Artikel aus funde

  • Vögel von unten betrachten

    Grüne Papageien sitzen herum, einer davon lüftet seine Flügel

    VertreterInnen von Heidelbergs Halsbandsittich-Population im Dezember 2018. Beachtet, wie die Unterseite der Schwingen deutlich stärker gemustert ist als die Oberseite.[1]

    Schon im Juli hat Forschung aktuell im Deutschlandfunk kurz ein Paper erwähnt, das mein Amateurinteresse an Zoologie geweckt hat: In den Wissenschaftsmeldungen vom 6.7. hieß es ungefähr 2 Minuten in das Segment rein, die oft wilden Muster auf den Unterseiten von Vogelflügeln könnten der Vermeidung von Kollisionen zwischen den fliegenden Tieren dienen.

    Die zugrundliegende Arbeit ist „Contrasting coloured ventral wings are a visual collision avoidance signal in birds“ von Kaidan Zheng und KollegInnen von der Sun Yat-sen-Uni in Guangzhou[2] und der Uni Konstanz, erschienen in den Proceedings B der Royal Society, Vol. 289, doi:10.1098/rspb.2022.0678. Forschungsziel dieser Leute war, Risikofaktoren für Kollisionen – also etwa große Schwärme, Bedarf an hektischen Manövern (sagen wir: Paviane überfallen Flamingos), eingeschränkte Manövierfähigkeiten (z.B. bei großen, schweren Vögeln) – mit auffällig gemusterteten Flügelunterseiten zu korrelieren.

    Mich hat das wahrscheinlich vor allem deshalb angesprochen, weil im Garten von meinem Institut regelmäßig kleine Schwärme der oben abgebildeten Halsbandsittiche waghalsige Flugmanöver vollziehen, und dabei zwar viel Krach machen, aber erstaunlicherweise nie ineinander oder gar in die Äste der Bäume fliegen. Und ich bin jederzeit dafür, dass Wissenschaft sich solcher Alltagsrätsel annimmt.

    Die Studie hat auch meine Sympathie, weil sie ein Beispiel ist für Archive Science, also Wissenschaft, die auf der geschickten Nachnutzung bereits bestehender Daten basiert. Das macht fast immer weniger Dreck als neu erhobene Daten, spart besonders im Bereich der Biologie der Ethikkommission Arbeit, und, davon bin ich jedenfalls fest überzeugt, sie hat das Zeug dazu, unerwartete Zusammenhänge aufzudecken, die im üblichen Beantragen-Messen-Publizieren-Zyklus schwer zu finden sind.[3]

    Hunderttausend Blicke

    Wobei: Ganz ohne Leid ging auch diese Studie nicht ab. Die AutorInnen haben Bilder von 3500 Unterseiten von Vogelflügeln aus drei verschiedenen Archiven im Netz gezogen und dabei 1780 Spezies abgedeckt. Um den gesuchten Zusammenhang zu finden, mussten sie zunächst bestimmen, wie konstrastreich oder markant die jeweiligen Flügel eigentlich sind. Dazu haben sie vor allem 30 Studis der Sun Yat-Sen-Uni rekrutiert, die jeweils alle diese Bilder als „starker Kontrast“ oder „eher nicht“ klassifizierten. 3500 Bilder sind viel, wenn mensch sie beurteilen soll. Ich frage mich, wie sich wer nach so einer Sitzung fühlt.

    Um mal eine grobe Abschätzung einzuwerfen: Wenn die Leute schnell waren und alle 10 Sekunden so eine Klassifizierung hinbekamen, reden wir über 30 × 3500 × 10  s ≈ 106 Sekunden oder knapp zwei Wochen (nämlich: 1/30 Jahr) konzentrierter Bildbeurteilung, die in die Arbeit geflossen sind. Whoa.

    Daraus jedenfalls kommt der Score, mit dem das Paper vor allem arbeitet: Wie viele der KlassifiziererInnen haben den Flügel als kontrastreich klassifiziert? Der Score ist auch mal nicht-ganzzahlig, wie etwa beim Sperber in Abbildung 1, der auf 0.4 kommt; das passiert, wenn mehrere Bilder einer Spezies gemittelt werden.

