Ich bin kein besonderer Freund der Triggerwarnung an sich, aber hier
warne ich mal: Es geht um Rassismus, schreckliche Gewalt (wenn das für
euch einen Unterschied macht: obendrein gegen Kinder) und Religion.
Eigentlich ist das alles viel zu ernst für einen Spaßpreis.
Aber es hilft nichts: Der Markov-Preis für die ungewöhnlichste
Wortfolge[1] geht heute an den Deutschlandfunk für den
Hintergrund Politik vom 2. Juli, dessen Thema der Sender wie
folgt umschreibt:
Tausende indigene Kinder wurden zwischen 1870 und 1996 in Kanada von
ihren Familien getrennt und in Internaten untergebracht. Oft wurden
sie dort sexuell missbraucht, viele starben. Die Aufarbeitung dieses
Kapitels der kanadischen Geschichte hat erst begonnen – und wird die
Gesellschaft noch lange beschäftigen.
Darin heißt es bei Minute 12:00: „Die Nonnen hatten alle
Lederpeitschen.“ Nennt mich naiv im Hinblick auf die Realität des
Christentums, aber: jedenfalls außerhalb der engeren BDSM-Szene ist das
schon ein Satz, dem eine durchschnittliche künstliche Intelligenz eine
eher geringe Wahrscheinlichkeit zuordnen würde. Der Neugier halber habe
ich kurz meinen Müllbrowser angeworfen (in dem darf liberal Javascript
laufen), um zu sehen, was Google dazu einfällt:
Bei näherer Überlegung muss ich die Preisvergabe allerdings
relativieren, denn wenn ich (erneut) an Edgar Allen Poes
Kurzgeschichte Die Grube und das Pendel denke, erscheint
die prämierte Wortfolge und auch ihre BDSM-Konnotation gar nicht mehr so
abwegig.
Eine weitere Verbindung zu jüngeren Themen aus diesem Blog fand ich bei
Minute 10:20. In der Übersetzung des Deutschlandfunks:
Sie kamen mit diesen Lastwagen, mit denen sonst Vieh transportiert
wird. Damit haben sie uns abgeholt…
…nämlich in die besagten residential schools.
Ich glaube, es ist kein Zufall, dass da Fahrzeuge eingesetzt wurden, die
normalerweise Schlachttiere bewegen. Gegen Ende meiner Überlegungen zu
Königinnenkämpfen neulich hatte ich schon darauf hingewiesen, dass die
Charakterisierung von Menschen als lästige (oder im vorliegenden Fall zu
tötende) Tiere ein „konstantes Feature so gut wie aller Kriege und
anderer Massenmorde der Geschichte“ ist.
Ganz gewiss hat es der Transport der Kinder in Schlachtvieh-Wagen den im
Apparat beschäftigten Menschen erheblich leichter gemacht, so
unmenschlich zu handeln. Und ja, das ist sowohl ein Argument für die
Erhaltung der Empathie mit Schlachtvieh als auch ein Argument gegen den
Transport von Menschen in Viehtranportern[2].
Benannt ist der Preis nach Andrei Andrejewitsch Markow in
seiner in Fachkreisen üblicheren englischen Umschreibung (sich selbst
wird er wohl vor allem Марков geschrieben haben).
Markov-Ketten waren bis zum Durchmarsch der neuronalen Netze das
Mittel der Wahl zur statistischen Modellierung sprachlicher
Äußerungen, also letztlich zur Beantwortung der Frage, wie
wahrscheinlich es ist, kurz nach dem Token „Nonne“ ein Token wie
„Hostie“, „Backschaufel“, „Gesangbuch“, „Rohrstock“ oder eben
„Lederpeitsche“ zu finden.
Auch wenn ich irgendwelche Nazigeschichten hier lieber
raushalten würde (denn da ist nochmal was ganz anderes passiert), muss
ich, wo ich schon grob das Thema habe, noch anmerken: Ich bin
überzeugt, dass Adolf Eichmann nicht nur aus Sachzwang
Viehwaggons gewählt hat, um all die Menschen in die
NS-Vernichtungslager verschleppen zu lassen.
Als ich angefangen habe, an diesem Blog zu schreiben, wollte ich
eigentlich regelmäßig über den Wahnsinn ranten, dass wir Unmengen
Plunder und „Dienstleistungen“ herstellen, ohne die die Welt eigentlich
besser wäre, und dafür sowohl uns selbst als auch den Planeten furchtbar
stressen. Wenn ich jetzt sehe, was ich wirklich unter dem Tag Faulheit
geschrieben habe: Am Schluss gab es doch immer andere Themen.
Unterdessen war am 18. Mai der 150. Geburtstag von Bertrand
Russell, von dem hier verschiedentlich schon die Rede war,
allerdings eher im Zusammenhang mit seiner Philosophiegeschichte und
weniger aufgrund seiner Arbeiten an den Grundlagen der Mathematik,
seiner zähen Arbeit gegen religiösen Wahn oder seines pazifistischen
Elans[1]; mit all dem hat mich Russell schon sehr lange
begeistert.
Erst im Portrait von Russell in SWR2 Wissen am 13.5. (Audio lohnt
sich: Russell spricht selbst, Englisch und Deutsch!) jedoch erfuhr ich,
dass er mal wegen Aufruf zu Widerstand gegen die Staatsgewalt im
Gefängnis saß (zudem im Alter von 89 Jahren) – und, dass er schon 1932
die zornige Diatribe gegen den Unsinn exzessiver Lohnarbeit geschrieben
hat, die ich für diesen Blog vorgesehen hatte.
Sind wir 90 Jahren später klüger?
Allerdings schrieb Russell seinen kleinen Aufsatz auf dem Höhepunkt der
Großen Depression, also unter fantastischen Arbeitslosenraten, und so
unterscheidet sich seine Analyse schon in vielem von meiner; der
wichtigste Punkt wäre wohl, dass Russell in erster Linie die vorhandene
Arbeit gleichmäßiger verteilen wollte, während ich, 90 Jahre später,
überzeugt bin, dass die Gesamtmenge an Arbeit drastisch reduziert werden
muss und kann, um den allgemeinen Wohlstand zu heben. Aber wir haben
eben auch 90 Jahre Produktivitätssteigerung trotz Übergangs in die
„Dienstleistungsgesellschaft“ hinter uns, und Russell konnte nichts von
Indexfonds, Fidget Spinnern, SAP, SUVs, Nagelstudios, Bundesligafernsehen,
Rechteverwertungsgesellschaften, Flimmerwände,
TikTok und all dem anderen bunten Mist
wissen, mit dem wir uns heute das Leben gegenseitig schwer machen.
Russells Essay „In Praise of Idleness“ ist beim Web Archive zu haben
(fragt mich nicht, wie das gerade mal 50 Jahre nach Russells Tod trotz
Contentmafia zugeht; schlechter auf Deutsch), und wo ich ihn schon
gelesen habe, möchte ich ein paar der schöneren Zitate hier versammeln,
zumal seine Argumente inzwischen vielleicht unvollständig, sicher aber
nicht falsch sind. Die Übersetzungen sind jeweils von mir.
Russell fängt mit etwas an, das zwar zu lang ist, um ein gutes Gaffito zu
machen, und vielleicht klingt „rechtschaffen“ („virtuous“) ein wenig
angestaubt. Ich würde damit dennoch jeden Tag auf eine Fridays For
Future-Demo gehen:
Ich glaube, dass viel zu viel Arbeit getan wird in der Welt, und dass
der Glaube, Arbeit sei rechtschaffen, unermesslichen Schaden
anrichtet [...]
Original
I think that there is far too much work done in the world, that
immense harm is caused by the belief that work is virtuous [...]
Ursprüngliche Gewalt
Im Weiteren leitet Russell die „Arbeitsethik“ in etwa dadurch ab, dass
früher mal Krieger die Leute, die die Arbeit gemacht haben, nicht
dauernd mit Gewalt zwingen wollten, sie zu füttern. Russell, der ja
Kommunist gewesen war, bis er Lenin getroffen hat, waren gewiss die
Parallelen zu Marx' ursprünglicher Akkumulation[2] bewusst; ich
frage mich ein wenig, warum er darauf nicht wenigstens kurz anspielt.
Und dann kommt seine scharfe Beobachtung, dass es während des ersten
Weltkriegs mit all seiner völlig destruktiven Verschwendung den
ArbeiterInnen im UK eigentlich besser ging als in Zeiten ganz normalen
Wirtschaftens:
Trotz all [der Verschwendung aufs Töten] war das generelle
Wohlstandsniveau der ungelernten LohnarbeiterInnen auf der Seite der
Alliierten höher als davor oder danach. Die tatsächliche Bedeutung
dieser Tatsache wurde durch Finanzpolitik versteckt: Die
Kriegsanleihen ließen es so aussehen, als würde die Zukunft die
Gegenwart ernähren. Aber das ist natürlich unmöglich; ein Mensch kann
keinen Brotlaib essen, der noch nicht existiert.
Original
In spite of this, the general level of physical well-being among
unskilled wage-earners on the side of the Allies was higher than
before or since. The significance of this fact was concealed by
finance: borrowing made it appear as if the future was nourishing the
present. But that, of course, would have been impossible; a man
cannot eat a loaf of bread that does not yet exist.
Diese Argumentation zeigt in der anderen Richtung übrigens den Unsinn
(oder die Fiesheit) kapitalgedeckter Rentenversicherungen: Wenn in 50
Jahren niemand mehr Brot backt, wird es für all das angesparte und
zwischenzeitlich zerstörerische Kapital kein Brot zu kaufen geben – über
diesen spezifischen Wahnsinn hatte ich es schon kurz im letzten
April.
In diesem speziellen Fall würde ich Russell allerdings fragen wollen, ob
das ähnlich auch für die britischen Kolonien galt; einige indische
Hungersnöte im Megaopferbereich fallen durchaus in die verschiedenen
Kriegszeiten, und ich vermute, Russell sieht hier zu guten Stücken
lediglich die während Kriegen erheblich größere Kampfkraft nicht allzu
patriotischer Gewerkschaften reflektiert.
Philosophie und Sklavenhaltung
Wenig später folgt ein weiteres Bonmot, wenn Russell zunächst die
immer noch herrschende Ideologie erklärt:
Warum [sollten Leute ohne Lohnarbeit verhungern und die anderen
furchtbar lang arbeiten]? Weil Arbeit Pflicht ist, und Menschen nicht
im Verhältnis zu dem bezahlt werden sollen, was sie herstellen,
sondern im Verhältnis zu ihrer Tugendhaftigkeit, wie sie durch ihren
Fleiß unter Beweis gestellt wird.
Das ist die Moralität des Sklavenstaates, angewandt auf Umstände, die
völlig verschieden sind von denen, unter denen sie entstand.
Original
Why? Because work is a duty, and a man should not receive wages in proportion
to what he has produced, but in proportion to his virtue as exemplified
by his industry.
This is the morality of the Slave State, applied in circumstances
totally unlike those in which it arose.
Ich merke kurz an, dass Russell als Philosoph dem antiken
Sklavenstaat durchaus etwas abgewinnen konnte, denn ohne die Arbeit all
der SklavInnen hätten Thales und Demokrit wohl keine Muße gehabt, ihren
von Russell sehr geschätzten Gedanken nachzuhängen. Dabei ist er gar
nicht so furchtbar darauf fixiert, dass die Leute in ihrer Muße
dringend philosophieren[3] müssen:
Es wird der Einwand kommen, dass, wenn auch ein wenig Muße angenehm
ist, die Leute nicht wüssten, mit was sie ihre Tage füllen sollen,
wenn sie nur vier Stunden von ihren vierundzwanzig arbeiten müssen.
Soweit das in unserer modernen Welt wirklich zutrifft, ist es eine
Verdammung unserer Zivilisation; es war jedenfalls in keiner
vorherigen Epoche wahr. Es hat vor uns eine Fähigkeit gegeben für
Freude und Spiel, die in gewissem Maß von unserem aktuellen Kult der
Effizienz gehemmt wird. Der moderne Mensch denkt, dass es für jede
Tätigkeit einen Grund außerhalb ihrer selbst geben müsse, dass Dinge
nie um ihrer selbst willen getan werden dürfen.
Original
It will be said that, while a little leisure is pleasant, men would
not know how to fill their days if they had only four hours of work
out of the twenty-four. In so far as this is true in the modern world,
it is a condemnation of our civilization; it would not have been true
at any earlier period. There was formerly a capacity for
lightheartedness and play which has been to some extent inhibited by
the cult of efficiency. The modern man thinks that everything ought to
be done for the sake of something else, and never for its own sake.
Die lahmeren Einwände gegen das bedingungslose Grundeinkommen kamen also
auch damals schon. Ich stimme Russells Entgegnug aus diesem Absatz
herzlich zu, auch wenn er wie ich auch nicht widerstehen kann, kurz
darauf von einer generellen Begeisterung für Wissenschaft zu träumen:
In einer Welt, in der niemand gezwungen ist, mehr als vier Stunden pro
Tag zu arbeiten, wird jede Person, die die wissenschaftliche Neugier
packt, sich dieser hingeben können, und alle MalerInnen werden malen
können, ohne zu verhungern, gleichgültig, wie großartig ihre Bilder
sein mögen.
Original
In a world where no one is compelled to work more than four hours a day,
every person possessed of scientific curiosity will be able to indulge
it, and every painter will be able to paint without starving, however
excellent his pictures may be.
Nun… Bis zum Beweis des Gegenteils glaube ich fest daran, dass eine
Gesellschaft mit minimalem Lohnarbeitszwang eine Gesellschaft von
BastlerInnen und Amateurastronominnen sein wird. Schaun wir mal.
Krieg ist viel Arbeit
Ich kann dieses Best-of aus Russells Artikel nicht ohne seine Brücken
zum Kriegführen beenden. Krieg erwähnt er, wenn er Techniken
diskutiert, die die Übersetzung von Produktivitätsfortschritten
in weniger Arbeit verhindern:
Wenn sich alle diese Methoden als unzureichend herausstellen, machen
wir Krieg; wir lassen ein paar Leute Explosivstoffe herstellen und
ein paar andere diese zünden, ganz als wären wir Kinder, die gerade
Feuerwerk entdeckt haben.
Original
When all these methods prove inadequate, we have a war; we cause a
number of people to manufacture high explosives, and a number of others
to explode them, as if we were children who had just discovered
fireworks.
Und dann sagt er in der Abteilung Utopie:
[Wenn die Leute nicht mehr so wahnsinnig viel arbeiten,] wird der
der Hunger nach Krieg aussterben, teils aus diesem Grund [weil die
Leute netter und weniger misstrauisch wären] und teils, weil Krieg
viel und schwere Arbeit mit sich bringen würde.
Diese Libelle – ausweislich der leeren Larvenhülle halbrechts unten
wahrscheinlich gerade erst geschlüpft – ist hoffentlich Zeit ihres
Lebens (ein paar Wochen im Sommer 2020) mit sehenden Augen in der
Gegend vom Weißen Stein herumgeflogen.
Als ich in den Kurzmeldungen in Forschung aktuell vom 16.5. (ab
Minute 1:50) davon hörte, wie Leute Libellen auf den Rücken gedreht und
dann fallen gelassen haben, habe ich unmittelbar Lausbuben assoziiert,
die strampelnden Käfern zusehen. Das hörte sich nach einer
vergleichsweise eher gutgelaunten Angelegenheit für meine fiktionale
Ethikkommission an. Jetzt, wo ich die zugrundeliegende Arbeit,
„Recovery mechanisms in the dragonfly righting reflex“, Science 376
(2022), S. 754, doi:10.1126/science.abg0946, gelesen habe, muss ich
das mit der guten Laune etwas relativieren.
Zunächst beeindruckt dabei der interdisziplinäre Ansatz. Hauptautorin
ist Jane Wang, Physikerin von der Cornell University (kein Wunder also,
dass im Paper eine Differentialgleichung gelöst wird), mitgeholfen haben
der Luftfahrtingenieur James Melfi (auch von Cornell; kein Wunder, dass
rechts und links Euler-Winkel gemessen werden) und der Neurobiologe
Anthony Leonardo, der am Janelia Resarch Campus in Virgina arbeitet,
augenscheinlich eine Biomed-Edeleinrichtung im Umland von Washington DC.
Zusammen haben sie mit Hochgeschwindingkeitskameras eine Variante des
Schwarzweiß-Klassikers „Wie eine Katze auf den Füßen landet“[1]
aufgenommen, dieses Mal eben mit Libellen. Dabei haben sie den Libellen
einen Magneten auf den Bauch geklebt, sie mit diesem in Rückenlage an
einem Elektromagneten festgeklemmt, gewartet, bis sich die Tiere
beruhigt hatten und dann den Strom des Elektromagneten abgeschaltet, so
dass die Libellen (im physikalischen Sinn) frei fielen.
Libellen rollen präzise nach rechts
Wenn das exakt so gemacht war, war offenbar sehr vorhersehbar, was die
Libellen taten. Wang et al geben an, es sei ganz entscheidend, dass die
Füße der Tiere in der Luft hängen, weil sonst einerseits eigene Reflexe
von den Beinen ausgelöst würden und andererseits die Libellen selbst
starten wollen könnten: „voluntary take-off via leg-kicks introduces a
large variability“.
Bis dahin regt sich meine Empathie nur wenig. Zwar schätzen es die
Libellen ganz sicher nicht, auf diese Weise festgehalten zu werden.
Aber andererseits ist das alles ganz gut gemacht, und die Ergebnisse der
Studie sind soweit ganz überzeugend und beeindruckend. Die Tiere drehen
sich konsistent um ihre Längsachse, um wieder auf den Bauch zu kommen,
fangen mit der Drehung nach gerade mal 100 ms an (als Reaktionszeit für
Menschen gelten so etwa 300 ms; aber ok, wir haben auch viel längere
Nerven) und sind dann nach gut zwei Zehntelsekunden oder vier
Flügelschlägen fertig, also bevor unsereins überhaupt beschlossen hätte,
was zu tun ist.
Für mich unerwarteterweise findet die Drehung sehr kontrolliert und
offenbar vorgeplant statt. Ich lese das aus der Tatsache, dass die
Winkelgeschwindigkeit der Drehung zwischen 170 Grad (fast auf dem
Rücken) und vielleicht 40 Grad (schon recht gut ausgerichtet) praktisch
konstant ist. Abbildung 2 B des Papers fand ich in der Hinsicht
wirklich erstaunlich: nicht vergessen, das Tier bewegt derweil ja seine
Flügel.
Die AutorInnen betrachten weiter die Stellung der beiden Flügelpaare
im Detail, um herauszubekommen, wie genau die Libellen die präzise
Drehung hinbekommen. Das ist bestimmt sehr aufregend, wenn mensch
irgendwas von Flugzeugbau versteht, aber weil ich das nicht tue, hat
mich das weniger begeistert. Außerdem war ich zu dem Zeitpunkt bereits
etwas voreingenommen, nachdem ich erfahren hatte, dass, um die
Flügelstellung mit den Analyseprogrammen, die Wang et al hatten,
rekonstruieren zu können, die Libellen mit Nagellack sechs Punkte auf
die Flügel gemalt bekamen.
