Als ich vor gut einem Monat Friedrichstadt als Modell für eine
gemütliche und hübsche Postwachstumsgesellschaft gelobt habe, habe
ich auf eine wirklich augenfällige Besonderheit des Ortes nicht hingewiesen:
Vor fast allen Häusern wachsen auf kleinstem Raum sorgfältig gepflegte
Blumen, zumeist Rosen. Hier drei keineswegs untypische Beispiele:
Nun glaube ich nicht, dass der Mensch zum Wettbewerb geboren ist – dass
es spätestens auf Schulhöfen so aussehen mag, lässt sich zwanglos als
Herausforderung im Prozess der Zivilisation auffassen. Solange aber
die soziale Praxis ist, wie sie ist, finde ich die Friedrichstädter
Ableitung von Wettbewerbstrieb in eine dekorative und weitgehend
unschädliche Richtung eine großartige Strategie zur, hust,
Nachhaltigkeit (Übersetzung aus dem Blablaesischen: Das können sie auch
noch 1000 Jahre so treiben, ohne dass es ihnen um die Ohren fliegt).
Wenn die Menschen hingegen darum wettbewerben, wer das größere Auto hat
oder, noch viel schlimmer, wessen Unternehmen mehr produziert, hat das
ganz offensichtlich dramatische Konsequenzen; in einer Art
individualpsychologischer Kapitalismusanalyse würde es sogar taugen, die
ganze Wachstumskatastrophe zu erklären.
Allerdings machen manche der Friedrichstädter Blumen durchaus den
Eindruck, als hätten sie Dünger auf Mineralölbasis bekommen oder auch
fiese Pestizide, so dass bei so einem Herumdoktorn an Symptomen des
Wettbewerbswahnsinns jedenfalls Vorsicht nötig ist. Sobald die Leute
nämlich in ihrer Wettbewerberei immer größere Flächen düngen oder
begiften können, ist es schon wieder vorbei mit der, hust,
Nachhaltigkeit. Ich denke, das ist meine Chance, das neueste der
wunderbaren Worte, die wir der Nuklearlobby zu verdanken haben, in
meinen aktiven Wortschatz aufzunehmen:
Wir sollten Rosenzucht wie in Friedrichstadt als Streckbetrieb der
Wettbewerbsgesellschaft denken.
—Anselm Flügel (2022)
Die Friedrichstadt-Thematik ist aber eigentlich nur Vorgeplänkel, denn
wirklich verweisen wollte ich auf den Artikel „Bevölkerungswachstum –
Wie viele werden wir noch?“ von David Adam im Spektrum der Wissenschaft
2/2022 (S. 26; Original in Nature 597 (2021), S. 462), der mir
vorhin in die Hände gefallen ist.
Diesen Artikel fand ich schon deshalb bemerkenswert, weil er recht klar
benennt, dass ein Ende des Wachstums (in diesem Fall der Bevölkerung)
wünschenswert und zudem auch fast unvemeidlich ist, sobald Frauen über
ihre Fortpflanzung hinreichend frei entscheiden können und sich Religion
oder Patriotismus oder Rassismus nicht zu stark verdichten. Vor allem
aber wird dort eine große Herausforderung für fortschrittliche Menschen
angekündigt:
In 23 Ländern könnte sich die Bevölkerung laut dieser Vorhersage bis
Ende des Jahrhunderts sogar halbiert haben, unter anderem in Japan,
Thailand, Italien und Spanien.
Ich bin überzeugt, dass sich die wenigsten MachthaberInnen mit so einer
Entwicklung abfinden werden, so willkommen sie gerade in diesen dicht
besiedelten Staaten (gut: Spanien und Thailand spielen mit um die 100
Ew/km² schon in einer harmloseren Liga als Japan oder Baden-Württemberg
mit um die 300) auch sind. Menschen mit Vernunft und ohne Patriotismus
werden dann sehr aufdringlich argumentieren müssen, dass
Bevölkerungsdichten von 50 oder auch nur 10 Menschen auf dem
Quadratkilometer das genaue Gegenteil vom Ende der Welt sind und
jedenfalls für ein paar Halbierungszeiten überhaupt kein Anlass
besteht, darüber nachzudenken, wie Frauen, die keine Lust haben auf
Schwangerschaft und Kinderbetreuung, umgestimmt werden könnten.
