Über einen Artikel in der Wochenzeitung Kontext bin ich auf eine
Kleinstudie des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)
gestoßen, auf die ich vor allem im Hinblick auf eine spätere Nutzung zur
Mythenstörung kurz eingehen möchte.
Zu bedenken ist zunächst, dass das ZEW gewiss in keinem Verdacht steht,
irgendwelche fortschrittlichen Ideen zu hegen. So gehört zu deren
aktuellen „Empfehlungen für die Wirtschaftspolitik“ offensichtlicher
Quatsch der Art „Standardisierte Altersvorsorgeprodukte einführen“ oder
Deflektorschilde gegen eine entspanntere, arbeitsärmere und
umweltfreunlichere Gesellschaft des Typs „Kostengerechte Aufteilung der
CO2-Reduktionen zwischen den Sektoren“; aktuelle Pressemitteilungen
beten marktradikale Wirrnisse herunter wie „Lokale Preisanreize im Strommarkt
setzen“ (Faustregel: „Anreiz“ heißt im Klartext: Geld von unten nach
oben umverteilen) oder „Bundesnetzagentur sollte weiterhin auf Auktionen
setzen“, ganz als sei 1998.
Ausgerechnet diese Leute haben in ihrer Kleinstudie zu den
fiskalischen und ökonomischen Folgen der aktuellen Parteiprogramme
herausgefunden, dass das Programm der Linken den Staathaushalt um 37
Milliarden Euro entlasten würde, während die FDP den Haushalt mit 88
Millarden Euro belasten würde und die CDU immer noch 33 Millarden Euro
mehr Staatsdefizit ansagt.
So viel zur Frage fiskalischer Verantwortung in der Theorie, soweit
also mensch Wahlprogramme ernstnehmen will. Zumindest sollte die Studie
traugen, um die Erzählungen von „wirtschaftlicher Vernunft“ bei den
Rechtspartien als Legenden zu entlarven.
Die Studie liefert weiter Hinweise zum Thema „Turkeys voting for
Christmas“, also Armen, die Rechtsparteien wählen (davon gibt es
augenscheinlich einen ganzen Haufen): Das VEW hat nämlich auch die
Folgen der Programme für den Gini-Koeffizienten abgeschätzt, also
einer Metrik für die Ungleichheit der Einkommen in einer Gesellschaft, der
mit wachsender Ungleichheit wächst. Souveränder Spitzenreiter dabei ist
die AfD, die die Ungleichheit in dieser Metrik um 3.8% verschärfen
würde, wo selbst die FDP die Dinge nur 3.4% schlimmer machen will (und
die CDU um 1.6%). Demgegenüber würde das Wahlprogramm der Linken – take
this, ExtremismustheoretikerInnen! – die Ungleichheit um knapp 15%
reduzieren. Wenn denn irgendwas davon umgesetzt würde, käme sie an die
Regierung; spätestens nach der Katastrophe der Schröder-Administration
dürfte klar sein, dass das ungefähr so wahrscheinlich ist wie ein
ernsthaftes Aufbegehren gegen den permanenten Bürgerrechtsabbau durch
eine FDP in der Regierung. Die Grünen würden laut VEW die Ungleichheit
um 6.5% reduzieren, und selbst die vom für Cum Ex und Hartz IV bekannten
Scholz geführte SPD wäre noch mit -4.3% dabei.
Klar: das Ganze ist eine stark zirkuläre Argumentation, denn Programme
der Parteien haben viel mit den Methoden des ZEW und Metriken wie dem
Gini-Koeffizienten gemein, alle drei aber sicher nicht viel mit
irgendwelchen Realitäten. In der gemeinsamen, wenn auch hermetischen
Logik bleibt festzuhalten: die bekennenden Rechtspartien betreiben
unzweifelhaft die Umverteilung von unten nach oben auf Kosten des
Staatshaushalts.
Und das taugt ja vielleicht später nochmal für ein Argument innerhalb
dieser hermetischen Welt.
Es gibt eine Handvoll Zahlen, die ich versuche, so ungefähr im Kopf zu
haben. Ich nenne die gerne Kopfzahlen, auch wenn das Wort laut Duden
was ganz anderes bedeutet.
Die klassische Kopfzahl ist natürlich die Zahl der Sekunden in einem
Jahr, mit guter Genauigkeit π ⋅ 1e7 (ich schreibe hier aus
Bequemlichkeit und Computergewohnheit 107 als 1e7).
Überlegungen des Typs „ich habe eine Milliarde Datensätze und schaffe
3000 pro Sekunde, also brauche ich für das ganze Ding ungefähr 300000
Sekunden oder halt 3e5/3e7, also ein hundertstel Jahr oder vier Tage“
finde ich sehr hilfreich. Würde ich Mathematik an einer Schule
unterrichten, würde ich Depressionen kriegen, wenn meine Schülis sowas
nicht hinkriegen würden, nachdem ich ein Jahr auf sie eingeredet habe.
Gut, dass ich kein Schullehrer bin.
Heute nun hat mich die Deutsche Umwelthilfe (DUH) angeschrieben, weil
sie Spenden haben will für
Klagen gegen BMW, Daimler und Wintershall[1]. Die Brücke zu
den Kopfzahlen: sie sagen darin, Wintershall sei allein für rund 80
Megatonnen CO2 im Jahr verantwortlich.
Um solche Angaben ein wenig einordnen zu können, hatte ich mir vor zehn
Jahren zwei Kopfzahlen zurechtgelegt: Die BRD emittierte rund eine
Gigatonne, die Welt rund dreißig Gigatonnen CO2. Demnach macht
Wintershall rund 8% des CO2-Ausstoßes der BRD aus; das ist nicht
unplausibel, aber ich dachte mir, das ist ein guter Anlass, meinen schon
etwas länger gehegten Plan umzusetzen, solche Kopfzahlen im Blog zu
notieren und zu aktualisieren. Wie steht es nun also, zehn Jahre nach 1
und 30 Gigatonnen?
Für halbwegs überschaubare Infos zu den BRD-Emissionen hatte ich ganz
naiv auf die Publikationen zum Emissionshandel des UBA gehofft,
aber zumindest der Juli-Bericht ist in der Hinsicht nicht sehr
ergiebig: Was genau heißt es, dass in der Kalenderwoche 27
Emissionsrechte über 280 Millionen Tonnen gehandelt wurden (außer, dass
ein Haufen Leute nicht sehr nützliche Arbeit hatten)?
Aber das Umweltbundesamt hat glücklicherweise eine andere Seite mit
nicht marktkontaminierten Informationen. Demnach wären 2020 in der BRD
644 Millionen Tonnen CO2 emittiert worden. Auf drei Stellen genau ist
das natürlich lächerlicher Unfug; ich wäre überrascht, wenn das auf 10%
irgendeiner sinnvollen Definition von Emission entspräche. Aber
dennoch: 2/3 Gigatonnen klingen
nach einer brauchbaren Kopfzahl für die
aktuelle Kohlendioxid-Emission direkt aus der BRD. Natürlich wären dazu
die importierten Emissionen (z.B. aus brasilianischem Sojaanbau für
„unser“ Fleisch oder chinesischer Zement- und Stahlproduktion für
„unsere“ Häuser und Elektronik) zu rechnen, aber das wird dann
kompliziert und letztlich spekulativ.
Neu merken sollte ich mir den Quellen-Split, den sie dort aufmachen,
wieder bereinigt um allzu mutige Claims bezüglich Genauigkeit: Energie
1/3, Haushalte 1/5, Straßenverkehr ein gutes Fünftel, Industrie (wozu
dann auch z.B. Hausbau gehört) 1/4.
Für die globale Emission gibt der einschlägige Artikel der Wikipedia
57 Gigatonnen CO2-Äquivalent an, wo dann allerdings jede Menge
tiefes Voodoo reingerechnet ist („including 5 Gt due to land use
change“).
Um dem tiefen Voodoo zu entkommen (und nur das Einsteiger-Voodoo der
Emissionsschätzung zu behalten), kann mensch zum aus meiner Sicht
relativ vertrauenswürdigen Our World in Data gehen, das eine
Kohlendioxid-Seite anbietet, die wiederum auf github-Daten
verweist, wo schließlich CO2 und Treibhausgas-Äquivalente separat
ausgewiesen sind. Deutschland hat dabei für 2019 700 Mt; das passt im
Rahmen meiner Erwartungen gut zu unseren 2/3 Gt für 2020 von oben. Für die
Welt (freundlicherweise gibt es die in dem Datensatz schon vorkumuliert
unter „World“) und 2019 stehen da mit absurden acht Stellen 36441.388
Mt. Schon zwei Stellen Genauigkeit sind da sicher überoptimistisch, und
so wäre meine Kopfzahl für die Weltemission jetzt „um die 35
Gt“.
Mein Spickzettel für diese Runde Kopfzahlen ist also:
Emission in der BRD: 2/3 Gt, davon anteilig 1/3 Energie, 1/4 Industrie,
je rund 1/5 Verkehr und Haushalte.
Emission in der Welt: 35 Gt, womit die BRD direkt ungefähr 1/50 der
Welt-Emission ausmacht.
Dass mich die DUH immer noch in ihrem CRM-System hat, obwohl
ich ihnen eigentlich nur vor Jahren mal gespendet habe – die erfolgreichen
Fahrverbots-Klagen haben mich schon sehr begeistert – finde ich jetzt
nicht so großartig, aber wer sich so effektiv dem Autowahnsinn
entgegenstellt, darf in menem Buch auch mal nicht ganz so korrekt mit
Daten umgehen.
Das, was in Heidelberg wohl als „Heimatzeitung“ zu bezeichnen ist, die
Rhein-Neckar-Zeitung, hat es in die heutige
Deutschlandfunk-Presseschau geschafft, und zwar mit folgender
patriotischen Erbauung:
Es [was „es“ ist, bleibt im DLF-zitierten Kontext unklar] sollte auch
Ansporn sein, diese Republik als den Idealzustand zu sehen. Wir leben
im besten aller bisherigen deutschen Staaten – das bedeutet nicht,
dass man ihn nicht verbessern kann. Aber Mauern müssen keine mehr
eingerissen werden.
Nun...
Der Abschiebeknast von Ingelheim, Stand 2009. Und auch wenn diverse
Regierungen in Rheinland-Pfalz diese Mauern schon mal einreißen
wollten, ist da zumindest bis 2019 nichts draus geworden.
Unter den Branchen, in denen Privatisierung am alleroffensichtlichsten
Quatsch ist, sehe nicht nur ich die Post ganz vorne. Denn: Alle sollen
die Post nutzen können, aber die Kosten für die Infrastruktur
schwanken um Größenordnungen zwischen Metropole und Provinz. Unter
solchen Bedingungen eine halbwegs gleichmäßige Abdeckung mit
privatwirtschaftlichen Unternehmen herzustellen, wäre ein
regulatorischer Kraftakt, der abgesehen von viel Zeitverschwendung am
Schluss wieder darin enden würde, dass die Gewinne privatisiert und die
Verluste sozialisiert werden – wovon nun wirklich niemand[1] was hat.
Aber auch wer in der Stadt wohnt, muss sich fragen, welchen Zweck es
wohl haben könnte, wenn statt des einen zuverlässigen, halbwegs
ordentlich bezahlten und beamteten Postboten im Dienst der weiland
Bundespost nun fünf arme Schlucker die Viertel abfahren, die alle
mehr oder minder am Mindestlohn kratzen, im Akkord arbeiten und
entsprechend unzuverlässig sind: Noch nicht mal die verbohrtesten
Marktpriester wollten das rechtfertigen, wenn ich sie darauf
angesprochen habe.
Und dabei fange ich noch nicht mal beim Kulturverlust an. Vor der
Privatisierung konnte das Postamt als Ausspielstelle des Staates
fungieren, praktisch wie die Bürgerämter unserer Zeit, nur dichter
gespannt. Heute korrelieren die Außenposten der Post im Wesentlichen
mit Branchen wie Glücksspiel oder Restposten.
Kurz: Wäre ich Marktpriester, der Postdienst wäre das letzte, über das
ich reden wollte.
Um so mehr hat mich der DLF-Hintergrund vom 4.8. überrascht, in dem
Mischa Ehrhardt versucht, ein Problem auszumachen, weil „die Deutsche
Post den Markt dominiert“, natürlich ohne zu sagen, wie ausgerechnet mehr
Markt irgendeines der angesprochenen Probleme lösen könnte – und genau
keine Stimme den offensichtlichen Weg nach vorne, nämlich die
Rückverstaatlichung des Postdienstes, auch nur anspricht.
Stattdessen wird Walther Otremba – nach einer Karriere als CDU-Mann,
Staatsekretär im Finanz- und Militärministerium und Bahn-Aufsichtsrat
jetzt Frühstücksdirektor und Lobbyist für die nichtpostigen
Postklitschen, also die, die ihre AusträgerInnen im Schnitt noch mieser
behandeln als die privatisierte Post – zitiert mit:
Ich kann ja eigentlich die Deutsche Post AG nicht kritisieren. Die tut
halt, was sie machen muss, nämlich versuchen, möglichst hohe Gewinne
zu erzielen.
Öhm… Warum genau soll die Post möglichst hohe Gewinne machen müssen?
Ist nicht eigentlich völlig offensichtlich, dass Aufgabe der Post ist,
möglichst flott und mit wenig gesellschaftlichem Aufwand Briefe zu
transportieren (und dann vielleicht noch Postsparbücher zu betreiben und
ggf. mit Postämtern in der Fläche auch ein paar staatliche Aufgaben in
die Hand zu nehmen)? Wer, außer ein paar AnlegerInnen, hätte umgekehrt
etwas davon, wenn sie möglichst hohe Gewinne machen würde? Wer also
könnte das wollen oder die Post gar dazu zwingen?
Wohlgemerkt, der Otremba, der da solche Klopfer durchs Radio schickt,
war in seinen großen Zeiten (z.B. im „Finanzmarktstabilisierungsfonds“)
einer der ganz großen Mover und Shaker. Bei derart verwirrten Gedanken
muss wohl nicht mehr verwundern, was für eine Lachnummer (zuletzt bei
Cum-Ex und Wirecard) die BaFin zumindest in Wirtschaftskreisen ist.
Immerhin haben er und seine KollegInnen die ja erfunden.
Es gäbe noch einige weitere komplett auf dem Kopf stehende Argumente in
dem DLF-Beitrag zu korrigieren, so etwa die abseitige Kritik an der
Quersubventionierung; natürlich will mensch z.B. Briefe durch Telefon
quersubventionieren, wenn das gesellschaftlich geboten ist, was es
zumindest früher mal war. Aber wichtiger wäre mir, noch Otrembas
nächsten Satz zu prüfen, denn der spiegelt einen verbreiteten Irrglauben
wider:
Es sind die Rahmenbedingungen, die nicht geliefert wurden rechtzeitig,
um im Briefgeschäft ähnliche Erfolge, wie zum Beispiel in der
Telekommunikation, die ja parallel liberalisiert wurde, zu erzeugen
„Erfolge“? In der Telekommunikation, in der halb-betrügerische
Verträge mehr die Regel sind als die Ausnahme und die
Verbraucherzentralen gar nicht mehr aus dem Klagen rauskommen? In der
drei (oder sind es wieder vier?) Mobilfunknetze konkurrieren, so dass es
die gleiche Infrastruktur in den Metropolen dreifach und dafür gar keine
am Land gibt?
„Aber es ist doch alles viel billiger geworden,“ höre ich euch
einwenden. Nun – das ist es bereits vor der Privatisierung.