Die Erzählung wird düsterer
Für die Libellen noch unangenehmer dürfte, so denke ich mir, das
kleines Y-förmige Plastikgestell gewesen sein, das ihnen die
ExperimentatorInnen auf den Thorax geklebt haben. Sie sagen, es sei
nötig, um das Bezugssystem der fallenden Libelle bestimmen zu können.
Und dann gibts noch den Magneten, der die Libelle vor dem Abwurf hält:
alles zusammen wiegt ungefähr 25 mg, bei einer Libelle, die selbst
gerade mal ein Viertelgramm wiegt. Andererseits, und das will ich gerne
glauben, nehmen heranwachsende Libellen bis zu 50 mg am Tag zu (sie
haben ja auch nur ein paar Wochen Zeit als Imago), so dass sie
Massenänderungen dieser Art vielleicht wirklich nicht belasten.
Wie es eine Spinne hinbekommen hat, diese Libelle zu erlegen, weiß
nicht nicht. Aber immerhin sind ihre Augen und Ocellen nicht
zugepinselt.
Wirklich geregt hat sich mein Mitleid – unter der Maßgabe der
letzten Absätze der Geschichte mit den Wespen – aber, als es um die
Frage ging, woher Libellen eigentlich ihre Orientierung kennen, woher
sie also wissen, ob sie gerade auf dem Rücken fliegen oder vielleicht
auf der Seite.
Die Arbeitshypothese von Wang et al war offenbar, dass das im
Wesentlichen der Sehsinn ist. Moment: „Der Sehsinn“? Nein: „Die
Sehsinne“. Libellen haben nämlich gleich zwei davon, einerseits ihre
Facettenaugen, dazu jedoch noch einfache, nicht abbildende Sensoren, die
Ocellen. Ich sags ganz ehrlich: Ich habe das Paper vor allem
gelesen, weil ich wissen wollte, wie sie den Libellen die Augen und
Ocellen verbunden haben.
Da ich das jetzt weiß, kenne ich die Stelle, an der ich als
Ethikkommission nein gesagt hätte, denn die Sinne der Tiere wurden mit
einem bestimmt nicht mehr entfernbarem Pamp aus schwarzer Farbe
vermischt mit UV-blockierendem Kleber zugekleistert. Die Versuchsreihe
mit geblendeten Libellen haben Wang und ein lediglich in den
Acknowledgements erwähnter Leif Ristroph unabhängig von der ersten
durchgeführt, dramatischerweise im Courant-Institut, grob als
„Angewandte Mathe“ zu klassifizieren, unangenehm nah an dem, wofür ich
bezahlt werde.
„Drei kamen durch“ ist kein Rezept für gute Wissenschaft
Diese beiden haben also vierzehn Libellen in New York City gefangen und
elf weitere von KollegInnen bekommen. Und jetzt (aus dem Supplementary
PDF):
Beim Bemalen der Augen und Ocellen ist es wichtig, einen feinen Pinsel
zu verwenden, damit keine Farbe auf den Hals oder Mund [des Tieres]
tropft.
Aus dieser Sammlung von Libellen haben drei die vollständigen
Experimente überlebt, zwei der Gattung Perithemis tenera, eine der
Gattung Libellula lydia. Dies umfasste die Tests mit normalem Sehsinn
und mit blockierten Sehsinnen. Alle waren präzise [? Original:
rigorous] Flieger. Mit funktionierendem Sehsinn rollten sie nach
rechts. Sie überlebten auch mindestens zwei Kältephasen im
Kühlschrank, eine vor dem Ankleben des Magnets, eine weitere vor dem
Bemalen der Augen.
Original
When painting the eyes and ocelli, it is important to use a fine brush
tip, so that no paint spills to the neck or to the mouth.
Of this collection, three dragonflies, two amberwing (Perithemis tenera)
and one lydia (Libellula lydia, synonym, Plathemis lydia), survived the
complete experiments, including the tests under normal vision and with
blocked vision. All were rigorous flyers. They rolled to the right under
normal vision. They also survived at least two chills in the fridge, one
before fixing the magnet, and another before eye painting.
Nennt mich angesichts dessen, was wir täglich 108-fach mit
Hühnern, Schweinen, Rindern und Schafen machen, sentimental, aber wenn
ein Protokoll von 25 Tieren 22 tötet, bevor das Experiment fertig ist,
ist es nicht nur roh, sondern fast sicher auch Mist. Es ist praktisch
unvorstellbar, dass bei so einer Selektion nicht dramatische
Auswahleffekte auftreten, die jedes Ergebnis mit Fragezeichen in 72 pt
Extra Bold, blinkend und rot, versehen.
In diesem Fall war das Ergebnis übrigens, dass die Libellen ohne Ocelli
etwa 30% später mit dem Drehen anfingen und anschließend nicht mehr ins
Gleichgewicht kamen, bevor die Kamera voll war (ich hätte es trotzdem
nett gefunden, wenn Wang wenigstens anekdotisch berichten würde, ob sie
es am Schluss geschafft haben). Mit zugepinselten Facettenaugen sind
die Libellen ins Gleichgewicht gekommen, wenn auch langsamer und weniger
kontrolliert. Waren Ocellen und Facettenaugen blockiert, sind die
Libellen häufig einfach nur runtergefallen „like leaves“.
Was aber, wenn – ja vielleicht im Einzelfall doch existierende –
nichtoptische Gleichgewichtsorgane Libellen anfälliger dafür macht, die
Torturen des Experiments nicht zu überleben? Was, wenn auch die
überlebenden Libellen anfangs ein nichtoptisches Gleichgewichtsorgan
hatten, das aber durchs Einfrieren oder eine andere überwiegend
tödliche Prozedur kaputt gegangen ist?
Hätte ich das Vorhaben ethisch begutachten müssen, wäre ich vermutlich
eingestiegen auf Abschnitt 2.3 der ergänzenden Materialien (wenn etwas
in der Art im Antrag gewesen wäre), in dem es heißt, „Dragonflies
perform mid-air righting maneuvers often during their prey-capture
maneuvers”.
Also… wenn die solche Manöver auch freiwillig fliegen, wäre es dann
nicht besser gewesen, sie in solchen Situationen zu filmen? Klar, das
wäre dann wahrscheinlich fies den Ködern gegenüber, die mensch ziemlich
sicher fest positionieren (und damit ihrerseits festkleben) müsste,
damit das mit dem Hochgeschwindigkeitsfilmen klappt. Aber trotzdem: Für
mich wäre das das mildere Mittel gewesen.
Meine Sorgen über ethisch grenzwertige bis unhaltbare Experimente mit
Insekten liegen offenbar im wissenschaftlichen Trend. Am 10. Juli haben
die Science Alerts einen Beitrag über die Schmerzwahrnehmung von
Insekten veröffentlicht, der einige weitere beunruhigende Experimente
anführt (etwa zu Phantomschmerzen bei Drosophilen). Immer mehr sieht es
aber so aus, als fände bei vielen Insekten durchaus Schmerzverarbeitung
statt, auch wenn diese im Detail etwas anders funktioniert als bei uns.
Dann und wann können Kopfzahlen ziemlich bedrückend sein. So die
50000 Toten (genauer: 48647), die die, na ja, NGO UNITED
for Intercultural Action in ihrer Liste der der Opfer der Festung
Europa aus den Jahren zwischen 1993 und 2022 bestimmt. Das sind nur
die gut dokumentierten Fälle, und da die in die EU Einwandernden vor
allem im Mittelmeer und in den Weiten des Ostens sterben, dürften zu
ihnen zahlreiche undokumentierte Tote kommen. Nimmt mensch sehr
konservativ eine Dunkelziffer in der Größenordnung der dokumentierten
Toten an und teilt durch die 30 Jahre, ergiben sich etwas wie
3000 Tote pro Jahr in direkter Folge der
EU-Migrationskontrolle.
Zum Vergleich: an der Berliner Mauer starben, Unfälle, Grenzsoldaten und
Herzinfrakte eingeschlossen, zwischen 1961 und 1989 ungefähr 400
Menschen (vgl. Wikipedia-Artikel Mauertote). In dem Sinn könnte mensch
sagen, dass das EU-Grenzregime jedes Jahr so viele Menschen umbringt
wie sechs Berliner Mauern während ihrer ganzen
Betriebsdauer.
Nicht in meiner DLF-Lieblingssendung Forschung aktuell, sondern im
Freistil vom 5.6.2022 bin ich auf den nächsten Fall meiner kleinen
Sammlung von Fragen an die Ethikkommission bei Tierversuchen gestoßen.
Im Groben: Ist es ok, Tiere bewusst und absichtlich gegeneinander
kämpfen zu lassen? Und gibt es im Hinblick auf diese Frage Unterschiede
zwischen Stieren und Regenwürmern?
Aus meiner Sicht nicht weit von der Mitte der Wurm-Rind-Skala entfernt
befinden sich die Papierwespen, für die die deutsche Wikipedia
enttäuschenderweise auf die ordinäre Wespenseite weiterleitet. Speziell
für die Stars dieses Posts, Polistes fuscatus – die biologische
Normenklatur könnte mich der Physik abspenstig machen – gibt es immerhin
einen Link auf der Feldwespen-Seite, doch hat sich noch niemand
gefunden, der/die die zugehörige Seite angefangen hätte.
Fast noch spannender als die Frage, ob Wespen die Gesichtszeichnungen
von Individuen auseinanderhalten können, finde ich ja die Frage, ob
sie auch mal gut gelaunt aussehen können. Bildrechte:
doi:10.1016/j.cub.2008.07.032 (bearbeitet).
Bei Freistil klang es nun so, als habe jemand jeweils zwei Königinnen
dieser Wespen miteinander bekannt gemacht; dass sie sich erkennen
können, und zwar ziemlich sicher am Gesicht, ist offenbar spätestens
seit den Arbeiten von Michael Sheehan und Elizabeth Tibbetts
wohlbekannt. Unter den einschlägigen Artikeln, die ab den 2000er Jahren
an der Uni von Michigan in Ann Arbor entstanden sind, ist viel zitiert
„Specialized Face Learning Is Associated with Individual Recognition in
Paper Wasps“ (viel zitiert vermutlich weil: Science 334 (2011), 1272,
doi:10.1126/science.1211334). Das darin beschriebene Experiment ist
erkennbar nicht das, von dem im Freistil die Rede war, wirft aber selbst
eine ethische Frage auf:
Darf mensch Königinnen elektroschocken?
Sheehan und Tibbet gaben den Wespen nämlich eine T-förmige Flugzone, die
überall Elektroschocks verabreichte, bis auf eine Stelle, die dann mit
einem von einem paar von Bildern markiert war. Mithin war der Reiz, den
die Leute zum Training der Wespen nutzten, die Abwesenheit von
Elektroschocks, wenn es die Wespen richtig machten. Hm. Hrrmmmmmmmm!
Wäre das nicht auch etwas freundlicher gegangen?
Ausgangspunkt der Arbeit war die Vermutung, dass fuscatus-Wespen,
die staatenbildend sind und deren Königinnen sich vor Gründung ihres
Staates mit einem ganzen Haufen anderer Wespen raufen, zwei verschiedene
Wespengesichter besser auseinanderhalten können („habe ich gegen die
schon mal verloren?“) als metricus-Wespen, die meist allein leben und
sich wenig prügeln. Um ein wenig sicherer zu sein bei der Frage, was da
eigentlich beobachtet wird, haben Sheehan und Tibbetts auch
Versuchstiere („healthy wild-caught adult female[s]“) auf Raupen (die
die Wespen gerne essen), geometrische Zeichen (Kreuze, Dreiecke und
sowas) und Wespenköpfe ohne Antennen trainiert.
Das Ergebnis: Wespengesichter mit Antennen haben ausgelernte
fuscatus-Wespen in 80% der Fälle vorm Elektroschock bewahrt (wobei der
Nulleffekt 50% wäre), und sie haben die Gesichter schneller gelernt als
die an sich viel einfacheren Zeichen. Waren die Antennen
rausretuschiert, hat das Lernen länger gedauert, und bei 70% richtiger
Wahl war Schluss.
Wie viel Ausdauer braucht es für 10'000 Versuchsläufe?
Und von wegen „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“:
Wenn der Hinweis aus verschiedenen Raupensorten bestand, haben die
Wespen nur in 60% der Fälle die trainierte Raupe gefunden, also fast
nicht häufiger als durch Zufall zu erwarten. Und etwa genauso gut wie
die einsiedlerischen metricus-Wespen, die mit den Gesichtern ihrer
Artgenossinnen gar nichts anfangen konnten.
Fleißbienchen am Rande: grob überschlagen müssen Sheehan und Tebitt die
Wespen gegen 10'000 Mal haben fliegen lassen. Ich mag mir gar nicht
vorstellen, wie viel Ausdauer es dafür gebraucht haben mag. Auf
beiden Seiten. Aufgrund vorheriger Interaktionen mit Wespen vermute
ich jedoch fast, dass für diese der repetetive Charakter der
Unternehmung weniger problematisch gewesen sein dürfte. Ach ja, und ich
würde gerne wissen, wie viele Stiche sich die beiden Menschen während
der Arbeiten eingefangen haben.
Wie ist es mit Kämpfen?
Sheehan, der inzwischen an die Cornell-Universität in New York
gewechselt ist, hatte schon zuvor (und hat noch weiter) mit den Wespen
gearbeitet und berichtet darüber zum Beispiel in Current Biology 18
(2008), Nr. 18, R851 (doi:10.1016/j.cub.2008.07.032), „Robust
long-term social memories in a paper wasp“. Für diese Studie haben die
Leute ebenfalls einen Haufen fuscatus-Papierwespen gefangen, dieses Mal
aber gezielt Begegnungen herbeigeführt. Dabei haben sie an Tag 0, 6 und
8 jeweils Wespen zusammengeführt, die sich nicht kannten, am siebten Tag
dagegen nochmal die von Tag 0 vorbeigeschickt. Das fand ich schon mal
ein recht cleveres Design: Wenn sich die Rauflustigkeit der Wespen generell
geändert hätte, wäre das durch die Kontrollen an den Tagen sechs und
acht aufgefallen.
Aber das führt auf die Eingangsfrage: Ist diese Sorte Experiment nicht
ziemlich eng verwandt mit Hahnenkämpfen, bei denen zwei Tiere, die,
wären sie nicht in menschlicher Gefangenschaft, vermutlich friedlich vor
sich hingelebt hätten, künstlich dazu gebracht werden, aufeinander
einzuhacken? Wäre ich in einer Ethikkommission, müsste ich zumindest
mal etwas nachdenken, ob ich Königinnenkämpfe eigentlich absegnen
möchte, auch wenn es hier nicht um das Gaudium einer blutrünstigen
Menge, sondern um die Förderung der Wissenschaft geht.
Unter Bekannten doppelt so viele Begegnungen ohne Gewalt
Immerhin scheinen die Kämpfe der Wespen relativ zivilisiert abzulaufen.
Zumindest berichten Sheehan et al nicht davon, dass die Begegnungen an
Tag 7 mal hätten ausfallen müssen, weil die Besucherinnen von Tag 0
inzwischen vielleicht totgestochen worden wären (Disclaimer: ich habe
die Zusatzdaten nicht auf solche Vorkommnisse hin durchgesehen, denn ich
war ja eigentlich auf der Suche nach etwas anderem).
Das Ergebnis ist wieder recht beeindruckend; kannte sich ein
Wespenpaar, gingen offenbar doppelt so viele Begegnungen ohne Gewalt aus
wie andernfalls.
Meine eingestandenermaßen oberflächliche Literaturrecherche hat aber
leider kein Paper geliefert, bei dem jemand Wespen geschminkt hätte; ich
hatte ich die Geschichte aus dem Freistil nämlich so verstanden, dass
jemand zwei Wespen bekannt gemacht hat und dann das Gesicht einer
der beiden verändert, um zu prüfen, ob es wirklich das ist, an das sich
die Wespen erinnern und nicht etwa, sagen wir, der Geruch oder die
Melodie des Summens. Auch wenn das Elektroschockexperiment das sehr
nahelegt: Ich finde es völlig plausibel, so ein Schminkexperiment zu
machen. Wer die dazugehörige Studie findet: das Antwortfomular gehört
völlig euch.
Empathietraining
Wer die ganze Sendung hört, dürfte auf ein anderes ethisches Problem
stoßen, eines, das mir, der ich nicht in einer Ethikkommission sitze,
deutlich mehr Sorgen macht: Im O-Ton wird eingespielt, wie jemand eine
Drosophile erst mit Wachs festklebt und dann immer weiter fesselt.
„Drosophile“: Ihr merkt, ich habe rein emotional ein spezielles
Verhaltnis zu Fruchtfliegen, weil ich in ihnen, die wie ich Obst nicht
widerstehen können – je süßer, je besser – ganz entfernt
Geistesverwandte sehe.
Andererseits: Wenn ich den Kompostmüll leere, nehme ich, ehrlich gesagt,
keine Rücksicht darauf, wie viele von ihnen ich dabei wohl zerquetsche.
Die insgesamt vergleichbar menschenähnlichen Mücken und Zecken töte ich
sogar gezielt, wenn ich kann. Und nun habe ich diesen Bericht gehört
und musste mich sehr beherrschen, um mich nicht zu empören. Das mag ein
wenig zu tun haben mit dem völlig überflüssigen Gag, Enrico Caruso durch
das Drosophilenohr aufzunehmen, denn Folter[1] ist nochmal
schlimmer, wenn irgendeine Sorte, ach ja, „Humor“ mitschwingt.
Aber auch ohne das: Ist es verlogen, wenn ich mich über die Misshandlung
von Lebewesen empöre, die ich andererseits ohne große Reue und ganz
nebenbei – oder gar gezielt – töte?. Auf der anderen Seite will
mensch, so glaube ich, diese Anflüge von Empathie auch nicht wirklich
bekämpfen. Die Charakterisierung der Feinde als Ratten und
Schmeißfliegen (der Namenspate des Münchner Flughafens, Franz Josef
Strauß, war Meister dieses Genres), als Tiere also, mit denen Empathie
zu haben wirklich schwerfällt, wenn sie sich erstmal ordentlich vermehrt
haben, ist ein recht konstantes Feature so gut wie aller Kriege und
anderer Massenmorde der Geschichte.
Mit diesem Gedanken bin ich nach der Freistil-Sendung auf folgendes
Fazit gekommen: Selbst wenn es nicht der Tiere selbst wegen geboten sein
sollte, schon ganz speziezistische Humanität gebietet es, diese Sorte
von Mitleid mit jeder Kreatur zu hegen und nicht zu kritisieren. Und
vor den Feldzügen gegen die Nacktschnecken wenigstens noch ein wenig mit
sich zu ringen.
Ja, ich behaupte, es ist Folter, wenn mensch so ein
Lebewesen bei lebendigem Leibe immer weiter eingießt, bis es (nehme
ich an) erstickt, weil die Tracheen alle dicht sind.
