Aus der Geschichte lernen: Chios
Am 11. April gedachte das DLF-Kalenderblatt dem Massaker von Chios, das vor 200 Jahren den Höhe- oder eher Tiefpunkt einer jedenfalls rückblickend betrachtet völlig durchgeknallten Verkettung von Gewalttaten und Vergeltungsaktionen markierte.
Ich muss gestehen, dass mir die ganze Geschichte völlig neu war; in der Kürze beim DLF klang es für mich zunächst so, als habe der osmanische Sultan die Bevölkerung der reichen Ägaisinsel Chios ausradieren lassen, weil sie gegen ihre manifesten (ökonomischen) Interessen mit Aufständischen paktiert hatte, die wiederum zuvor andere Untertanen des Sultans massakriert hatten.
Mir klang das nach einem guten Beispiel, wie das allseite Nachgeben gegenüber der autoritären Versuchung zu einer Spirale von Bestialität führt, bei der jede Seite die moralische Berechtigung, wenn nicht gar Verpflichtung fühlt, den Feind zu töten. Da der Abstand den Blick schärfen mag, der bei analogen Ereignissen in der Nähe derzeit ganz offenbar vielfach getrübt ist, habe ich mir heute den zugehörigen Wikipedia-Artikel zu Gemüte geführt.
Die Vorgeschichte
Sehr bemerkenswert fand ich schon mal, dass die Wikipedia für die Vorgeschichte auf den Frieden von Küçük Kaynarca verweist, den 1774 das osmanische Reich und Russland geschlossen hatten. Bemerkenswert ist das einerseits, weil es damals schon um die jetzt gerade wieder umstrittenen Gebiete ging: Russland hat sich in diesem Vertrag den Süden der späteren Ukraine einverleibt, die Krim – die für zehn Jahre noch als autonomes Khanat weiterexistierte – folgte 1783. Nach allem, was danach kam, von Krimkrieg über die Verheerungen des zweiten Weltkriegs bis zum jetzigen Stellvertreterkrieg: Was für eine geschundene Gegend.
Andererseits war diese Niederlage des osmanischen Sultans offenbar ein Segen für jedenfalls nennenswerte Teile seiner Untertanenschaft. In den Worten der Wikipedia:
Wie im Rest Griechenlands wuchs nach dem Friedensvertrag von Kutchuk-Kaïnardji 1774 der Wohlstand auf Chios.
Das bezieht sich, wie gesagt, auf die Verliererseite des Russisch-Türkischen Krieges von 1768-1774. Erneut zeigt sich die alte Weisheit, dass es weit schlimmer ist, einen Krieg zu führen als einen zu verlieren.
Das Verhängnis von Chios begann indes, auch recht typisch, mit Patrioten, und zwar in diesem Fall mit griechischen. Diese nämlich legten 1821 einen zünftigen Aufstand auf der Peloponnes hin, als viele der dortigen (osmanischen) Besatzungssoldaten andernorts gebraucht wurden, nämlich für Kämpfe innerhalb der osmanischen Elite und weil, ganz modern, russische Truppen in das noch osmanische Moldawien eingefallen waren.
Der zünftige Aufstand schlug erwartungsgemäß schnell in Barbarei um. Die tapferen und frommen Freiheitskämpfer eroberten^Wbefreiten im Oktober 1821 die Provinzhauptstadt Tripoli (nicht zu verwechseln mit dem zuerst durch unsere Flugverbotszone befreiten und dann seit inzwischen einem Jahrzehnt glühend umkämpften libyschen Tripolis) und metzelten gegen 8000 der verbliebenen BewohnerInnen nieder – schon während der Belagerung hatte sich die Bevölkerung auf etwa 15000 halbiert. Immerhin sind wohl nicht alle anderen 15000 dem Krieg zum Opfer gefallen, einige haben rechtzeitig fliehen können.
Eine weitere Weisheit: Wenn es nach Krieg riecht, verpiss dich rechtzeitig. In der jungen Welt gab es am Wochenende eine Geschichte, wie es ganz aktuell zugeht, wenn du das mit dem „rechtzeitig“ nicht hinbekommst.
