämlich Dichte der Fahrräder einfach linear mit der Zahl der Fahrraddiebstähle, und das ist in mehrfacher Hinsicht nicht hilfreich.
„Können wir was mit KI einbauen?”
Erstens müssten es schon die Fahrraddiebstähle pro EinwohnerIn oder meinethalben Quadratmeter sein. Vor allem aber ist erstmal klar, dass bei gleichbleibender Diebstahlrate (also: gestohlene Fahrräder pro rumstehende Fahrräder) auch mehr Räder gestohlen werden, wo mehr Räder stehen. Insofern wäre die lineare Korrelation, die sie da fitten, die vernünftige Nullhypothese, für die ich wirklich keinen Aufwand gemacht hätte (und schon gar keine „KI“ angeworfen) – wenn sie denn die Diebstahldichte genommen hätten.
Interessant wären vielleicht für die Fahrraddichte kontrolliert auffällig große oder kleine Diebstahlraten. Das, was das Paper tatsächlich mit den Fahrradzählungen macht, hinterlässt ein wenig den Eindruck, dass sie halt was mit KI einbauen wollten – entweder aus Modegründen oder, um den Kofinanzierenden vom Senseable City Lab des MIT eine Motivation anzubieten – und die Daten dann entweder nichts hergegeben haben (obwohl: Optisch würde ich vermuten, dass die Anpassung einer Wurzelfunktion vielversprechend wäre) oder, dass die Zahlen, als sie mal da waren, niemand mehr interessiert haben.
Erwarten würde ich zumindest eine starke Korrelation zwischen Bevölkerungsdichte und Diebstahlrate, denn fast überall wohnen arme Leute dichter als reiche, und Armut ist fast sicher stark korreliert mit der Fahrraddiebstahl-Sorte von Kriminalität. Aber letztlich gehts bei Venverloo et al ja eher nicht um die Soziologie des Fahrradklaus; die Zahlen interessieren sie vor allem, weil sie wissen wollen, wo sie ihre Fahrräder hinstellen sollten, wenn sie möchten, dass diese geklaut werden. Das haben sie recht gut hinbekommen, denn wie beim DLF schon gesagt, haben 70% ihrer Räder eineN DiebIn gefunden.
Geklaute Räder fliegen nicht in die Amstel
Viele haben auch wieder einE neueN NutzerIn gefunden, ein Ergebnis, das ich so überhaupt nicht erwartet hätte. Meine Schätzung wäre gewesen, dass mindestens die Hälfte der Fahrräder einfach in irgendwelche Flüsse oder auf irgendwelche Schrotthaufen geworfen werden. Allerdings: die Räder waren alle halbwegs ordentlich abgeschlossen, so dass der übliche Klau im Suff hier nicht in Betracht kam. Anständigerweise haben Venverloo und Kollegen die GPS-Aufzeichnung gestoppt, wenn jemand erkennbar anfing, das Rad wieder normal zu nutzen – das ist für mich das stärkste Signal, dass das nette Leute sind.
Ansonsten ist das Paper ein schönes Beispiel, wie aus Verkehrsdaten Schlüsse gezogen werden können. Zum Beispiel versucht die Studie herauszufinden, wie viele der gestohlenen Räder in Fahrradläden umgeschlagen werden und bestimmt dazu
the straight-line distance from the stop locations of the 70 stolen bikes to the nearest bike store in the Netherlands. If these stop points were within 50 meters of a bike store, they were flagged for further analysis. Additionally, the time spent at these stop points was used to see how long these bikes remained parked at a bike store, omitting visits shorter than one hour as a bike store cannot assess, repair, and sell a bike in under an hour. The stolen bike routes with at least one flagged stop point were manually inspected further to investigate the movements of the bike before and after the visit to the bike stores. If these routes exhibited a commuter pattern after the potential visit to the bike store, but not before, the bike was counted as “sold at a second hand bike store”. For some stolen bikes, the tracker was permanently disabled during the potential visit to the bike store, which was also flagged as “sold at a second hand bike store”.