Die ziemlich hörenswerte Miniserie über Pilze und Menschen in der
Deutschlandfunk-Sendung Wissenschaft im Brennpunkt (Teil
1, Teil 2) endet mit folgenden Worten von (ich glaube) Oliver Kurzai
von der Uni Würzburg:
Deswegen müssen wir glaub ich nicht damit rechnen, dass wir in
absehbarer Zeit tasächlich, ich sag mal, eine Killerpilz-Pandemie
kriegen, die auch den normalen, gesunden Menschen bedroht.
Wenn unsere Realität irgendeine Ähnlichkeit hat mit einem zünftigen
Katastrophenfilm, wisst ihr, was als Nächstes passieren wird.
Selten hat mir jemand so aus der Seele gesprochen wie Susanne Fischer in
ihrer Glosse 9-Euro-Reporter in der taz von gestern, in der sie nach
etwas Spott über die verbreitete Berichterstattung in Sachen
9-Euro-Ticket – anscheinend größtenteils geschrieben von Menschen, die
schon lange keine Züge mehr von innen gesehen haben – ihre eigene
Situation beschreibt:
Der größte Mehrwert für mich ist, dass ich neuerdings in fremden
Städten den ÖPNV nutzen kann, ohne vorher ein mehrstündiges
Tarifstudium zu absolvieren – mit praktischer Prüfung an Automaten,
deren Software vom sadistischen Andi-Scheuer-Fanclub programmiert
wurde.
Ja! Ja! Ja! Ich kann mich nicht erinnern, wann ein Satz zuletzt so in
Resonanz mit meinen eigenen Gedanken stand.
Kommentar 1 am 2022-06-11 von Thomas
Hallo, ich lese den transatlantischen Anzeiger aus Prinzip nicht. Die
einzige Wahrheit in dieser Kriegstreiber-Postille ist die Überschrift
der einschlägigen Kolumne.
Und mit der Bahn fahre ich nicht mehr, weil mir das zu blöd wurde.
Beispiel: eine Freundin fährt von Dresden in die Thüringische Pampa,
habe nachgesehen, wie lange sie unterwegs ist, das waren drei Stunden,
die man mit dem Auto in 70 Minuten fährt. Ohne Maske und ohne piepende
Türen und ohne eine Stunde rumstehen auf zwei Umsteigebahnhöfen.
Kommentar 2 am 2022-07-06 von Anselm
Tjaja, der Niedergang der taz… Nun, ich mag das Kreuzworträtsel zum
Wochenende ganz gerne, muss ich sagen. Politisch ist versteht sie
sich, das gestehe ich ein, wie schon Anfang der Nullerjahre, im
Wesentlichen Verlautbarungsorgan der flippigeren Teile der
Regierung, und das ist überhaupt nicht schön, wenn „Ausflippen“
Krieg oder mildere Sorten von Wettbewerb bedeutet.
Aber Auto statt Bahn: das führt halt leider auch nirgends hin und
macht das Leben nur für alle anderen schlechter. Nein, es hilft
nichts, wir müssen uns alle um die Vergesellschaftung der Bahn
kümmern (und dann noch weiter aufpassen, denn die alte Bundesbahn
hat zwar deutlich besser funktioniert, aber eben auch tausende
Kilometer Schiene stillgelegt).
Am 11. April gedachte das DLF-Kalenderblatt dem Massaker von Chios, das
vor 200 Jahren den Höhe- oder eher Tiefpunkt einer jedenfalls
rückblickend betrachtet völlig durchgeknallten Verkettung von
Gewalttaten und Vergeltungsaktionen markierte.
Ich muss gestehen, dass mir die ganze Geschichte völlig neu war; in
der Kürze beim DLF klang es für mich zunächst so, als habe der
osmanische Sultan die Bevölkerung der reichen Ägaisinsel Chios
ausradieren lassen, weil sie gegen ihre manifesten (ökonomischen)
Interessen mit Aufständischen paktiert hatte, die wiederum zuvor andere
Untertanen des Sultans massakriert hatten.
Mir klang das nach einem guten Beispiel, wie das allseite Nachgeben
gegenüber der autoritären Versuchung zu einer Spirale von Bestialität
führt, bei der jede Seite die moralische Berechtigung, wenn nicht gar
Verpflichtung fühlt, den Feind zu töten. Da der Abstand den Blick
schärfen mag, der bei analogen Ereignissen in der Nähe derzeit ganz
offenbar vielfach getrübt ist, habe ich mir heute den zugehörigen
Wikipedia-Artikel zu Gemüte geführt.
Die Vorgeschichte
Sehr bemerkenswert fand ich schon mal, dass die Wikipedia für die
Vorgeschichte auf den Frieden von Küçük Kaynarca verweist, den 1774 das
osmanische Reich und Russland geschlossen hatten. Bemerkenswert ist das
einerseits, weil es damals schon um die jetzt gerade wieder umstrittenen
Gebiete ging: Russland hat sich in diesem Vertrag den Süden der späteren
Ukraine einverleibt, die Krim – die für zehn Jahre noch als autonomes
Khanat weiterexistierte – folgte 1783. Nach allem, was danach kam, von
Krimkrieg über die Verheerungen des zweiten Weltkriegs bis zum jetzigen
Stellvertreterkrieg: Was für eine geschundene Gegend.
Andererseits war diese Niederlage des osmanischen Sultans offenbar ein
Segen für jedenfalls nennenswerte Teile seiner Untertanenschaft. In den
Worten der Wikipedia:
Wie im Rest Griechenlands wuchs nach dem Friedensvertrag von
Kutchuk-Kaïnardji 1774 der Wohlstand auf Chios.
Das bezieht sich, wie gesagt, auf die Verliererseite des
Russisch-Türkischen Krieges von 1768-1774. Erneut zeigt sich die alte
Weisheit, dass es weit schlimmer ist, einen Krieg zu führen als einen zu
verlieren.
Das Verhängnis von Chios begann indes, auch recht typisch, mit
Patrioten, und zwar in diesem Fall mit griechischen. Diese nämlich
legten 1821 einen zünftigen Aufstand auf der Peloponnes hin, als viele
der dortigen (osmanischen) Besatzungssoldaten andernorts gebraucht
wurden, nämlich für Kämpfe innerhalb der osmanischen Elite und weil,
ganz modern, russische Truppen in das noch osmanische Moldawien
eingefallen waren.
Der zünftige Aufstand schlug erwartungsgemäß schnell in Barbarei um.
Die tapferen und frommen Freiheitskämpfer eroberten^Wbefreiten im
Oktober 1821 die Provinzhauptstadt Tripoli (nicht zu verwechseln mit
dem zuerst durch unsere Flugverbotszone befreiten und dann seit
inzwischen einem Jahrzehnt glühend umkämpften libyschen Tripolis) und
metzelten gegen 8000 der verbliebenen BewohnerInnen nieder – schon
während der Belagerung hatte sich die Bevölkerung auf etwa 15000
halbiert. Immerhin sind wohl nicht alle anderen 15000 dem Krieg zum
Opfer gefallen, einige haben rechtzeitig fliehen können.
Eine weitere Weisheit: Wenn es nach Krieg riecht, verpiss dich
rechtzeitig. In der jungen Welt gab es am Wochenende eine
Geschichte, wie es ganz aktuell zugeht, wenn du das mit dem
„rechtzeitig“ nicht hinbekommst.
In Chios
Aber dies ist ja eine Geschichte über Chios, eine vor 1821 in
weitgehender christlicher Autonomie von achtzehn, großartiger Titel,
Demogeronten für den Sultan regierten Insel nicht weit vor der Küste der
heutigen Türkei.
Die DLF-Erzählung einer durch Mastix-Produkion und -Handel reich
gewordenen Gemeinde trägt wohl; jedenfalls hatten die Demogeronten
schon im April 1821 klar angesagt, dass sie lieber Wohlstand als
(nationalen) Aufstand haben wollen. Für solche Anliegen hatten die
Patrioten von der Peloponnes wenig Verständnis. Ein „Admiral“ Iakovos
Tombazis – bei einem derart jungen Aufstand dürfte so ein „Admiral“
ungefähr drei Jollen befehligt haben – landete auf Chios, zog mit seinen
Leuten ein wenig herum, um die satt & glücklich-Bevölkerung dort zum
Abfall vom Sultan und zur Unterwerfung unter die neue
christlich-griechische Regierung zu bewegen. Chios ist die zehntgrößte
Insel im ganzen Mittelmeer, so dass er dafür elf Tage brauchte. Dann
verschwanden er und seine Leute wieder.
Bekannte von Bekannten berichten von ähnlichen Stunts der aktuellen PKK
im türkischen Kurdistan. Zumindest diese Bekannten von Bekannten hat
das nicht zu Fans der PKK gemacht, denn die Reaktion der derzeitigen
türkischen Regierung ist in etwa so wie die der damaligen. In den
Worten der Wikipedia:
Der Dīwān entsandte den Gouverneur Vehid-Pacha. Er richtete sich in
der Festung von Chora ein. Um sicherzustellen, dass die Chioten sich
ruhig halten, forderte er 40 Geiseln an (darunter den Erzbischof
Platon Franghiadi, die Demogeronten und Mitglieder der wichtigsten
Familien der Insel [...]).
Klar: Das war auch völlig überflüssiger Terror. Anständige Leute tun
sowas nicht. Aber wer könnte es, „denkt an Tripoli!“, dem armen Dīwān
verübeln, wenn er den Aggressor in die Schranken weist? Dazu gehören
natürlich auch Soldaten. Erwartbarerweise sorgten diese Soldaten
mitnichten dafür, dass irgendwas besser wurde:
Es handelte sich um wenig disziplinierte Soldaten, die von der
Plünderungsmöglichkeit angezogen wurden. Sie kontrollierten die
ländlichen Gebiete der Insel und verbreiteten dort Schrecken.
So wurden die ChiotInnen, die sich anfangs aus guten Gründen aus der
ganzen für sie völlig nutzlosen Frage raushalten wollten, ob sie
nun aus dem fernen Konstantinopel oder aus dem noch ferneren Athen
regiert werden sollten, allmählich doch zu PatriotInnen.
Wirklich schlimm wurde es allerdings erst, als bewaffnete Patrioten
aus Samos im März 1822 versuchten, die inzwischen wieder etwas
menschlicher gewordene Militärherrschaft auf Chios durch Rumballern zu
beenden. Fast 3000 christliche Soldaten landeten auf der Insel und
zwangen die osmanischen Truppen zum Rückzug in die Burg der
Hauptstadt Chora.
Das Verhängnis patriotischer Erhebung
An diesem Punkt wurden auch die BäuerInnen aus dem Inselinneren vom
nationalen Taumel erfasst und bewaffneten sich, übrigens gegen das
Flehen ihrer alten Lokalregierung, die ja immer noch in osmanischer
Geiselhaft saß:
Sie zogen mit Kreuzen und Ikonen durch die Straßen und sangen
patriotische Lieder.
Das konnte sich nun wiederum der Sultan nicht bieten lassen und
schickte weitere Verstärkung nach Çeşme, gleich gegenüber von Chios.
Am 11. April 1822 landeten ungefähr 7000 osmanische Soldaten auf der
Insel – ihr merkt, wie sich auch die Zahlen immer weiter aufschaukeln –,
und machen mit christlichen Soldaten wie BäuerInnen recht kurzen
Prozess, zumal ersteren zwischendurch die Munition ausgegangen war.
Es entfaltete sich ein Massaker, das das von Tripoli nochmal weit
überbot. Die Bilanz der Wikipedia ist ähnlich düster wie die
des DLF:
Die Bevölkerung der Insel betrug Anfang 1822 zwischen 100.000 und
120.000 Menschen, davon 30.000 Einwohner in Chora. Es waren auch etwa
2.000 Muslime auf der Insel. Für die Zeit nach den Massakern wird
meist die Einwohnerzahl von 20.000 genannt. [...] Die häufigsten
Schätzungen nennen 25.000 Tote und 45.000 versklavte Menschen. 10.000
bis 20.000 sei die Flucht gelungen.
Zwar hat so schnell niemand den Griechen Panzerhaubitzen geliefert, und
so hatten sie rein materiell keine Möglichkeit zur weiteren Eskalation.
Sie brachten aber in der nächsten Runde immer noch 2000 osmanische
Soldaten um, als sie am 6. Juni 1822 – die Besatzung war wegen
Zuckerfest vermutlich nicht gut beieinander – das osmaische Flaggschiff
in der Bucht von Chora abfackelten. Die türkischen Truppen haben zur
Vergeltung eine weitere, letzte Zerstörungstour über die Insel
unternahmen, konnten da aber auch nicht mehr eskalieren, weil ja schon
fast alle BewohnerInnen tot oder verschleppt waren.
Alles umsonst
Wofür sind die Leute alle gestorben? Aus heutiger Sicht wird
wahrscheinlich niemand bestreiten, dass das alles Quatsch war. Für die
Griechen bestand ihre „Freiheit“ aus einem bayrischen König, der
„Griechenland“ zwar exzessiv „liebte“, 1862 aber von einem britischen
Schiff evakuiert werden musste, weil seine Machtbasis komplett erodiert
war und schon wieder Aufstand herrschte. Sein letzter Nachfolger
schließlich ging 1968 unter, als er selbst einen Militärputsch plante,
ihm andere Militärs aber zuvorkamen (die Ereignisse in der
Wikipedia). Diese Militärs waren wiederum die, über die ich in meinem
Filmtipp von neulich geschäumt habe.
Für die Osmanen hat sich das auch nicht gelohnt, denn die Griechen
gingen mit Chios im Westen ähnlich wie heute die aktuelle ukrainische
Regierung mit russischen Massakern hausieren. Sie konnten viel
Sympathie für diese Sorte „Freiheitskampf“ wecken und bekamen viel
politische Unterstützung für ihre Sezession, die 1830 auch stattfand.
Sicher weniger dramatisch für die Hohe Pforte: Leute wie Lord Byron[1] zogen „für Griechenland” in den Krieg und starben dabei. Chios
selbst ging 1912 doch an Griechenland, noch bevor das osmanische System
zum Ende des ersten Weltkriegs gänzlich implodierte.
Und die Leute auf Chios? Also: die, die übrig geblieben sind? Nun, von
den gut 100'000 BewohnerInnen aus dem Wikipedia-Zitat von oben ist Chios
immer noch weit entfernt; gegenwärtig wohnen rund 50'000 Menschen auf
der Insel.
Ach weh. Wer aus der Geschichte nicht lernen will, wird immer wieder
zehntausende Menschen in irgendwelchen mehr oder minder romantischen
Anwandlungen von Patriotismus umbringen und, wenns ganz schlimm läuft,
auch noch den Rest der Welt davon überzeugen wollen, dass das groß,
wichtig und gut ist. Den Akteuren von 1822, die noch keine Wikipedia
hatten, möchte ich das nicht vorwerfen, auch wenn sie mit etwas mehr
Mühe bereits hinreichend viel Anschauungsmaterial aus der Geschichte
hätten gewinnen können.
Nicht weit vom Edersee – praktisch schon im Kellerwald-Nationalpark –
laufen Hirsche auch mal bei Tageslicht über herbstliche Felder und
bezaubern radelnde TouristInnen. Aber: was machen sie im Zoo?
„Bikeshedding“ bezeichnet das in vielen Entscheidungsgremien zu
beobachtende Phänomen, dass große und tiefgreifende Entscheidungen ohne
große Kontroverse durchgewunken, Nebensächlichkeiten[1] jedoch in
großer Breite diskutiert werden.
Als ich heute morgen die DLF-Sendung Wissenschaft im Brennpunkt vom
15.5. hörte, hatte ich eine Art intellektuelles Bikeshedding. In der
Sendung geht es um höchst raffinierte Verfahren der Metagenomik, bei der
durch Sequenzierung von DNS in mehr oder minder blind aus der Natur
entnommenen Proben tiefe Einsichten in Ökologie und Biologie gewonnen
werden. Dass sowas geht, dass dabei etwas rauskommt, und teils schon,
was dabei rauskommt: Das ist alles sehr beeindruckend.
Doch mein Wow-Moment kam erst bei folgender Passage (bei ca. Minute 23;
der Text auf der DLF-Seite ist leider nicht das Transskript der
Sendung):
Elizabeth Clair [...] berichtete in einer Vorveröffentlichung von
einer DNA-Analyse der Luft in einem englischen Zoo. [...] DNA von 25
Arten konnte das Team aufspüren, darunter 17 Zootierarten [...],
einige davon bis zu 300 m von der Untersuchungsstelle entfernt.
Außerdem ein paar Wildtiere wie Igel und Hirsch.
Ein wilder Hirsch? Im Zoo? Wie bitteschön soll das denn zugehen?
Setzen die elegant über den Zaun des Zoos? Um den gefangenen Tieren
vielleicht eine lange Nase zu drehen? Ich gebe zu, dass das verglichen
mit den Wundern von Massensequenzierungen doch eher trivial wirkt. Aber
ich wüsste wirklich gerne, was der Hirsch dort wollte.
Aufbauend auf dieser Erfahrung würde ich „behirschen“ als neues Verb
vorschlagen, mit der Bedeutung „sich an einer (scheinbaren)
Nebensächlichkeit in einer Forschungsarbeit aufhängen und damit deren
AutorInnen auf die Nerven gehen“? Nur nebenbei: Ich vermute, wir
behirschen in der modernen Wissenschaft fast alle deutlich zu wenig.
Nachtrag (2022-07-01)
Auf eine Nachfrage von @StephanMatthiesen hin hat mich die Sache doch
nicht losgelassen, und ich musste mal nach dem Paper sehen, von dem im
DLF-Zitat die Rede ist. Es scheint, als sei es bereits Anfang 2021
erschienen, und zwar als „Measuring biodiversity from DNA in the air“
von Elizabeth Clare et al, Current Biology (2021),
doi:10.1016/j.cub.2021.11.064. Darin heißt es:
Of special interest was the detection of the European hedgehog
(Erinaceus europaeus) in three samples [...] As of 2020, the hedgehog
was listed as vulnerable to extinction in the United Kingdom
(https://www.mammal.org.uk/science-research/red-list/), making it
vital to develop additional methods to monitor and protect existing
populations. [...] One commonly cited application of eDNA approaches
is the detection of invasive species. We detected muntjac deer
(Muntiacus reevesi) in five samples. These muntjacs are native to
China but became locally invasive after multiple releases in England
in the 19th century. They are now well established in eastern
England, the location of the zoological park, and are frequently seen
on site. They are also provided in food for several species; thus, the
detection of muntjacs may reflect either food or wildlife.
(Hervorhebung von mir, um die Verbindung zu den Igeln und Hirschen
aus der DLF-Sendung zu belegen). Mithin: Wir reden hier von keinem
stattlichen Zwölfender, der majestitisch an den Gittern
entlangschreitet. Wir reden von Muntjaks, die, so die Wikipedia,
„zwischen 14 und 33 Kilogramm“ wiegen und offenbar nur mit Mühe die
Größe von Damhirschen erreichen. Und obendrauf kann es gut sein, dass
die DNS dadurch in die Luft kam, dass andere Tiere die Muntjaks vertilgt
haben und dabei eher ruppig vorgegangen sind.