    Für kontrolliert aufgenommene Bilder aus Museumssammlungen berechnet das Paper weiter als eine Art „objektiver“ Größe Standardabweichungen über die Grauwerte der Pixel der Schwingen. Zu dem Teil der Arbeit hätte ich einiges Rumgemäkel. Ganz vornedran gefällt mir nicht, dass dieses Maß kleinräumiges Rauschen, das plausiblerweise nicht gut als mittelreichweitiges Signal taugt (und das sie in ihren Anweisungen für ihre Studis auch wegfiltern wollten), genauso behandelt wie großräumige Strukturen. Mit etwas Glättung und Segmentierung wäre das sicher viel besser gegangen, und da sie eh schon opencv verwenden, hätten es dazu auch nicht schrecklich viel Aufwand gebraucht.

    Eigenartig finde ich auch, dass sie die Bilder in Grauwerte umgerechnet haben, während sie im Paper öfter über Farben reden. In der Tat muss mensch Vögel nur ansehen, um stark zu vermuten, dass sie (und ganz besonders die Vogelfrauen) sehr wohl Farben wahrnehmen. In der Tat sehen manche sogar UV und dürften in jedem Fall eher besser Farbwahrnehmung haben als wir.

    Ich hätte also die „objektiven“ Kontrastscores doch zumindest mal separat nach Farbkanälen ausgewertet – das wäre nicht viel Arbeit gewesen und hätte das Hedging in der Artikelzusammenfassung überflüssig gemacht. Aber dann: es spielt für den Rest des Papers nur eine eher untergeordnete Rolle, weil sie diese Standardabweichungen eigentlich nur dazu verwenden, ihre „manuellen“ Scores zu validieren, indem nämlich (für mich offen gestanden etwas überraschend) die beiden Typen von Scores recht stark korrelieren.

    Zu diesen Scores kamen schließlich aus anderen Archiven – vor allem wohl dem trotz Javascript- und local storage-Zwang bezaubernden Birds of the World – Merkmale wie Masse, Schwarmgröße oder „Koloniebrüterei“ für 1780 Spezies, wobei letzteres einfach wahr oder falsch sein konnte.

    Monte Carlo Markov Chain

    Und jetzt mussten die AutorInnen nur noch sehen, welche dieser Merkmale mit ihren Kontrast-Scores korrelierten. Dazu fuhren sie recht schweres Geschütz auf, nämlich über MCMC-Verfahren geschätzte Verteilungen – erfreulicherweise unter Verwendung der Freien Software R und MCMCglmm. Ich kann nicht sagen, dass ich verstehen würde, warum sie da nicht schlichtere Tests machen. Vermutlich würde es helfen, wenn ich wüsste, was „the phylogenetic relatedness among species was included as a random effect in these models“ praktisch bedeutet und warum sie das überhaupt wollen.

    Aber solche Fragen sind es, wozu mensch FachwissenschaftlerInnen braucht, und ich bin, was dieses Fach angeht, kompletter Laie (erschwerend: ich habe noch nicht mal in meinem Fach wirklich was mit MCMC gemacht). So will ich gerne glauben, dass das methodisch schon in Ordnung geht.

    Vielleicht ist das aber auch wurst, denn die nach den Modellen richtig überzeugende Korrelation ist auch in Abbildung 3 des Papers mit einer großzügigen Portion Augenzusammenkneifen zu erkennen:

    In klaren Worten: Bei Vögeln, die in Kolonien brüten, geht die Strukturierung der Flügelunterseiten deutlich stärker mit der Masse des einzelnen Vogels nach oben als bei Vögeln, die das nicht tun. Wer etwa die Pelikane von Penguin Island vor Augen hat:

    Foto: Pelikane und andere Vögel stehen in loser Gruppe, zwei landen in ziemlicher Nähe

    oder, viel näher und mit kleineren Vögeln, die Insel der Möwen in der Wagbach-Niederung:

    Foto: Insel mit sitzenden und brütenden Möwen

    mag schon ein Bild entwickeln von einem gewissen evolutionären Druck auf, sagen wir, Pelikane, Mechanismen zu entwickeln, die es leichter machen, nicht ineinander zu fliegen.

    Aber ganz ehrlich: so richtig schlagend finde ich das Paper nicht. Ein wenig mehr Betrachtung, warum zum Beispiel die Vögel, die den blauen Punkte rechts unten in der oben reproduzierten Abbildung 3 entsprechen, offensichtlich auch ohne wohlmarkierte Flügel relativ kollisionsfrei gemeinsam brüten können, hätte mir schon geholfen, etwas mehr Vertrauen zu den Schlüssen zu fassen.