Das mag beim ersten Lesen kompliziert klingen, aber ich bin überzeugt, dass eine andere Gruppe das Problem ganz ähnlich lösen würde.
Ein ganz zentrales Ergebnis der Studie ist schon im DLF-Zitat oben vorweggenommen: Zumindest fürs heutige Amsterdam ist die Erzählung aus meiner Zeit als Opfer von Fahrraddiebstahl völlig unzutreffend. Damals ging das (polizeilich verstärkte) Gerücht, Jugo-Trupps aus Offenbach würden alle beweglichen Räder per Lkw einsammeln und dann in „den Osten“ verschieben. Demgegenüber sind praktisch alle gestohlenen Räder in der Studie mehr oder weniger im Viertel geblieben – wer also ein geliebtes Rad vermisst, wird wenigstens in Amsterdam guten Grund haben, die Augen offen zu halten.
Keine Läden, vielleicht „organisiert“
Das Laden-Kriterium übrigens führt nicht recht weiter – offenbar werden nur rund 5% der geklauten Fahrräder über richtige Fahrradläden umgeschlagen. Ich würde vermuten, dass der Rest im Wesentlichen über Facebook, Instagram und vielleicht noch schwarze Bretter verhökert wird, aber das ist nicht so leicht nachzuweisen. Stattdessen steht im Paper dann etwas wie:
[Analyse per Hand] revealed that 22 out of the 70 stolen bikes were linked in a subnetwork. From this, it can be concluded that around 30% of the stolen bikes seem to be stolen by organized crime or by offenders with a lot of knowledge about the overall bike theft system.
Hm. Ich werde bei „organisierter Kriminalität“ immer sehr skeptisch, zumal die Kriterien für die „linkage“ eher indirekt sind; welche Gruppe genau das ist, geht aus dem Text nicht hervor, aber es wäre beispielsweise denkbar, dass diese Gruppe durch „Fahrräder, die in guten Zustand sind und eine Gangschaltung haben, die zwischen Klau und Wiederverkauf nur wenig bewegt wurden und die zwischen zwei und vier Uhr gestohlen wurden“ definiert ist – „die Leute wissen, was sie tun“ fände ich für so einen Cluster eine mindestens ebenso treffende, aber weniger reißerische Bezeichnung als „organisierte Kriminalität“. Na ja, und wie daraus das „knapp ein Drittel Fahrradschwarzmärkte“ aus dem DLF-Zitat geworden ist: das nachzuvollziehen wäre wahrscheinlich ein interessantes kleines Projekt in Wissenschaftskommunikation.
Schließlich hätte ich als Gutachter den Autoren von Marketinggeblubber wie
The addition of cheap and easily available digital technologies enables new research into this field and can provide opportunities for municipalities to reduce crime rates.
abgeraten. Nein, gerade diese Sorte von Armutskriminalität braucht wirklich keine Technik zur Entwicklung von wirksamen Gegenmaßnahmen. Das geht ganz einfach: Armut abbauen.
Ach, und um die Beantwortung von zwei weiteren Frage hätte ich noch gebeten: Was ist eigentlich aus den 30 Rädern geworden, die niemand haben wollte? Hat da wenigstens wer Ersatzteile abgeschraubt?
[1] | Ich muss diese autobiographische Anmerkung loswerden: Das Rad mit dem Schlumpf-Getriebe, dem ich auch nach zwanzig Jahren noch hinterhertrauere, haben irgendwelche Schurken keine vier Kilometer vom MIT entfernt geklaut. Die MITlerInnen haben also eine moralische Verpflichtung, sich mit Fahrraddiebstahl auseinanderzusetzen. |
[2] | Nennt mich einen Fetischisten, aber wenn ich eins nicht nachvollziehen kann, so ist es die aus einem Paper von 2021 zitierte Haltung: “For many interviewees, bicycles were considered a semi-disposable commodity, prone to being regularly discarded, replaced, or stolen (8 interviewees reported having a bike stolen)” Empörend! Ich muss allerdings nur in den Fahrradständer vor unserer Haustür blicken, um zu erkennen, dass auch viele Menschen in meiner Nachbarschaft so denken. |