Selbst wenn die DNS nicht von Futter, sondern von einem Wildtier
abgesondert worden wäre, wäre ihr Vorkommen kaum erstaunlich, wenn
mensch die Lage des Tierparks bedenkt. Manchmal (aber selten)
verlieren die Dinge doch ein wenig von ihrem Zauber, wenn mensch näher
nachsieht.
Der Begriff „Bikeshedding“ bezieht sich tatsächlich auf
überdachte Fahrradstellplätze; dass gerade so eine zentrale und
wichtige Einrichtung als Prototyp des Nebensächlichen herhalten muss,
sagt natürlich schon einiges aus über unsere Gesellschaft und den
weiten Weg, den wir bis zur Befreiung vom Auto noch vor uns haben.
Am ersten Mai hatte ich mich an dieser Stelle gefragt, wann wohl die
„Dauerbeflimmerung“ – also: leuchtende Werbedisplays am Straßenrand – an
der Heidelberger Jahnstraße dazu führen wird, dass Leute einander
kaputtfahren. Fünf Tage später lief in Forschung aktuell ein
Beitrag, der einen ganz speziellen Blick auf Gefahren durch Beflimmerung
vom Straßenrand warf.
Grundlage des Beitrags ist der Artikel „Can behavioral interventions be
too salient? Evidence from traffic safety messages“ der Wirtschafts-
hrm -wissenschaftler Jonathan Hall und Joshua Madsen aus Toronto und
Madison, WI, erschienen in Science vom 22.4.2022
(doi:10.1126/science.abm3427)[1].
Bevor ich den Blick nachvollziehen konnte, musste ich mich zunächst
ärgern, denn alles, was ich beim Folgen des DOI gesehen habe, war das
hier:
Der Fairness halber will ich einräumen, dass die drei Punkte animiert
waren, und dann und wann hat die Seite, als ich ihr erstmal Javascript
erlaubt hatte, einen Reload geworfen und dann eine neue „Ray ID“
angeboten. Dennoch ist das gleich in mehreren Richtungen Mist,
verschärft hier dadurch, dass Landing Pages von DOIs statisch sein
können und sollen. Es lässt sich kein Szenario denken, in dem mensch
für statische Seiten auf einem ordentlichen Webserver einen
„DDoS-Schutz“ (was immer das sein mag) braucht, und schon gar keinen,
der ohne Javascript, Referrer und weiß ich noch was nicht funktioniert.
Ich muss gestehen: ich war es müde, den Mist zu debuggen. Da der
Artikel leider noch nicht bei libgen (die – Science, horche auf! –
diese Sorte Unfug nicht nötig haben) war, habe ich in den sauren Apfel
gebissen und statt meines Standardbrowsers einen überpermissiv
konfigurierten Firefox genommen, der der Cloudflare-Scharlatanerie
schließlich akzeptabel schien. Auch eine Art, das Web kaputtzumachen.
Zur Sache
In Texas hat das Verkehrsministerium über viele Jahre hinweg „Campaign
Weeks“ gemacht, während derer auf den elektronischen Großanzeigen an
vielbefahrenen Straßen – wer Falling Down gesehen hat, weiß, wovon
die Rede ist – unbequeme Wahrheiten („Für Menschen zwischen 5 und 45 ist
der Straßenverkehr die führende Todesursache“) angezeigt wurden.
Der Effekt: Offenbar fahren die Leute nach so einer Mahnung nicht
vorsichtiger, sondern abgelenkter. Jedenfalls gehen die Unfallraten
hinter solchen Nachrichten merklich nach oben. In Abbildung eins des
Papers sieht das so aus:
Das „DMS” in der Beschriftung heißt „dynamic message signs“ – zumindest
im Untersuchungszeitraum zwischen 2012 und 2017 war das aber sicher
richtig fades Zeug im Vergleich zu moderner Werbebeflimmerung. Bei den
roten Punkten kamen nach der ersten Tafel für 10 km keine weiteren mehr,
so dass das das sauberere Signal ist.
Auch wenn der Effekt im Vergleich zu den Fehlerbalken nicht sehr groß
ist und es allerlei versteckte Confounder geben mag – die Autoren gehen
aber erfreulich vielen nach und können viele glaubhaft kontrollieren –,
überzeugt mich das Paper davon, dass mindestens auf dem Kilometer nach
der Tafel die von alarmierenden Zahlen beunruhigten Menschen ein paar
Prozent mehr Unfälle bauen.
Ein Grund für meine Einschätzung der Zuverlässigkeit des Effekts ist,
dass offenbar die Zunahme der Unfälle mit der Drastik der Nachrichten
korrelierte: Spät im Jahr, wenn texanische Autos schon tausende Menschen
zermalmt haben und also entsprechend große Zahlen auf den Tafeln zu
sehen sind, sind die Effekte deutlich stärker als früh im Jahr:
Zwar ist die Null auch hier überall innerhalb von „zwei sigma“, also
der doppelten Fehlerbalken, so dass ich das nicht völlig überbewerten
würde. Ich könnte insbesondere nicht erklären, woher ein negativer
Achsenabschnitt der Ausgleichsgerade kommen könnte, warum Leute also
besser fahren sollten, wenn die Zahlen klein (oder ihre Neujahrsvorsätze
noch frisch?) sind. Dennoch entsteht, nimmt mensch alle Evidenz
zusammen, durchaus ein recht robustes Signal, das wiederum nur schwer
durch Confounder zu erklären ist.
Und auch wenn was wie 5% nicht nach viel klingen: Der Straßenverkehr ist
mörderisch (in den USA gibt es, Kopfzahl, in jedem Jahr so um die
50000 direkte Verkehrstote), und es gibt einen Haufen dieser
Displays. Hall und Madsen schätzen, dass ihr Effekt in den 28 Staaten,
die das ähnlich wie Texas machen, 17000 Unfälle mit 100 Toten
verursachen dürfte.
Verblüffung am Rande: Für ein Kontrollexperiment haben Hall und Madsen
nach Tafeln gesucht, die mindestens 10 km vor sich keine andere Tafel
haben (damit sich die Effekte der Vortafel hoffentlich bereits gelegt
haben). Das hat die Samplegröße um 75% reduziert. 75%! Dass diese
DMSe so sehr clustern – denn es sich sicherlich undenkbar, dass über das
ganze riesige Straßennetz von Texas hinweg alle paar Kilometer Tafeln
stehen –, hätte ich nicht erwartet. Warum planen Leute sowas?
Und Werbetafeln?
Nun gebe ich zu, dass Hall und Madsen über ganz andere Dinge reden als
die Werbe-Displays von Ströer und JCDecaux, sie ja sogar auf die
Wichtigkeit der Natur der Nachricht abheben und so das Medium eher aus
dem Blick nehmen.
Sie zitieren aber auch Literatur, die sich allgemeiner um die Frage der
Ablenkung durch Beflimmerung kümmert. Davon gibts einiges, und offenbar
ist umstritten, wie tödlich Werbetafeln wirklich sind. Vermutlich wäre
es ein wertvolles Projekt, die Drittmittelgeber der entlastenden Studien
zu ermitteln.
Was Hall und Madsen zitieren, ist leider nichts in dieser Richtung.
Dennoch habe ich mir ihre Quelle „Driving simulator study on the
influence of digital illuminated billboards near pedestrian“ von Kirstof
Mollu (aus dem Dunstkreis der Wiwis an der Universiteit Hasselt,
Belgien) et al, Transportation Research Part F 59 (2018), S. 45
(doi:10.1016/j.trf.2018.08.013) kurz angesehen. Das braucht immerhin
keine Beschwörungen von Cloudflare, ist aber wieder kein Open Access und
zwingt NutzerInnen erstmal den "Elsevier Enhanced Reader" auf, der ohne
Javascript gar nichts tut – eine sehr aufwändige Art, ein PDF
runterzuladen.
Nun: Mollu et al haben sieben Handvoll Führerscheinhabende rekrutiert
und in einen einfachen Fahrsimulator (zwar force-feedback, aber keine
Beschleunigungssimulation) gesetzt, in das Szenerio verschieden hektisch
flimmernde Displays integriert und dann gesehen, wo die Leute hingucken
und wie oft sie übersehen, dass FußgängerInnen über die Straße wollen.
Wenig überraschende Einsicht: Die Leute gucken mehr, wenn die Bilder nur
3 Sekunden (statt 6 Sekunden) stehen bleiben. Was Filmchen (bei denen
Bilder ja nur was wie 1/25stel Sekunde stehenbleiben) anrichten,
untersuchen sie nicht. Überhaupt macht der Artikel quantitativ
nicht viel her. Oh, abgesehen von Zahlen, die sie selbst nur zitieren:
In den Fahrradländern Niederlande und Dänemark sterben nur
drei bis vier FußgängerInnen pro Million Einwohner und Jahr.
In den jüngst wild motorisierten Lettland und Litauen ist es ein
Faktor 10 mehr, also etwas wie 35 pro Million und Jahr.
Zur Einordnung will ich nicht verschweigen, dass ausweislich der
aktuellen RKI-Zahlen SARS-2 in der BRD 1500 Menschen auf eine Million
EinwohnerInnen umgebracht hat und das auch schlimmer hätte kommen können
(aber: Caveat bezüglich dieser Sorte Zahlen). Andererseits: Wollte
mensch den gesamten Blutzoll des Autos bestimmen, Verkehrstote, durch
Verkehrsverletzungen verfrühte Tode, Opfer von Lärm und
Luftverschmutzung, vielleicht gar von Bewegungsmangel, wäre es wohl
nicht schwer, für die BRD auf 700 Autoopfer pro Million und Jahr zu kommen
und damit ziemlich genau in den Bereich des durch Maßnahmen und Impfung
gezähmten SARS-2. Aber diese Rechnung braucht mal einen anderen Post.
Leider hat Science den Artikel, dessen AutorInnen fast
sicher aus öffentlichem Geld bezahlt wurden und die jedenfalls
öffentliche Infrastruktur (U Toronto, Vrije Uni Amsterdam, U
Minnesota) nutzten, weggesperrt, und er ist im Augenblick auch noch
nicht auf libgen. Hmpf.
Manche glauben, dass sie gewisse gewalttätige Aktionen nach dem Motto
rechtfertigen können, der Zweck heilige die Mittel: „Unsere Gewalt ist
in Ordnung, denn es ist doch gute Gewalt.“ Aber solche Aktionen sind
durch nichts zu rechtfertigen.
Das ist eine lobenswerte Position. Mal sehen, ob sie mit dieser
Verurteilung von Gewalt unabhängig vom verfolgten Zweck in ihrer Partei
auch dann durchkommt, wenn es nicht um Eier, sondern um Granaten
geht.
Auch die Stadt Heidelberg – die in der Altstadt noch nicht mal
Dachfenster erlaubt, damit vom Schloss aus alles ordentich aussieht –
lässt die Werbefritzen von Ströer Dauerbeflimmerung ausrollen, hier an
der Kreuzung Berliner-Jahnstraße, wo es wirklich nur eine Frage der
Zeit ist, bis das Gezappel auf dem Bildschirm mal wen so ablenkt, dass
er/sie sich oder wen anders kaputtfährt.
Während die Bahn papiergewordene Cookiebanner verschickt, gibt es an
vielen anderen Stellen offenbar durchaus Hoffnung, zumindest ein
bisschen weniger menschliche Kreativität und Zeit (von Energie und
Rohstoffen ganz zu schweigen) in die Belästigung der Allgemeinheit
(etwas beschönigend auch „Werbung“ genannt) fließen zu lassen. So
berichtet der DLF-Hintergrund vom 13.4.2022 aus Genf, die dortige
Stadtverwaltung wolle ab 2025 alle Plakatwände und vor allem ihre
besonders aufdringlichen elektronischen Geschwister abbauen lassen.
Das Radiofeature gibt Beispiele für gelungenes, wenn auch weniger
ambitioniertes, Zurückdrängen von Außenwerbung: die Stadtverwaltung von
São Paulo hat bereits 2007 15'000 Plakatwände demontieren lassen, in
Grenoble wurden 2014 immerhin 300 davon durch Bäume ersetzt.
„Werbefrei für die Freiheit“
—nicht J. Gauck
Der DLF lässt weiter Menschen von der Initiative Hamburg Werbefrei zu
Wort kommen, über deren Kampf speziell gegen die die leuchtenden und
zappelnden Groß- und Riesenbildschirme auch die taz berichtet.
Obszöne 45000 kWh Strom im Jahr verpulvert so ein Ding, also etwas wie 5
Kilowatt. Während ich das als „etwa so viel wie ein dauernd fahrendes
kleines Auto“ (oder auch: 50 ordentlich reintretende RadlerInnen)
umschreiben würde[2], übersetzt es der Aktivist im DLF-Interview das
als „fast so viel wie 30 Einpersonenhaushalte“. Die taz hingegen
schreibt „wie 15 Zweipersonenhaushalte“[1]. Angesichts solcher
Zahlen wäre ich fast versucht, mich des grassierenden Patriotismus
ausnahmsweise mal für gute Zwecke zu bedienen: „Werbefrei für die
Freiheit“.
Der taz-Artikel zitiert den Vorsitzenden der Grünen-Fraktion in Hamburg,
Dominik Lorenzen, mit den Worten: „Es gibt in der Stadt [sc. Hamburg]
eine gute Balance zwischen Werbeflächen und Platz für die Menschen“, was
ich schon bemerkenswert finde; der Mann erkennt zwar an, dass Werbung
schlecht für die Menschen ist, räumt ihr aber dennoch irgendeine Art von
Rechten ein, die mit den Interessen der BewohnerInnen seiner Stadt
auszubalancieren sei. Könnte ich ausgeschrieben haben, welcher Natur
diese Rechte wohl sein könnten? Ich hoffe nur, dass mein Spamfilter
legal bleibt…
Dieses Plakat-Ensemble (gleich neben dem Display von oben in der
Heidelberger Jahnstraße) wäre nach den versprochenen Genfer Regeln
noch ok: A0-Plakate, meist für Kultur oder, na ja,
Bildungsveranstaltungen.
Üblicher ist demgegenüber die Argumentation von Verkehrssenator Tjarks,
die die Belästigung der Öffentlichkeit mit städtischen Einnahmen von 27
Millionen Euro (im Jahr 2020) rechtfertigt. Im DLF-Beitrag wird, im
Gegensatz zum taz-Artikel, allerdings darauf hingewiesen, dass gerade
neue Verträge geschlossen wurden, die den öffentlichen Raum billiger
verhökern. In Genf soll die Stadt durch die Planungen viereinhalb
Millionen Euro weniger einnehmen. Gegengerechnet: beide Kommunen
verkloppen Stadtbild und Nerven der BewohnerInnen für recht einheitlich
um die 20 Euro pro Nase und Jahr.
Zahlen dieser Art dürften auch hinter der sehr schmallippigen
Kommunikation stecken, mit der der werbeindustrielle Komplex
AktivistInnen in Hannover gerade auflaufen lässt. Dort liegen
offenbar 50 Bauanträge vor zur Ausweitung der Dauerwerbe-Beflimmerung
(großartiger Begriff aus dem verlinkten Post) durch den Werbekonzern
Ströer, Stadt wie Firma (die seit einem Jahr oder so übrigens auch
t-online.de betreibt) mauern bezüglich der Details.
Eine Schote bei der ganzen Geschichte: Nachdem die Aktivistis auf die
Ströer-Übersicht zu Werbeanlagen in Hannover gelinkt hatten, um das
Ausmaß des Problems zu illustrieren, wurde es Ströer selbst zu peinlich;
jetzt ist da nur noch ein 404 („Sie haben womöglich eine falsche oder
alte URL aufgerufen“), und leider hilft auch die Wayback-Maschine
nicht. Indes ist allzu viel Fantasie nicht nötig, sich 4600 Werbeträger
von Ströer in einer Stadt mit 540'000 EinwohnerInnen vorzustellen. In
der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung müssen damit je rund 100
Menschen eines von diesen Teilen bezahlen.
Auch in Genf schlägt die Reaktion zurück. Ein „ideologischer Bulldozer“
sei es, die öffentliche Belästigung reduzieren zu wollen, „Zensur in
Sowjetmanier“, die, und mit derart verdrehten Argumenten wollen
allerlei Rechtsparteien und -verbände eine Volksabstimmung gewinnen,
auch zu „weniger Umsatz“ in den Geschäften führen wird, weshalb
„Arbeitsplätze verloren“ gehen werden.
Ich bin immer ganz fassungslos, wenn ich solche Argumentoide höre. An
sich ist die Situation nach dem Genfer Modell doch ganz klar: Wir
belästigen die Leute weniger, was ja ein großer Vorteil ist. Und dafür
müssen wir weniger arbeiten, was ja auch ein großer Vorteil ist. Wie
könnte da jemand was dagegen haben?
Die deutschen Werbefritzen sagen, sie hätten einen Anteil am BIP von
1.3% (sie sprechen von „Marktvolumen“). Rechnen wir die Arbeit ein, die
es fürs Aufräumen hinter diesen Leuten braucht, und noch weitere Mühe im
näheren Umfeld dieses Geschäfts, sind 2% weniger Arbeit ohne Werbung
durchaus realistisch. Das wäre, wenn das auf alle Menschen gleichmäßig
verteilt wird, ungefähr eine Stunde weniger Lohnarbeit.
Wäre das nicht klasse? Kein doofen Blinketafeln mehr und am Freitag
eine Stunde früher heimgehen?
Wer auch immer da gerechnet hat, hat ohnehin falsch gerechnet,
denn zwei Leute, die einen Haushalt teilen, werden in aller Regel
weit weniger Strom verbrauchen als zwei, die jeweils alleine wohnen.
Das ist schon deshalb praktisch unausweichlich, weil die
Dauerverbraucher Router und Kühlschrank einfach bzw. doppelt vorhanden
sind. Da die 1500 kWh pro Einpersonenhaushalt so in etwa auch bei den
EWS-Leuten auf ihren Rechnungen stehen, wird das wohl schon so in
etwa hinkommen. Allerdings: In meinem Zweipersonenhaushalt wird sogar
Essen und Wasser mit Strom erhitzt, und trotzdem kommen wir insgesamt
bei 1300 kWh/Jahr raus. Insofern frage ich mich immer ein wenig: Was
machen die Leute alle mit ihrem Strom?
Die Wikipedia sieht in einem Mitsubishi-Kleinwagen
einen Elektromotor mit etwa 50 kW Leistung, aber das ist ganz
offensichtlich eine Überdimensionierung. Mit 50000 Joule kann mensch
gemäß E = mgh (die potentielle Energie ist Masse mal
Erdbeschleunigung mal Höhe), ausrechnen, dass so ein Motor eine Tonne
50000 J ⁄ (1000 kg⋅9.81 m/s2) ≈ 5 m
in die Höhe bringen kann – und das jede Sekunde ein Mal.