Es gibt dazu eine ganz interessante Untersuchung von A. Michael Noll, in
Telecommunications Policy 18 (5), 255f (1994): „A study of long
distance rates. Divestiture revisted“ (DOI
10.1016/0308-5961(94)90051-5; sorry, ist Elsevier). Wohlgemerkt: das
ist 1994 erschienen; wir hätten also in der BRD vor der Zerschlagung
der Bundespost davon lernen können. Jaja, die Auflösung von AT&T in den
USA, die Noll da untersucht, war nicht exakt eine Privatisierung, aber
sie war in Anlage und Ziel nicht wesentlich anders, und sie war auch die
Blaupause für all die anderen marktradikalen Kreuzzüge gegen staatliche
Daseinsvorsorge im Kommunikationsbereich.
Ein Ergebnis seiner Arbeit: Die Preise für Ferngespräche folgten über
fast 100 Jahre einem Abwärtstrend, nur kurz unterbrochen von einer
Panikphase vor der Öffnung des Wettbewerbs im Jahr 1984:
Fig. 1 aus doi:10.1016/0308-5961(94)90051-5: Kosten für
Ferngespräche in den USA, 1910 bis ca. 1995. Der Wettbewerb hat
nicht für rascher fallende Preise gesorgt. Rechte leider bei Elsevier.
Wenn ihr in anderen Papern seht, dass nach der Zulassung von Konkurrenz
die Preise ganz schnell gefallen sind: hier ist der Hintergrund. Dazu
kommt übrigens noch, wie die Wikipedia zum Ende des Bell-Systems
schreibt:
One consequence of the breakup was that local residential service
rates, which were formerly subsidized by long-distance revenues, began
to rise faster than the rate of inflation.
Also: Nicht nur sind die Ferngespräche nicht schneller billiger geworden
als vorher – Überschüsse aus ihnen sind auch nicht mehr in die
Grundversorgung geflossen, so dass diese teuerer wurde. Statt dieser
(ebenfalls sinnvollen) Quersubventionierung ging das Geld stattdessen an
InvestorInnen (also: „die Reichen“) und öffentliche Belästigung
(also: „Werbung“). Bei Noll sieht das so aus:
Fig. 4 aus doi:10.1016/0308-5961(94)90051-5: Marketingkosten von
AT&T zwischen 1970 und 1993. Mit der Ende staatlicher Regulierung
ging Geld statt in die Grundversorgung in die Werbung. Rechte leider
bei Elsevier.
Die Geschichte von den fallenden Preisen durch Privatisierung kehrt sich
also in ihr Gegenteil.
Nein: Was dafür gesorgt hat, dass Leute jetzt für in etwa das gleiche
Geld viel mehr telefonieren können als, sagen wir, 1995, nennt sich
technischer Fortschritt, in diesem Fall insbesondere die (von öffentlich
finanzierten Unis und Instituten aufs Gleis gesetzte) stürmische
Entwicklung paketvermittelter Netze – was nicht nur das Internet war.
Ja, kann sein, dass deren Einführung mit der alten Bundespost etwas
länger gedauert hätte, zumal, wenn Leute wie Otrembas Parteifreund
Christian Schwarz-Schilling sie als Selbstbedienungsladen nutzten.
Aber wärs wirklich so schlimm gewesen, wenn wir das Klingelton-Zeitalter
übersprungen hätten und stattdessen nicht Öko- und Sozialkatastrophen
(die Mobiltelefone nun mal sind) als Werbegeschenke windiger
Knebelvertraghöker abwehren müssten?
Außer ein paar AnlegerInnen, UnternehmensberaterInnen und
GeschäftsführerInnen; aber das darf guten Gewissens als Fehlsteuerung
durch Marktkräfte eingeordnet werden.
Anlass meiner Paranoia: Im RKI-Bericht von heute drängeln sich
verdächtig viele Kreise gerade unter der 50er-Inzidenz.
Mein Abgesang auf die RKI-Berichte von neulich war wie erwartet etwas
voreilig: Immer noch studiere ich werktäglich das Corona-Bulletin des
RKI. Es passiert ja auch wieder viel in letzter Zeit. Recht
schnell schossen die ersten Landkreise im Juli über die 50er-Schwelle,
während die breite Mehrheit der Kreise noch weit von ihr entfernt war.
Das ist, klar, auch so zu erwarten, wenn die „Überdispersion“ (find ich
ja ein komisches Wort für „die Verteilung der Zahl der von einem_r
Infizierten Angesteckten hat einen langen Schwanz nach oben hin“, aber
na ja) noch irgendwie so ist wie vor einem Jahr, als, wie im inzwischen
klassischen Science-Artikel von Laxminarayan et al (DOI
10.1126/science.abd7672) auf der Grundlage von Daten aus Indien
berichtet wurde, 5% der Infizierten 80% der Ansteckungen verursachten
(und umgekehrt 80% der Infizierten gar niemanden ansteckten): SARS-2
verbreitete sich zumindest in den Prä-Alpha- und -Delta-Zeiten in
Ausbrüchen.
Nachdem aber die ersten Landkreisen die 50 gerissen hatten, tat sich für
eine ganze Weile im Bereich hoher Inzidenzen nicht viel; auch heute sind
nur drei Landkreise über der 50er-Inzidenz, während sich knapp darunter
doch ziemlich viele zu drängen scheinen.
Und da hat sich ein Verdacht in mir gerührt: Was, wenn die
Gesundheitsämter sich mit Händen und Füßen wehren würden, über die
vielerorts immer noch „maßnahmenbewehrte“ 50er-Schwelle zu gehen und
ihre Meldepraktiken dazu ein wenig… optimieren würden? Wäre das so,
würde mensch in einem Histogramm der Inzidenzen (ein
Häufigkeit-von-Frequenzen-Diagram; ich kann die nicht erwähnen ohne
einen Hinweis auf Zipfs Gesetz) eine recht deutliche Stufe bei der 50
erwarten.
Gibt es die? Nun, das war meine Gelegenheit, endlich mal mit den
Meldedaten zu spielen, die das RKI bereitstellt – zwar leider auf
github statt auf eigenen Servern, so dass ich mit meinen Daten statt mit
meinen Steuern bezahle (letzteres wäre mir deutlich lieber), aber das
ist Jammern auf hohem Niveau. Lasst euch übrigens nicht einfallen, das
ganze Repo zu klonen: Das sind ausgecheckt wegen eines gigantischen
Archivs krasse 24 GB, und was ihr tatsächlich braucht, sind nur die
aktuellen Zahlen (Vorsicht: das sind auch schon rund 100 MB, weil das
quasi die ganze deutsche Coronageschichte ist) und der
Landkreisschlüssel (vgl. zu dem Update unten).
Auch mit diesen Dateien muss mensch erstmal verstehen, wie aus deren
Zeilen die Inzidenzen werden, denn es ist nicht etwa so, dass jede Zeile
einer Erkrankung entspricht: Nein, manche berichten mehrere Fälle, es
wird nach schon gemeldeten und ganz neuen Fällen unterschieden, und
eventuell gibts auch noch Korrekturzeilen. Dazu findet ein
in-band-signalling zu Gestorbenen und Genesenen statt. Lest das README
aufmerksam, sonst verschwendet ihr nur (wie ich) eure Zeit:
EpidemiologInnen denken ganz offenbar etwas anders als AstronomInnen.
Das Ergebnis ist jedenfalls das hier:
Ich muss also meinen Hut essen: Wenn da irgendwo
Hemmschwellen sein sollten, dann eher knapp unter 40, und das ist,
soweit ich weiß, in keiner Corona-Verordnung relevant. Na ja, und der
scharfe Abfall knapp unter 25 könnte zu denken geben. Aber warum würde
jemand bei der 25 das Datenfrisieren anfangen? Der Farbe im RKI-Bericht
wegen? Nee, glaub ich erstmal nicht.
Wenn ihr selbst mit den RKI-Daten spielen wollt, kann euch das Folgende
vielleicht etwas Fummeln ersparen – hier ist nämlich mein
Aggregationsprogramm. Ich werdet die Dateipfade anpassen müssen, aber
dann könnt ihr damit eure eigenen Inzidenzen ausrechnen, ggf. auch nach
Altersgruppen, Geschlechtern und was immer. In dem großen CSV des RKI
liegt in der Tat auch die Heatmap, die jetzt immer im Donnerstagsbericht
ist. Reizvoll fände ich auch, das gelegentlich zu verfilmen…
Hier jedenfalls der Code (keine Abhängigkeiten außer einem nicht-antiken
Python). So, wie das geschrieben ist, bekommt ihr eine Datei
siebentage.csv mit Landkreisnamen vs. Inzidenzen; die entsprechen
zwar nicht genau dem, was im RKI-Bericht steht, die Abweichungen sind
aber konsistent mit dem, was mensch von lebenden Daten erwartet:
# (RKI-Daten zu aktuellen 7-Tage-Meldeinzidenzen: Verteilt unter CC-0)
import csv
import datetime
import sys
LKR_SRC = "/media/incoming/2020-06-30_Deutschland_Landkreise_GeoDemo.csv"
INF_SRC = "/media/incoming/Aktuell_Deutschland_SarsCov2_Infektionen.csv"
LANDKREIS = 0
MELDEDATUM = 3
REFDATUM = 4
NEUER_FALL = 6
ANZAHL_FALL = 9
def getcounts(f, n_days=7):
counts = {}
collect_start = (datetime.date.today()-datetime.timedelta(days=n_days)
).isoformat()
sys.stderr.write(f"Collecting from {collect_start} on.\n")
row_iter = csv.reader(f)
# skip the header
next(row_iter)
for row in row_iter:
if row[MELDEDATUM]>=collect_start:
key = int(row[LANDKREIS])
kind = row[NEUER_FALL]
if kind!="-1":
counts[key] = counts.get(key, 0)+int(row[ANZAHL_FALL])
return counts
def get_lkr_meta():
lkr_meta = {}
with open(LKR_SRC, "r", encoding="utf-8") as f:
for row in csv.DictReader(f):
row["IdLandkreis"] = int(row["IdLandkreis"])
row["EW_insgesamt"] = float(row["EW_insgesamt"])
lkr_meta[row["IdLandkreis"]] = row
return lkr_meta
def main():
lkr_meta = get_lkr_meta()
with open(INF_SRC, "r", encoding="utf-8") as f:
counts = getcounts(f)
with open("siebentage.csv", "w", encoding="utf-8") as f:
f.write("Lkr, Inzidenz\n")
w = csv.writer(f)
for lkr in lkr_meta.values():
w.writerow([lkr["Gemeindename"],
1e5*counts.get(lkr["IdLandkreis"], 0)/lkr["EW_insgesamt"]])
if __name__=="__main__":
main()
Nachtrag (2021-08-13)
Eine Woche später ist der Damm definitiv gebrochen. Von drei
Landkreisen über dem 50er-Limit sind wir laut aktuellem RKI-Bericht
jetzt bei 39, wobei allein seit gestern 10 dazukamen. An die aktuelle
Verteilung würde ich gerne mal eine Lognormalverteilung fitten:
Nicht, dass ich eine gute Interpretation hätte, wenn das lognormal wäre.
Aber trotzdem.
Nachtrag (2021-09-08)
Das RKI hat die Landkreis-Daten
(2020-06-30_Deutschland_Landkreise_GeoDemo.csv) aus ihrem
Github-Repo entfernt (commit cc99981f, „da diese nicht mehr aktuell
sind“; der letzte commit, der sie noch hat, ist 0bd2cc53). Die aus
der History rausklauben würde verlangen, das ganze Riesending zu
clonen, und das wollt ihr nicht. Deshalb verteile ich unter dem Link
oben die Datei unter CC-BY 4.0 International, mit Namensnennung… nun,
Destatis wahrscheinlich, oder halt RKI; die Lizenzerklärung auf dem
Commit ist nicht ganz eindeutig. Als Quelle der Geodaten war vor der
Löschung
https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Regionales/Gemeindeverzeichnis/Administrativ/Archiv/
angegeben, aber da finde ich das nicht.
Ich bin bekennender Fan von David Rovics. Klar fühlen sich seine
Palästinasoli-Songs in der postantideutschen Linken zumindest mal
gewagt an, sein Lied vom besseren Anarchisten entschuldigt vielleicht
etwas sehr viel, und mein antimilitaristisches Herz blutet an einigen
Stellen vom Song for Hugh Thompson (der übrigens schon am
Deutschlandfunk lief). Aber in allen Kämpfen, in denen es eine
richtige Seite gibt, steht er konsequent auf dieser, und ich finde viele
seiner Lieder ernsthaft mitreißend, angefangen wohl mit dem
Bluegrass-Reißer When the Minimum Wage Workers Went on Strike, das
eine (letztlich leider wenig erfolgreiche) Organisierung von
MindestlöhnerInnen an der Harvard University begleitete, während ich so
um 2000 rum in der Gegend gearbeitet habe. Damals wurde ich auf David
aufmerksam, und es spricht für seine Umtriebigkeit, dass später ganz
unabhängig davon Bekannte von mir Auftritte von ihm in Heidelberg
organisiert haben.
Nun, David hat jetzt einen Blogpost geschrieben, der mir in vielerlei
Hinsicht aus der Seele spricht: Confessions of an Ecumenical
Leftist. Wer hinreichend gut Englisch kann und sich für linke Politik
interessiert, sollte das, finde ich, lesen.
Ab Montag, 19.07.2021, wird die Berichterstattung umgestellt: Eine
tägliche kürzere Berichterstattung wird ergänzt mit einer
ausführlichen Berichterstattung donnerstags.
Ich gestehe offen: ich finde das ein wenig bitter.
Auch wenn die Berichte nie wirklich das
sagten, was sich wohl alle gefragt haben („Wo stecken sich diese Leute
denn nun an? Was für Ausbrüche gibts im Land?“), waren die Zahlen und
Grafiken, die da jeden Tag kamen (na ja, seit ein paar Wochen schon nicht
mehr am Wochenende) durchaus ein beruhigendes und strukturierendes Element
der Coronazeit.
Gerade, wo die Karte wieder bunter wird, strafft das RKI seinen
täglichen Corona-Bericht. Hm.
Die sich windenden Inzidenzlinien der Bundesländer, die bunt gefärbten
Landkreise, bei denen Extreme oft gute und manchmal auch gar keine guten
Erklärungen hatten, das Schwingen der R-Wert-Schätzungen und natürlich
die nach Wochentag wechselnden Features vom Wochenvergleich am Dienstag
bis zur Mortalitätsstatistik am Freitag: Mir wird das fehlen,
jedenfalls, solange Corona rein ethisch nicht
ignorierbar ist.
Wann ich Corona ethisch ignorierbar finde, habe ich indes noch nicht
ganz klar. Wahrscheinlich werde ich irgendwann im September finden,
wer dann noch nicht geimpft ist, kann es entweder nicht (und dann hat
Zuwarten auch keinen Wert) oder wollte es nicht (und kann dann von mir
keine Rücksicht erwarten).
Aber wie das wirklich aussieht, wenn die Inzidenzen irgendwo jenseits
der 1000 liegen – und das würden sie, wenn die IgG-Spiegel der meisten
Leute wieder halbwegs normal sind und Schulen, Büros, Kneipen und Discos
offen – ach, wer weiß?
Als Abschiedsbetrachtung zu den gewohnten RKI-Berichten noch etwas aus
den Tabellen zu „Betreuung, Unterbringung und Tätigkeit in
Einrichtungen“ (die ich eingestandenermaßen meist überblättert habe):
Dort werden ja unter anderem nach §36 IfSG „Untergebrachte“ diskutiert,
was Pflegeeinrichtungen, Obdachlosenunterkünfte, Lager für (oder gegen)
Geflüchtete und auch Gefängnisse umfasst. Genau dabei überrascht mich
die Zeile „Sonstige“, die nach Lage der Dinge insbesondere die
Gefängnis-Zahlen enthalten müsste. Dort stehen heute 1512 Fälle (seit
Pandemie-Anfang), von denen 210 älter waren als 60, 132 ins Krankenhaus
mussten und 27 gestorben sind.