    Oder umgekehrt: Koloniebrüter haben plausiblerweise auch andere zusätzliche Kommunikationsbedürfnisse als andere Vögel, z.B. beim auskaspern, wer wo brüten darf (cf. Kopffüßer in Octopolis). Vielleicht kommt der Extra-Aufwand bei der Gestaltung der Schwingen ja auch daher? Und die Korrelation mit der Größe hat vielleicht mehr was mit Beschränkungen bei der Strukturbildung zu tun? Hm.

    Referees, gebt euch etwas mehr Mühe

    Beim Lesen des Textes habe ich mir übrigens an ein paar Stellen gedacht, dass die GutachterInnen des Papers schon noch ein paar gute Ratschläge mehr hätten geben können. So schreiben die AutorInnen allen Ernstes „Birds are well known for their ability to fly, besides a few flightless lineages such as ratites and penguins“ – das kann mensch in einem Kinderbuch machen oder in GPT-3-generierten Textoiden, die die Aufmerksamkeit von Google gewinnen sollen; in einem Fachartikel in einer biologischen Fachzeitschrift wirkt es jedenfalls für einen Physiker ziemlich verschroben.

    Hätte ich das begutachtet, hätte ich weiter angemerkt, dass, wer Rocket Science wie verallgemeinerte lineare Modelle mit MCMC aufruft, besser nicht den Schätzer für die Standardabweichung (Gleichung 2.1) breit ausstellen sollte – und dann noch als einzige Gleichung im ganzen Paper. Das ist ein wenig wie bei dem Monty-Python-Sketch zur Kilimandscharo-Expedition: Wir fahren über die Gneisenaustraße zur B37, wechseln am Heidelberger Kreuz auf die A5 und dann fahren dann weiter zum Kilimandscharo.

    Natürlich ist Begutachtung von Fachveröffentlichung ein brotloser Job (auch wenn ich vermute, dass es fast jedeR macht wie ich und dafür jedenfalls mal eine gute Ecke Arbeitszeit verwendet; dann ist es eine weitere öffentliche Subvention für die Verlage). Aber trotzdem, Referees: Ratet zu weniger Text! Nicht zuletzt gibt es ja bei vielen Blättern noch (und im Zusammenhang mit Open Access gerade) Page Charges – Leute müssen also dafür bezahlen, dass ihre Artikel gedruckt werden, und um so mehr, je länger der Artikel ist. Weniger Text schadet also den Verlags-Geiern und ist mithin ein Gewinn für alle anderen! Ref: „Academic publishers make Murdoch look like a socialist“.

    [1]Disclaimer: Auch, wenn das hier anders aussehen mag, füttere ich mitnichten Papageien oder andere Wildtiere. Aber ich kann nicht lügen: Ich bin jenen dankbar, die es tun, weil ich ohne sie weit weniger hübsche Tiere zu sehen bekäme.
    [2]Stetige LeserInnen dieses Blogs sind der Stadt am Perlfluss zum letzten Mal in SARS-1 und das Zimmer 911 begegnet.
    [3]Noch ein Disclaimer: Ich werde dafür bezahlt, Archive Science zu ermöglichen. Es könnte also sein, dass ich in diesem Zusammenhang nicht mein übliches Neutralitätslevel „Salomon“ erreiche.
  • Betonwüste Heidelberg

    Vier Fotos von Plätzen in Heidelberg mit viel Beton

    Wunderbar fotografiert vom Nabu: Baukunst in Heidelberg. Rechte beim Nabu Heidelberg.

    Anlässlich demnächst anstehender Wahlen zum/r Heidelberger OberbürgermeisterIn hat der lokale Nabu wunderschöne Flugblätter rumgeschickt. Auf dem einen erfährt mensch, dass Heidelberg nur 7 m² öffentliche Grünfläche pro Kopf hat, was selbst Pforzheim – zweifellos eine der hässlichsten Städte der weiteren Umgebung – locker überbietet (13 m²), während Karlsruhe satte 27 m² zu bieten hat. Wo ich gerade aus Karlsruhe zurückkomme: es macht wirklich schwer was aus. Zum Glück hat Heidelberg immerhin die nahen Berge mit ihren einladenden Wäldern.

