Ich lese gerade „SARS from East to West“, einen Sammelband von Artikeln
zu den Ausbrüchen von SARS-1 zwischen 2002 und 2004, den Eva-Karin
Olsson and Xue Lan 2012, also lang, bevor jemand etwas von SARS-2 ahnte,
herausgegeben haben (ISBN 978-0-7391-4755-9, gibts auch in der Imperial
Library). Es handelt sich wohl um eine Art Abschlussband eines
wissenschaftlichen Projekts irgendwo zwischen Politologie, Zivilschutz
und Militärforschung, das in einer Kooperation zwischen einigen
schwedischen Regierungsstellen und einer Handvoll, nun, regierungsnahen
Bildungseinrichtungen aus China bearbeitet wurde.
Das Ergebnis ist über weite Strecken unfassbar langweilig. Die
AutorInnen beschäftigen sich seitenweise damit, welche Verwaltung wann
mit welcher anderen geredet hat oder wer wann zurückgetreten ist oder
wer vielleicht Gesichter verloren haben könnte. Manchmal habe ich mich
gefragt, ob es Leute gibt, denen sowas ähnlich viel Freude macht wie
AstronomInnen ihre Sterne – oder ob die Motivation, PolitologIn zu
werden, vielleicht ganz anders aussieht als unser „ich will doch nur
spielen“.
Andererseits fühle ich mich gleich daheim, wenn das Buch den
WHO-Mitarbeiter Peet Tüll wiedergibt. Dieser hat während des Ausbruchs
mit der chinesischen Seite die Maßnahmen zur Bekämpfung der
hochkochenden Epidemie diskutiert, wozu im Buch zu lesen ist:
(Kapitel 5; Übersetzung von mir). Das deckt sich komplett mit meiner
Erfahrung im (wie eben eingestanden durchaus anders gestrickten) Bereich
der Astronomie: Je mehr Arbeitsebene, je weniger Management, desto
produktiver. Was mal wieder die Frage aufwirft, warum daraus niemand
die offensichtlichen Schlüsse zieht…
Das Zimmer 911
Richtig Neues habe ich aus der Chronologie des Ausbruchs gelernt.
Verglichen mit SARS-2 war SARS-1 ja ein recht beschränktes Geschehen mit
gut 8000 bestätigten Infizierten und knapp 800 auf SARS-1
zurückgeführten Toten, und so konnten Infektionsketten vielfach
genau nachvollzogen werden. Die für mich Spannendste war die vom Zimmer
911 (das Schicksal ist numerologischen VerschwörungstheoretikerInnen
ganz offensichtlich gewogen) im Hotel Metropole in Hong Kong ausging.
Das ging so: Nachdem SARS-1 schon seit November 2002 im Hinterland von
Hong Kong, der Provinz Guangdong, herumgegangen ist, reist am 21.2.2003
– ein Freitag – der 64-jährige Arzt Liu Janlun von dort nach Hong Kong
und bezieht dieses Zimmer 911, um an einer Familienfeier teilzunehmen.
Zunächst ist er etwas mit seinem Schwager in der Stadt unterwegs,
verbringt dann aber einige Zeit im Hotel. Dort halten sich auch eine
78-jährige Touristin aus Toronto, ein 48-jähriger US-chinesisicher
Geschäftsmann und drei junge Frauen aus Singapur auf. Genauer: Sie alle
wohnen im 9. Stock des Metropole.
Schon am nächsten Tag geht es Liu Janlun so schlecht, dass er ins Kwong
Wah-Krankenhaus geht und, da er selbst vorher SARS-Fälle behandelt
hatte, das Personal dort warnt, er könnte „eine sehr ansteckende
Krankheit“ haben. Nach zehn Tagen Krankenhausaufenthalt, am 4.3.,
stirbt er an den Folgen seiner untypischen Lungenentzündung.
Sein Schwager entwickelt bis zum Dienstag (25.2.) erhebliche Symptome
einer Lungenerkrankung und begibt sich zunächst ebenfalls ins Kwang
Wah-Krankenhaus. Er wird wieder entlassen, muss am 1.3. aber erneut
aufgenommen werden und stirbt schließlich am 19.3. an SARS (das zu
diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht als solches erkannt ist und auch
nicht so heißt).