Das kann, nach allem, was so aus den Gefängnissen zu hören ist, schlicht
nicht sein; deutsche Haftanstalten haben wahrscheinlich keine
Positivraten wie Townships in Südafrika, aber sehr weit dürften sie auch
nicht davon entfernt sein. Das aber würde bedeuten, dass Fälle aus
Gefängnissen fast durchweg unter die 138284-85924 = 52360 Fälle nach §36
ohne „differenzierte Angaben“ fallen müssen. Und das ist schon
irgendwo auf dem Skandalspektrum: Wie schwierig kann es sein, Fälle aus
Gefängnissen auch so zu labeln?
Ich bin ja eigentlich niemand, der „Handarbeit“ als Qualitätsprädikat
sonderlich schätzt, aber es ist gerade bei Radio schön, wenn sich zeigt,
dass der Kram zwar aus dem Computer kommt, aber doch noch Menschen vor
dem Computer sitzen.
So ging das am letzten Samstag (3.7.), kurz nach Mitternacht. Mein
Rechner schneidet da immer den Mitternachtskrimi aus dem Live-Programm
des Deutschlandfunks mit und hat dabei dieses großartige Stolpern
aufgenommen:
(um die Bediengeräusche besser herauszubringen, habe ich das Audio etwas
komprimiert). Ich muss sagen, dieses kurze Selbstgespräch fand ich sehr
beeindruckend – und ich habe mich wiedererkannt, denn in dieser Sorte
experimentellen Diskurses mit der Maschine versuche auch ich mich dann
und wann.
Zu diesem schönen Ausschnitt habe ich zwei Einwürfe zu bieten.
Erstens war die dann doch noch folgende Sendung eine leicht
expressionistische Hörspielfassung des Kleist-Klassikers Das Erdbeben
in Chili, die ich hier liebend gerne verteilen würde, weil sie schön
zeigt, was für ein garstiges Gift reaktionäre Hetzerei ist; ich kann mir
nur schwer vorstellen, dass, wer das gehört hat, noch auf das Gift von,
sagen wir, Innenminister Seehofer hereinfallen könnte.
Aber nun, das Urheberrecht hindert mich daran, was mein Argument von
neulich gegen das „geistige Eigentum“ schön illustriert: Das Hörspiel,
vermutlich eine öffentlich-rechtliche Produktion, gäbe es natürlich
auch, wenn ich es jetzt verteilen dürfte, und die Leute, die das damals
gemacht haben, sind hoffentlich schon dabei ordentlich bezahlt worden
und werden kaum auf ein paar Cent für einen Download durch euch
angewiesen sein. Die Existenz des Textes hat offensichtlich nichts mit
Urheberrecht zu tun, denn zu Kleists Zeiten gab es gar keins. Hier
wirken die heutigen („Post-Micky-Maus“) Regelungen diametral gegen den
ursprünglichen Zweck des Urheberrechts, nämlich, der Gesellschaft eine
möglichst reichhaltige Kultur zur Verfügung zu stellen.
Der zweite Einwurf: Über die vergangenen 20 Jahre hatte ich
verschiedene Hacks, um Radio-Streams mitzuschneiden – ich schaudere,
wenn ich an die schlimmen Tage von RealAudio und das Rausfummeln des
Signals über preloaded libraries zurückdenke, die das write der libc
überschrieben haben. Nun, der proprietäre Client wollte kein Speichern
der Streams zulassen (schon wieder das Copyright-Gift!).
Inzwischen ist das Mitschneiden dank ffmpeg und offener Standards auf
der Seite der Radiostationen nur noch ein schlichtes Shellscript. Ich
verwende seit ein paar Jahren das hier:
(wahrscheinlich ist die dradio-Regel kaputt, aber das ist sicher leicht
repariert). Das lege ich an eine passende Stelle, und cron sorgt für
den Rest. Die crontab-Zeile, die mir schon viele Mitternachtskrimis
und eben auch die Perle von oben mitgeschnitten hat, sieht so aus:
05 00 * * sat /path/to/oggsnarf 1:00:00 dlf ~/media/incoming/mitternachtskrimi`date +\%Y\%m\%d`.ogg
Nachtrag (2021-11-01)
Nach ein paar Monaten fällt mir auf, dass nur ganz kurz nach diesem
Post und meiner zustimmenden Erwähnung der Mitternachtskrimis (die
allerdings schon damals zu „blue crime“ geworden waren) der
Deutschlandfunk den seit mindestens meiner späten Kindheit den Krimis
gehörenden Programmplatz am Samstag um 0:05 auf aktuelle
Kulturberichterstattung („Fazit“) umgewidmet hat. Die Crontab-Zeile
hat also nicht mehr viel Wert (und ist längst aus meiner crontab
verschwunden). Ich glaube, die Idee der ProgrammplanerInnen wird
gewesen sein, den Krimi Hörspiel-Podcast als Ersatz anzubieten.
Nicht alle Rinder sind immer brav und gefügig. Ob diese Kuh wohl ein
besonders schmales Maul hat? Das würde ihr nämlich, mit der Methode
des Papers, ein größeres Hirn bescheinigen.
Die zweite Tiergeschichte, die ich neulich angekündigt habe als, nun,
interessant in der Forschung aktuell-Sendung vom 9.6. (in den
Meldungen ab Minute 21:55), war die, dass gezähmte Rinder ein Viertel
weniger Hirn haben als wilde; ein Traditionsanarcho wie ich kann bei so
einem Faktoid natürlich dem „Gehorsam macht dumm und gewalttätig“ nicht
widerstehen, und so habe ich mir den zugrundeliegenden Artikel genauer
angesehen.
Es handelt sich um https://doi.org/10.1098/rspb.2021.0813, „Intensive
human contact correlates with smaller brains: differential brain size
reduction in cattle types“ von Ana Balcarcel und KollegInnen; die
Hauptautorin arbeitet am Paläontologischen Institut und Museum der Uni
Zürich, was, in memoriam Tibatong und Zwengelmann, den Urmel-Fan in mir
begeistert.
Von der Hirnschrumpfung im Rahmen der Domestikation hatte ich spätestens
in einer DLF-Sendung von 2009 („Beschleunigte Evolution“) von Michael
Stang gehört. Dort hatte er über schnelle Zuchterfolge bei
Damhirschen[1] berichtet:
Das Zuchtziel war klar. Der domestizierte Damhirsch musste seine
natürliche Schreckhaftigkeit verlieren und die Nähe des Menschen nicht
als störend empfinden. Zugleich sollte die Fleischleistung erhöht
werden. Durch Probeschlachtungen konnte Helmut Hemmer feststellen, ob
bereits einige Tiere ein verkleinertes Gehirn hatten - eines der
entscheidenden Merkmale beim Übergang vom Wildtier zum Nutztier. [...]
Heute grasen über 1000 domestizierte Damhirsche auf Wiesen in
Deutschland.
Im vorliegenden Artikel wird das deutlich quantitativer:
Domestic cattle have 25.6% smaller brains than wild cattle,
according to regressions of EV [Endocranial volume, Gehirnvolumen]
versus MZW [Muzzle width, Breite des Mundes, als Stellvertreter für
die Körpermasse ...]. The difference between beef and dairy breeds is
also significant (ANCOVA, p = 0.010).
Das ist natürlich weit weg von „Gehorsam macht dumm“, aber „25.4%“
weniger Hirn ist, mit drei signifikant aussehenden Stellen, schon eine
Ansage.
Eine Ansage allerdings, die ich in Summe nicht so richtig überzeugend
belegt finde, nicht mal mit nur einer signifikanten Stelle. Wobei, full
disclosure, ich war gleich voreingenommen, denn die Methode von
Balcarcel et al waren Schädelmessungen. Nennt mich irrational, aber ich
werde ernsthaft nervös, wenn jemand an Schädeln herummisst. Das war
schon bei Lavater schlimm, und nach dem durch Pseudowissenschaft
gestützten völligen Zivilisationsbruch der Nazi-Phrenologie kann ich auf
sowas nicht mehr entspannt, sagen wir sine ira et studio, blicken.
Aber ok, es scheint in dem Fach Konsens zu sein, die Breite des Mundes
(ich vermute, der im Deutschen übliche Begriff wird Maulbreite sein,
aber lasst mir mal etwas Antispeziezismus) als Maß für das Körpergewicht
zu nehmen. Das Hirnvolumen hingegen schätzen die AutorInnen unter
Verweis auf John Finarelli über ln(Hirnvolumen) = 1.3143 ⋅ ln(Länge der
Schädelhöhle) + 0.8934 ⋅ ln(Breite der Schädelhöhle) - 5.2313. Das ist
– von den fantastischen Genauigkeitsbehauptungen abgesehen – so
unplausibel nicht: Proportionalität zwischen Logarithmen heißt, dass es
da ein Potenzgesetz gibt, was bei der Relation zwischen linearen
Größen und einem Volumen naheliegt; Fingerübung im Rechnen mit
Logarithmen: bei Kugeln gilt 3 ln(r) + C = ln(V) mit einer Konstanten C.
Dennoch: Sowohl Hirnvolumen als auch die Körpermasse als Bezugsgröße
werden in der Arbeit durchweg über Proxies geschätzt. Das mag ok sein –
und nein, ich habe nicht versucht, mich von den zur Unterstützung
dieser Proxies angeführten Arbeiten überzeugen zu lassen –, aber wer
Claims wie
Bullfighting cattle, which are bred for fighting and aggressive
temperament, have much larger brains than dairy breeds, which are
intensively selected for docility.
ins Abstract schreibt, sollte da, finde ich, schon sagen, dass für die
Studie weder Rinder noch ihre Hirne gewogen wurden.
Gesetzt jedoch, die Korrelationen zwischen den Schädelmaßen auf der
einen und Körpermasse und Hirnvolumen auf der anderen Seite hauen
wirklich hin[2]: Ganz laienhaft finde ich ja schon die Metrik
„Hirnvolumen zu Körpermasse“ nicht ganz so überzeugend. Immerhin dürfte
ja „relativ mehr Fleisch“ bei Nutzrindern auch ein Zuchtziel gewesen
sein, und so kann das Verhältnis nicht nur wegen weniger Hirn, sondern
genauso gut wegen mehr sonstiger Masse kleiner ausfallen. Das wäre
übrigens auch plausibel im Hinblick auf größere
Hirn-zu-Körper-Verhältnisse bei Kampfstieren (die Balcarcel et al
finden), denn fette Kampfstiere erfüllen ihren Zweck vermutlich eher
weniger gut.
Ähnlich wenig überzeugt haben mich die Grafiken der Arbeit. Die zentralen
Aussagen werden mit Punktwolken mit reingemalten Regressionsgeraden
belegt. In dieser Darstellung fällt alles Mögliche in Auge (z.B. „alle
Wildrinder sind rechts oben“, einfach weil diese größer sind, oder „die
Geraden der Kampfrinder sind steiler“, was, wenn ich das richtig sehe,
das Paper weder nutzt noch erklärt), während die eigentlich in den Tests
verwendeten Achsenabschnitte (entsprechend Faktoren nach
Delogarithmierung) durch eigene Rechnung bestimmt werden
müssten und jedenfalls optisch unauffällig sind.
Deshalb wollte ich probieren, mir geeignetere Plots auszudenken und
habe versucht, die laut Artikel auf figshare bereitgestellten
Rohdaten zu ziehen.
Ach weh. Das ist schon wieder so ein Schmerz. Zunächst figshare:
Nichts geht ohne Javascript (wie schwer kann es sein, ein paar
Dateien zu verbreiten? Wozu könnte Javascript da überhaupt nur
nützlich, geschweige denn notwendig sein?) und das CSS versteckt
völlig unnötigerweise die Seitengröße. Dazu: Google analytics, Fonts
von googleapis.com gezogen; ich bin ja kein Freund von institutional
repositories, bei denen jede Uni-Bibliothek ihren eigenen Stiefel macht,
aber mal ehrlich: so ein Mist muss jetzt auch nicht sein, nur um ein
paar Dateien zu verteilen. Dann doch lieber Murks der lokalen
Bibliothek.
Die Datei mit den Daten sorgt nicht für Trost: Ich hatte mich schon auf so
ein blödes Office Open XML-Ding („Excel“) eingestellt, aber es kam in
gewisser Weise noch schlimmer: Was mensch bei figshare bekommt, ist ein
PDF mit einigen formatierten Tabellen drin. An der Stelle habe ich dann
aufgehört. Screen Scraping mache ich nur in Notfällen.
Dabei will ich an der Grundaussage („Domestikation macht Hirne relativ
kleiner“) nicht mal zweifeln; das mit dem „dümmer“ allerdings (was meine
Sprache ist, nicht die der AutorInnen) ist natürlich gemeine Polemik,
und das Paper zitiert Dritte, die vermuten, die Reduktion des
Hirnvolumens gehe vor allem aufs limibische System, „a composite of
brain regions responsible for the processing of fear, reactivity and
aggression“. Aber das Paper hat, soweit ich als interessierter Laie das
erkennen kann, keine sehr starken Argumente für diese Grundaussage.
Dennoch habe ich nicht bereut, in das Paper reingeschaut zu haben, denn
ich habe so erfahren, dass es Rinder gibt, deren Zweck es ist „to
decorate the landscape“, vor allem die halbwilden Chillingham-Rinder.
Die Idee, Rinder zu halten, damit der Park etwas hübscher aussieht: das
finde ich hinreißend.
Hauskatzen, so hieß es irgendwo anders, haben Hirne wie ihre
waldlebenden Verwandten. Damit wären sie Wildtiere, deren Habitat
zufällig unsere Wohnungen sind. Das würde manches erklären…
Der Physiker in mir würde bei sowas gerne die Schätzungen für
die systematischen Fehler vergrößern, und so eine ganz grobe
Fehlerbetrachtung hätte diesem Paper sicher gut getan.
Ameise? Spinne? Marsianer? Tatsächlich hat das, was ich an
Warnsystem für „lege dich nicht mit dieser Sorte Tier an“ habe, bei
diesen tropischen Ameisen schon angeschlagen.
In Forschung aktuell am Deutschlandfunk gab es am 9.6. gleich zwei
Tiergeschichten, die mich inspiriert haben, mal in die Papers hinter den
Geschichten zu schauen. Die erste war die Geschichte von Spinnen, die
sich als Ameisen tarnen. Ganz klar wird aus der DLF-Story nicht, worum
es aktuell ging; die letzte einschlägige Publikation des Interviewten
ist „Insincere flattery? Understanding the evolution of imperfect
deceptive mimicry“ von Donald McLean und KollegInnen und ist bereits 2019
im Quarterly Review of Biology erschienen
(http://doi.org/10.1086/706769; wie üblich bei Bedarf auf scihub
ausweichen). Das ist zwar erkennbar nicht das, worum im Bericht ging
(Computersimulation der Erkennung durch die Fressfeinde), aber es stellt
die Fragen, um die es hier geht, und vor allem begründet er, warum
Mimikry von Ameisen ein besonders geeignetes Modell zur Untersuchung des
Phänomens ist: Sie findet nach Aussehen, Geruch und Verhalten statt,
es gibt jede Menge Spezies, die sich in der Imitation von Ameisen
versuchen, und die meisten davon sind relativ unproblematisch im Umgang.