    Noch besser hat mir das andere Flugblatt gefallen, dessen zentrale visuelle Botschaft diesen Post aufmacht: Die augenblickliche Stadtregierung hat wirklich viel dafür getan, dass der Grünanteil ja nicht wächst. Stattdessen hat sie jede Menge zugepflasterte Plätze produziert. Mehr noch: eine Fläche, die mit etwas gutem Willen als kleiner Park durchgegangen ist, den Montpellierplatz, hat sie für eine neue Tiefgarage weggebuddeln lassen.

    Ich hätte die Misere in dem Bereich nicht besser illustrieren können.

    Opus Caementitium oder Beton?

    Leider ist die Möglichkeit, bei dieser Wahl Informationen zu übertragen, also etwa weniger destruktive Politiken zu einzufordern, auch nach den ohnehin beschränkten Maßstäben dieses Polit-Genres extrem beschränkt. Die Wahl wird entschieden zwischen zwei KandidatInnen, die beide konsequente Beton-, Auto-, Wachstums-, Wettbewerbs- und Ausgrenzungspolitiken fahren werden.

    Da ist zum einen der auf einem breiten Rechtsticket an die Macht gekommene Amtsinhaber Eckhard Würzner, der für die abgebildeten Baukatastrophen verantwortlich ist und nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, den kleinen Pentapark am Neckar für eine Hotelerweiterung zu verhökern. Von absurden Ampeln mit Fahrradsymbolen drauf, die gerade dann grün werden, wenn die kreuzenden Autos auch grün haben, der Komplettasphaltierung der weiteren Umgebung des Bahnhofs oder dem rücksichtslosen Feilbieten der Aufmerksamkeit seiner Untertanen will ich gar nicht anfangen.

    Gegen ihn tritt an Theresia Bauer, die die letzten Jahre als Chefin des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst in Stuttgart von Wachstum und „Exzellenz“ geredet hat. Oh, ich will fair sein: Gegenüber ihrem CDU-Vorgänger Frankenberg hat sie immerhin dafür gesorgt, dass der im Ministerium ausgeschenkte Kaffee nun fair gehandelt war. Wirklich sprechend dagegen ist die Tatsache, dass unter ihr Baden-Württemberg eines der wenigen Bundesländer geworden ist (wenn ich den Überblick nicht verloren habe: das einzige), das noch formale Studiengebühren erhebt, wenn auch nur von Menschen, die nicht aus einem EU-Staat kommen.

    Drei für grüne Studiengebühren

    Das ist wirklich ihr Werk. Ihr diesbezüglicher Eifer ist auch nicht überraschend, denn sie ging schon in den 1990er Jahren, lang vor den Sachzwängen rot-grüner Machtausübung, mit allerlei Studiengebührenmodellen hausieren, gemeinsam mit Boris Palmer (der das damals von der Grünen Hochschulgruppe in Tübingen aus betrieb) und Matthias Berninger, der gerne statt Edelgard Bulmahn[1] Schröders Wissenschafts- und Bildungsminister geworden wäre. Daraus wurde zwar nichts, aber er fand über die Schröder-Jahre im Ministerium für Verbraucherschutz ein Auskommen, bis er nach der Abwahl von Rot-Grün 2005 direkt zu den Zuckerbäckern von Mars wechselte und mithin zu einem der Unternehmen, vor denen „Verbraucher“ am meisten hätten geschützt werden müssen.

    In der Liga intensiv riechender Seitenwechsel nach dem Schröder-Armageddon rangiert das sicher weit vor dem Wechsel von Außenminister Fischer zu BMW – zumal BMW, soweit ich weiß, derzeit nichts von dem Kriegsgerät herstellt, das Fischer einsetzen ließ –, und, soweit es mich betrifft, sogar noch vor der Gazprom-Connection von Schröder selbst.

    Ich kann mir angesichts dieser Freunde und Ideologeme der Kandidatin kaum vorstellen, dass der Nabu mit „Stadtgrün“ eine Empfehlung für den Wahlvorschlag von Bündnis 90/Die Grünen aussprechen wollte. Wenn er das doch gewollt haben sollten, wird es ein bitteres Erwachen geben.