Wie würde ich argumentieren? Nun, zunächst mal in etwa so:
Die kulturelle Blüte unter Hārūn ar-Raschīd (um mal eine recht
beeindruckende Hochkultur zu nennen; siehe auch: Isnogud) fand in einer
Welt mit höchstens 300 Millionen Menschen statt, also rund einem
sechzehntel oder 2 − 4 der aktuellen Bevölkerung. Angesichts
der damaligen Gelehrsamkeit dürfte als sicher gelten, dass mit so
relativ wenigen Menschen immer noch eine interessante (technische)
Ziviliation zu betreiben ist. Demnach haben wir mindestens vier
Halbierungszeiten Zeit, ohne dass unsere Fähigkeit, in der Breite
angenehm zu leben, aus demographischen Gründen in Frage steht.
Wenn unsere modernen Gesellschaften von Natur aus um 1% im Jahr
schrumpfen würden, wäre eine Halbierungszeit etwa 75 Jahre, und die vier
Halbierungszeiten würden zu 300 Jahren, in denen wir uns wirklich in
aller Ruhe überlegen könnten, wie wir unsere Reproduktion so
organisieren, dass Frauen im Schnitt auch wirklich die 2.1 Kinder
bekommen wollen, die es für eine stabile Bevölkerungszahl bräuchte
(oder wie wir die Bevölkerungszahl anders stabilisiert kriegen; soweit
es mich betrifft, ist ja auch die ganze Sterberei deutlich überbewertet).
Allerdings ist das wahrscheinlich ohnehin alles müßig. Zu den
bedrückendsten Papern der letzten 20 Jahre gehört für mich A comparison
of The Limits to Growth with 30 years of reality von Graham Turner,
erschienen in (leider Elsevier) Global Environmental Change 18
(2008), 397 (doi:10.1016/j.gloenvcha.2008.05.001; bei libgen).
Darin findet sich folgende Abbildung:
Was ist da zu sehen? Die Kuven in grün und rot geben jeweils die
Umweltverschmutzungs-Metrik der Modelle, die Dennis Meadows et al um
die 1970 herum gerechnet haben und die zur Publikation der Grenzen des
Wachstums geführt haben. Rot ist dabei das Modell, in dem es
glaubhafte technische Bemühungen um Umweltschutz gibt, ansonsten aber
weiter Wachstumskurs herrscht. Die grüne Kurve zeigt das Modell, in dem
Leute allenfalls so tun als ob.
Dass mit „Grünem Wachtum“ (in einem Wort: Elektroautos)
die totale Umweltverschmutzung einen viel
höheren Peak nimmt (wenn auch später), ist schon mal eine Einsicht, an
die sich nicht mehr viele erinnern wollen; Meadows et al teilen
jedenfalls meine Einschätzung, dass es keine technische Lösung für das
Problem der Endlichkeit des Planeten gibt. Wer sowas dennoch versucht,
sollte wissen, worum es geht: Die Umweltverschmutzung geht in den
Modellen nach den Gipfeln zurück, weil die Umweltverschmutzenden (a.k.a.
die Menschen) in großer Zahl (zu mehr als 2/3) verhungert, an Seuchen
oder sonst irgendwie vor ihrer Zeit gestorben sind.
So viel war schon vor Turners schlimmem Paper klar. Turners Beitrag war
nun, reale Messgrößen auf Meadows' Metriken abzubilden – darüber
ließe sich, wie immer bei Metriken, sehr trefflich streiten.
Akzeptiert mensch diese Abbildung jedoch, ist die reale Entwicklung
durch die schwarzen Punkte knapp unter der grünen Kurve repräsentiert.
Das würde heißen: für die 30 Jahre zwischen 1970 und 2000 kommt eines
von Meadows Modellen ziemlich genau hin: Das Modell, das in den 2030er
Jahren kippt.
Und nochmal: „Kippen“ ist hier ein terminus technicus dafür, dass etwas
wie zwei von drei Menschen innerhalb von grob einem Jahrzehnt sterben.
Wenn sich Meadows und Turner nicht ordentlich verrechnet haben – und ja,
ich hätte an beiden Arbeiten reichlich zu meckern, nur wohl leider nicht
genug, um die grundsätzlichen Ergebnisse ernsthaft zu bestreiten –, wird
in gut zehn Jahren die Frage eines düsteren 80er Jahre-Graffitos in
einer Erlanger Unterführung brandaktuell:
Who will survive? And what will be left of them?
—Ungefähr hier