Der Autor arbeitet übrigens an der Macquarie University in Sydney,
Australien, und ich kann diese Gelegenheit zum zitieren des großartigen
Bill Bryson nicht vorübergehen lassen:
You really cannot move in Australia without bumping into some reminder
of his [des Ex-Gouverneurs Lachlan Macquarie, der offensichtlich eine
Tendenz hatte, alles Mögliche und Unmögliche nach sich zu benennen]
tenure. Run your eye over the map and you will find a Macquarie
Harbour, Macquarie Island, Macquarie Marsh, Macquarie River, Macquarie
Fields, Macquarie Pass, Macquarie Plains, Lake Macquarie, Port
Macquarie, Mrs. Macquarie’s Chair (a lookout point over Sydney
Harbour), Macquarie’s Point, and a Macquarie town. I always imagine
him sitting at his desk, poring over maps and charts with a magnifying
glass, and calling out from time to time to his first assistant, “Hae
we no’ got a Macquarie Swamp yet, laddie? And look here at this wee
copse. It has nae name. What shall we call it, do ye think?”
—Bill Bryson: In a Sunburned Country, New York, 2000
Aber zurück zu den Spinnen, die das Interesse der Leute von der
Macquarie University geweckt haben. Hingerissen hat mich ja die
Vorstellung, wie da Spinnen rumlaufen, die ihr vorderes Beinpaar neben
den Kopf halten und hoffen, damit als Ameise durchzugehen, ganz wie
Kinder, die mit ihren Zeigefingern die Antennen von Aliens markieren,
wobei nicht klar ist, ob die Zeigefinger oder der Gedanke von Antennen
auf Alienköpfen alberner sind.
Nun, es stellt sich heraus, dass sie damit ganz gut durchkommen, und
zwar, weil ihre Fressfeinde eher darauf schauen, wie sie sich bewegen
als wie sie jetzt im Einzelnen aussehen – und für den Bewegungseindruck
sind die wippenden Fühler wohl recht relevant. Das wiederum hat mich an
eine gute Bekannte erinnert, die seit frühester Jugend ziemlich
kurzsichtig ist, jedoch versucht, so unabhängig von Brillen zu bleiben
wie es halt geht. Sie hat immer angegeben, sie identifiziere Menschen
vor allem anhand ihres Bewegungsstils oder vielleicht auch ihrer Gestik.
Das funktioniere auch ohne scharfe Sicht aus großen Entfernungen,
letztlich würden auch Strichmännchen reichen, wenn sie sich nur bewegen.
Die Frage, welche Mimikry die Fressfeinde überzeugt, war schon Thema des
oben zitierten Artikels von McLean et al, der leider im Hauptteil mehr
um evolutionäre Kostenfunktionen geht, und ganz ehrlich: ich glaube an
nicht viel davon, denn die entsprechenden Modelle sind gewiss einige
Größenordnungen zu schlicht. Echte Ökosysteme haben unzählige
Parameter, und wenn mensch zu viele davon weglässt, kommt am Schluss
Mumpitz wie das „egoistische Gen“ heraus; ganz so schlimm kommt es hier
nicht, aber das Abstandsgebot von ökonomistischer Argumentation befolgen
die AutorInnen eben auch nicht so recht. Dafür sind sie wohl auch an
der falschen Uni, denn bei Macquarie haben klar die Metriker und
Wettbewerbs-Taliban das sagen. Wer bei der Uni nach dem Autor sucht,
kommt auf sowas hier als „Profil“:
Metrikwahn destilliert: Noch bevor irgendein Wort fällt, womit sich
Herr McLean so beschäftigt, kommen Zitationszahlen und zur Krönung
ein h-Wert. Wenn unter solchen Bedingungen ordentliche Wissenschaft
und nicht Metrikdienerei entsteht, zeigt sich wieder die unendliche
Robustheit des Systems Wissenschaft. Aber: Warum baut jemand
überhaupt solche Webseiten? (Herkunft, 22.6.2021)
Ach Mist, jetzt bin ich schon wieder von den Spinnen abgeschweift.
Was auch deshalb unfair ist, weil McLean einen gewissen Metrikrealismus
an den Tag legt: „Underlying the idea of imperfect mimicry is the
assumption that mimetic accuracy can be quantified“ [Hervorhebung von
mir]. Und weil das Paper eine, zumindest für Laien wie mich, wirklich
ganz schöne Übersicht gibt, wie sich EvolutionsbiologInnen dem Problem
nähern, warum wohl Mimikry manchmal richtig schlecht ist. Von „die
Täuschenden probieren es gar nicht“ bis „für die Fressfeinde reichts“
ist da viel dabei – und klar, in verschiedenen System werden
wahrscheinlich verschiedene Mechanismen am Werk sein.
Worum es neulich im DLF ging, war nun offenbar die „für die Fressfeinde
reichts“-Hypthese, die wiederum in ein paar Varianten aufgedröselt wird;
in einer Fassung, die ich für viele Zwecke recht überzeugend finde, wäre
das etwa: Wenn Fressfeinde mal böse Erfahrungen mit Form V gemacht
haben, werden sie vielleicht auch ähnliche Formen meiden, sagen wir W,
zumal, wenn sie auch W nicht dringend zum Überleben brauchen. Ziemlich
offensichtlich funktioniert das sogar im genetischen Gedächtnis.
Jedenfalls glaube ich nicht, dass viele Menschen in meinem Umfeld
böse Erfahrungen mit Spinnen und Schlangen gemacht haben, doch haben
überraschend viele wirklich ernsthafte Ängste vor Tieren, die aussehen
wie Schlangen oder Spinnen.
Und das war dann schon die Geschichte, soweit sie jetzt publiziert ist:
Es gibt einen Haufen Varianten von Mimikry, und Spinnen, die ihre
Vorderbeine halten, als wären sie Fühler, kommen damit durch, solange
die Ameisen, die sie imitieren, nur garstig genug schmecken.
Keine Zikaden in Weinheim: das Eichhörnchen im dortigen Arboretum
konnte noch munter turnen.
Wieder mal eine Tier-Geschichte aus Forschung aktuell am
Deutschlandfunk: In der Sendung vom 25.5. gab es ein Interview mit
Zoe Getman-Pickering, die derzeit eine Massenvermehrung von Zikaden
an der US-Ostküste beobachtet. Im Gegensatz zu so mancher
Heuschreckenplage kam die nicht unerwartet, denn ziemlich verlässlich
alle 17 Jahre schlüpfen erstaunliche Mengen dieser Insekten und
verwandeln das Land in ein
All-You-Can-Eat-Buffet. Es gibt schon Berichte von Eichhörnchen und
Vögeln, die so fett sind, dass sie nicht mehr richtig laufen können.
Die sitzen dann einfach nur herum und fressen eine Zikade nach der
anderen.
Es war dieses Bild von pandaähnlich herumhockenden Eichhörnchen, die
Zikaden in sich reinstopfen eine einE Couch Potato Kartoffelchips, das
meine Fantasie angeregt hat.
Gut: Gereizt hat mich auch die Frage, wo auf der Fiesheitssakala ich
eigentlich einen intervenierenden Teil der Untersuchung ansiedeln würde,
der im Inverview angesprochen wird: Um
herauszufinden [ob die Vögel noch Raupen fressen, wenn sie Zikaden in
beliebigen Mengen haben können], haben wir auch künstliche Raupen aus
einem weichen Kunststoff. Die setzen wir auf die Bäume. Und wenn sich
dann Vögel für die künstlichen Raupen interessieren, dann picken sie
danach
und sind bestimmt sehr enttäuscht, wenn sie statt saftiger Raupen
nur ekliges Plastik schmecken. Na ja: verglichen mit den abstürzenden
Fledermäuse von neulich ist das sicher nochmal eine Stufe harmloser.
Balsam für die Ethikkommission, denke ich. Das Ergebnis übrigens: Ja,
die Zikadenschwemme könnte durchaus eine Raupenplage nach sich ziehen.
Die Geschichte hat ein Zuckerl für Mathe-Nerds, denn es ist ja
erstmal etwas seltsam, dass sich die Zikaden ausgerechnet alle 17 Jahre
verabreden zu ihren Reproduktionsorgien. Warum 17? Bis zu diesem
Interview war ich überzeugt, es sei in ÖkologInnenkreisen Konsens, das
sei, um synchronen Massenvermehrungen von Fressfeinden auszuweichen,
doch Getman-Pickering hat mich da eines Besseren belehrt:
Aber es gibt auch Theorien, nach denen es nichts mit den Fressfeinden
zu tun hat. Sondern eher mit anderen Zikaden. Der Vorteil wäre dann,
dass die Primzahlen verhindern, dass unterschiedliche Zikaden zur
gleichen Zeit auftreten, was dann schlecht für die Zikaden sein
könnte. Und dann gibt es auch noch einige Leute, die es einfach nur
für einen Zufall halten.
Das mit dem Zufall fände ich überzeugend, wenn bei entsprechenden Zyklen
in nennenswerter Zahl auch nichtprime Perioden vorkämen. Und das mag
durchaus sein. Zum Maikäfer zum Beispiel schreibt die Wikipedia:
„Maikäfer haben eine Zykluszeit von drei bis fünf, meist vier Jahren.“
Aua. Vier Jahre würden mir eine beliebig schlechte Zykluszeit
erscheinen, denn da würde ich rein instinktiv Resonanzen mit allem und
jedem erwarten. Beim Versuch, diesen Instinkt zu quantifizien, bin ich
auf etwas gestoßen, das, würde ich noch Programmierkurse geben, meine
Studis als Übungsaufgabe abbekommen würden.
Die Fragestellung ist ganz grob: Wenn alle n Jahre besonders viele
Fressfeinde auftreten und alle m Jahre besonders viele Beutetiere, wie
oft werden sich die Massenauftreten überschneiden und so den
(vermutlichen) Zweck der Zyklen, dem Ausweichen massenhafter
Fressfeinde, zunichte machen? Ein gutes Maß dafür ist: Haben die beiden
Zyklen gemeinsame Teiler? Wenn ja, gibt es in relativ kurzen
Intervallen Jahre, in denen sich sowohl Fressfeinde als auch Beutetiere
massenhaft vermehren. Haben, sagen wir, die Eichhörnchen alle 10 Jahre
und die Zikaden alle 15 Jahre Massenvermehrungen, würden die
Eichhärnchen alle drei Massenvermehrungen einen gut gedeckten Tisch und
die Zikaden jedes zweite Mal mit großen Eichhörnchenmengen zu kämpfen
haben.
Formaler ist das Problem also: berechne für jede Zahl von 2 bis N die
Zahl der Zahlen aus dieser Menge, mit denen sie gemeinsame Teiler hat.
Das Ergebnis:
Mithin: wenn ihr Zikaden seid, verabredet euch besser nicht alle sechs,
zwölf oder achtzehn Jahre. Die vier Jahre der Maikäfer hingegen sind
nicht so viel schlechter als drei oder fünf Jahre wie mir mein Instinkt
suggeriert hat.
Ob die Verteilung von Zyklen von Massenvermehrungen wohl irgendeine
Ähnlichkeit mit dieser Grafik hat? Das hat bestimmt schon mal wer
geprüft – wenn es so wäre, wäre zumindest die These vom reinen Zufall in
Schwierigkeiten.
Den Kern des Programms, das das ausrechnet, finde ich ganz hübsch:
def get_divisors(n):
return {d for d in range(2, n//2+1) if not n%d} | {n}
def get_n_resonances(max_period):
candidates = list(range(2, max_period+1))
divisors = dict((n, get_divisors(n)) for n in candidates)
return candidates, [
sum(1 for others in divisors.values()
if divisors[period] & others)
for period in candidates]
get_divisors ist dabei eine set comprehension, eine relativ neue
Einrichtung von Python entlang der altbekannten list comprehension:
„Berechne die Menge aller Zahlen zwischen 2 und N/2, die N ohne Rest
teilen – und vereinige das dann mit der Menge, in der nur N ist, denn
N teilt N trivial. Die eins als Teiler lasse ich hier raus, denn
die steht ohnehin in jeder solchen Menge, weshalb sie die Balken in der
Grafik oben nur um jeweils eins nach oben drücken würde – und sie würde,
weit schlimmer, die elegante Bedingung divisors[period] & others
weiter unten kaputt machen. Wie es ist, gefällt mir sehr gut, wie
direkt sich die mathematische Formulierung hier in Code abbildet.
Die zweite Funktion, get_n_resonances (vielleicht nicht der beste
Name; sich hier einen besseren auszudenken wäre auch eine wertvolle
Übungsaufgabe) berechnet zunächt eine Abbildung (divisors) der
Zahlen von 2 bis N (candidates) zu den Mengen der Teiler, und dann
für jeden Kandidaten die Zahl dieser Mengen, die gemeinsame Elemente mit
der eigenen Teilermenge haben. Das macht eine vielleicht etwas dicht
geratene generator expression. Generator expressions funktionieren auch
wie list comprehensions, nur, dass nicht wirklich eine Liste erzeugt
wird, sondern ein Iterator. Hier spuckt der Iterator Einsen aus, wenn
die berechneten Teilermengen (divisors.values()) gemeinsame Elemente
haben mit den Teilern der gerade betrachteten Menge
(divisors[period]). Die Summe dieser Einsen ist gerade die gesuchte
Zahl der Zahlen mit gemeinsamen Teilern.
Das Ergebnis ist übrigens ökologisch bemerkenswert, weil kleine
Primzahlen (3, 5 und 7) „schlechter“ sind als größere (11, 13 und 17).
Das liegt daran, dass bei einem, sagen wir, dreijährigen Zyklus dann
eben doch Resonanzen auftauchen, nämlich mit Fressfeindzyklen, die
Vielfache von drei sind. Dass 11 hier so gut aussieht, folgt natürlich
nur aus meiner Wahl von 20 Jahren als längsten vertretbaren Zyklus. Ganz
künstlich ist diese Wahl allerdings nicht, denn ich würde erwarten, dass
allzu lange Zyklen evolutionär auch wieder ungünstig sind, einerseits,
weil dann Anpassungen auf sich ändernde Umweltbedingungen zu
langsam stattfinden, andererseits, weil so lange Entwicklungszeiten rein
biologisch schwierig zu realisieren sein könnten.
Für richtig langlebige Organismen – Bäume zum Beispiel – könnte diese
Überlegung durchaus anders ausgehen. Und das mag eine Spur sein
im Hinblick auf die längeren Zyklen im Maikäfer-Artikel der
Wikipedia:
Diesem Zyklus ist ein über 30- bis 45-jähriger Rhythmus überlagert.
Die Gründe hierfür sind nicht im Detail bekannt.
Nur: 30 und 45 sehen aus der Resonanz-Betrachtung jetzt so richtig
schlecht aus…
In ihrem Engagement „gegen Rechts“ beschränkt sich die Regierung im
Wesentlichen auf autoritäre Maßnahmen, also Verbote und Drohungen. Das
ist schade, denn das Runtertönen des regierungsamtlichen Nationalismus
(„deutsche Interessen wahren“), Militarismus („Fähigkeit zur
Machtprojektion“), Autoritarismus (§114 StGB, um mal was besonders
Schlagendes zu erwähnen; die Rote Hilfe Berlin dazu) und der vielen
anderen rechten Versatzstücke („Flüchtlingskrise“, „wegsperren, und zwar
für immer“ usf) könnte erstens vielleicht wirklich was bringen und
würde zweitens nicht am Ende in aller Regel menschenfreundliche
Anliegen treffen.
Für die Beobachtung, nach der „Gesetze gegen Rechts“ (aktuell z.B. das
verschärfte Hassgesetz) am Ende in aller Regel Linke treffen, habe ich
gerade ein Beispiel gefunden, das ich gar nicht in diese Kategorie
gepackt hatte: Den Entzug der Gemeinnützigkeit der VVN/BdA. Dabei
hatte das Berliner Finanzamt der Antifa-Organisation eine dicke
Steuernachforderung geschickt unter Hinweis auf erstens den Bericht des
bayrischen Inlandsgeheimdienstes („Verfassungsschutz”, VS), der die
VVN/BdA als staatsfeindlich listet.