    Nachtrag (2023-04-24)

    Und siehe da: Kaum ist Bauer aus dem Mittnachtbau (dem Sitz des Wissenschaftsministeriums in Stuttgart) ausgezogen, schon geht es mit den Studiengebühren für AusländerInnen zu Ende. Jetzt müssten wir nur noch an die albernen Zweitstudiengebühren ran…

    [1]Das ist die, derem Spätwerk wir die fürchterliche „Exzellenzinitiative“ zu verdanken haben. Ob das mit Berninger nicht ganz so schlimm ausgegangen wäre? Ich würde ja dagegen wetten.
  • Die BGE spielt Stadt-Land-Fluss

    Mein unergründlicher Stapel von heftoidem A4-Kram, den ich mal lesen sollte, hat heute Einblicke Nummer 10 hervorgespült, die ein Jahr alte Ausgabe des Magazins der Bundesgesellschaft für Endlagerung. Darin fand ich, nicht ganz so angeordnet, diese Illustrationen:

    Drei Dioramen, Stadt, Land und Wasser, jeweils mit darunterliegenden Atommülllagern.

    Rechte bei der BGE

    Mich hat diese Sorte Kunst sofort und direkt angesprochen. Schon die Darstellung des Atommülls: Da sieht mensch gleich, wie der Kram strahlt. Aber natürlich ist insbesondere die Komposition der Dioramen bemerkenswert. Es scheint, als hätte der_die Künstler_in sagen wollen: Stadt, Land, Fluss, ganz egal, wir buddeln überall unsere Höhlen und stellen ein paar Fässer Atommüll rein. Oben drüber merken es weder Banker noch Rinder noch Fische. Doch schon schlängeln sich lange Klüfte in unsere strahlenden Höhlen…

    Ich finde das anrührend und offen gestanden auch allzu verständlich angesichts des wahrscheinlich unlösbaren Problems der BGE. Ich gehe ziemlich hohe Wetten ein, dass sich nach dem Fiasko von Gorleben in der BRD kein Standort für ein Endlager für den hochradioaktiven Müll finden wird, an dem die Polizei Bau und Befüllung nicht paramilitärisch (also wie beim Zwischenlager in Gorleben) wird durchprügeln müssen; doch genau diese Gewaltorgien soll die BGE verhindern. Da dürfte der Gedanke, einfach überall heimlich ein paar Fässchen zu verbuddeln, wie eine schöne Utopie wirken.

    Bei diesem Thema möchte ich noch eben die erste Hälfte von Neal Stephensons Roman „Anathem“ empfehlen. Ich spoilere wahrscheinlich nicht zu viel, wenn ich verrate, dass darin eine ganz besondere und aus meiner Sicht auch realistische Lösung für das Problem der BGE vorschlagen wird. Nebenbei entwirft das Buch eine Welt, wie sie sein könnte, wenn seinerzeit pragmatische PythagoräerInnen das Rennen im römischen Reich gemacht hätten statt Stoiker, Mithras-Anhänger und schließlich ChristInnen.

    Aber spart euch die zweite Hälfte vom Buch. Soweit es mich betrifft, hätte die Handlung das Kloster nie verlassen sollen. Keine Apert für Anathem!

  • Rekursives 419: Ein brillianter Betrugsversuch

    Screenshot: Mail mit 'I am a banker'

    Ich glaube, jedeR hat irgendwelche dunklen Marotten, die normalen Menschen eigentlich peinlich sind. Ich zum Beispiel bin ein großer Fan der Nigeria-Connection, etwas korrekter Vorschussbetrug oder ähnlich inkorrekt (weil auch auf Nigeria bezogen) 419er-Mails genannt. Ich verfüge, ich gestehe es, ohne rot zu werden, über eine 12 Megabyte umfassende Sammlung handverlesener einschlägiger Mails aus den letzten 20 Jahren, die ich bei Interesse gerne für wissenschaftliche oder andere Untersuchungen zur Verfügung stelle.

    Heute kam nun eine besondere Perle: Ein 419er-Scam, der Opfern anderer 419er-Scams Hilfe anempfiehlt, natürlich gegen eine kleine Gebühr. Fantastisch. Wer könnte ein dankbareres Opfer für diese Sorte von Betrug sein als jemand, der/die schon mal auf sowas reingefallen ist? In meiner Begeisterung über die selbstbezügliche Genialität dieses Kozepts missachte ich eventuelle Urheberrechte und reproduziere hier die ganze Mail:

    Date: Tue, 18 Oct 2022 10:32:57 +0100
    From: William Christian <williamsgeorge00051@gmail.com>
    To: undisclosed-recipients:
    Subject: I HAVE GOOD NEWS FOR YOU

    Hi my friend,

    I must apologize for this spontaneous email to you. I am aware of this is certainly not a conservative way of approaching you, but you will understand the need for my action thought It’s true we don’t know each other, but “I” think you need to hear this truth to protect yourself from being defrauded.