Stellt euch mal kurz eine Tonne irgendwas vor, und dann, was passiert,
wenn mensch die fünf Meter runterfallen lässt. Ihr ahnt, was das für
Urgewalten wären. Umgekehrt wird als Reichweite für die Kiste 160
Kilometer genannt, was ich für Zwecke der Überschlagsrechnung in
eine Betriebsdauer von drei Stunden übersetze. Bei einer
Batteriekapazität von ungefähr 15 kWh ergeben sich dann zwanglos die 5
kW mittlere Leistung bei einem Kleinwagen ohne Klimaanlage.
All diese Leute warteten 2014 im Karlsruher ZKM auf einen Vortrag von
Noam Chomsky. In diesem Post geht es um etwas, wo er ziemlich klar
falsch lag.
Nachdem ich gestern so empört war über Computerlinguistinnen, denen
der ethische Kompass klar abhanden gekommen ist, möchte ich gerne ein
paar Worte über eine wunderbare linguistische Arbeit nachschieben, die
mir neulich auf den Rechner kam. Um es gleich zu gestehen: Auch in
der steckt schmutziges Geld, in diesem Fall vom US Department of Defense
– aber wenn damit schöne Wissenschaft gemacht wird, will ich nicht
mit Steinen werfen.
Ausgangspunkt war die Sendung Äh, ähm, genau – Wozu gibt es
Füllwörter?, die am 15.3. in SWR2 Wissen lief (großes Lob übrigens an
die Redaktion, die noch das Manuskript zur Sendung auf die Webseite
legt, etwas, das beim DLF inzwischen leider Seltenheitswert hat). Meine
Aufmerksamkeit angezogen hat die Geschichte vom „Powerpoint-Genau“,
jenem „Genau“, das tatsächlich viele Menschen entweder kurz vor oder
kurz nach dem Umblättern bei Programmen wie… na ja, impressive sagen.
Jetzt, wo ich mal darauf hingewiesen wurde, fällt mir auch auf, was für
eine verbreitete und, ganz streng genommen, etwas alberne Sitte das doch
ist.
Eine kleine Revolution in der Linguistik (gegen König Noam) aus dem
Jahr 2002.
Von dort bin ich auf die Arbeiten von Joan Fox Tree von der
staatlichen Universität in Santa Cruz, CA gekommen, die im SWR2-Beitrag
als Auslöserin einer kleinen Revolution in der Linguistik bezeichnet
wird, weil sie Ähs und Ähms nicht nur als nützlich – weil
verständnisfördernd – sondern sozusagen als Wörter erster Klasse
identifizierte. Beim Artikel zu Teil zwei firmiert Fox Trees
Stanford-Kollege Herbert Clark als Erstautor, und er erschien 2002, just,
als ich für ein paar Jahre selbst in Computerlingustik dilett^Wlehrte:
„Using uh and um in spontaneous speaking“ (ist leider bei Elsevier
erschienen, so dass ich die dorthin führende DOI
10.1016/S0010-0277(02)00017-3 nur widerstrebend gebe).
Das Paper argumentiert wie gesagt ziemlich stringent, dass Äh und Ähm
ganz normale Wörter sind. Das geht gegen einen Ukas des Gottvaters der
moderneren Lingustik, Noam Chomsky, der sie (in etwa) als
vorprachliche Oberflächenform von Verhakungen bei der Sprachproduktion
angesehen hat. So sehr ich Chomsky als großen Vereinheitlicher der
Theorie formaler Sprachen und klarsichtigen Beobachter „unserer“
Weltpolitik schätze: Ich schließe mich, glaube ich, dem modernen
computerlinugistischen Mainstream an, wenn ich vermute, dass er sich bei
der Untersuchung natürlicher Sprache meist vertan hat.
Ein sehr starkes Argument für die Worthypothese von Clark und Fox Tree
ist zum Beispiel, dass verschiedene Sprachen verschiedene, na ja, Laute
verwenden anstelle unseres Äh. Tabelle eins aus dem Paper gibt folgende
Aufstellung:
Deutsch
äh, ähm
Niederländisch
uh, um
Schwedisch
eh, äh, ääh, m, mm, hmm, ööh, a, ööh
Norwegisch
e, e=, e==, eh, eh=, m, m=, […], øhø, aj
Spanisch
eh, em, este, pues
Französisch
eu, euh, em, eh, oe, n, hein
Hebräisch
eh, e-h, em, e-m, ah, a-m
Japanisch
eeto, etto, ano, anoo, uun, uunto, konoo, sonoo, jaa
(für Referenzen siehe die Arbeit selbst). Es heißt darin weiter:
Speakers of English as a second language often import the fillers from
their first language – we have heard examples from native French,
Hebrew, Turkish, and Spanish speakers – and that is one reason they
continue to be heard as non-native speakers.
Während ich die langen eueueueu-s von FranzösInnen, die Englisch sprechen,
bestätigen kann, ist mir leider noch niemand Spanischsprechendes
begegnet, der/die mit „este“ verzögert hätte. Aber ich werde jetzt
besser aufpassen. Jedenfalls: dass Ähms zwischen verschiedenen Sprachen
verschieden, innerhalb der Sprachen aber recht konstant sind, schließt,
soweit es mich betrifft, aus, dass Äh und Ähm vorsprachliche
Fehlermarker sind.
Die anderen Argumente für die Worthypothese von Clark und Fox Tree sind
vielleicht nicht durchweg vergleichbar stark. Aber die AutorInnen wollten
erkennbar einmal alle konventionellen Sprachebenen durchgehen und
argumentieren deshalb auch phonologisch (sie sind normale englische
Silben), mofphologisch (sie funktionieren auch als Klitika, können sich
also an andere Wörter anlehnen: „und-äh”), mit Prosodie (sie fallen aus
der Satzmelodie heraus, wie das etwa auch Einschübe wie diese Klammer
machen), über die Syntax (hier folgen sie einfach anderen
Interjektionen: Heissa!), über die Semantik (sie haben eine definierte
Bedeutung, nämlich: jetzt kommt gleich eine kleinere oder größere
Verzögerung im Sprechen) und über die Pragmatik, also die Frage: was
wollen die Leute mit einem Äh bewirken?
Einen Eindruck von der Relevanz dieser letzten Frage mag gewinnen, wer
im SWR2-Beitrag Mark Zuckerberg hört, wie er auf die Frage eines
Kongressabgeordneten antwortet, ob er mitteilen wolle, in welchem Hotel
er heute geschlafen habe:
Der Artikel untersucht diese pragmatischen Aspekte, speziell, was seit
Grice Implikatur heißt, und bietet dazu alles Mögliche zwischen „ich
habe noch was zu sagen, rede noch nicht rein“ bis „hilf mir und rede du
weiter“. Im Fall von Zuckerberg – Facebook war 2002 übrigens noch
dystopische Science Fiction – wäre das wohl „Ich tu wenigstens so, als
müsste ich über diese Zumutung noch nachdenken“.
Methodisch ist das alles wirklich schön gemacht. Ich wünschte, mir wäre
das Paper schon in meiner Coli-Zeit aufgefallen. Zumindest meine Studis
hätten viel Spaß haben können[1].
Drei mal Öhm sind allein schon hier im Blog zu finden.
Ein weiterer Punkt aus der Arbeit, den ich für recht überzeugend halte:
Äh und Ähm kommen durchaus gerne in geschriebener Sprache, gerade etwa
in Chats, vor, was bei einer Art zerebralen Notsignal wirklich nicht zu
erwarten wäre. Ein schnelles grep Öhm *.rst im content-Folder
dieses Blogs liefert bereits drei Belege (a, b, c) – ich suche mal
nicht weiter nach anderen graphische Repräsentationen von Ähm, denn der
Punkt ist gemacht: Ich selbst öhme auch, wenn ich sicher keine
Wortfindungsprobleme oder Sackgassen in meinem Textplan habe, und ich
weiß dabei ziemlich genau, was meine Öhms bedeuten sollen.
Angesichts so leicht greifbarer Belege ist schon eher seltsam, dass ein
so heller Kopf wie Chomsky seinen Irrtum offenbar lange vertreten
hat. Andererseits: Wenn ich an die Gelegenheiten denke, zu denen ich
ihn live have reden hören… Nun, ich glaube, er äht selbst schon arg
wenig, und die Sorte informeller (und vielleicht ja comicinspirierter?)
Schreibe, an die wir uns weit über die Blogosphäre hinaus gewöhnt haben,
war in den 60er und 70er Jahren vielleicht wirklich noch eher
Underground. Clark und Fox Tree führen in diesem Zusammenhang aus,
warum Menschen in formaleren, vielleicht hierarchiedominierteren
Situationen weniger ähen werden:
On the minus side, whenever speakers use fillers, they are announcing
that they are having preparedness problems, something they may not
want to admit in public. Speakers on the radio, on television, and in
formal speeches are expected to be knowledgeable and competent, so it
might undermine their authority to admit to preparedness problems.
– eine Einsicht, die sie einer Arbeit über „Radio Talk“ von einem
Herrn Goffman aus dem Jahr 1981 zuschreiben. Und in der Tat:
If speakers have control of uh and um, they should use them less often in
formal than in informal registers, and there is much evidence that they
do.
Ich bin ganz sicher, dass ich das so mache. Den Eindruck, ich würde um
so weniger ähen, je öffentlicher ich spreche, hatte ich bisher eher mit
mehr oder weniger Konzentration in verschiedenen Dia- oder
Monologsituationen erklärt, ganz im Sinne von Chomskys Äh-Theorie.
Jetzt hingegen neige ich auch stark zur These, dass die Ähs in etwa so
verschwinden wie, sagen wir, kräftige Flüche, die ich auf, sagen wir,
Konferenzen normalerweise auch vermeide.
Äh… Scheiße, was für ein fetzengeiles Paper.
Wenn das DoD für sowas zahlen kann: Muss es dann für die Bundewehr
wirklich dieser Großschnüffel-Mist von gestern sein?
Wie prioritär die Auflösung der Bundeswehr ist, zeigt derzeit nicht nur
die allabendliche Berichterstattung zu den Folgen von Krieg[1].
Nein, eine von der Gesellschaft getragene Armee macht diese – die
Gesellschaft – auch furchtbar anfällig für anderweitige autoritäre
Versuchungen. So ist schon Existenz einer Armee das Nachgeben
gegenüber der maximalen autoritären Versuchung, denn ihr zugrunde liegt
ja die Überzeugung, eine große Klasse von Problemen ließe sich lösen,
indem mensch hinreichend viele der richtigen Menschen tötet – und dieses
Töten sei auch gerechtfertigt, wenn nicht gar geboten.
Außerhalb des engeren Tötungsgeschäfts fallen militärisch insprierte
Antworten normalerweise etwas weniger final aus, doch bleibt auch dort
ethisch kaum ein Stein auf dem anderen, wenn die Armee interveniert.
Ein gutes und aktuelles Beispiel ist das Projekt, von dem die
Computerlinguistin Michaela Geierhos von der Universität der
Bundeswehr in Computer und Kommunikation vom 9.4.2022 berichtet.
Im Groben will die ihre Gruppe statistische und vielleicht linguistische
Werkzeuge („künstliche Intelligenz“) zur – immerhin noch polizeilichen
und nicht militärischen – Massenüberwachung von Telekommunikation
nutzen. In den Geierhos' Worten:
…den Ermittler zu unterstützen, überhaupt mal zu erkennen, was es in
Millionen von Zeilen, wo kommen da überhaupt Namen vor von Personen,
was ist ne Adressangabe, gehts jetzt hier um Drogen oder gehts
vielleicht um ganz was anderes.
Mit anderen Worten: Die Polizei soll richtig viele Menschen
abschnorcheln – denn sonst kommen ja keine „Millionen von Zeilen“
zusammen – und dann per Computer rausbekommen, welche der Überwachten
die bösen Buben sind. Das ist der gute, alte Generalverdacht, und
Menschen mit einem Mindestmaß an menschenrechtlichem Instinkt werden so
etwas ganz unabhängig von den verfolgten Zwecken ablehnen. Grundfeste
des Rechtsstaats ist nun mal der Gedanke, dass allenfalls dann in deine
Grundrechte eingegriffen wird, wenn es einen begründbaren Verdacht gibt,
du habest gegen Gesetze verstoßen – und auch dann können nur sehr
konkrete Hinweise auf schwere Verstöße so schwere Eingriffe wie die
„TKÜ“ rechtfertigen (vgl. §100a StPO).
2008 zierte dieses Transparent das Berliner bcc, während der CCC dort
tagte.
In den Beispielen von Geierhos hingegen geht es um ein von vorneherein
zweckloses Unterfangen wie die repressive Bekämpfung des illegalen
Handels mit und Gebrauchs von Rauschmitteln. Das völlige Scheitern
dieses Ansatzes ist ein besonders schönes Beispiel dafür, wie trügerisch
die autoritäre Versuchung ist. Wie so oft mögen die (staats-)
gewalttätigen Lösungsansätze naheliegend sein. Das heißt aber noch lange
nicht, dass sie tatsächlich funktionieren, schon gar nicht auf Dauer.
Und da habe ich noch nicht mit den schweren Nebenwirkungen angefangen.
Leider ist auch der Moderator Manfred Kloiber – versteht mich nicht
falsch: das ist, soweit ich das nach Plaudereien mit ihm im DLF-Studio
beim Chaos Communication Congress beurteilen kann, ein sehr netter
Mensch – schon der autoritären Versuchung erlegen, wenn er fragt:
Auf der anderen Seite würde man sich ja wünschen, dass man genau davon
[z.B. von Drogengeschichten] ein unabhängiges System findet, was
eben halt über die Bereiche hinweg Kriminalität oder anormale Vorgänge
feststellen kann.
Ich weiß nicht, ob ihm klar war, was er sich da wünscht, und die eher
stolpernden Worte mögen andeuten, dass die Frage so nicht geplant war.
Jedenfalls: Eine universelle Verhaltensüberwachung, die nonkonformes
Verhalten (nichts anderes sind ja „anormale Vorgänge“ im sozialen
Kontext) polizeilicher Intervention zugänglich machen soll? Wer könnte
sich sowas unter welchen Umständen zur Lösung welcher Probleme wünschen?
Zum „wer“ kann mensch immerhin schon mal antworten: Wissenschaftlerinnen
der Universität der Bundeswehr, denn Geierhos antwortet ungerührt:
Ja, das ist eine sehr große Vision, aber von dieser Vision sind wir
leider noch weit entfernt.
(Hervorhebung von mir).
Zu weiteren „Kriminalitätsbereichen“, in denen Geierhos ihr digitales
Stahlnetz gerne auswerfen würde, sagt sie:
Also, Wirtschaftskriminalität, wie gesagt, schwieriger, dass wir das
synthetisch herstellen können […] Aber so Chatprotokolle, Telegram und
wie sie alle heißen, da kann man definitiv ansetzen, wir gucken uns
aber auch an, Hasskriminalität beispielsweise, Mobbing, dass es in die
Richtung geht.
Klar, das sind Probleme, deren autoritäre Behandlung (in Wahrheit wohl:
Verschlimmerung) das Aushebeln selbst noch basalster
Menschenrechtsstandards rechtfertigt.
Oh je. Wie genau haben Costa Rica und Island es geschafft, ihr Militär
loszuwerden? Können wir das bitte auch ganz schnell haben?
Bei den Bildern vom Krieg bleibt, nebenbei, zu bedenken,
dass an ihnen im Gegensatz zum offenbar noch verbreiteten Eindruck
nichts neu ist: Armeen, auch „unsere“ Armeen und die „unserer“
Verbündeten, haben seit jeher und auch in den letzten Jahren ganz
ähnliche und noch schlimmere Gräuel angerichtet. Dass nennenswert
viele sogar halbwegs gutwillige Menschen die aktuellen Gräuel zum
Anlass nehmen, „unsere“ Fähigkeiten zum Anrichten von Gräueln
verbessern zu wollen: Das wird künftige HistorikerInnen wohl ebenso
verwundern wie uns heute die Freude, mit der nennenswerte Teile der
kaiserlichen Untertanen in den ersten Weltkrieg gezogen sind. Mich
verwundert schon heute beides in gleichem Maße. Aber das ist nun
wirklich nicht Thema dieses Artikels.
Nachdem mich gestern die Publikationen der Gruppe von Kathelijne
Koops so gelockt haben, habe ich gleich eine durchgeblättert, und
zwar „How to measure chimpanzee party size? A methodological comparison“
von Kelly van Leeuwen und KollegInnen
(doi:10.1007/s10329-019-00783-4, Preprint).
Bevor ich das lobe, muss ich etwas mosern. Erstens, weil das
Ganze von unfreier Software nur so strotzt – die statistische Auswertung
ist mit SPSS gemacht (geht ja auch anders), und das Paper wurde wohl in
Word geschrieben, auch wenn die Metadaten des Preprints etwas verwirred
aussehen (leicht redigiert):
Warum da nacheinander ein „PDFMaker für Word“ und dann (?) nochmal ein
Ghostscript drübergelaufen sind? Hm. Das PDF vom Verlag ist übrigens
nochmal anders gemacht und meldet „Acrobat Distiller 10.1.8 (Windows)“
als die Software, die das PDF geschrieben hat. Uh. Ein wenig neugierig
wäre ich nun schon, woraus das destilliert wurde.
Zweitens ist nicht schön, dass die Open-Access-Webseite der Uni Zürich
„You need to enable JavaScript to run this app.“ sagt. Das ist in
diesem Fall um so weniger angebracht, als sie auch ohne Javascript eine
ganz brauchbare Seite ausliefert. Allerdings fehlen in dem
Word-generierten PDF die Abbildungen und Tabellen, und sie sind auch
nicht erkennbar verlinkt. Immerhin sind beim Verlag (Springer) „Online
Resources“ offen (während sie von Leuten, die nicht für hinreichend
reiche Unis arbeiten, absurde 37.40 Euro fürs formatierte PDF haben
wollen). Zumindest im Falle der ziemlich sinnlos gestapelten Ergebnisse
der verschiedenen Methoden in Abbildung 1 ist das Fehlen der Abbildungen
aber hier vielleicht sogar verschmerzbar.
Ich würde noch nicht mal auf die Tests, die die AutorInnen so
durchgeklickt haben, furchtbar viel geben, auch wenn sie immerhin ein
wenig statistsiche Abbitte geleistet haben (das ist die realweltliche
Bedeutung des dann und wann angerufenen hl. Bonferroni).
Mein persönliches Highlight aus dem Artikel: Eine qualitative
Betrachtung einiger systematischer Effekte. Rechte beim Japan Monkey
Centre und Springer Japan KK (aus doi:10.1007/s10329-019-00783-4).