Der Eintrag als solcher wäre ja nicht schlimm, denn dass der VS aus
Schurken besteht und aufgelöst werden muss, ist nicht erst seit Maaßen
klar. Jedoch hat der Gesetzgeber zweitens 2009 dem §51
Abgabenordnung (AO) – der Einleitung zur Regelung von
Steuerbegünstigung und Gemeinnützigkeit – einen Absatz 3 hinzugefügt, in
dem es heißt:
Bei Körperschaften, die im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder
eines Landes als extremistische Organisation aufgeführt sind, ist
widerlegbar davon auszugehen, dass die Voraussetzungen des Satzes 1
[ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige oder
kirchliche Zwecke] nicht erfüllt sind.
– der VS hat mithin ein effektives Vetorecht für die Anerkennung
steuerlicher Begünstigung, was nicht weit weg ist von der Methode der
Klassifikation als ausländischer Agent durch das Justizministerium in
Russland[1]. Wie das die beschließenden ParlamentarierInnen mit
einem transparenten, gewaltengeteilten Staatsmodell zusammenbekommen
haben, ist mir schleierhaft.
Aber stellt sich raus: sie haben sich wohl als antifaschistisch bewegt
gewähnt, denn §51 (3) AO entstand als Folge des gescheiterten
Verbotsprozesses gegen die NPD. Zur Erinnerung: 2001 bis 2003 hatten
Bund und Länder versucht, die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht
verbieten zu lassen. Das scheiterte 2003, weil die diversen
Inlandsgeheimdienste sich weigerten, ihre MitarbeiterInnen abzuziehen
und Vertrauenspersonen abzuschalten, so dass klar hätte werden können,
wie viel der Organisation tatsächlich nicht nur aus Geheimdienst
besteht. Wo auf dem Spektrum von „NPD decken“, „die eigene
Existenzgrundlage aufbauen“ und „unfähig sein“ das anzusiedeln war,
bleibt bis auf Weiteres dem eigenen Geschmack überlassen (vgl. auch
Wikipedia zum ersten NPD-Verbotsverfahren).
Tatsäche ist jedenfalls: Der VS hat die NPD gerettet, und nun dachten
sich vermutlich nicht ganz übelmeinende Personen aus der Restpolitik,
der Laden sollte zumindest nicht noch anders als über den VS in großen
Mengen staatliches Geld bekommen. Dazu hätte eine Änderung im
Parteiengesetz gereicht (und selbst das hätte ich als schlechte Idee
klassifiziert). Dass auch die ganz normale Vereine regulierende
Abgabenordnung geändert wurde, nun, das könnten weniger wohlmeinende
Menschen auf den Fluren der Ministerien angeleiert haben. Vielleicht
war es aber auch wirklich nur der Versuch, proaktiv Schlupflöcher zu
stopfen.
Nun, zehn Jahre später wandte das Finanzamt Berlin das in sogar halbwegs
glaubhaftem antifaschistischem Furor geänderte Gesetz gegen die größte
antifaschistische Organisation der BRD.
Das hat letztes Jahr für einige Mobilisierung und viele Eintritte in die
VVN/BdA gesorgt, nicht jedoch für eine Änderung des anrüchigen §51 (3)
AO. Stattdessen haben sich Finanzamt Berlin und VS Bayern elegant aus
der öffentlichen Schusslinie genommen, indem der VS Bayern seine
Einschätzungen nur noch auf den bayrischen Landesverband der VVN
beschränkt und das Finanzamt Berlin daher die Bundesorganisation nicht
mehr als unerwünscht einstufen muss.
Was aber heißt: Der nächste VS, der einen Laden plattmachen will, der
sich auf Steuerbegünstigung verlässt, kann das immer noch tun.
In Russland sind im Laufe der Jahre eine Art Trucker-Gewerkschaft
und eine Selbsthilfe-Organisation von Diabetiker_innen in den Fokus
des ausländische-Agenten-Apparats gekommen. Dass VS und Finanzamt
immerhin auf die VVN-BdA und nicht etwa auf Männergesangsvereine
losgehen: das macht Hoffnung im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit
der deutschen Bürokratie jedenfalls im Vergleich zur russischen.
Mit einiger Verspätung habe ich gerade Bundestagsdrucksache
19/15346 durchgelesen, hauptsächlich, um herauszufinden, wie es wohl
mit PIAV weitergegangen ist, dem dystopischen Projekt des BKA, dem
Wildwuchs der Polizeidatenbanken ausgerechnet dadurch ein Ende zu
machen, dass im Wesentlichen alle alles finden und lesen können (gut,
das ist jetzt etwas vereinfachend, aber aus allen Erfahrungen mit
dem bestehenden BKA nicht sehr weit extrapoliert).
Der Lerneffekt der Lektüre in Sachen PIAV war überschaubar, aber dafür
bin ich auf eine beim BKA betriebene Datei „Übersicht offener
Haftbefehle PMK“ gestoßen, die so beschrieben wird:
Wenn ich die Spalte 6 (vom Innenministerium etwas unzutreffend „Zweck“
überschrieben) richtig interpretiere, lässt das BKA bei jedem Haftbefehl
(die kommen vermutlich wegen der ebenfalls beim BKA liegenden Haftdatei
bei ihnen vorbei) eine Abfrage gegen ihre verschiedenen Datenbanken
laufen. Dabei wäre schon mal interessant, welche das konkret sind: Nur
der KAN? Die Gewalttäter-Dateien? Auch die Top-Secret-Amtsdateien?
Sofern sich bei dieser Suche an der zu verhaftenden Person ein
personengebundener Hinweis (PHW) wie LIMO, REMO oder AUMO zeigt, wird
offenbar ein neuer Eintrag in dieser Haftbefehl-PMK-Datei generiert, und
zwar ganz egal, ob die der Haftstrafe zugrundeliegende Straftat
irgendwas mit mutmaßlichen Gesinnungen zu tun haben könnte oder nicht.
Ich hätte dazu ein paar Fragen:
Hat da jemals jemand einen tatsächlichen Zweck formuliert? Also
anfangend mit: „Wenn jemand wegen eines Waffendelikts einfahren soll
und es ist ein Fascho, dann ist es gut™, wenn wir wissen, dass ein
Fascho und nicht nur irgendwer wegen eines Waffendelikts einfahren
soll.“
Hat dann wer gesagt, wie „dann ist es gut“ zu irgendeinem Nutzen
werden könnte, der dem doch recht drastischen Eingriff in die
Menschenrechte der Betroffenen proportional sein könnte?
Warum brauchts dann dazu, Schwarzfahrende mit und ohne Protesthintergrund
verschieden zu behandeln? Ich biete übrigens eine 1:1-Wette an, dass von
den Leuten, deren politischer PHW irgendeine Wurzel in der Realität
hat, die breite Mehrheit Linke sind, die wegen entweder Dope oder
Schwarzfahren einfahren sollen; meine Fantasie reicht nicht, für so
eine Speicherung auch nur irgendeine Rechtfertigung zu finden jenseits
von „lass uns die Zecken noch etwas ärgern“.
Hat da jemals jemand von einer Datenschutzbehörde draufgeschaut?
Meine Arbeitshypothese: Die Prüfenden hat der Schlag getroffen,
weshalb sie das nicht gleich laut im Datenschutzbericht angeprangert
haben (dem BKA untersagen können sie ja leider in der Praxis nicht
viel).
Als schwacher Trost bleibt, dass die PHWs, die in den verschiedenen
Datenbanken so vergeben sind, selbst weitgehend beliebig sind und
Datenschutzprüfungen nur in Ausnahmefällen überstehen. Das setzt
zumindest mal große Fragezeichen hinter die Eignung dieser Datei für
eigentlich alles, denn Leute im Wesentlichen nach dem Zufallsprinzip in
eine Datei stecken mag beim BKA Routine sein, für alle anderen ist es
schlicht fieser Quatsch.
Das tröstet ein wenig, denn menschenrechtsfeindlicher Quatsch schlägt
immerhin nur nach dem Zufallsprinzip ein. Das ist immer noch besser
als zielgerichtete Spezialunterdrückung für politisch aktive Menschen.
Nachtrag (2021-06-05)
Stellt sich raus: Das ist in Wirklichkeit relativ harmlos und jedenfalls
nicht die Idee der Polizei. Die Datei wurde eingerichtet, um
Bundestagsanfragen zu offenen Haftbefehlen gegen vermutliche
FaschistInnen beantworten zu können, und weil das BKA extremistisch der
Extremismustheorie anhängt, haben sie dann gleich alles, was sie in PMK
einordnen, in eine Datei gekippt. Warum sie nicht einfach ein bisschen
SQL laufen lassen zur Beantwortung der Anfragen, verstehe ich nicht
ganz; freie Anfragen über so kitzligen Beständen sind zwar vom
Datenschutz her ziemlich kritisch, aber wenn die Ausgabe so stark
aggregiert ist wie hier, wäre das sicher milder gegenüber einer eigenen
und dauerhaften Datenbank-Tabelle (einem View?).
Auf der anderen Seite: Wenn die Polizei diese Tabelle gar nicht
wollte, bleibt als Haupt-Ärger vor allem die völlig unklare
Zweckbestimmung. Hätten sie gleich gesagt, worum es geht, hätte ich mir
den ganzen Post sparen können.
Via Forschung aktuell vom 5. Mai (ab 18:35) bin ich über ein
weiteres Beispiel für vielleicht nicht mehr ganz vertretbare, aber
leider doch sehr spannende Experimente an Tieren gestolpert: Eran
Amichai und Yossi Yovel von der Uni Tel Aviv und dem Dartmouth
College haben festgestellt, dass (jedenfalls) Weißrandfledermäuse eine
angeborene Vorstellung von der Schallgeschwindigkeit haben
(„Echolocating bats rely on innate speed-of-sound reference“,
https://doi.org/10.1073/pnas.2024352118; ich glaube, den Volltext gibts
außerhalb von Uninetzen nur über scihub).
Die beeindruckendsten Fledertiere, die ich je gesehen habe: Große
Flughunde, die abends in großen Mengen am Abendhimmel von Pune ihre Runden
drehen. Im Hinblick auf die Verwendung dieses Fotos bei diesem
Artikel etwas blöd: Diese Tiere machen gar keine Echoortung.
Das ist zunächst mal überraschend, weil die Schallgeschwindigkeit in
Gasen und Flüssigkeiten von deren Dichte abhängig ist und sie damit für
Fledermäuse je nach Habitat, Wetter und Höhe schwankt. Für ideale Gase
lässt sie sich sogar recht leicht ableiten, und das Ergebnis ist: c =
(κ p/ρ)½, wo c die Schallgeschwindigkeit, p der Druck und
ρ die Dichte ist. Den Adiabatenexponent κ erklärt bei Bedarf die
Wikipedia, er ändert sich jedenfalls nur, wenn die Chemie des Gases
sich ändert. Luft ist, wenn ihr nicht gerade in Hochdruckkammern steht
(und da würdet ihr nicht lange stehen), ideal genug, und so ist die
Schallgeschwindigkeit bei konstantem Luftdruck in unserer Realität in
guter Näherung umgekehrt proportional zur Wurzel der Dichte der Luft.
Nun hat Helium bei Normalbedingungen eine Dichte von rund 0.18 kg auf
den Kubikmeter, während Luft bei ungefähr 1.25 kg/m³ liegt (Faustregel:
1 m³ Wasser ist rund eine Tonne, 1 m³ Luft ist rund ein Kilo; das hat
die Natur ganz merkfreundlich eingerichtet). Der Adiabatenexponent für
Helium (das keine Moleküle bildet) ist zwar etwas anders als der von
Stickstoff und Sauerstoff, aber so genau geht es hier nicht, und deshalb
habe ich 1/math.sqrt(0.18/1.25) in mein Python getippt; das Ergebnis
ist 2.6: grob so viel schneller ist Schall in Helium als in Luft (wo es
rund 300 m/s oder 1000 km/h sind; wegen des anderen κ sind es in Helium
bei Normalbedingungen in Wahrheit 970 m/s).
Flattern in Heliox
Das hat für Fledermäuse eine ziemlich ärgerliche Konsequenz: Da sich die
Tiere ja vor allem durch Sonar orientieren und in Helium die Echos 3.2
mal schneller zurückkommen würden als in Luft, würden an Luft gewöhnte
Fledermäuse glauben, all die Wände, Wanzen und Libellen wären 3.2-mal
näher als sie wirklich sind. Immerhin ist das die sichere Richtung,
denn in einer Schwefelhexaflourid-Atmosphäre (um mal ein Gas mit einer
sehr hohen Dichte zu nehmen, ρ = 6.6 kg/m³) ist die
Schallgeschwindigkeit nur 44% von der in Luft (wieder ignorierend, dass
das Zeug einen noch anderen Adiabatenexponenten hat als He,
O2 oder N2), und die Tiere würden sich noch zwanzig
Zentimeter von der Wand weg wähnen, wenn sie in Wirklichkeit schon mit
den Flügeln an sie anschlagen könnten – die Weißrandfledermäuse, mit
denen die Leute hier experimentiert haben, haben eine Flügelspannweite
von rund 20 Zentimetern (bei 10 Gramm Gewicht!). Wer mal Fledermäuse hat
fliegen sehen, ahnt, dass das wohl nicht gut ausgehen würde.
Aber das ist natürlich Unsinn: In Schwefelhexaflourid ist die Trägheit
des Mediums erheblich größer, und das wird die Strömungseigenschaften
und damit den dynamischen Auftrieb der Fledermausflügel drastisch
ändern[1]. Was auch umgekehrt ein Problem ist, denn in einer
Helium-Atmosphäre mit der um fast einen Faktor 10 geringeren
spezifischen Trägheit funktionieren die Fledermausflügel auch nicht
ordentlich. Ganz zu schweigen davon natürlich, dass die Tiere darin
mangels Sauerstoff ersticken würden.
Deshalb haben Amichal und Co mit Luft-Helium-Mischungen („Heliox“)
experimentiert. Dabei haben sie die Schallgeschwindigkeit in einigen
Experimenten um 27% erhöht, in der Regel aber nur um 15%[2].
Dass die beiden zwei Helioxmischungen am Start hatten, wird wohl
einerseits daran liegen, dass die 15% allenfalls knapp über der
natürlichen Schwankungsbreite der Schallgeschwindigket durch Temperatur,
Luftdruck und Luftfeuchtigkeit (die gehen ja auch alle auf die Dichte)
liegen. Mit 27% aber hatten die Fledermäuse doch zu große Probleme mit
dem Fliegen, und das wäre keine Umwelt, in der kleine Fledermäuse
aufwachsen sollten.
Im Artikel schreiben die Leute dazu etwas hartherzig:
“Category I” [von Fehlflügen] included flights in which the bat
clearly did not adjust motor responses to the lessened lift and landed
on the floor less than 50 cm from takeoff.
– was eine recht zurückhaltende Umschreibung von „Absturz“ ist. Einige
Tiere hatten davon schnell die Nase voll:
Treatments [nennt mich pingelig, aber die Bezeichnung der
Experimente als „Behandlung“ ist für mich schon auch irgendwo am
Euphemismus-Spektrum] were completed in one session with several
exceptions: two individuals refused to fly at 27% SOS after 2 d, and
those treatments were therefore done in two sessions each, separated
by 1 d in normal air.
Unter diesen Umständen liegt auf der Hand, dass „Köder gefangen und
gefressen“ kein gutes Kriterium ist dafür, ob sich die Fledermäuse auf
Änderungen der Schallgeschwindigkeit einstellen können – viel
wahrscheinlicher waren sie einfach mit ihren Flugkünsten am Ende.