    I am Williams Christian, from , I was one of the Victims in Africa by some individuals whom I contacted to help me get my Inheritance Funds, but they all took advantage of me and left me a Bankrupt, I have tried in different ways to get my payment but all to know avail, I lost my life savings to different FAKE groups that claimed to be working in Banks like CBN Bank, Zenith bank, UBA, First bank etc. and many others thinking they were helping me, but rather, they were busy defrauding my hard earned money, I am very sorry telling my past, but I think there are many innocent people out there too that need this message.

    Honestly I wouldn't want anybody to experience what I went through in the hands of those crooks scammers, I lost all my friends because I refused to listen to their advice, simply because I thought I was on the right part without knowing I was dealing with scammers,

    But the good news today is that God has finally remembered me, few weeks ago I received a mail from a unknown person, a man in the state of Arizona advising me to contact one senior and professional attorney Mr Femi Falana, He is a Nigerian international lawyer and human rights activist whose law firm is made up of UK/Nigerian qualified solicitor and renders commercial legal services in due diligence, corporate investigation and trade secrets, immigration, intellectual property etc.

    He actually helped me in Nigeria in other west African countries to claim my lost funds and if I have not gotten mine I wouldn’t have bothered to advice another person, although at the beginning ,I thought it was another trick to scam me, but two weeks I decided to give it a try by contacting the attorney using email address provided, and to my greatest surprise it happened to be 100% real and I got my lost funds.

    Of course, I promised myself never to share my testimony/news until I receive my fund and then be convinced enough before letting people know, and Today I am now writing with joy to advise us all to STOP feeding scammers out there and contact this attorney on the email below if you haven’t claimed your lost money yet,

    Although, you may be wondering how I got my funds without paying a cent, yes I paid little money to the attorney which is normal to secure a some documents including permit certificate in my name of which I have the copy on file, but my advice to you is to STOP dealing with those scammers and contact this senior attorney to claim all your lost funds, his email address ID and phone number are(sexkepy@gmail.com) (+2348145880372)

    I encourage you to contact him for your own money and he will help you get it because I am a living testimony.

    Yours Sincerely
    William Christian

    Gut: Stilistisch reicht es jetzt nicht ganz zum Literaturnobelpreis. Aber William Christian sollte, finde ich, zumindest den Münchhausen-Preis der Stadt Bordenwerder erhalten, denn der soll „Personen mit besonderer Begabung in Darstellungs- und Redekunst, Fantasie und Satire“ auszeichnen. All of the above.

  • Schrödingers Tiger

    Wieder mal bin ich erstaunt über die Relation von Corona- zu sonstiger Berichterstattung. Während die Deutschlandfunk-Nachrichten um 7:30 aufmachten mit 800 Austritten aus der Linkspartei, gab es kein Wort dazu, dass derzeit hier im Land recht wahrscheinlich mehr SARS-2-Viren umgehen als je zuvor.

    Das ist aus den robusten Schätzern (Lang lebe small data!) zu schließen, die das RKI in seinen Wochenberichten veröffentlicht – die Inzidenzzahlen aus der Vollerfassung reflektieren ja inzwischen eher reales Verhalten als reale Verhältnisse, weil kaum mehr jemand PCR-testet. Bessere Zahlen sind zu schätzen aus dem, was ganz normale Leute über das GrippeWeb des RKI (Danke an alle, die mitmachen!) zu Erkältungen und Co berichten und aus den Diagnosen bei ÄrztInnen, wie viele Leute derzeit mit Symptonen Covid haben:

    Screenshot-Zitat: COVID-ARE-Inzidenz zwischen 1300 und 3100/100000

    (Quelle). Sehen wir uns an, wie das zum Höhepunkt der Omikron-Welle im Frühling aussah; die höchste Schätzung war für Kalenderwoche 11 im Bericht vom 24.3.:

    Screenshot-Zitat: COVID-ARE-Inzidenz zwischen 2000 und 3300/100000

    Nun gebe ich euch, dass das Mittel der damaligen Schätzung noch eine Ecke über der von heute liegt und inzwischen die Fehlerbalken größer sind. Aber wirklich signifikant verschieden sind die geschätzten Inzidenzen nicht.