Die kanadische Touristin fliegt am Sonntag zurück nach Toronto. In
Kanada entwickelt sie recht bald Symptome und stirbt am 5.3. Fünf ihrer
Familienmitglieder stecken sich an und werden in der Folge ebenfalls in
Krankenhäuser aufgenommen. Das erste SARS-Todesopfer, das sich in
Kanada angesteckt hat, ist der 44-jährige Sohn der Touristin.
Auch der Geschäftsmann reist am Sonntag ab. Seine nächste Station ist
Hanoi, wo er am 26.2. ins Französische Krankenhaus eingeliefert wird.
Er braucht rasch Intensivbetreuung und wird am 5.3. zur Weiterbehandlung
zurück nach Hong Kong in das Princess Margeret-Krankenhaus verlegt.
Dort stirbt er am 13.3., offenbar, ohne weiteres Personal anzustecken.
In Hanoi hingegen entwickeln bis zum 12.3. 26 MitarbeiterInnen des
Krankenhauses SARS-Symptome, fünf sind zu diesem Stichtag in kritischem
Zustand.
In Hanoi ist ein Mitarbeiter der WHO, Carlo Urbani, auf den Fall
aufmerksam geworden und meldet ihn eine Woche nach dem Freitagabend auf
dem Gang im 9. Stock, also am 28.2., als möglichen Fall von Vogelgrippe
an das WHO-Büro in Manila, was dort, so steht es in der Chronologie,
einen „heightened state of alert“ auslöst.
Urbani selbst untersucht noch für ein paar Tage in Hanoi die unbekannte
Krankheit, bevor er am 11.3. zu einer Konferenz nach Bangkok
weiterfliegt. Schon bei der Ankunft ist er so krank, dass er dort ins
Krankenhaus eingewiesen wird. Er stirbt am 29.3., ebenfalls an SARS.
Eine der drei jungen Frauen aus Singapur, die am Dienstag nach dem
schicksalhaften Freitagabend dorthin zurückgekehrt ist, wird am
folgenden Samstag mit einer schweren Lungenerkrankung in ein Krankenhaus
in Singapur eingewiesen; auch die beiden anderen zeigen Symptome.
Ein Arzt, der sie behandelt hat, fliegt am 15.3. über Frankfurt nach New
York City. Da er kurz vor dem Abflug Krankheitssymptome angegeben hat,
alarmieren die Behörden von Singapur die WHO, die veranlasst, dass der
Arzt sowie seine Frau und seine Schwiegermutter in Frankfurt aus dem
Flugzeug entfernt werden. Die Familie kommt dort in Isolation, so dass
sogar die BRD ein wenig SARS abbekommt; SARS-1 beschränkte sich hier
aber auf insgesamt 9 Fälle, die alle glimpflich ausgingen (zum
Vergleich: In Kanada starben von 251 bekannten Infizierten 43).
Die Wikipedia berichtet, dass 4000 SARS-Erkrankungen – und damit die
Hälfte der bekannten Gesamtzahl – auf diesen Freitagabend im
Metropole-Hotel zurückgehen. Diese Geschichte war den Leuten, die an
der SARS-2-Prävention im März 2020 überlegten, sicher vertraut – und sie
lässt mich etwas besser verstehen, warum sie Hotels so rasch
runterfuhren und später zunächst eher wirr erscheinende Regeln (etwa
„mindestens ein leeres Zimmer zwischen zwei vergebenen“) verhängten.
Allerdings: SARS hätte es sicher auch anders aus Guangzhou
herausgeschafft. So ist etwa am 8.3.2003 ein Fall in Taiwan
aufgetreten, der sich direkt nach Guangdong zurückverfolgen ließ.
Wahrscheinlich war es global gesehen sogar ein Glück, dass SARS-1 durch
eine schnelle Ausbreitung in gesundheitlich gut überwachten Kreisen
doch recht schnell auffiel.