Wirklich schade ist es aber um die Tabelle 1 (wenn die Abbildung hier
nicht reicht: Libgen kann helfen). Sie liefert eine schöne Quintessenz
der qualitativen Betrachtungen zu möglichen systematischen Fehlern, und
die geben gute – und vor allem im Vergleich zu entsprechenden
Betrachtungen in der Physik auch recht greifbare – Beispiele für das,
von dem ich in meinem Lob von small data geredet habe. Van Leeuwen
et al schätzen nämlich die Größe von umherziehenden Schimpansengruppen.
Weil die Tiere nun in den Baumkronen umherturnen und noch dazu
vielleicht nicht so gern gezählt werden, ist das nicht ganz einfach, und
die Leute probieren vier verschiedene Verfahren:
Hingehen und Affen zählen
Eine Fotofalle aufstellen und sehen, wie viele Schimpansen auf den
Bildern sind
Anrücken, wenn die Tiere weg sind und zählen, wie viele Tagesnester –
leichte Konstrukte aus Blättern und Zweigen, in denen Schimpansen
kleine Nickerchen halten – in den Bäumen sind
Anrücken, wenn die Tiere weg sind und zählen, wie viele Schlafnester –
elaborierte Konstruktionen, in denen ein Schimpanse die Nacht
(aber immer nur eine) verbringt – in den Bäumen sind.
In einer idealen Welt würde für eine gegebene Gruppe immer die gleiche
(kleine natürliche) Zahl rauskommen, also vielleicht 5. Und ich finde
die erste wertvolle Einsicht schon mal: Selbst einer 5 kann mensch in
vielen Bereichen der Wissenschaft nicht vertrauen. Na gut: Als Astronom
sollte ich da nicht mit Steinen werfen, denn wir kommen ja auch mit
acht, neun oder zehn (Planeten im Sonnensystem) ins Schleudern.
Wenig überraschenderweise lieferten verschiedene Methoden tatsächlich
verschiedene Ergebnisse, und zwar systematisch. Zur Erklärung schlagen
die AutorInnen unter anderem vor:
Direkte Beobachtungen werden vermutlich große Gruppengrößen
bevorzugen, da sich kleinere Gruppen noch scheuer gegenüber Menschen
verhalten werden als große – und umgekehrt die Menschen größere
Gruppen wegen mehr Geschrei auch leichter finden.
Umgekehrt werden direkte Beobachtungen eher einzelne Tiere übersehen,
wenn diese besonders scheu sind, was zu einer systematischen
Unterschätzung speziell bei besonders wenig an Menschen gewöhnten
Gruppen führen wird.
Die Fotofallen könnten ähnliche Probleme haben, wenn die
Schimpansen ihre Existenz spitzkriegen. Offenbar gibt es da
Vermeidungsverhalten. Und natürlich haben Fotofallen nur ein
endliches Gesichtsfeld, so dass sie bei realen Schimpansengrupen
recht wahrscheinlich einzelne Tiere nicht erfassen werden.
Bei den Tagesnestern werden eher Tiere übersehen, weil einige sich gar
keine Tagesnester bauen, etwa, weil sie gar kein Nickerchen
halten. Und außerdem sind diese Nester häufig so locker gezimmert,
dass Menschen sie übersehen. Das kann aber durchaus auch zu einer
Überschätzung der mittleren Gruppengröße führen, weil kleinere
Tageslager gar nicht auffallen; ähnlich würde es sich auswirken, wenn
sich ein Tier zwei oder gar mehr Tagesnester baut.
Bei Nachtnestern könnte die Gruppengröße überschätzt werden, weil sich
vielleicht mehrere Gruppen zur Übernachtung zusammentun (was dann den
Übergang von systematischen Fehlern in interessante Ergebnisse
markiert). Demgegenüber dürften die Probleme mit übersehenen kleinen
Nachtlagern wie auch mit übersehenen Nestern bei Nachtnestern weniger
ins Gewicht fallen als bei Tagnestern, einfach weil sie viel
aufwändiger gebaut sind.
Nun reichen die Daten von van Leeuwen et al nicht, diese Systematiken
ordentlich zu quantifizieren, zumal sie sehr wahrscheinlich auch von
allerlei Umweltbedingungen abhängig sind – im Paper geht es in der
Hinsicht vor allem um die Verfügbarkeit von Obst (mit der die
Gruppengröße wachsen könnte, weil mehr Tiere gleichzeitig essen können,
ohne sich in die Quere zu kommen) und um die Anwesenheit
fortpflanzungsbereiter Schimpansinnen.
Dass systematische Fehler sehr wohl qualitative Ergebnisse ändern
können, zeigt die Studie schön. So werden Gruppen laut
Fotofallenmethode größer, wenn sie fortpflanzungsbereite Frauen
umfassen; dieses Ergebnis verschwindet aber, wenn die Gruppengrößen durch
direkte Beobachtungen geschätzt werden. Durch Nestzählung ist zu dieser
Frage keine Aussage möglich, weil jedenfalls ohne viel Kletterei nicht
herauszubekommen ist, wie es mit Geschlecht und Zykluslage der
NestbauerInnen ausgesehen haben mag.
Und auch wenn die Arbeit nicht auseinanderhalten kann, wie weit die
größeren Gruppen, die sich bei Betrachtung der Nachtnester ergeben,
Folge systematischer Fehler bei der Erfassung sind oder durch das
Verhalten der Tiere verursacht werden: Klar ist jedenfalls, dass mensch
bis auf Weiteres lieber keine Schlüsse von Nachtzählungen aufs
Tagesverhalten zieht.
Ob diese Krähe überlegt, wie sie das Schwein lenken kann?
Und wenn sie rauskriegt, wie das geht, könnte sie es ihren Kindern
sagen? (Das ist übrigens im Käfertaler Wildpark)
Auf meinem Mal-genauer-ansehen-Stapel lag schon seit der
Forschung aktuell-Sendung vom 25. Januar die Geschichte von den
Schimpansen und den Steinen. In aller Kürze: Irgendwo in Guinea leben
zwei Schimpansengruppen (-stämme?), deren eine seit vielen Jahren mit
großer Selbstverständlichkeit Nüsse mit Steinen knackt, deren andere
aber das noch nicht mal tut, wenn mensch ihnen Steine und Nüsse frei
Haus liefert. Der Clou: die beiden Gruppen wohnen nur ein paar
Kilometer voneinander entfernt.
Ich fand diese Geschichte sehr bemerkenswert, und zwar einerseits, weil
ich Schimpansen grundsätzlich für kreativ genug gehalten hätte, um bei
so viel Nachhilfe schnell selbst aufs Nüsseknacken zu kommen. Krähen
zum Beispiel – jedenfalls die im Handschuhsheimer Feld – werfen Nüsse aus
großer Höhe auf Teerstraßen, nicht aber auf normale Erde. Na gut, das
mag auch soziales Lernen gewesen sein, aber ich will eigentlich schon
glauben, dass so eine Krähe da auch selbst draufkommt. Und a propos
„sozial“: Wer Möwen kennt, wird wohl wie ich sicher sein, dass deren
Muschelknacktechniken, wenn überhaupt, nur durch antisoziales Lernen
vermittelt werden könnten.
Wenn jedoch die Schimpansen zu vernagelt sein sollten, um rasch selbst
auf die Nutzung eines Steins zum Nüsseknacken zu kommen, finde ich es
andererseits fast unglaublich, dass Gruppen, die nur ein paar
Kilometer voneinander entfernt leben, so wenig Austausch haben, dass sich
so eine Kultur innerhalb von Jahrzehnten nicht sozusagen intertribal
verbreitet. Es gehen doch immer wieder einzelne Tiere auf Wanderschaft,
oder nicht?
Ein Gedanke, der mich beim Hören ein wenig beschäftigt hat, war: Was,
wenn das nicht ganz ordinäre Dummheit ist, sondern dessen verschärfte
Form, nämlich Patriotismus? In seinem Buch „Collapse – how societies
choose to fail or succeed“ (gibts in der Imperial Library) spekuliert
Jared Diamond, die mittelalterliche Wikingerkultur auf Grönland sei
untergegangen, weil ihre Mitglieder darauf bestanden haben, wie „in der
Heimat“, also von Getreide und Viehzucht, zu leben und nicht, wie die
Inuit, die sie garantiert beobachtet haben werden, von Fisch. Das
Bauernmodell habe die gegen Ende des mittelalterlichen Klimaoptimums
sinkende Temperatur einfach nicht mitgemacht.
That [the Greenland Norse] did not hunt the ringed seals, fish, and
whales which they must have seen the Inuit hunting was their own
decision. The Norse starved in the presence of abundant unutilized
food resources. Why did they make that decision, which from our
perspective of hindsight seems suicidal?
Actually, from the perspective of their own observations, values, and
previous experience, Norse decision-making was no more suicidal than
is ours today.
Schon, weil dieser Artikel mit Wissenschaft getaggt ist, muss ich
anmerken, dass Diamonds Argumente vielleicht nicht immer die
stichhaltigsten sind und auch die Sache mit der Kälte zwar naheliegend,
aber nicht alternativlos ist (vgl. Wissenschaft im Brennpunkt vom
14.11.2019) und wenigstens nach Zhao et al (2022),
doi:10.1126/sciadv.abm4346, wegen Nicht-kälter-werden inzwischen
regelrecht unplausibel wird. Und doch: Dass Kulturen Dinge aus völlig
albernen Gründen tun (ich sage mal: Autos fahren und, schlimmer noch,
parken) und noch mehr nicht tun (ich sage mal: Alltagsradeln), ist
wahrlich nichts Neues. Was also, wenn sich die nichtknackenden Affen
die Nüsse quasi vom Mund absparen, um nur sich nur ja nicht gemein zu
machen mit den knackenden Affen von nebenan? Ich würde das Experiment
ja gerne mal mit anderen, weiter entfernten Gruppen probieren.
Mit solchen Gedanken habe ich die Webseite der im DLF-Beitrag zitierten
Kathelijne Koops von der Uni Zürich besucht. Ein Paper zur
Nussgeschichte habe ich nicht gefunden – basierte der Beitrag im Januar
auf einem Preprint? einer Pressemitteilung der Uni Zürich? –, aber
dafür jede Menge anderer Papers, die es direkt in meinen
Mal-genauer-ansehen-Stapel schaffen: „Quantifying gaze conspicuousness:
Are humans distinct from chimpanzees and bonobos?“, „Chimpanzee termite
fishing etiquette“ oder, im Hinblick auf meinen Dauerbrenner „Was taugen
diese Zahlen eigentlich?“ besonders reizvoll: „How to measure chimpanzee
party size?“. Ich bin ganz hingerissen.
Spoiler: Am Schluss des verbietet das Militär all diese Dinge: Die
Beatles und Beckett ebenso wie „Gorki (und alle Russen)“ und „die
Friedensbewegung“. Rechte: Valoria Films und andere.
Als diverse Innenminister neulich verkündeten, den Buchstaben Z jenen
verbieten zu wollen, die die falsche Geschmacksrichtung des Patriotismus
bevorzugen, ging im Fediverse der Film Z – Anatomie eines politischen
Mordes herum. Nun muss ich sagen, dass Patriotismus jeder
Geschmacksrichtung mein entschlossenes Eintreten für die Redefreiheit
schon etwas herausfordert, um so mehr, wenn er sich auf kriegsführende
Parteien bezieht. Andererseits ist der Gedanke, Buchstaben in
Abhängigkeit der Gesinnung der Schreibenden verbieten zu wollen, schon
besonders wüst, und drum bin ich dem Filmtipp gefolgt (via dem
youtube-Anonymisierer invidious).
Und was soll ich sagen: Ich war hingerissen. Der Film entstand unter
dem Eindruck der griechischen Militärregierung (1967-1974) im
Wesentlichen unter exilgriechischen KünstlerInnen in Frankreich (die
Musik etwa hat der kürzlich verstorbene Mikis Theodorakis beigesteuert),
unterstützt von Großkulturellen wie Jorge Semprún und Superstars wie
Yves Montand. Es ging – „Eventuelle Ähnlichkeiten zu wirklichen
Ereignissen oder lebenden oder toten Personen sind nicht rein zufällig.
Sie sind Absicht.“ – um die Genese einer offen autoritären Regierung im
freien Westen, unter Beteiligung einer stramm autoritären Polizei, einer
Stay-behind-Organisation und natürlich des Militärs.
Und so wirkt nicht nur der abschließende Satz „Gleichzeitig verboten
die Militärs […] den Buchstaben Z“ eigenartig prophetisch. Es gibt zum
Beispiel bemerkenswerte Schnitte vom Bolschoi-Ballett für die
Würdenträger gegen Einsätze von Prügelpolizei, die geradezu visionär die
Bilder des G20-Gipfels von 2017 vorwegnehmen, als nämlich die Polizei
rund ums Schanzenviertel und und die „rote Zone“ wasserwerferte,
pfefferte und prügelte, während sich Putin, Trump, Xi, Temer, Macri,
Peña Nieto, Zuma, Abe, Erdoğan, Juncker, Widodo und all die anderen
„Verantwortungsträger“ in der Elbphilharmonie beschallen ließen.
Auch der Kontrast zwischen äußerster Indifferenz der Polizei gegenüber
rechter Gewalt und raschem Einsatz von „unmittelbarem Zwang“ gegen Linke
kennt jedeR, der/die in der Vor-Lübcke-Bundesrepublik im weiteren
Antifa-Umfeld unterwegs war (zugegeben hat der Lübcke-Mord da zumindest
vorübergehend etwas bewegt). Die dauernden Behinderungen der
Ermittlungsarbeit im Film durch Verfahrenshindernisse oder überraschend
verscheidende ZeugInnen geben wiederum ein Bild ab, das stark an die
NSU-Aufklärung (oder ihr Unterbleiben) erinnert. Ebenfalls vertraut
sind die rechten Netzwerke in Polizei und Justiz (vgl. Hannibal und
Uniter), die sich unter Schlagwörtern wie „Abendland“ (das A in Pegida)
versammeln .
Ich spoilere noch etwas mehr: Der unerschrockene, wenn auch vielleicht
etwas schmierige Journalist, der viel zur Aufklärung der Geschehnisse
beiträgt, bekommt am Ende „drei Jahre Gefängnis wegen Besitz offizieller
Dokumente“. Das zumindest ist, verglichen mit unserer Realität, eher
milde. Julian Assange sitzt bereits deutlich länger, und für Edward
Snowden sieht es nach lebenslänglich Russland aus, was – nein, ich bin
ganz gewiss kein Putin-Fan – zumindest noch im gleichen Stadion spielt
wie equadorianische Botschaften und britische Knäste.
Schließlich will ich noch ganz kurz den Gender-Aspekt einbringen:
Während damals auf der autoritären Seite ausschließlich Männer zu sehen
und vor allem zu hören sind, sprechen auf der liberalen Seite immerhin
vereinzelnt auch Frauen, und zwar nicht nur als für oder über ihre
Männer; zumindest insofern haben wir die Welt schon etwas geändert.
Bandwürmer im großartigen Naturhistorischen Museum in Wien: Den
besonders lange in der Mitte soll sich der Arzt wohl so zur k.u.k.Zeit
selbst gezogen haben. Auch „bei uns“ hatten also selbst wohlhabende
Menschen noch vor recht kurzer Zeit beeindruckende Würmer.
In den DLF-Wissenschaftsmeldungen vom 15. Februar ging es ab Sekunde
50 um römische Archäologie mit Bandwürmern. Ich gestehe ja einen
gewissen Römerfimmel ein, und ich fand zudem die Passage
In römerzeitlichen Fundstätten auf Sizilien wurden mehrfach konische
Tongefäße ausgegraben. Bisherigen Interpretationen zufolge wurden
darin Lebensmittel gelagert.
vielversprechend im Hinblick auf mein Projekt interessanter
Selbstkorrekturen von Wissenschaft, denn die neuen Erkenntnisse zeigen
recht deutlich, dass zumindest eines dieser Gefäße in Wahrheit als
Nachttopf genutzt wurde. Und deshalb habe ich mir die Arbeit besorgt,
auf der die Kurzmeldung basiert.
Es handelt sich dabei um „Using parasite analysis to identify ancient
chamber pots: An example of the fifth century CE from Gerace, Sicily,
Italy“ der Archäologin Sophie Rabinow (Cambridge, UK) und ihrer
KollegInnen (DOI 10.1016/j.jasrep.2022.103349), erschienen leider im
Elsevier-Journal of Archeological Science. Ich linke nicht gerne auf
die, zumal der Artikel auch nicht open access ist, aber leider gibts das
Paper derzeit nicht bei der Libgen.
Publikationsethische Erwägungen beiseite: Diese Leute haben einen der
erwähnten „konischen Tongefäße” aus einer spätrömischen Ruine im
sizilianischen Enna hergenommen und den „sehr harten, weißlichen
Rückstand von schuppigem Kalk“ („very hard whitish lime-scale deposit“)
am Boden des Gefäßes untersucht. Vor allem anderen: Ich hätte
wirklich nicht damit gerechnet, dass, was in einem lange genutzten
Nachttopf zurückbleibt, schließlich diese Konsistenz bekommt.
Nie wieder Sandalenfilme ohne Wurmgedanken
Aber so ist es wohl, denn nachdem die Leute das Zeug in Salzsäure
aufgelöst und gereinigt hatten, waren durch schlichte Lichtmikroskopie
(mein Kompliment an die AutorInnen, dass sie der Versuchung widerstanden
haben, coole und drittmittelträchtige DNA-Analysen zu machen)
haufenweise Eier von Peitschenwürmern zu sehen – und das halte auch ich
für ein starkes Zeichen, dass reichlich menschlicher Kot in diesem Pott
gewesen sein dürfte. Auch wenn, wie die AutorInnen einräumen, keine
Kontrollprobe der umgebenden Erde zur Verfügung stand, ist es nicht
plausibel, wie Eier in dieser Menge durch nachträgliche Kontamination in
den „harten, weißen Rückstand“ kommen sollten.
Römer hatten – das war schon vor dieser Arbeit klar – nicht zu knapp
Würmer. Alles andere wäre trotz der relativ ordentlichen Kanalisation
in größeren römischen Siedlungen höchst erstaunlich, da auch in
unserer modernen Welt die (arme) Hälfte der Menschheit Würmer hat (vgl.
z.B. Stepek et al 2006, DOI 10.1111/j.1365-2613.2006.00495.x).
Dennoch guckt sich so ein zünftiger Sandalenfilm (sagen wir, der immer
noch hinreißende Ben Hur) ganz anders an, wenn mensch sich klar
macht, dass die feschen Soldaten und fetten Senatoren alle des öfteren
mal Würmer hatten. Und auch Caesars Gallischer Krieg oder Mark Aurels
Selbstbetrachtungen erhalten, finde ich, eine zusätzliche Tiefe, wenn
mensch sich vorstellt, dass in den Gedärmen jener, die da
Kriegspropaganda oder stoische Philosophie betrieben, parasitische
Würmer mitaßen.