Tschilpen und Fiepen
Es gibt aber einen Trick, um die Effekte von Wahrnehmung und
Fluggeschick zu trennen. Jagende Fledermäuse haben nämlich zwei Modi der
Echoortung: Auf der Suche und aus der Ferne orten sie mit relativ lang
auseinanderliegenden, längeren Pulsen, also etwa Tschilp – Tschilp –
Tschilp. In der unmittelbaren Umgebung der Beute (in diesem Fall so ab
40 cm wahrgenommener Entfernung) verringern sie den Abstand zwischen den
Pulsen, also etwa auf ein Fipfipfipfip. Auf diese Weise lässt sich
recht einfach nachvollziehen, welchen Abstand die Tiere selbst messen,
wobei „recht einfach“ hier ein Aufnahmegerät für Ultraschall
voraussetzt. Wenn sie in zu großer Entfernung mit dem Fipfipfip
anfangen, nehmen sie die falsche Schallgeschwindigkeit an.
Bei der Auswertung von Beuteflügen mit und ohne Helium stellt sich, für
mich sehr glaubhaft, heraus, dass Fledermäuse auch nach längerem
Aufenhalt in Heliox immer noch unter Annahme der Schallgeschwindigkeit
in (reiner) Luft messen: Diese muss ihnen also entweder angeboren sein,
oder sie haben sie in ihrer Kindheit fürs Leben gelernt.
Das Hauptthema der Arbeit ist die Entscheidung zwischen diesen
beiden Thesen – nature or nurture, wenn mensch so will. Deshalb haben
Amichal und Co 24 Fledermausfrauen aus der Wildnis gefangen, von
denen 16 schwanger waren und die schließlich 18 Kinder zur Welt gebracht
haben. Mütter und Kinder mussten für ein paar Wochen im Labor leben, wo
sie per Kunstlicht auf einen für die Wissenschaftler_innen bequemen
Tagesrhythmus gebracht wurden: 16 Stunden Tag, 8 Stunden Nacht, wobei
die Nacht, also die Aktivitätszeit der Tiere, zwischen 10 und 17 Uhr
lag. Offenbar haben BiologInnen nicht nennenswert andere Bürozeiten als
AstronomInnen.
Mit allerlei Mikrofonen wurde überprüft, dass die Tiere während ihres
Tages auch brav schliefen; auf die Weise musste die Heliox-Mischung
nur während der Arbeitszeit aufrechterhalten werden, während die Käfige
in der Nacht lüften konnten, ohne dass die Heliox-Fledermäuse sich
wieder an richtige Luft hätten gewöhnen können.
Jeweils acht Fledermausbabys wuchsen in normaler Luft bzw. Heliox-15
auf, den doch recht argen Heliox-27-Bedingungen wurden sie nur für
spätere Einzelexperimente ausgesetzt. Dabei hat sich gezeigt, dass die
Kinder unabhängig von ihrer Kindheitsatmosphäre in gleicher Weise orten:
Der Umschlag von Tschilp-Tschip nach Fipfip passierte jeweils bei
gleichen Schall-Laufzeiten unabhängig von der wirklichen Distanz.
Warum tun sie das?
Diese Befunde sind (aus meiner Sicht leider) nur recht schwer
wegzudiskutieren, das wirkt alles recht wasserdicht gemacht. Was die
Frage aufwirft, warum die Tiere so hinevolutioniert sind. Amichal und
Yovel spekulieren, ein Einlernen der Schallgeschwindigkeit habe sich
deshalb nicht herausgebildet, weil Weißrandfledermäuse in der Wildnis
sehr schnell erwachsen werden und selbst jagen müssen, weshalb es nicht
genug Zeit zum Üben und Lernen gebe.
Das wäre wohl testbar: Ich rate jetzt mal, dass größere (oder andere)
Fledermäuse längere Kindheiten haben. Vielleicht lernen ja die das?
Oder vielleicht hängt die festverdrahtete Physik auch daran, dass
Weißrandfledermäuse eigentlich durchweg mit ziemlich konstanter
Schallgeschwindigkeit leben? Dann müsste das etwa bei mexikanischen
Bulldoggfledermäusen (die aus dem Bacardi-Logo) anders sein, für die
der Artikel Flughöhen von 3 km zitiert.
Auch wenn die Sache mit dem Einsperren und Abstürzenlassen von
Fledermäusen schon ein wenig gruselig ist: die Wortschöpfungen
„Luftwelpen“ und „Helioxwelpen“ haben mich beim Lesen schon angerührt –
wobei „Welpe“ für das Original „pup“ eingestandermaßen meine
Übersetzung ist. Gibt es eigentlich einen deutsches Spezialausdruck für
„Mauskind“?
Abschließend doch noch ein Schwachpunkt: In der Studie habe ich nichts
zum Einfluss des Mediums auf die Tonhöhe der Rufe gelesen[3]. Den
muss es aber geben – die Demo von PhysiklehrerInnen, die Helium einatmen
und dann mit Micky Maus-Stimme reden, hat wohl jedeR durchmachen
müssen. Die Schallgeschwindigkeit ist ja einfach das Produkt von
Frequenz und Wellenlänge, c = λ ν, und da λ hier durch die Länge der
Stimmbänder (bei entsprechender Anspannung des Kehlkopfs) festliegen
sollte, müsste die Frequenz der Töne in 27%-Heliox eben um einen Faktor
1.27, also ungefähr 5/4, niediger liegen. In der Musik ist das die große
Terz, etwa das Lalülala einer deutschen Polizeisirene. Und jetzt frage
mich mich natürlich, ob das die Fledermäuse nicht merken …
Juni 2001 im Berliner Tiergarten: Visionäre Ansagen.
Ich bilde mir ja ein, dass ich eine gewisse Sensibilität für
Antisprache habe, also Wörtern und Fomulierungen, die Bedeutung
annihiliern statt transportieren. Aber das schöne Interview mit Dirk
Schneidemesser vom IASS in der taz von heute hat mich eines Besseren
belehrt. Dass „parken“ eine rücksichtslose Okkupation öffentlichen
Raumes verschleiert, „Unfall“ völlig gegen die Realität so tut, als sei
Verkehrsgewalt (Schneidemessers Terminologie) Ausnahme und nicht Regel
und „gesperrt“ bei einer Straße, die gerade für die Nutzung durch
Menschen geöffnet wurde, komplett sinnwidrig ist: Das alles ist mir erst
beim Lesen des Interviews klar geworden.
Das ist für einen passionierten Autofeind und Antisprach-Beobachter wie
mich schon ziemlich peinlich.
Da hilft traditionell nur eins: öffentliche Selbstkritik!
Wenn PhysikerInnen Bücher über Molekularbiologie lesen (so wie ich
derzeit dann und wann), sollten sie sich wahrscheinlich öfter mal
schämen, weil sie Dinge faszinieren, die Menschen krankmachen. Aber
andererseits weht ein Geist der Einsicht, wenn makroskopische, fast
alltägliche Phänomene atomare Grundlagen haben.
Gerade habe ich etwas über erbliche Hypomagnesiämie gelesen, also
einen genetisch bedingten Magnesiummangel, speziell das
Meier-Blumberg-Imahorn-Syndrom (und wieder mal haut mich um, dass in
der Wikipedia über fast alles etwas steht, auch wenn dieser spezielle
Artikel mich gewiss nicht fasziniert hätte).
Wesentliches Symptom dieser Krankheit sind Krämpfe, wie vielleicht
erwartbar bei Magnesiummangel; doch können die Betroffenen Magnesium zu
sich nehmen, so viel sie wollen, die Krämpfe bleiben. Das liegt daran,
dass die Niere ohne weitere Maßnahmen endlos Magnesium verliert und es
deshalb im Normalbetrieb fleißig rückresorbiert, es also aus dem in der
Produktion befindlichen Urin wieder in den Körper zurückdiffundieren
lässt. Ein klarer Hinweis auf eine Störung in dem System: Bei den
Betroffenen geht der sehr niedrige Magnesiumspiegel im Blut mit einem
sehr hohen Magnesiumspiegel im Urin einher.
Die Rückresorption nun funktioniert bei der erblichen Hypomagnisiämie
nicht, weil die Zellen im Nieren-Epithel – also so einer Art innerer
Haut, die Blut und Urin trennt – zu fest zusammenkleben. Zellen solcher
Epithelien nämlich kleben sich ziemlich weit an der Außenseite („apikal“
– allein die Terminologie begeistert mich ja immer) fest zusammen.
„Tight Junction“ heißt das im Englischen und wohl im Wesentlichen
auch im Deutschen.
Diese Tight Junctions sehen in verschiedenen Hauttypen jeweils leicht
anders aus und können sozusagen gezielt Lücken lassen, je nach dem, wo
das Epithel ist und was die Epithelzellen noch so alles tun können und
wollen. Im Magen z.B. sollte die apikal (Ha!) schwappende starke Säure
wohl besser gar nicht durchkommen, im Darm gehen Natriumionen auch mal
an den sortierenden Zellen vorbei direkt ins Blut.
Karikaturen der drei Sorten von Bindungsmolekülen von Tight Junctions.
Die dicken grauen Striche sind die Zellmembran, die Klebemoleküle sind
als tief in den jeweiligen Zellen verankert, damit das auch ordentlich
hält. Aus: Lodish, H. et al: Molecular Cell Biology, 5. Auflage.
In normal funktionierenden Nieren geht die Rückresorption des
Magnesiums durch die Tight Junctions, die dafür natürlich die passenden
Lücken lassen müssen. Mein Physikherz schließlich schlug höher weil
„wir“ (also… „die Menschheit“) ganz gut verstehen, was da molekular
passiert. Im Groben machen drei Gruppen von Proteinen das
Montagematerial an den Tight Junctions aus: Occludine und Claudine
(die im Wesentlichen Schlaufen aus der Zellmembran heraus bilden) sowie
antikörperähnliche JAMs („junction adhesion molecules“; ich glaube,
die haben es noch nicht in die deutsche Wikipedia geschafft), die im
Gegensatz dazu eher lange hakenartige Strukturen bilden.
Die spezifischen Formen dieser Moleküle bestimmen, was durch die Tight
Junctions durchkann, wenn sie sich erstmal mit ihren Gegenstücken der
Nachbarzellen gefunden haben. Im Fall der erblichen Hypomagnesiämie nun
ist sogar klar, welches Molekül genau die Löcher für die Magnesiumionen
lässt. Es trägt den vielleicht etwas enttäuschenden Namen
Claudin-19, und wir wissen auch, wo das kodierende Gen liegt: Chromosom
1, p34.2. Eine ungünstige Mutation dort, und ihr habt in einem Fort
Krämpfe.
Von Muskelkrämpfen zu Atomphysik in ein paar relativ kleinen Schritten:
Ich sollte Molekularbiologe werden.
Allerdings: Die Rolle der Claudine wurde mit Knock-out-Mäusen geklärt.
Bäh. Das ist ja so schon schlimm genug, aber die Vorstellung, was für
Wesen herauskommen, wenn jemand den Zusammenhalt von Epithelien
ausschaltet: Oh Grusel. Für mich: Dann doch lieber zurück zu den Sternen.
Aber wo Christine Westerhaus es in dem Beitrag schon gesagt hat, konnte
ich einer neuen Tiergeschichte nicht widerstehen: Von Lachsen und
Eltern. Aktualität gewinnt das, weil ich klar nicht der Einzige bin,
dem es etwas merkwürdig vorkommt, wie fast alle Eltern auf der einen
Seite ostentativ darauf bestehen, ihre Kinder seien ihr Ein und Alles,
auf der anderen Seite aber die Große Kinderverdrossenheit von
Corona ganz öffentlich zelebrieren. Mal ehrlich: Wäre ich jetzt Kind,
wäre ich angesichts des herrschenden Diskurses von geschlossenen Schulen
als etwas zwischen Menschenrechtsverletzung und Katastrophe schon etwas
eingeschnappt.
Allerdings: vielleicht ist das ja gar keine Kinderverdrossenheit,
sondern Verdrossenheit mit der Lohnarbeit, auf die mensch aber noch
weniger schimpfen darf als auf die Kinder?
Wie auch immer, ernsthaft beunruhigt waren Lachse am NINA in
Trondheim, als eine Klasse lärmender Kinder um ihr Aquarium herumtobte.
Und dieses Mal sind sie belauscht worden. So klingen vergnügte Lachse:
Und so welche mit tobenden Kindern:
Wie es in der Sendung heißt: „They think school kids are scary.“ Sie.
Die Lachse.
PSA: Wenn euer Browser keine Lachstöne abspielt, beschwert euch bei
dessen Macher_innen: Ogg Vorbis sollte im 3. Jahrtausend wirklich alles
dekodieren können, was Töne ausgibt.
Als ich gestern endlich mal die autoritäre Versuchung in einiger
Breite diskutiert habe, war eines der Argumente gegen die bequeme Lösung
von Konflikten mit Zwang und Gewalt, dass diese Lösungen zwar manchmal
den erwünschten Effekt haben, aber in der Regel auch ziemlich
haarsträubende Nebenwirkungen.
Hydrilla-Pflanzen in einem Foto vom US Geological Survey.
Dazu ist mir heute in einem Beitrag zu Forschung aktuell vom 26. März
ein relativ exotisches Beispiel untergekommen, allerdings ziemlich weit
ab von den sozialen Konflikten, über die ich gestern vor allem
geschrieben habe. Es ging in der Sendung um ein aktuelles
Science-Paper von Steffen Breinlinger, Tabitha Phillips und
KollegInnen (DOI 10.1126/science.aax9050). Die Leute haben
untersucht, warum ab Mitte der 1990er in bestimmten Gebieten der
südlichen USA eine deutliche Übersterblichkeit von Weißkopf-Seeadlern
und, bei näherem Hinsehen, entlang ganzer Nahrungsketten in und über
Süßwasserseen auftrat.
Zunächst war schon vor der Arbeit eine Korrelation der toten Vögel
mit der Besiedlung von Seen durch Hydrilla (eine dort vom Menschen vor
relativ kurzer Zeit aus der alten Welt eingeführte Wasserpflanze)
aufgefallen, genauer durch Hydrilla und ein Cyanobakterium, das auf
dieser haust. Das Weitere hatte etwas von einer Sherlock
Holmes-Geschichte, denn Nachzucht und Verfütterung des Cyanobakteriums
waren ein Haufen Arbeit – und führten zu nichts: Tiere, die den
Hydrilla-Cyanobakterien-Cocktail verzehrten, fühlten sich prima.
Erst mit echtem Pamp aus den todbringenden Seen erkannten die
WissenschaftlerInnen, dass das Problem nicht das Cyanobakterium an sich
war, sondern im Wesentlichen die Fähigkeit von Hydrilla, Brom
anzureichern; erst mit wenigstens etwas Kaliumbromid im Wasser und
Hydrilla zur Bromid-Anreicherung wurden die Cyanobaktierien giftig.
Damit stellt sich die Frage, woher die Bromide in der freien Natur
kommen. Und da kommen wir zu den autoritären Lösungen. Hydrilla ist
invasiv, breitet sich also ziemlich stark aus, seit jemand mal sein
Aquarium in einen See gekippt und die Pflanze so in die Gewässer der
südlichen USA gebracht hat. Um der Ausbreitung Herr zu werden, wurde
wohl teils auf Herbizide zurückgegriffen, die bromierte
Kohlenwasserstoffe enthielten.
Tja: Da hat wohl wer einer autoritären Versuchung nachgegeben und die
einfache Lösung gesucht durch, na ja, das nächste Aquivalent zu Gewalt
an Pflanzen. Vermutlich hat das nicht mal besonders gut gegen Hydrilla
geholfen – es muss ja noch genug davon gegeben haben, dass Tiere durch
Abweiden (bzw. Fressen der Abweidenden) das Cyanobakterien-Gift
anreichen konnten. Aber plausiblerweise hat das Herbizid, die „Lösung“,
am Schluss die Seeadler (und Eulen und Milane) umgebracht.
Der Fairness halber: Vielleicht wars auch gar nichts in der Richtung.