    Und das sind nur Leute mit Symptomen. Weil inzwischen viel mehr Menschen SARS-2 schon einmal überstanden haben als im März, ist anzunehmen, dass auch viel mehr Menschen asymptomatisch erkrankt (aber vielleicht noch infektiös) sein werden als in Kalenderwoche 11. Wenn sich die entsprechende Dunkelziffer auch nur um ein Drittel erhöht hat, laufen jetzt fast sicher mehr SARS-2-infektiöse Menschen herum als damals.

    Dass „Infektionsraten wieder zurück auf Märzniveau“ gar keine Nachricht ist, finde ich zumindest in der Schrödinger-Interpretation des derzeitigen Pandemie-Umgangs interessant. Im Pandemie-vorbei-Zustand – und Abschnitt 1.6.3 im aktuellen RKI-Wochenbericht scheint in anzuzeigen –, wäre die Nachricht nämlich im Effekt „alle haben Schnupfen“, was eingestandenermaßen eher auf dem Niveau von „Hund beißt Mann“ ist und vielleicht wirklich nicht in die DLF-Nachrichten gehört. Stellt sich allerdings heraus, dass die Pandemie nicht vorbei ist, ist das, was da in der Schrödinger-Kiste ist, keine Katze mehr, sondern ein Tiger.

    Ich selbst – der gerade das erste Rhinoviren-Elend der Saison durchläuft – neige mittlerweile deutlich zur Einschätzung, dass wir mit „ist vorbei“ durchkommen werden, ohne noch unser Normal-Moralniveau im Bereich öffentlicher Gesundheit verlassen zu müssen.

    Aber wie es so ist mit den Kisten vom Schrödinger-Typ: Beim Öffnen kann es Überraschungen geben. Und so fände ich es schon ganz korrekt, wenigstens ein Mal die Woche, also nach dem Wochenbericht, kurz durchzusagen, dass, wer sich einschlägig Sorgen macht, derzeit die Ohren auf Märzniveau anlegen sollte.

  • Schurken, Orden, und der Bau von U-Bahnen

    Viel behelmte Polizei auf einer städtischen Straße

    Mangels eines Freien Fotos zur Menschenrechtslage in Ägypten: So sah es auf der Route der Welcome to Hell-Demo beim G20-Gipfel im Juli 2017 aus, kurz nachdem die im Vergleich zu Ägypten ja noch relativ milde deutsche Staatsgewalt mit ihr fertig war.

    Auch wenn ich bekennender Freund der Le Monde Diplomatique bin, bin ich erst jetzt dazu gekommen, die Ausgabe vom April 2022 zu lesen und darin eine recht bemerkenswerte Anekdote zu finden. Sie geht, in den Worten des Artikels Pharaonische Obsession von Léa Polverini, so:

    Am 7. Dezember 2020 verlieh Präsident Emmanuel Macron [dem ägyptischen Diktator] Marschall al-Sisi – wenn auch diskret – das Große Kreuz der Ehrenlegion. Am 8. November 2021 konnte der französische Alstom-Konzern einen 876-Millionen-Euro-Auftrag für die Renovierung der Kairoer Metro melden, finanziert über die staatliche Entwicklungshilfe, also die Agence française de développement (AFD).

    Nun mag es sein, dass das alles Zufall ist und nicht Industriepolitik; es ist ja auch fast ein Jahr zwischen den Ereignissen vergangen. Wirklich plausibel ist das jedoch nicht, zumal es prima zu meinen Experimenten zur Auswahl von „Führungspersonal“ passt. Deren Ergebnis – die starke Anreicherung von gewissenlosen Schurken hierarchieaufwärts – müsste nach dieser Geschichte allerdings ergänzt werden zu „gewissenlose eitle Schurken“. Ich nehme als Hausaufgabe mit, ein Modell zu ersinnen, das auch auf Eitelkeit selektiert.