In Chios
Aber dies ist ja eine Geschichte über Chios, eine vor 1821 in weitgehender christlicher Autonomie von achtzehn, großartiger Titel, Demogeronten für den Sultan regierten Insel nicht weit vor der Küste der heutigen Türkei.
Die DLF-Erzählung einer durch Mastix-Produkion und -Handel reich gewordenen Gemeinde trägt wohl; jedenfalls hatten die Demogeronten schon im April 1821 klar angesagt, dass sie lieber Wohlstand als (nationalen) Aufstand haben wollen. Für solche Anliegen hatten die Patrioten von der Peloponnes wenig Verständnis. Ein „Admiral“ Iakovos Tombazis – bei einem derart jungen Aufstand dürfte so ein „Admiral“ ungefähr drei Jollen befehligt haben – landete auf Chios, zog mit seinen Leuten ein wenig herum, um die satt & glücklich-Bevölkerung dort zum Abfall vom Sultan und zur Unterwerfung unter die neue christlich-griechische Regierung zu bewegen. Chios ist die zehntgrößte Insel im ganzen Mittelmeer, so dass er dafür elf Tage brauchte. Dann verschwanden er und seine Leute wieder.
Bekannte von Bekannten berichten von ähnlichen Stunts der aktuellen PKK im türkischen Kurdistan. Zumindest diese Bekannten von Bekannten hat das nicht zu Fans der PKK gemacht, denn die Reaktion der derzeitigen türkischen Regierung ist in etwa so wie die der damaligen. In den Worten der Wikipedia:
Der Dīwān entsandte den Gouverneur Vehid-Pacha. Er richtete sich in der Festung von Chora ein. Um sicherzustellen, dass die Chioten sich ruhig halten, forderte er 40 Geiseln an (darunter den Erzbischof Platon Franghiadi, die Demogeronten und Mitglieder der wichtigsten Familien der Insel [...]).
Klar: Das war auch völlig überflüssiger Terror. Anständige Leute tun sowas nicht. Aber wer könnte es, „denkt an Tripoli!“, dem armen Dīwān verübeln, wenn er den Aggressor in die Schranken weist? Dazu gehören natürlich auch Soldaten. Erwartbarerweise sorgten diese Soldaten mitnichten dafür, dass irgendwas besser wurde:
Es handelte sich um wenig disziplinierte Soldaten, die von der Plünderungsmöglichkeit angezogen wurden. Sie kontrollierten die ländlichen Gebiete der Insel und verbreiteten dort Schrecken.
So wurden die ChiotInnen, die sich anfangs aus guten Gründen aus der ganzen für sie völlig nutzlosen Frage raushalten wollten, ob sie nun aus dem fernen Konstantinopel oder aus dem noch ferneren Athen regiert werden sollten, allmählich doch zu PatriotInnen.
Wirklich schlimm wurde es allerdings erst, als bewaffnete Patrioten aus Samos im März 1822 versuchten, die inzwischen wieder etwas menschlicher gewordene Militärherrschaft auf Chios durch Rumballern zu beenden. Fast 3000 christliche Soldaten landeten auf der Insel und zwangen die osmanischen Truppen zum Rückzug in die Burg der Hauptstadt Chora.
Das Verhängnis patriotischer Erhebung
An diesem Punkt wurden auch die BäuerInnen aus dem Inselinneren vom nationalen Taumel erfasst und bewaffneten sich, übrigens gegen das Flehen ihrer alten Lokalregierung, die ja immer noch in osmanischer Geiselhaft saß:
Sie zogen mit Kreuzen und Ikonen durch die Straßen und sangen patriotische Lieder.
Das konnte sich nun wiederum der Sultan nicht bieten lassen und schickte weitere Verstärkung nach Çeşme, gleich gegenüber von Chios. Am 11. April 1822 landeten ungefähr 7000 osmanische Soldaten auf der Insel – ihr merkt, wie sich auch die Zahlen immer weiter aufschaukeln –, und machen mit christlichen Soldaten wie BäuerInnen recht kurzen Prozess, zumal ersteren zwischendurch die Munition ausgegangen war.