Brom könnte auch aus weggeworfenem Kram mit Flammschutzmitteln (das
waren traditionell halogenierte Kohlenwasserstoffe) oder aus der
Reinigung von Abgasen der Kohleverstromung kommen. Und klar, es gibt
auch natürliche Vorkommen von Bromverbindungen. So ist das halt mit
Wissenschaft: Richtig eindeutige Antworten brauchen lange Zeit.
Seit einiger Zeit blättere ich öfter mal in Shoshana Zuboffs Age of
Surveillence Capitalism und finde es immer wieder nützlich und
gleichzeitig verkehrt. Dazu will ich etwas mehr schreiben, wenn ich
es ganz gelesen habe, aber jetzt gerade hat mich ihr Generalangriff auf
den Behaviorismus – auch der gleichzeitig richtig und falsch – wieder
an einen Gedanken aus Bertrand Russells A History of Western
Philosophy erinnert, der mich immer wieder beschäftigt – und den ich
sehr profund finde. Im Groben: „In politischen Theorien ist
Menschlichkeit wichtiger als Stringenz”. Oder: das „worse is better“
der Unix-Philosophie, das mensch trefflich kritisieren kann, ist
zumindest fürs politische Denken in der Regel angemessen.
Was ist eigentlich eine Menge?
Gegenstück zu worse is better: Eine LISP-Maschine im MIT-Museum.
Dabei konnte Russell beeindruckend stringent denken, etwa auf den paar
hundert Seiten, die er in den Principia Mathematica füllte, um sich
der Richtigkeit von 1+1=2 zu versichern.
Oder auch in der Russell'schen Antinomie, die ich in meinen
Einführungsvorlesungen in die formalen Grundlagen der Linguisitk immer
zur Warnung vor der naiven Mengendefinition – eine Menge sei ein Haufen
von „Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens“ – gebracht habe.
Wäre diese Definition nämlich ok, müsste es auch die Menge aller
Mengen geben, die sich nicht selbst enthalten. Nennen wir sie mal Ξ
(ich finde, das große Xi ist in Mathematik und Physik deutlich
unterverwendet). Die wesentliche Frage, die mensch einer Menge stellen
kann ist: Ist irgendwas in dir drin, also: „x ∈ Ξ“?
Und damit kommt Russells geniale Frage: Ist Ξ ∈ Ξ oder nicht? Schauen
wir mal:
Wenn Ξ ∈ Ξ gälte, enthält Ξ sich selbst, ist also nicht in der Mengen
aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, entgegen der Annahme in
diesem Spiegelstrich.
Ist aber Ξ ∉ Ξ, so enthält sich Ξ nicht selbst, wäre es also in der
Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten und müsste sich
also selbst enthalten. Passt wieder nicht.
Brilliant, oder? Die Lösung dieser „Russell'schen Antinomie“ ist
übrigens, sich bei der Definition von „Menge“ etwas mehr Mühe zu
geben.
Wer das nachvollzogen hat, wird wohl die Weisheit von Russells
Entscheidung erkennen, nach den Principia Mathematica eher
konventionelle Philosophie zu betreiben. In diesem Rahmen hat er 1945
seine überaus lesbare Darstellung der „westlichen“ Philosophie
veröffentlicht, in der er sich deutlich als Fan von John Locke outet, den
„apostle of the Revolution of 1688, the most moderate and the most
successful of all revolutions“, erfolgreichst, denn „no
subsequent revolution has hitherto been found necessary in England.“
Über das „found necessary“ könnte mensch angesichts des Elends, das
noch in den Werken von George Orwell – geschrieben, während Russell in
den 1940ern an seiner History arbeitete – deutlich wird, sicher
streiten, aber vielleicht ist das durch „most moderate“ noch hinreichend
abgedeckt.
Vernünftig vs. Widerspruchsfrei in der politischen Doktrin
Viel wichtiger ist mir aber Russells Beobachtung: „Pragmatically, the
theory was useful, however mistaken it may have been theoretically. This
is typical of Locke's doctrines.“ Etwas später sagt er: „No one has yet
succeeded in inventing a philosophy at once credible and
self-consistent. Locke aimed at credibility, and achieved it at the
expense of consistency. Most of the great philosophers have done the
opposite.“
Also in etwa: in der Philosophie – und da würde ich etwas hinter Russell
zurückgehen wollen und sagen: Politik und Soziologie – gibt es nicht
gleichzeitig „glaubwürdig“ (sagen wir lieber: menschlich) und
widerspruchsfrei. Ich glaube, Russell kam zu diesem desillusionierten
Einsichten aus Enttäuschung mit der russischen Revolution, deren
Scheitern, jedenfalls im Sinne von Freiheit, Gleichheit und
Solidarität für die Bürger_innen der Sowjetunion, er wahrscheinlich mit
übermäßiger ideologischer Strenge erklärte; jedenfalls führte er
Lockes gedankliche Geschmeidigkeit zurück auf dessen Erfahrungen des
britischen Bürgerkriegs der 1640er Jahre.
Immer wieder spottet Russell freundlich über Lockes, nun, Liberalität,
so etwa, wenn Hume einen schlimmen Irrtum beging, weil er „a better
intellect than Locke's, a greater acuteness in analysis, and a smaller
capacity for accepting comfortable inconsistencies“ hat. Oder wenn er
Lockes Methode so umschreibt:
[Er ist] always willing to sacrifice logic rather than become
paradoxical. He enunciates general principles which, as the reader can
hardly fail to perceive, are capable of leading to strange
consequences; but whenever the strange consequences seem about to
appear, Locke blandly refrains from drawing them. To a logician this
is irritating; to a practical man, it is a proof of sound judgement.
Was ich daraus mache: Wenn du über die Gesellschaft nachdenkst und du
kommst auf Menschenfresserei, müssen deine Ausgangsgedanken nicht
unbedingt Quatsch sein – das kann schon mal passieren, wenn ein Haufen
Leute sich streiten. Du solltest aber trotzdem nicht Menschenfresser_in
werden.
Freundlichkeit vs. Radikalität in der politischen Praxis
Eine derzeit ganz naheliegende Anwendung: So sehr es scheiße ist, wenn
Leute an eigentlich vermeidbaren Krankheiten sterben: Die autoritäre
Fantasie, einfach alle einzusperren, bis die SARS-2-Pandemie vorbei ist,
ist schon deshalb nicht menschenfreundlich, weil so ein Präzedenzfall
zu inflationären Forderungen nach ähnlich autoritären Maßnahmen führen
wird (alles andere mal beiseitegelassen). Umgekehrt führt das
unbedingte Bestehen auf Grundrechten wie Freizügigkeit, die
Zurückweisung staatlicher Autorität, auch wo diese nicht immer so
richtig wissenschaftlich unterfüttert ist, zu einem schlimmen Gemetzel.
Es bleibt, sich da irgendwie durchzumogeln (und das, ich gebs immer noch
nicht gerne zu, hat die Regierung recht ordentlich gemacht), und das
ist wohl, was was Russell an Locke mag.
Also: Im realen Umgang mit Menschen ist Freundlichkeit oft wichtiger als
Konsequenz. Dass Russell, obwohl er fast jeden Gedanken von Locke
widerlegt, seine gesamte Lehre sehr wohlwollend betrachtet, ist eine
sozusagen rekursive Anwendung dieses Prinzips.
Leider, und da kommen wir beinahe auf die Russell'sche Antinomie zurück,
bin ich aber überzeugt, dass auch die Mahnung, es mit den Prinzipien
nicht zu
weit zu treiben, dieser Mahnung selbst unterliegt. Folterverbot oder
Ausschluss der Todesstrafe etwa würde ich gerne unverhandelbar sehen.
Locke hätte mit dieser fast-paradoxen Selbstanwendung von
Nicht-Doktrinen auf Nicht-Doktrinen bestimmt keine Probleme gehabt. Bei
mir bin ich mir noch nicht ganz sicher.
Aber ich versuche, Zuboff mit der Sorte von Wohlwollen zu lesen, die
Russell für Locke hatte.
Nachtrag (2021-04-10)
Weil ich gerade über irgendeinen Twitter-Aktivismus nachdenken
musste (bei dem jedenfalls für mein Verständnis allzu oft gute Absichten
zu böser Tat werden), ist mir aufgefallen, dass meine
Russell-Interpretation eigentlich zusammenzufassen ist mit: „Radikalität
ist wichtig, aber Freundlichkeit ist wichtiger“. Das hat mir auf Anhieb
gefallen, weshalb ich es auch gleich als TL;DR über den Artikel gesetzt
habe.
Dann habe ich geschaut, ob duckduckgo diesen Satz kennt.
Erstaunlicherweise nein. Auch bei google: Fehlanzeige. Ha!
Und je mehr ich darüber nachdenke, gerade auch im Hinblick auf ein paar
Jahrzehnte linker Politik: RiwaFiw hätte vieles besser gemacht, und,
soweit ich sehen kann, fast nichts schlechter.
Gut: Es ist keine Sepie. Aber dieser Oktopus ist bestimmt noch
viel schlauer.
Mal wieder gab es in Forschung aktuell ein Verhaltensexperiment, das
mich interessiert hat. Anders als neulich mit den Weißbüschelaffen
sind dieses Mal glücklicherweise keine Primaten im Spiel, sondern
Tintenfische, genauer Sepien – die mir aber auch nahegehen, schon, weil
das „leerer Tab“-Bild in meinem Browser eine ausgesprochen putzige Sepie
ist. Den Beitrag, der mich drauf gebraucht hat, gibt es nur als
Audio (1:48 bis 2:28; Fluch auf die Zeitungsverleger), aber dafür ist
die Original-Publikation von Alexandra Schnell et al (DOI
10.1098/rspb.2020.3161) offen.
Grober Hintergrund ist der Marshmallow-Test. Bemerkenswerterweise
zitiert der Wikipedia-Artikel bereits die Sepien-Publikation, nicht
jedoch kritischere Studien wie etwa die auf den ersten Blick ganz gut
gemachte von Watts et al (2018) (DOI: 10.1177/0956797618761661).
Schon dessen Abstract nimmt etwas die Luft aus dem reaktionären
Narrativ der undisziplinierten Unterschichten, die selbst an ihrem Elend
Schuld sind:
an additional minute waited at age 4 predicted a gain of approximately
one tenth of a standard deviation in achievement at age 15. But this
bivariate correlation was only half the size of those reported in the
original studies and was reduced by two thirds in the presence of
controls for family background, early cognitive ability, and the home
environment. Most of the variation in adolescent achievement came from
being able to wait at least 20 s. Associations between delay time and
measures of behavioral outcomes at age 15 were much smaller and rarely
statistically significant.
Aber klar: „achievement“ in Zahlen fassen, aus denen mensch eine
Standardabweichung ableiten kann, ist für Metrikskeptiker wie mich
auch dann haarig, wenn mich die Ergebnisse nicht überraschen. Insofern
würde ich die Watts-Studie jetzt auch nicht überwerten. Dennoch fühle
ich mich angesichts der anderen, wahrscheinlich eher noch schwächeren,
zitierten Quellen eigentlich schon aufgerufen, die Wikipedia an dieser
Stelle etwas zu verbessern.
Egal, die Tintenfische: Alexandra Schnell hat mit ein paar Kolleg_innen
in Cambridge also festgestellt, dass Tintenfische bis zu zwei
Minuten eine Beute ignorieren können, wenn sie damit rechnen, später
etwas zu kriegen, das sie lieber haben – und wie üblich bei der Sorte
Experimente ist der interessanteste Teil, wie sie es angestellt haben,
die Tiere zu irgendeinem Handeln in ihrem Sinn zu bewegen.
Süß ist erstmal, dass ihre ProbandInnen sechs Tintenfisch-Jugendliche im
Alter von neun Monaten waren. Die haben sie vor einen Mechanismus
(ebenfalls süß: Die Autor_innen finden den Umstand, dass sie den
3D-gedruckt haben, erwähnenswert genug für ihr Paper) mit zwei
durchsichtigen Türen gesetzt, hinter denen die Sepien jeweils ihre
Lieblingsspeise und eine Nicht-so-Lieblingsspeise (in beiden Fällen
irgendwelche ziemlich ekligen Krebstiere) sehen konnten. Durch
irgendwelche Sepien-erkennbaren Symbole wussten die Tiere, wie lange
sie würden warten müssen, bis sie zur Leibspeise kommen würden, zum
langweiligen Essen konnten sie gleich, und sie wussten auch, dass sie
nur einen von beiden Ködern würden essen können; dazu gabs ein recht
durchdachtes Trainingsprotokoll.
Na ja, in Wirklichkeit wars schon etwas komplizierter mit dem Training,
und ahnt mensch schon, dass nicht immer alles optimal lief:
Preliminary trials in the control condition showed that Asian shore
crabs were not a sufficiently tempting immediate reward as latencies
to approach the crab, which was baited in the immediate-release
chamber, were excessive (greater than 3 min) and some subjects refused
to eat the crab altogether.
Ich kann mir richtig vorstellen, wie die Gruppe vor dem Aquarium stand
und fluchte, weil die doofen Viecher ihre Köder nicht schlucken wollten:
„Wie zum Henker schreiben wir das nachher ins Paper?“ – um so mehr, als
alle Sepien konsequent die gleichen Präferenzen hatten (was ich ja auch
schon für ein bemerkenswertes Resultat halte, das bei n=6 und drei
Auswahlmöglichkeiten kaum durch Zufall zu erklären ist – vielleicht aber
natürlich durch das, was die Sepien sonst so essen).
Und dann wieder Dinge in der Abteilung „was alles schiefgehen kann, wenn
mensch mit Tieren arbeitet“:
Subjects received one session of 6 trials per day at a specific delay.
This number of trials was chosen to minimize satiety and its effects
on eating behaviour.
Schon die Abbildung 2 des Artikels finde ich wirklich erstaunlich: Alle
Sepien bekommen es hin, 30 Sekunden auf ihre Lieblingsspeise zu warten
– wow. Ok, kann natürlich sein, dass sie so lange brauchen, um sich zu
orientieren, aber Schnell und Co scheinen mir schon viel getan zu haben,
um das unwahrscheinlich zu machen.
Was jedenfalls rauskommen sollte, war eine Korrelation der Wartezeit
mit, na ja, der „Intelligenz“ (ich halte mich raus bei der genaueren
Bestimmung, was das wohl sei), und um die zu messen, mussten die Sepien
in ihren Aquarien zunächst lernen, das „richtige“ unter einem dunklen
und einem hellen Stück Plastik aussuchen. Anschließend, das war der
Intelligenztest, mussten sie mitbekommen, wenn die Versuchsleitung die
Definition von „richtig“ verändert hat. Dazu haben sie laut Artikel im
Mittel 46 Versuche gebraucht – gegenüber 27 Versuchen beim ersten
Lernen. Nicht selbstverständlich auch: Sepien, die beim ersten Lernen
schneller waren, waren auch schneller beim Begreifen der Regeländerung.
Da ist Abbildung 3 schon ziemlich eindrücklich: einer der Tintenfische
hat das Umkehrlernen in gut 20 Schritten bewältigt, ein anderer hat fast
70 Schritte gebraucht. Uiuiui – entweder haben die ziemlich schwankende
Tagesform, oder die Gerissenheit von Sepien variiert ganz dramatisch
zwischen Individuen.
Die erwartete Korrelation kam selbstverständlich auch raus (Abbildung
4), und zwar in einer Klarheit, die mich schon etwas erschreckt
angesichts der vielen Dinge, die beim Arbeiten mit Tieren schief
gehen können; der Bayes-Faktor, den sie im Absatz drüber angeben
(„es ist 8.83-mal wahrscheinlicher, dass Intelligenz und Wartenkönnen
korreliert sind als das Gegenteil“) ist bei diesem Bild ganz
offensichtlich nur wegen der kleinen Zahl der ProbandInnen nicht
gigantisch groß. Hm.