Der Erfolg jedenfalls, SARS-1 innerhalb von drei Monaten nach dem
Übergang zur Pandemie tatsächlich „besiegt“ zu haben – um mal eines der
dümmeren Wörter aus der Corona-Kommunikation aufzunehmen – dürfte wohl
auch die sture Entschlossenheit der derzeitigen chinesischen Regierung
erklären, SARS-2 aus dem Land zu halten. „Wir haben es schon mal
geschafft, das geht bestimmt wieder“. Nun, das war sicher schon im März
2020 eine Illusion, und wahrscheinlich nicht nur, weil SARS-2 schon in
der Wuhan-Variante doch regelmäßig ein paar Ecken übertragbarer zu sein
scheint als SARS-1. Spätestens jetzt, bei einem Infektionsgeschehen
vier Größenordnungen über dem von SARS-1, ist es absurd, anzunehmen,
SARS-2 würde in absehbarer Zeit verschwinden.
Wir haben jetzt fünf humane Coronaviren, und wer sich nicht über
Nordkorea-Nivau hinaus abschotten will, wird sie früher oder später
laufen lassen müssen. Insofern frage ich mich schon, wie sich die
Regierung in Beijing sich das so vorstellt.
Zur Laborhypothese
Eine zweite SARS-Geschichte, von der ich vorher noch nichts gehört
hatte, betrifft den Ausbruch genau dort, in Beijing, ein Jahr nach der
Pandemie. Das SARS-1-Virus war wie gesagt schon im Juli 2003 wieder
verschwunden, auch wenn im Januar 2004 in Guangdong nochmal zwei Fälle
bekannt wurden – möglicherweise hatten sich diese erneut beim
ursprünglichen Wirt angesteckt.
Am 22.4.2004 (einem Donnerstag) berichtet jedoch das chinesische
Gesundheitsministerium, es gebe einen SARS-Fall in Beijing, und fünf
weitere Personen zeigten verdächtige Symptome. 171 Kontaktpersonen
stünden unter Beobachtung. Am Freitag wird ein weiterer Fall und ein
Verdachtsfall berichtet, dieses Mal aus der Provinz Anhui zwischen
Beijing und Shanghai. Diese Fälle lassen sich offenbar auffällig nahe
an ein Labor der chinesischen Gesundheitsbehörde CCDC zurückführen, so
dass schon am folgenden Montag Vermutungen laut werden, die SARS-Viren
seien bei einem Laborunfall übertragen worden.
Die Behörden reagieren schnell und identifizieren Kontaktpersonen an den
beiden Orten, was in Anhui auf bis zum folgenden Mittwoch auf 154
Menschen führt. Isolation und Quarantäne führen dazu, dass der letzte
bekannte SARS-1-Fall überhaupt einen Monat nach dem Beginn des zweiten
Ausbruchs, am 21.5.2004, aus dem Ditan-Krankenhaus entlassen wird.
Insgesamt waren 2004 wohl um die 1000 Personen in Isolation und
Quarantäne (wenn ich die Chronologie im Buch richtig lese).
Am 1.7.2004 bestätigte der chinesische Gesundheitsminister Gao Quiang,
der Ausbruch sei auf ein Labor der CCDC zurückzuführen gewesen. In der
Folge trat der Direktor der CCDC, Li Liming, zurück, vier weitere
hochrangige Mitarbeiter wurden entlassen.
Ich muss sagen, dass ich die Laborhypothese zum Ursprung von SARS-2 im
Vergleich zur sehr plausiblen Zoonose (ich bin immer noch leicht
traumatisiert von einem Besuch in einem chinesischen
Lebensmittel-Supermarkt, der auf den ersten Blick kaum von einem Zoo zu
unterscheiden war) nie sonderlich überzeugend fand, auch wenn es schon
ein komischer Zufall ist, dass der erste große Ausbruch ausgerechnet in
so großer Nähe zum Wuhan Institute of Virology der Chinesischen
Akademie der Wissenschaften (CAS) stattfand. Aber das ist konsisitent
mit dem generellen …