Forschungsprojekt: Wurmbefall in Köln vor und nach 260
Nun schätzen Rabinow et al allerdings, dass ihre Rückstände wohl in der
Mitte des fünften Jahrhunderts entstanden. Damals hatte die römische
Zivilisation und damit auch ihre Kanalisation wahrscheinlich auch in
Sizilien schon etwas gelitten. Die Kölner Eifelwasserleitung etwa –
die eingestandenermaßen technisch besonders anspruchsvoll war und in
einem besonders unruhigen Teil des Imperiums lag – haben „Germanen“
schon im Jahr 260 zerstört, und sie wurde danach nicht mehr in Betrieb
genommen, obwohl Köln bis weit ins 5. Jahrhundert hinein eine römische
Verwaltung hatte.
Ich persönlich wäre überzeugt, dass, wer mit der Rabinow-Methode an
entsprechend datierbare Überreste heranginge, mit dem Jahr 260 eine
sprunghafte Erhöhung der Verwurmung in Köln feststellen würde.
Insofern: Vielleicht hatten Caesar und Mark Aurel, zu deren Zeiten der
römlische Wasserbau noch blühte, ja doch nicht viel mehr Würmer als wir
im kanalisierten Westen?
Ach so: Das mit dem Irrtum – „nee, die Teile hatten sie für Essen“ – war
so wild in Wirklichkeit nicht. Wie üblich in der Wissenschaft waren
die Antworten auch vorher nicht so klar. Rabinow et al schreiben:
A recent study of material at the town of Viminacium in Serbia, where
over 350 identically deep-shaped vessels are known, was able to
confirm at least 3 potential uses: storage for cereals or water,
burial urns, and chamber pots […]. Chamber pots clearly were also
sometimes put to secondary use, for example as a container for
builder’s lime […], while vessels initially destined for other
purposes may have been turned into chamber pots.
Nun, dann und wann kommen sogar Wissenschaft und „gesunder“
Menschenverstand zu recht vergleichbaren Ergebnissen.
„Reimers' Diagramm“: Für 400 Jahre der einzige Hinweis darauf, wie Jost
Bürgi wohl seine Sinustabelle berechnet hat. Nicht mal Kepler hat das
Rätsel lösen können.
Ein Geheimnis, das im antiken Griechenland ein wenig angekratzt wurde,
über das dann Gelehrte in Indien und Arabien nachgedacht haben, für das
in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein wandernder Schweizer
Uhrmacher eine genial einfache Lösung fand, von der aber die Nachwelt
nur ein paar kryptische Referenzen hat, bis ein unerschrockener
Wissenschaftler in den Tiefen längst vergessener Bibliotheken ein
Manuskript entdeckt, das des Rätsels Lösung enthält: Es gibt
Geschichten, die klingen nach einem Roman von Umberto Eco (oder, je nach
Temperament und/oder Geschmack, Dan Brown) und sind doch wahr.
Auf die Geschichte von Jost Bürgis Sinusberechnung bin ich über die
DLF-Sternzeit vom 27.2.2022 gekommen, und sie geht ungefähr so:
Nachdem Hipparchos von Nicäa so um die 150 vdcE[1] nicht nur
den ersten brauchbaren Sternkatalog vorgelegt, sondern auch die ersten
ordentlichen Rezepte angegeben hatte, wie mensch für jede Menge Winkel
den zugehörigen Sinus[2] ausrechnet, gab es zur Berechnung
trigonometrischer Funktionen sehr lange nicht viel Neues.
Klar, der große Ptolomaios, genau, der mit dem Weltbild, hat Hipparchos'
Methode zur Berechnung des Sinus über regelmäßige Vielecke kanonisiert.
In Indien gab es einige Fortschritte – etwa den Übergang von der Sehne
zum Sinus –, in Arabien wurden verschiedene Ergebnisse zusammengetragen
und systematisiert, aber immer war es eine mühsame, geometrisch
insprierte, endlose Rechnerei.
Und dann kommen wir in die frühe Neuzeit in Europa, genauer die zweite
Hälfte des 16. Jahrhunderts. Kopernikus hat noch einmal ganz klassisch
den Sinus mit Vielecken berechnet, während er die Konflikte zwischen
Ptolomaios und der Realität untersuchte. In Italien macht sich
allmählich Galileo bereit, die Physik als experimentelle
Naturwissenschaft zu etablieren. Und in Kassel, beim
wissenschaftsbegeisterten hessischen Landgraf Wilhelm IV, sammeln
sich ein paar Mathe- und Astro-Nerds, die beim ebenso berühmten wie
fiesenTycho gelernt haben, unter ihnen Nicolaus Reimers, der das
kryptische Bild über diesem Post veröffentlicht hat, vermutlich, weil er
versprochen hatte, nicht mehr zu verraten.
Bürgis geniale Methode
Es weist auf ein Verfahren zur Berechnung von Werten der Sinusfunktion
hin, das nichts mehr mit den umschriebenen Polygonen des Hipparchos zu
tun hat. Sein Erfinder, der Toggenburger Uhrmacher-Astronom-Erfinder
Jost Bürgi, hatte zu dieser Zeit ein großes Tabellenwerk vorgelegt,
mit dem mensch auch ohne Taschenrechner rausbekommen konnte, wie viel wohl
sin(27∘ 32’ 16’’) sei[3]. Offensichtlich
funktionierte die Methode. Doch hat Bürgi – Autodidakt und vielleicht
etwas verschroben – die Methode nie richtig veröffentlicht, und so
brüteten MathematikerInnen, unter ihnen wie gesagt Johannes Kepler, der
immerhin die Sache mit den Ellipsenbahnen im Planetensystem rausbekommen
hat, lang über der eigenartigen Grafik. Und kamen und kamen nicht
weiter.
Das war der Stand der Dinge bis ungefähr 2014, als der (emeritierte)
Münchner Wissenschaftshistoriker Menso Folkerts im Regal IV Qu. 38ª
der Universitätsbibliothek in Wrocław auf eine lange übersehene
gebundene Handschrift stieß. Ein wenig konnte er ihre Geschichte
nachvollziehen: Jost Bürgi persönlich hatte das Werk Kaiser Rudolf II
– dem Mäzen von Tycho und Kepler – am 22. Juli 1592 (gregorianisch) in
Prag übergeben, was ihm eine Zuwendung von 3000 Talern eingebracht hat.
Ich habe leider nicht die Spur eines Gefühls, wie sich der Betrag mit
modernen Drittmittelanträgen vergleicht. Die Form des Antrags
jedenfalls ist aus heutiger Sicht als unkonventionell einzustufen.
Das Werk fand seinen Weg in das Augustinerkloster im unterschlesischen
Sagan (heute Żagań). Wie es dort hinkam, ist nicht überliefert, aber
mensch mag durchaus eine Verbindung sehen zu Keplers Aufenthalt in Sagan
in den Jahren von 1628 bis 1630. Vielleicht hat er das Buch ja nach
seinen Diensten in Prag mitgenommen, auf seinen verschiedenen
Wanderungen mitgenommen und schließlich selbst im Kloster gelassen?
Aber warum hätte er dann über Bürgis Methode gerätselt?
Wie auch immer: Im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses wurde das
Kloster 1810 aufgelöst – ich stelle mir das ein wenig vor wie in Poes
„Die Grube und das Pendel“ –, und der Bestand der Bibliothek fiel an die
Universität Breslau, die wiederum nach dem zweiten Weltkrieg zur
polnischen Uni Wrocław wurde.
In diesem geschichtsträchtigen Manuskript erklärt Bürgi seinen
Algorithmus. Dargestellt ist das in der Abhandlung von Folkerts et al
(arXiv:1510.03180), in der sich auf den Seiten 11 und 12 auch die
Auflösung für Reimers' Rätsel findet. Etwas schöner beschreibt das
Verfahren Denis Roegel in seinem Aufsatz Jost Bürgi's skillful
computation of sines. Dort wird auch Bürgis mutmaßliche
Grundeinsicht besser erläutert, nach der der Sinus einfach das Ding ist, das,
modern gesprochen, nach zweifacher Ableitung sich selbst (mal minus
eins) ergibt. Das ist der mathematische Hintergrund dafür, dass
folgendes Stück Python tatsächlich relativ schnell zu einer Tabelle
der Sinuswerte von n im ersten Quadranten gleichverteilten
Winkeln konvergiert:
tot_sines = list(range(n+1))
for iter_index in range(n_iter):
intermediates = [tot_sines[-1]//2]
for tot in reversed(tot_sines[1:-1]):
intermediates.append(intermediates[-1]+tot)
tot_sines = [0]
for diff in reversed(intermediates):
tot_sines.append(tot_sines[-1]+diff)
return dict((k*math.pi/2/n, v/tot_sines[-1])
for k, v in enumerate(tot_sines))
– es ist, glaube ich, unmöglich, zu verstehen, was hier passiert (und
warum), ohne den Roegel oder zumindest den Folkerts gelesen zu haben.
Aber ich könnte andächtig werden angesichts so simpler Manipulationen,
die so schnell zu richtig vielen Stellen einer transzendenten Funktion
wie des Sinus führen.
Ein numerischer Traum
Wie schnell das mit den vielen Stellen bei Bürgis Algorithmus geht,
zeigt folgende Grafik:
Hier läuft horizontal der Winkel – und der Algorithmus funktioniert
wirklich nur, wenn das einen rechten Winkel einschließt –, vertikal die
Iterationen von Bürgis Algorithmus. Die Farben entsprechen dem
dekadischen Logarithmus der Abweichung der Bürgi-Ergebnisse von dem, was
die Python-Standardbibliothek gibt, im Groben also die Zahl der Stellen,
die der Algorithmus richtig hinbekommt. Mehr als 18 geht da schon mal
nicht, weil die Zahlen von Python in 64-bittigen IEEE-Fließkommazahlen
(„double precision“) kommen, und mehr als 18 Dezimalstellen sind da
nicht drin (in der Grafik steckt die Zusatzannahme, dass wir von Zahlen
in der Größenordnung von eins sprechen).
Mithin gewinnt der Algorithmus pro Iteration ungefähr eine
Dezimalstelle, und das gleichmäßig über den ganzen Quadranten.
DemoprogrammiererInnen: billiger kommt ihr, glaube ich, nicht an eine
beliebig präzise Sinustabelle ran.
Spannend fand ich noch die kleinen dunkelblauen Klötzchen ganz unten in
der Grafik: Hier werden sich Bürgi und Python offenbar auf Dauer nicht
einig. So, wie ich das geschrieben habe, würde ich fast eher Bürgi
vertrauen, denn bei den Ganzzahlen, die da verwendet werden, kann
eigentlich nichts schief gehen. Andererseits sind Fließkommazahlen eine
heikle Angelegenheit, insbesondere, wenn es ums letzte Bit geht. Um
mich zu überzeugen, dass es nur um genau jenes unheimliche letzte Bit
geht, habe ich mir geschwind eine Funktion geschrieben, die die
Fließkommazahlen vinär ausgibt, und der Code gefällt mir so gut, dass
ich sie hier kurz zeigen will:
import struct
_BYTE_LUT = dict((v, "{:08b}".format(v)) for v in range(256))
def float_to_bits(val):
return "".join(_BYTE_LUT[v] for v in struct.pack(">d", val))
Mit anderen Worten lasse ich mir geschwind ausrechnen, wie jedes Byte in
binär aussehen soll (_BYTE_LUT), wobei die Python-Bibliothek mit dem
08b-Format die eigentliche Arbeit macht, und dann lasse ich mir die
Bytes der Fließkommazahl vom struct-Modul ausrechnen. Der einzige Trick
ist, dass ich das Big-end-first bestellen muss, also mit dem
signfikantesten Byte am „linken“ Ende. Tue ich das nicht, ist z.B. auf
Intel-Geräten alles durcheinander, weil die Bits in der konventionellen
Schreibweise daherkommen, die Bytes aber (wie bei Intel üblich)
umgedreht, was ein furchtbares Durcheinander gibt.
Jedenfalls: Tatsächlich unterscheiden sich die Werte schon nach 20
Iterationen nur noch im letzten bit, was für 45 Grad alias π/4 z.B. so
aussieht:
Ich lege mich jetzt mal nicht fest, was das „bessere“ Ergebnis ist; ich
hatte kurz überlegt, ob ich z.B. mit gmpy2 einfach noch ein paar
Stellen mehr ausrechnen sollte und sehen, welches Ergebnis näher dran
ist, aber dann hat mich meine abergläubische Scheu vor dem letzten Bit
von Fließkommazahlen davon abgehalten.
Wer selbst spielen will: Meine Implementation des Bürgi-Algorithmus, der
Code zur Erzeugung der Grafik und die Bitvergleicherei sind alle
enthalten in buergi.py.
Das vdcE bringe ich hiermit als Übertragung von BCE, before
the Christian era, in Gebrauch. Und zwar, weil v.Chr völlig albern
ist (es ist ja nicht mal klar, ob es irgendeine konkrete Figur
„Christus“ eigentlich gab; wenn, ist sie jedenfalls ganz sicher nicht
zur aktuellen Epoche – also dem 1. Januar 1 – geboren) und „vor
unserer Zeitrechnung“ ist auch Quatsch, denn natürlich geht
Zeitrechnung (wenn auch mangels Jahr 0 etwas mühsam) auch vor der
Epoche. „Vor der christlichen Epoche“ hingegen bringt ganz schön auf
den Punkt, was das ist, denn die „Epoche“ ist in der Zeitrechnung
einfach deren Nullpunkt (oder halt, vergurkt wie das alles ist, hier
der Einspunkt).
Na ja, in Wirklichkeit hat er mit der Länge der Sehne
gerechnet, die ein Winkel in einem Kreis aufspannt, aber das ist im
Wesentlichen das Gleiche wie der Sinus, der ja gerade der Hälfte
dieser Sehne entspricht.
Diese Biene würde vielleicht schon zwischen den Staubbeuteln
rumrüsseln, wenn die Blume sich nur etwas mehr Mühe beim Würzen
gegeben hätte.
In Marc-Uwe Klings Qualityland (helle Ausgabe in der Imperial Library)
gibt es das großartige Konzept der FeSaZus, eines Nahrungsmittels, das zu
je einem Drittel aus Fett, Salz und Zucker besteht und zumindest für das
Proletariat von Qualityland in einigen – nicht zu vielen! –
Darreichungsformen (FeSaZus im Cornflakesmantel, Muffins mit
FeSaZu-Füllung, Schmalz-FeSaZus mit Speckgeschmack) eine wichtige
Ernährungsgrundlage darstellt.
Via den Wissenschaftsmeldungen vom 3.2.2022 in DLF Forschung aktuell
bin ich nun auf den Artikel „Sodium-enriched floral nectar increases
pollinator visitation rate and diversity“ von Carrie Finkelstein und
KollegInnen (Biology Letters 18 (3), 2022, DOI
10.1098/rsbl.2022.0016) gestoßen, der recht überzeugend belegt, dass
Insekten im Schnitt einen Geschmack haben, der sich vom Qualityländer
Durchschnittsgeschmack gar nicht so arg unterscheidet.
Finkelstein et al haben an der Uni von Vermont mindestens je zwölf
Exemplare von fünf örtlich üblichen Blumenarten blühen lassen. Je
Experiment (und davon gab es einige) haben sie sich pro Art sechs
Individuen ausgesucht und mit Kunstnektar versehen. Bei dreien war das
einfach eine 35%-ige Zuckerlösung, bei den anderen drei kam dazu noch 1%
Kochsalz. In Wasser aufgelöst ist 1% Salz schon ziemlich schmeckbar.
Ich habe darauf verzichtet, im Selbstversuch zu überprüfen, ob 1% Salz
in so konzentriertem Sirup menschlichen Zungen überhaupt auffällt.
Und dann haben sie gewartet, bis bestäubende Insekten kamen und diese
gezählt. Das zentrale (und jedenfalls von außen betrachtet trotz etwas
Voodoo bei der Auswertung auch robuste) Ergebnis: An den Pflanzen, die
Salz anboten, waren doppelt so viele Insekten – am stärksten vertreten
übrigens allerlei Sorten von Bienen – wie an denen, die das nicht taten,
und zwar ziemlich egal, um welche Blume es nun gerade ging. Mit anderen
Worten: Insekten sind nicht wild auf faden Nektar.
Allerdings: So ein Faktor zwei in der Präferenz ist gar nicht so viel.
Zwischen den BesucherInnenzahlen bei Schafgarbe (laut Paper 54.1 ± 6.3)
und dem blutroten Storchschnabel (16.6 ± 3.5) liegt eher ein Faktor
drei. Dennoch ist recht deutlich, dass die Insekten eher wenig
Verständnis haben für Lauterbachs salzarme Ernährung. Dabei will ich
nicht argumentieren, dass ein Durchschnittsmensch auf Dauer 150 mg
Salz pro Kilogramm Körpergewicht und Tag essen könnte, ohne schließlich
mit Hypertonie und Nierenversagen kämpfen zu müssen. Aber 10 oder 15
Gramm Salz am Tag kriegt mensch, wie Samin Nosrat in ihrem wunderbaren
Kochbuch Salt, Fat, Acid, Heat (auch in der Imperial Library)
ausführt, durch selbstsalzen oder auch den Salzgebrauch in
selbstkochender Gastronomie, kaum hin[1]; salzarms Kochen und
fades Essen mag mithin positive gesundheitliche Folgen haben, aber
vermutlich kaum mehr als etwa der Einsatz von Himalayasalz, Voodoopuppen
oder anderen potenten Placebos.
Erfreulich fand ich im Paper noch die Aussage „All analyses were
performed in R (v. 4.0.2)“ – dass auch in weniger technologieaffinen
Wissenschaftsbereichen proprietäre Software (in diesem Fall ganz
vornedran SAS und SPSS) auf dem Weg nach draußen ist, halte ich für eine
ausgezeichnete Nachricht.
Weniger schön fand ich das Bekenntnis, dass es in Anwesenheit von
BiologInnen ganz offenbar gefährlich ist, einer unüblichen Spezies
anzugehören:
If we were unable to identify a floral visitor in the field, we
collected it and stored it in 75% ethanol.
Arme kleine Fliegen und arme VertreterInnen ungewöhnlicher Bienenarten.
Wären sie stinknormale Honigbienen gewesen, hätten sie ihren Ausflug zu
den verlockenden Blüten mit dem fein gesalzenen Nektar überlebt.
Nosrat argumentiert in ihrem Buch für mich zumindest plausibel
(und durch meine eigene Kochpraxis bestätigt), dass Lauterbauchs Kritik
am „Salzgeschmack“ zumeist am Thema vorbeigeht – in aller Regel
vermittelt Kochsalz etwa durch Kontrolle von Osmolaritäten ziemlich
nichttriviale Prozesse beim Garen und Verarbeiten von Lebensmitteln,
und diese sind für den Geschmack der fertigen Speisen viel wichtiger
als das Salz selbst. Aber das ist dann wirklich eine andere Geschichte.
2014 in Lissabon: nach einer Nacht im Barrio Alto hat sich an der
Straße ein Pfund Plastik gesammelt. Ihr guckt auf etwa ein
Millardstel der gegenwärtigen Weltjahresproduktion.