Es entfaltete sich ein Massaker, das das von Tripoli nochmal weit überbot. Die Bilanz der Wikipedia ist ähnlich düster wie die des DLF:
Die Bevölkerung der Insel betrug Anfang 1822 zwischen 100.000 und 120.000 Menschen, davon 30.000 Einwohner in Chora. Es waren auch etwa 2.000 Muslime auf der Insel. Für die Zeit nach den Massakern wird meist die Einwohnerzahl von 20.000 genannt. [...] Die häufigsten Schätzungen nennen 25.000 Tote und 45.000 versklavte Menschen. 10.000 bis 20.000 sei die Flucht gelungen.
Zwar hat so schnell niemand den Griechen Panzerhaubitzen geliefert, und so hatten sie rein materiell keine Möglichkeit zur weiteren Eskalation. Sie brachten aber in der nächsten Runde immer noch 2000 osmanische Soldaten um, als sie am 6. Juni 1822 – die Besatzung war wegen Zuckerfest vermutlich nicht gut beieinander – das osmaische Flaggschiff in der Bucht von Chora abfackelten. Die türkischen Truppen haben zur Vergeltung eine weitere, letzte Zerstörungstour über die Insel unternahmen, konnten da aber auch nicht mehr eskalieren, weil ja schon fast alle BewohnerInnen tot oder verschleppt waren.
Alles umsonst
Wofür sind die Leute alle gestorben? Aus heutiger Sicht wird wahrscheinlich niemand bestreiten, dass das alles Quatsch war. Für die Griechen bestand ihre „Freiheit“ aus einem bayrischen König, der „Griechenland“ zwar exzessiv „liebte“, 1862 aber von einem britischen Schiff evakuiert werden musste, weil seine Machtbasis komplett erodiert war und schon wieder Aufstand herrschte. Sein letzter Nachfolger schließlich ging 1968 unter, als er selbst einen Militärputsch plante, ihm andere Militärs aber zuvorkamen (die Ereignisse in der Wikipedia). Diese Militärs waren wiederum die, über die ich in meinem Filmtipp von neulich geschäumt habe.
Für die Osmanen hat sich das auch nicht gelohnt, denn die Griechen gingen mit Chios im Westen ähnlich wie heute die aktuelle ukrainische Regierung mit russischen Massakern hausieren. Sie konnten viel Sympathie für diese Sorte „Freiheitskampf“ wecken und bekamen viel politische Unterstützung für ihre Sezession, die 1830 auch stattfand. Sicher weniger dramatisch für die Hohe Pforte: Leute wie Lord Byron[1] zogen „für Griechenland” in den Krieg und starben dabei. Chios selbst ging 1912 doch an Griechenland, noch bevor das osmanische System zum Ende des ersten Weltkriegs gänzlich implodierte.
Und die Leute auf Chios? Also: die, die übrig geblieben sind? Nun, von den gut 100'000 BewohnerInnen aus dem Wikipedia-Zitat von oben ist Chios immer noch weit entfernt; gegenwärtig wohnen rund 50'000 Menschen auf der Insel.
Ach weh. Wer aus der Geschichte nicht lernen will, wird immer wieder zehntausende Menschen in irgendwelchen mehr oder minder romantischen Anwandlungen von Patriotismus umbringen und, wenns ganz schlimm läuft, auch noch den Rest der Welt davon überzeugen wollen, dass das groß, wichtig und gut ist. Den Akteuren von 1822, die noch keine Wikipedia hatten, möchte ich das nicht vorwerfen, auch wenn sie mit etwas mehr Mühe bereits hinreichend viel Anschauungsmaterial aus der Geschichte hätten gewinnen können.
Uns Heutigen – tja, wir haben die Wikipedia.
[1] | Zu Byron will ich euch die Worte von Bertrand … |