Schön fand ich noch eine eher anekdotische Beobachtung:
[Andere Tiere] have been shown to employ behavioural strategies such
as looking away, closing their eyes or distracting themselves with
other objects while waiting for a better reward.
Interestingly, in our study, cuttlefish were observed turning their
body away from the immediately available prey item, as if to distract
themselves when they needed to delay immediate gratification.
Ich bin vielleicht nach der Lektüre des Artikels nicht viel überzeugter von
den verschiedenen Erzählungen rund um den Marshmallow-Test.
Als großer Fan von der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell höre
ich natürlich auch (wenn auch mit Verzögerung) jeden Tag die sehr
empfehlenswerte Sternzeit.
In der vom 2. Februar hat (denke ich mal) Dirk Lorenzen daran
erinnert, dass vor 90 Jahren, am 2.2.1931, Friedrich Schmiedl die
erste Postrakete hat fliegen lassen, und die Geschichte klang so irre,
dass ich das mal genauer wissen wollte:
Die erste Postrakete brachte rund hundert Briefe vom Schöckel, einem
Berg bei Graz, ins nur wenige Kilometer entfernte Sankt Radegund. Die
Raketen waren ferngesteuert und landeten sanft am Fallschirm – eine
Meisterleistung des Ingenieurs.
[...] Nach dem erfolgreichen Erstflug begann ein regelmäßiger
Postraketendienst in der Umgebung von Graz.
und vor allem:
Nach dem Raketen-Aus vernichtete Friedrich Schmiedl seine Unterlagen,
damit sie nicht für Rüstungszwecke genutzt werden konnten – und er
lehnte etliche Stellenangebote von Militärs aus verschiedenen Ländern
ab.
Das Grazer Institut für Weltraumwissenschaften ist leider nicht nach
Schmiedel, sondern nach dem Entdecker der kosmischen Strahlung, Victor
Hess, benannt. Immerhin hat auch er nicht mit den Nazis
kollaboriert, ist nach dem Übergang vom Austrofaschismus zur
Naziherrschaft in Österreich in die USA geflohen – und er war Lehrer
von Schmiedel.
Der Wikipedia-Artikel zur Raketenpost ist zwar bezüglich des
„regelmäßigen Postraketendiestes“ doch etwas skeptischer, und klar ist
das aus heutiger Sicht eine ziemlich irre Idee. Aber wahrscheinlich
war sie in ihrer Zeit nicht viel irrer als die Idee eines globalen
paketvermittelten Computer-Netzwerks in den Anfängen des ARPANet.
Nach etwas Schmökern im Netz kann ich jedenfalls bestätigen: Schmiedl
war ganz klar ein großer Bastler; allein die Raketen so zu starten bzw.
zu steuern, dass sie die Briefe tatsächlich so grob dorthin brachten, wo
sie hinsollten, ist mit der damaligen Technologie ein halbes Wunder.
Und er war bewegt von Interesse an der Sache und natürlich dem Plan,
irgendwann mal in den Weltraum zu kommen. Ein Nerd, kein Zweifel.
Dass er jede Verwicklung in staatliches Töten („Militär“) konsequent und
unter erheblichen zumindest materiellen Einbußen abgelehnt hat, macht
ihn, so finde ich, noch dazu zu einem Vorbild. Und drum verleihe ich
Schmiedl hiermit feierlich den Titel Nerd des Monats.
Während ich im Netz rumgestöbert habe, um etwas etwas mehr über Schmiedel
rauszukriegen (und viel scheint nicht online zu sein), ist mir
irgendwann klar geworden, dass ich eine großartige Gelegenheit verpasst
habe, Schmiedl näher zu kommen: Ich war nämlich vor ein paar Jahren mal
Referent bei einer Konferenz im Institut für Weltraumwissenschaften
der österreichischen Akademie der Wissenschaften, das bestimmt nicht
ganz zufällig in Graz ist. Leider wusste ich nichts von der Geschichte und
habe deshalb nicht im Institut nach Erinnerungen geforscht – er ist ja
erst 1994 gestorben, es könnten also durchaus noch Leute dort arbeiten,
die ihn gekannt haben – und auch sein Grab nicht besucht. Schade.
Was mich beim Stöbern noch überrascht hat: Der Wikipedia-Artikel
zur Raketenpost schreibt, erst nach einem Unfall, bei dem 1964 zwei
Menschen gestorben waren, seien in der Bundesrepublik Experimente mit
ernsthafteren Raketen für Privatpersonen verboten worden. So ein Verbot
hätte ich genau angesichts der militärischen Interessen, die Schmiedel
aus dem Gebiet gedrängt haben, viel früher erwartet.
Schmiedels Geschichte finde ich jedenfalls inspirierend. Und siehe da:
das ADS weist immerhin einen Artikel von ihm nach: Early postal
rockets in Austria. Und siehe noch weiter: Das Web Archive hat einen
Scan des Artikels (ganzer Band von archive.org; original kommt das
vom NASA NRTS, aber deren Interface ist Mist), der vielleicht, wenn du
das liest, schon am ADS verlinkt ist.
Der Artikel ist alles, was ich von Schmiedel selbst have finden können.
Daher hier noch ein paar Ausschnitte, die, finde ich, seine Art,
visionären Ideenreichtum mit konkreten technischen Lösungen zu
verbinden, ganz gut illustrieren:
[Die hübsche und gar nicht tödliche Passage von P1/Halley im Jahr
1910] marked a new phase in human thought after it became evident
that space was not that hostile; one could dare to explore it. [...]
In the 1920s I started some preliminary rocket experiments towards
space flight. But first of all I had to convince my professors, who
considered my ideas on space flight as a scientific illusion because
of my youthful eagerness to assume that space flight was possible.
[...] under the hood of a vaccum pump I fired tiny rockets and tested
their efficiency while the air was evacuated.
[...Mein Stratosphärenballon] was furnished with magnetized steel wires
to hold it in a predetermined east-west position [...] Furthermore, the
steel wires had to hold an aluminum flag (300 cm x 7 cm) in a certain
position relative to the Sun so that it could reflect the Sun's rays
to an observation post on Earth. Thus one could pursue the position
of the balloon despite its height.
[...] my stratoballoon carried some silveracide which would explode at
a high altitude [...so that] dispersed matter could be moved out of the
Earth's gravitational field by solar light pressure.
[Meine Test-Postrakete] V-5 carried letters where I stated “...it is
theoretically possible to deliver mail from Europe to America via
rockets within 40 minutes” [...]
In April 1931 I launched three sounding rockets with home-made
recording equipment: a spectrograph with Zeiss prisms, and instruments
to record the pressure, height, and vibrations [...] One rocket was
constructed like a Greek column with parallel grooves along the
longitudinal axis that had been worked into the aluminum casing to
prevent rotation during the flight [...] The second rocket, on the
other hand, I provided with diagonal grooves in its casing for fast
rotation. My purpose was to improve guiding accuracy [...]
I launched the [V-8] rocket with a selen cell as an optical control
which should have set its course toward a lighted balloon [...]
Later, I destroyed nearly all of my research notes and photographs of
rocket launches and proceedings, for fear they might be used by the
military.
Nee, wirklich: der Krieg ist mal ganz definitiv nicht der Vater aller
Dinge.
Sucht nach netten Genoss_innen: ein Weißbüschelaffe – Raimond Spekking /
CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)
An sich halte ich ja Soziobiologie für irgendwas zwischen Mumpitz und
reaktionärer Zumutung, jedenfalls soweit sie verstanden wird als Versuch,
menschliches Verhalten oder gar gesellschaftliche Verhältnisse durch
biologische Befunde (oder das, was die jeweiligen Autor_innen dafür
halten) zu erklären und in der Folge zu rechtfertigen.
Hier ist aber eine Geschichte (DOI 10.1126/sciadv.abc8790), die so
putzig ist, dass ich mir in der Beziehung etwas mehr Toleranz von mir
wünschen würde. Und zwar hat eine Gruppe von Anthropolog_innen um Rahel
Brügger aus Zürich das Kommunikationsverhalten von Weißbüschelaffen
untersucht (Disclaimer: Nee, ich finde eigentlich nicht, dass mensch
Affen in Gefangenschaft halten darf, aber in diesem Fall scheint
zumindest das expermimentelle Protokoll halbwegs vertretbar).
Dabei haben sie zunächst zwei Dialoge zwischen (den Proband_innen
unbekannten) Affen aufgenommen: Ein Affenkind hat einen erwachsenen
Affen um Futter angebettelt. Im einen Fall hat der erwachsene Affe
abgelehnt, im anderen Fall wohl etwas wie „schon recht“ gemurmelt.
Dann haben sie die Aufnahmen anderen Affen vorgespielt und haben dann
geschaut, ob diese lieber weggehen oder lieber nachsehen, wer da
geplaudert hat. Und siehe da: Die Tiere wollten viel lieber die netten
Affen sehen als die doofen. Bei den netten Affen haben nach gut 10
Sekunden schon die Hälfte der Proband_innen nachgesehen, wer das wohl
war, bei den doofen war das mehr so 30 Sekunden. Und bis zum Ende der
jeweiligen Versuche nach zwei Minuten wollten immerhin ein Viertel der
Proband_innen nichts von den doofen Affen sehen, aben nur ein Zehntel
nichts von den netten.
Moral: Seid nett, und die Leute mögen euch.
Ja, ok, kann sein, dass die Äffchen nur gehofft haben, dass sie auch
Essen kriegen, wenn schon das Kind was bekommen hat. Pfft. Ich sag ja,
Soziobiologie stinkt.
Nachbemerkung 1: Ich habe das auch nicht gleich in Science Advances
gefunden (da gäbs andere Journals, die ich im Auge haben sollte),
sondern in den Meldungen vom 4.2. des sehr empfehlenswerten Forschung
aktuell im Deutschlandfunk.
Nachbemerkung 2: Ich weiß, Literatur soll mensch nicht erklären, aber
die Überschrift ist natürlich ein Einwand gegen einen der Wahlsprüche
der Roten Hilfe: „Solidarität ist eine Waffe“. So klasse ich die
Rote Hilfe finde, der entschlossene Pazifist in mir hat die Parole nie
so recht gemocht. Mensch will ja eigentlich weniger Waffen haben, aber
ganz bestimmt mehr Solidarität.
Noch vor einem Jahr hatte sich kaum jemand vorstellen können, wie
schnell die Staaten die Grenzen im März 2020 geschlossen haben – aber,
das lässt sich hier leider wirklich nicht wegdiskutieren, im Prinzip
können Bewegungseinschränkungen bei so einer Pandemie je nach
Verteilung und Entwicklung schon mal nicht einfach nur atavistische
Reflexe sein, und so will ich einmal nicht allzu sehr die Zähne
fletschen.
Die Ergebnisse in der zentralen Frage – letztlich: Wärs besser gewesen,
wir wären alle daheim geblieten? – sind wenig überraschend, wie auch das
Fazit zur Frage der Massentests für Heimkehrer_innen:
Ein längeres Angebot zur freiwilligen, kostenlosen Testung für
Reiserückkehrer hätte vielleicht die Eintragungen vor und während der
Herbstferien besser erfasst, die zweite Infektionswelle aber nicht
verhindert.
Richtig bemerkenswert fand ich hingegen folgende Abbildung in dem
Artikel:
Sie entstand, indem die RKI-Leute erstmal als Zeiteinheit „Tage vor oder
nach dem Beginn der Sommerferien im jeweiligen Bundesland“ gewählt
haben. An der Ordinate stehen die üblichen Wocheninzidenzen pro 100000
Einwohner_innen, und zwar für Fälle, für die eine Exposition im
Ausland bekannt ist. Insofern ist es kein Wunder, dass die Zahlen im
Laufe der Zeit hochgehen. Das muss schon allein aufgrund der
gestiegenen Reisetätigkeit so sein.
Wertvoll wird die Abbildung aber als Mahnung, bei allen Metriken immer
zu bedenken, was wie gemessen wurde. Denn richtig auffallend verhalten
sich hier Bayern und Baden-Württemberg scheinbar anders als alle
anderen: Ihre Kurven steigen erhebnlich früher und steiler als die der
anderen Bundesländer.
Es wäre jedoch unvernünftig, anzunehmen, die Dinge hätten sich in den
anderen Bundesländern in der Realität wesentlich anders verhalten
(jedenfalls, soweit es die westlichen Bundesländer betrifft). Und in
der Tat liefert schon das RKI die Erklärung für den Unterschied: Die
Südländer hatten einfach so spät Ferien, dass ihre Reiserückkehrenden in
die allgemeine Testpflicht fielen sind und mithin die Erfassung
Infizierter früher in deren Krankheitsverlauf und darüber hinaus bereits
bei den Indexfällen passierte.
Ob das jetzt eine weise Verwendung von Ressourcen war oder nicht, muss
ich glücklicherweise nicht entscheiden. Zumindest für die nächsten
Jahre aber – solange sich die Menschen noch an die Diskussion um die
Massentests im Sommer 2020 erinnern – ist diese Grafik aber, glaube ich,
eine wunderbare Art, den Einfluss von Messung (und in diesem Fall von
Politik) auf scheinbar unumstößliche Grafiken und Metriken zu
illustrieren.
Ich werde das beim nächsten Mensen-Ranking auspacken. Oder, wenn wieder
mal das Bruttoinlandsprodukt verkündet wird.
Im Kalenderblatt zum 18.1.2021 heißt es (möglicherweise in erster
Linie zur Rechtfertigung eines Musikteppichs): »Johannes Brahms
komponierte nach den Siegen preußisch-deutscher Truppen über das
französische Heer im Jahr 1870 das „Triumphlied“ opus 55.«
Mag sein, dass ich mich als Banause oute, weil mir das neu war, aber für
mich war das die zentrale Nachricht des Beitrags: Brahms hat sich in
Kriegsverherrlichung betätigt, in chauvinistischem Tschingdarassabumm.
Will mensch Musik von so einem Schuft eigentlich noch hören?
Und damit gehts direkt zur Frage der Relation zwischen Werk und
Schöpfer_in, die ja letztlich hinter den sinnvolleren Teilen der
„Cancel Culture“-Debatte steht. Darf ich Dinge mögen, obwohl sie von
Leuten gemacht wurden, deren Handlungen jetzt mal wirklich unakzeptabel
sind?
Da hängt leider viel dran. Während mir Brahms' Schmachtfetzen
vielleicht nicht so fehlen würden, wäre es für mich um die Gedanken von
John Searle schon sehr schade (auch wenn ich sie zu guten Stücken für...
unrichtig halte); allein der Chinese Room stellt ganz viele richtige
Fragen, und seine beißende Kritik des Dualismus ist zumindest mal gut
geschrieben.
Kann ich mich jetzt nicht mehr am Chinese Room reiben? Ich würde sehr
hoffen, dass die Abwägungen, die dahin führen, nicht zwingend sind.
Umgekehrt gehts nun auch nicht, dass „wir“ (oder „die Gesellschaft“)
einfach achselzuckend drüber hinweggehen, im üblichen „große Männer
haben halt auch ihre Schwächen“-Duktus, schon, weil Militarismus,
Chauvinismus und Vergewaltigung durch regelmäßige gesellschaftliche
Ächtung tatsächlich bekämpft werden können, wie trotz aller Barbarei der
Gegenwart der Vergleich zwischen heute und Brahms' Zeiten klar zeigt.
Ich fürchte, das ist ein wenig wie oft in Fragen der Ethik: es gibt
nichts, das immer „richtig“ wäre, und mensch muss in jedem Einzelfall
wieder rauskriegen, wie weit Werk und Schöpfer_in zusammengehen (ich sag
mal Leni Riefenstahl) oder halt nicht. Klingt nach Mesoteslehre. Und
wer klingt wie Aristoteles hat ja meistens Unrecht... Ach Mist.