In der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell gab es am 2. März ein
Segment mit einer Zahl, die ich im Kopf haben sollte: Die
Weltproduktion von Kunststoffen liegt derzeit bei 460 Millionen Tonnen
oder einer halben Gigatonne pro Jahr und hat seit dem Jahr
2000 um ziemlich genau den Faktor 2 zugenommen.
In den Größenordnungen von Naturkatastrophen gesprochen braucht es
5⋅108 t ⁄ (25 t/Container), also 20
Millionen TEU-Container, um den ganzen Mist (von der Masse her) bewegt
zu kriegen. Wenn das alles durch einen Hafen ginge, müsste da öfter als
alle zwei Sekunden so ein Container randvoll mit Plastik rein bzw. raus.
Mit der Annahme, dass Rohöl 1:1 in Kunststoff umgesetzt wird –
(wahrscheinlich eher konservativ) – hat es 5⋅108 t ⁄ (5⋅105 t/Tanker), also überraschende
1000 große Supertanker gebraucht, um das Öl für das Zeug zu den
Chemiefabriken zu bringen. Das sind sowas wie drei am Tag. Ganz
ehrlich kommt mir diese Zahl enorm, fast unglaublich groß vor.
Wahrscheinlich werden doch ganz schön viele der Fabriken durch Pipelines
beliefert, zumal wohl auch Gas ein beliebter Ausgangsstoff für viele
Kunststoffe ist.
Mit den Kopfzahlen für Flächen geht noch eine andere
Veranschaulichung, denn zufällig ist ja die Fläche der Erde auch so etwa
450 Millionen Quadratkilometer. Mithin produzieren wir für jeden
Quadratkilometer Erdoberfläche ziemlich genau eine Tonne Plastik,für
jeden Quadratkilometer Land gar drei Tonnen. Wiederum scheint mir das
unglaublich viel.
Um das weiter in Relation zu setzen: Kunststoffe wie Polyethylen haben
ungefähr die Dichte von Wasser, also
1000 kg ⁄ m3, und Folie daraus ist etwas wie
0.01 mm oder 10 − 5 m dick (ich nehme mal dieses
Angebot als repräsentativ). Weil die Dichte ρ gleich Masse
m pro Volumen V und Volumen Fläche A mal Dicke
b ist, kann mensch die mit einer Tonne PE-Folie bedeckbare
Fläche zu
A = (m)/(ρb) = (1000 kg)/(1000 kg/m3⋅10 − 5 m)
und also 100'000 Quadratmetern ausrechnen (Gegenrechnung: ein Kilo Folie
könnte so 100 Quadratmeter oder eine größere Wohnung abdecken; das
klingt plausibel). Unsere Tonne Plastikfolie bedeckt von unserem
Quadratkilometer immerhin ein Zehntel (bzw. zehn von den
Hektaren aus den Flächen-Kopfzahlen, die mensch in zwei Minuten durchqueren
konnte).
Ist es tröstlich, dass wir auch bei der gegenwärtigen Plastikproduktion
immer noch 10 Jahre bräuchten, bis wir den Planeten ganz in
Frischhaltefolie eingewickelt hätten? Na gut, wenn wir das Meer
unverpackt ließen, würden wir es auch in drei Jahren schaffen. Wir
müssten nur den ganzen anderen Plastikquatsch für drei Jahre
weiterwenden, um die Produktion für das große Verpackungsprojekt
freizukriegen.
Bilder aus der Tagesschau vom 9.3.2022 und (Inset) aus der taz vom
14.3.2022: Cat content geht immer – leider offenbar auch, wenn
patriotische Emotion Tötungshemmung überwinden helfen soll (Rechte bei
der ARD bzw. der taz)
Einem militanten Pazifist wie mir geht das Herz derzeit natürlich oft auf, da ja
allenthalben Wladimir Putin heftig gescholten wird dafür, dass er für
seine (und damit bis auf Weiteres auch die nationalen russischen)
Interessen Menschen töten lässt – die Monströsität entsprechender Ideen
hatte ich ja schon im letzten September und davor im Januar
angeprangert.
Leider schließt sich mein Herz dann allzu oft zumindest gegenüber weiten
Teilen der öffentlichen Meinung wieder, denn fast immer geht der
Ausdruck von Abscheu gegenüber dem Putin'schen Morden über in die
Forderung, „wir“ (sc.[1] „unsere“ Regierung) müssten nun aber viel
mehr tun, damit „wir“ dann auch besser für „unsere“ (sc. der Regierung)
Interessen töten können. Und es sei nicht hinnehmbar, dass „wir“ (sc.
die Bundeswehr) gerade nicht hinreichend gut töten könnten. Nur
vorsorglich und nebenbei möchte ich zur Erzählung von der kaputten
Bundeswehr gehöriges Misstrauen anmelden: if only it were true.
Immerhin kommen diese Appelle an Wehr- und Tötungsbereitschaft derzeit
noch oft im Flauschkostüm daher: es ist wirklich auffällig, wie viele
Hunde und Katzen aus den aktuellen Kriegsbildern äugen. Die beiden
Kitschbeispiele im Titelfoto sind wirklich nur zufällig aus einem
großen Korpus gegriffen, auch heute sind in der taz wieder Bilder von
ukrainischen Frauen, die Katzen tragen.
Klar: Das ist mir viel lieber als harte Männer mit großen Knarren.
Das Narrativ von „wir müssen die Tiere vor Putins Grausamkeit retten“
(und deshalb 100 Milliarden Sondervermögen fürs Töten einstellen)
relativiert sich allerdings schon deshalb, weil ein jedenfalls vom
Flauschfaktor her bemerkenswerter, in Wahrrheit aber sowohl menschen-
als auch tierrechtlich ernster Skandal in den Cat Content-Medien im
Wesentlichen untergegangen ist. Ich zitiere aus der Zeitung der Roten
Hilfe 1/2022 (S. 23):
Weil die Tierschutz-Hundeverordnung seit Jahresbeginn den Einsatz so
genannter Zug- und Stachelhalsbänder verbietet, fürchten die Polizeien
des Bundes und der Länder um ihre bei Demonstrationen, Fußballspielen
usw. eingesetzten „Schutzhunde“ – sie werden sowohl in der Ausbildung
als auch bei jährlichen Trainings mit solchen Halsbändern gequält, um
im Einsatz auch beim Anziehen eines normalen Halsbandes in Erinnerung
der Schmerzen Befehle auszuführen. Stellten einige Länder ihre Hunde
kurzzeitig außer Dienst, suchen sie nun Wege, die Tiere weiter als
Waffen abzurichten und einzusetzen. Berlin etwa sieht die Verordnung
als nur Ausbildung und Training, nicht aber den Einsatz betreffend,
Niedersachsen will im Bundesrat eine Tierquäl-Ausnahme-Erlaubnis für
die Polizei erreichen. Brandenburg ignoriert die Verordnung komplett:
Es sei nur verboten, Tieren „ohne vernünftigen Grund“ Schmerzen
zuzufügen. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) fürchtet ohne
Stachelhalsbänder gar „fatale Auswirkungen auf die innere Sicherheit“.
Unter dem schrecklichen Krieg in der Ukraine leidet nicht nur die
dortige Zivilbevölkerung. Viele der Millionen flüchtenden Menschen
haben ihre geliebten Haustiere wie Hunde, Katzen oder Frettchen dabei.
Öhm… Frettchen? Stellt sich jedenfalls raus, dass das auch anderweitig
ein Thema ist:
Ukrainische Haustiere sind in bayerischen Flüchtlingsunterkunft
neuerdings willkommen. […] Die Regierungen und
Kreisverwaltungsbehörden wurden angewiesen, bei der Aufnahme von
Haustieren ukrainischer Geflüchteter großzügig
zu sein.
[…] Eigentlich seien die Unterkünfte nicht auf Haltung von Haustieren
ausgelegt, erklärt das Ministerium. Aber ein Haustier könne eine
wichtige Stütze nach Kriegserfahrung und Flucht sein. Man wolle
Trennungen vermeiden.
In den Gründen zum ablehnenden Teil ist zusammengefasst ausgeführt,
der Klägerin [eine Frau aus Syrien] stehe kein originärer Anspruch auf
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 1 AsylG zu. Sie
habe keine drohende oder bereits erlittene Verfolgung in ihrem
Herkunftsland glaubhaft gemacht. Die Klägerin sei wegen der
Kriegssituation ausgereist.
Das Gericht (Ansbach ist übrigens seit Napoleon bayrisch) hat die Klage
abgewiesen.
Für den Fall, dass die schöne Abkürzung „sc.“ nicht allen
geläufig ist (ich musste auch über 30 werden, bis ich ihr endlich
begegnet bin): Das steht für scilicet, und das wiederum für scire
licet, was ich verwendungsgeschichtlich inspiriert und frei als „wie
jedeR wissen dürfte” übersetzen würde. Mit anderen Worten ist das
einsetzbar wie „d.h.“, nur vielleicht mit einem Unterton von
„selbstverständlich“ oder so, und noch mit dem Bonus von „Latein, das
nicht jede_r kennt“. Also: In jeder Richtung der
Jackpot für bildungsbürgerliche Nerds.
Es ist Frühling! Ganz deutlich war das am Mittwoch, als ich im noch
kahlen Wald unterhalb der Schauenburg stand und ganz hingerissen war
von Zahl, Lautstärke und Veriantenreichtum der Äußerungen der dort
ansässigen Vögel. Leider hatte ich nicht die Geistesgegenwart, das
gleich aufzunehmen, und gestern war es schon nicht mehr ganz so
aufregend. Dennoch mag das folgende einen Eindruck geben, wie es in dem
Wald gerade tönt kurz vor Sonnenuntergang:
Das starke Rauschen, das dem unterliegt, ist übrigens zu guten Teilen
nichttechnisch: in der Nähe meines Aufnahmeorts rauscht gerade der
Mantelbach, der, ebenfalls ganz in Frühlingsstimmung, im Augenblick
richtig viel Wasser führt.
Das Audio-Element sollte endlos laufen. Leider loopt jedoch zumindest
der aktuelle Webkit nicht nahtlos, und beim Übergang auf die nächste
Wiederholung ist ein deutliches Ploppen zu hören. Lokal habe ich ein
shell-alias, mit dem ich die Nahstelle (jedenfalls bei Wiedergabe über
die lausigen Lautsprecher in meinem Computer) nicht erkennen kann:
alias ambient-voegel='mpv --quiet --loop-file=inf /pfad-zum/vogelkonzert.ogg'
Erwähnen möchte ich noch, dass die Aufnahme alles andere als leicht war.
Nicht etwa, weil es mit dem Gerät Probleme gegeben hätte, abgesehen
davon, dass das ein einfaches Telefon ohne Windschutz war und deshalb
auf externe Beschirmung angewiesen war:
Nein, das Problem war Zivilsationslärm, der die Vogelstimmen störte oder
gar übertönte. Zuerst ist ein Hubschrauber durchgebrummt, dann
klapperten die Hufe eines Freizeitpferdes auf dem asphaltierten Waldweg,
und als die allmählich verklungen waren, dröhnte schon das nächste
Flugzeug minutenlang durch den Himmel. Dabei ist das Tal
gegenüber seiner näheren Umgebung sehr bevorzugt, weil es vom dauernden
Lärm von A5, B3 und all den Ortsstraßen recht gut abgeschirmt ist.
Dass mir all das Dröhnen – das ja sonst auch da ist – gestern auffiel,
das muss wohl diese Achtsamkeit sein, von der ich in den letzten Jahren
viel zu viel gehört habe. Und alles, was ich dafür gebraucht habe,
waren zwei Mikrofone, ein Programm und der Wille, singende Vögel für
trübere Zeiten zu konservieren. Ist das eine Marktlücke: Tagesseminar
für nur 4000 Euro „Achtsamkeit lernen mit audacity“?
Zu den unerfreulicheren Begleiterscheinungen der Coronapandemie gehörte
die vielstimmige und lautstarke Forderung nach „mehr Daten“, selbst aus
Kreisen, die es eigentlich besser wissen[1]. Wie und warum diese
Forderung gleich mehrfach falsch ist, illustriert schön ein Graph, der
seit ein paar Wochen im RKI-Wochenbericht auftaucht:
Dargestellt sind die Zahlen von „im Zusammenhang mit“ SARS-2 in
deutsche Krankenhäuser aufgenommenen PatientInnen. Die orange Kurve
entspricht dabei den „Big Data“-Zahlen aus der versuchten Totalerfassung
– d.h., Krankenhäuser melden einfach, wie viele Menschen bei der
Aufnahme SARS-2-positiv waren (oder vielleicht auch etwas anderes, wenn
sie das anders verstanden haben oder es nicht hinkriegen). Die blaue
Kurve hingegen kommt aus der ICOSARI-Surveillance, also aus
spezifischen Meldungen über Behandlungen akuter Atemwegsinfektionen aus
71 Kliniken, die für Meldung und Diagnose qualifiziert wurden.
Wären beide Systeme perfekt, müssten die Kurven im Rahmen der jeweiligen
Fehlerbalken (die das RKI leider nicht mitliefert; natürlich zählt
keines von beiden ganz genau) übereinanderlaufen. Es ist
offensichtlich, dass dies gerade dann nicht der Fall ist, wenn es darauf
ankommt, nämlich während der Ausbrüche.
Eher noch schlimmer ist, dass die Abweichungen systematisch sind – die
Entsprechung zu halbwegs vertrauten Messungen wäre, wenn mensch mit
einem Meterstab messen würde, dessen Länge eben nicht ein Meter ist,
sondern vielleicht 1.50 m. Nochmal schlimmer: seine Länge ändert sich
im Laufe der Zeit, und auch abhängig davon, ob mensch Häuser oder
Giraffen vermisst. Wäre der Meterstab wenigstens konstant falsch lang,
könnte mensch die Messergebnisse im Nachhinein jedenfalls in gewissem
Umfang reparieren („die Systematik entfernen“). Bei der
Hospitalisierung jedoch wird keine plausible Methode die Kurven zur
Deckung bringen.
Das RKI schreibt dazu:
Im Vergleich zum Meldesystem wurden hierbei in den Hochinzidenzphasen
- wie der zweiten, dritten und vierten COVID-19-Welle - höhere Werte
ermittelt. In der aktuellen fünften Welle übersteigt die
Hospitalisierungsinzidenz der Meldedaten die COVID-
SARI-Hospitalisierungsinzidenz, weil zunehmend auch Fälle an das RKI
übermittelt werden, bei denen die SARS-CoV-2-Infektionen nicht
ursächlich für die Krankenhauseinweisung ist.
Die Frage ist nun: Welche Kurve „stimmt“, gibt also das bessere Bild der
tatsächlichen Gefährdungssituation für das Gesundheitssystem und die
Bevölkerung?
Meine feste Überzeugung ist, dass die blaue Kurve weit besser
geeignet ist für diese Zwecke, und zwar weil es beim Messen und Schätzen
keinen Ersatz für Erfahrung, Sachkenntnis und Motivation gibt. In der
Vollerfassung stecken jede Menge Unwägbarkeiten. Um ein paar zu nennen:
Wie gut sind die Eingangstests?
Wie konsequent werden sie durchgeführt?
Wie viele Testergebnisse gehen in der Hektik des Notfallbetriebs
verloren?
Wie viele Fehlbedienungen der Erfassungssysteme gibt es?
Haben die Zuständigen vor Ort die Doku gelesen und überhaupt
verstanden, was sie erfassen sollen und was nicht?
Wie viele Doppelmeldungen gibt es, etwa bei Verlegungen – und wie oft
unterbleibt die Meldung ganz, weil das verlegende Krankenhaus meint,
das Zielkrankenhaus würde melden und umgekehrt?
Und ich fange hier noch gar nicht mit Fragen von Sabotage und Ausweichen
an. In diesem speziellen Fall – in dem die Erfassten bei der Aufnahme
normalerweise nicht viel tun können – wird beides vermutlich eher
unwichtig sein. Bei Datensammelprojekten, die mehr Kooperation der
Verdateten erfordern, können die Auswahleffekte hingegen durchaus auch
andere Fehler dominieren.
Erfasst mensch demgegenüber Daten an wenigen Stellen, die sich ihrer
Verantwortung zudem bewusst sind und in denen es jahrelange Erfahrung
mit dem Meldesystem gibt, sind diese Probleme schon von vorneherein
kleiner. Vor allem aber lassen sie sich statistisch untersuchen. Damit
hat ein statistisch wohldefiniertes Sample – anders als Vollerfassungen
in der realen Welt – tendenziell über die Jahre abnehmende Systematiken.
Jedenfalls, solange der Kram nicht alle paar Jahre „regelauncht“ wird,
was in der heutigen Wissenschaftslandschaft eingestandenermaßen
zunehmend Seltenheitswert hat.
Wenn also wieder wer jammert, er/sie brauche mehr Daten und es dabei
um Menschen geht, fragt immer erstmal: Wozu? Und würde es nicht viel
mehr helfen, besser definierte Daten zu haben statt mehr Daten?
Nichts anderes ist die klassische Datenschutzprüfung:
Was ist dein Zweck?
Taugen die Daten, die du haben willst, überhaupt dafür? („Eignung“)
Ginge es nicht auch mit weniger tiefen Eingriffen? („Notwendigkeit“)
Und ist dein Zweck wirklich so großartig, dass er die Eingriffe, die
dann noch übrig bleiben, rechtfertigt? („Angemessenheit“)
Ich muss nach dieser Überlegung einfach mal als steile Thesen
formulieren: Datenschutz macht bessere Wissenschaft.
Nachtrag (2022-05-16)
Ein weiteres schönes Beispiel für die Vergeblichkeit von
Vollerfassungen ergab sich wiederum bei Coronazahlen Mitte Mai 2022.
In dieser Zeit (z.B. RKI-Bericht von heute) sticht der bis dahin
weitgehend unauffällige Rhein-Hunsrück-Kreis mit Inzidenzen um die
2000 heraus, rund das Doppelte gegenüber dem Nächstplatzierten. Ist
dort ein besonders fieser Virusstamm? Gab es große Gottesdienste?
Ein Chortreffen gar? Weit gefehlt. Das Gesundheitsamt hat nur
retrospektiv Fälle aus den vergangenen Monaten aufgearbeitet und ans
RKI gemeldet. Dadurch tauchen all die längst Genesenen jetzt in
der Inzidenz auf – als sie wirklich krank waren, war die Inzidenz zu
niedrig „gemessen“, und jetzt halt zu hoch.
So wurden übrigens schon die ganze Zeit die Inzidenzen berechnet:
Meldungen, nicht Infektionen. Das geht in dieser Kadenz auch nicht
viel anders, denn bei den allermeisten Fällen sind die Infektionsdaten
anfänglich unbekannt (und bei richtig vielen bleibt das auch so).
Wieder wären weniger, aber dafür sorgfältig und kenntnisreich gewonnene
Zahlen (ich sag mal: PCR über Abwässern), hilfreicher gewesen als
vollerfassende Big Data.