    Bei der vorliegenden Geschichte liegt die Gewissenlosigkeit und Schurkigkeit zunächst bei Macron. Ich will niemandes Gefühle verletzen, indem ich meine Präferenzen für die Aufnahme in die Ehrenlegion bei einer Wahl zwischen Putin und al-Sisi äußere, aber was Polizeiwillkür, Folter, Zensur, Militarisierung des Alltags, ungerechte Einkommensverteilung, rücksichtslose und wahnsinnige Großprojekte oder so in etwa jeden anderen Aspekt von Menschenrechten angeht, müssten sich die ÄgypterInnen mindestens ebenso dringend befreien wie die RussInnen. Wie sehr muss mensch jeder Sorte „Gesinnungsethik“[1] entsagt haben, um dem Organisator dieser Orgie von Unrecht Orden (und dann noch erster Stufe) an die Brust zu heften?

    Ungefähr ebenso erschreckend finde ich jedoch den Eitelkeitsaspekt, der hier vor allem von al-Sisi abgedeckt wird (nicht, dass der kein Schurke wäre). Kann es wirklich sein, dass so ein Stück Blech über zahlreiche Leichen gehende Menschen wie al-Sisi in ihren politischen Entscheidungen beeinflusst? Nur zur Einordnung, worum es hier geht, zitiere ich aus der Wikipedia zur physischen Erscheinung des besagten Großkreuzes:

    Ordensstern auf der linken Brust, dazu Ordensband getragen über rechter Schulter

    Dafür vergibt der Mann Milliardenaufträge, finanziert durch Kredite, deren Rückzahlung wieder ein paar hunderttausend ÄgypterInnen in Not und Armut stoßen werden?

    Aber gut: Wahrscheinlich hätten Blech und Tuch alleine doch nicht gereicht. Vielleicht könnte jemand in Frankreich mal die Details zur erwähnten „Finanzierung“ des Deals durch die französische Seite befreien. Wahrscheinlich fände ich beruhigend, was dabei herauskommt. Und wenn sich wer schon die Mühe macht: Einblicke in die Diplomatie rund um das ähnliche Düfte verströmende U-Bahn-Projekt in Belgrad (LMD 8/2022, „Eine Metro für Belgrad“; ist leider noch nicht offen online) wären bestimmt auch interessant.

    [1]Um mal den übelriechenden Gegensatz Max Webers zu „Verantwortungsethik“ (a.k.a. Schurkigkeit) aufzunehmen.
  • Religion vs. Wissenschaft: Null zu Eins gegen kleine Geschwister

    Detail aus einem gemalten Bild: Benedikt gestikuliert, Scholastika betet ihn an

    Geschwisterliebe – hier zwischen Benedikt und Scholastika von Nursia – in der Fantasie des Illustrators der Klosterkirche Elchingen (Dank an den Wikipedia-Fotografen).

    Am 22. September musste ich etwas früher als normal aufstehen, und so bekam ich die Morgenandacht im Deutschlandfunk mit. Thema war unter anderem die große Geschwisterliebe zwischen Benedikt von Nursia und seiner Schwester Scholastika von Nursia. Die Geschichte ist, wie wohl die meisten Heiligenlegenden, etwas Stulle. Gregor ruft die Pflicht, Scholastika will aber noch etwas Zeit mit ihrem Bruder verbringen, was im DLF-Andachtsduktus so klingt:

    Sie kann nicht genug bekommen. Sie hat noch so viel auf dem Herzen. Und so betet sie. Und kurz darauf tobt ein Unwetter los. Benedikt kann erstmal nicht ins Kloster zurückkehren. Zum Glück für Scholastika.

    Geschwisterliebe?

    Nun wäre viel zu diesem Stakkatostil zu sagen, doch kann ich, der ich am liebsten jeden zweiten Satz mit einem „und“ anfangen würde, da nicht hinreichend sicher mit Steinen werfen. Mich hat aber ohnehin eher die Einleitung zu dieser Passage gereizt:

    Papst Gregor der Große hat dieses Gespräch, das sich im Jahr 543 ereignet haben muss, aufgeschrieben. [Hervorhebung ich]

    Umm… Schon zu Benedikt selbst steht in der Wikipedia zur Zeit:

    Eine Minderheit von Forschern bezweifelt aufgrund der problematischen Quellenlage, dass Benedikt eine reale historische Persönlichkeit war. [...] Der Theologe Francis Clark legte 1987 eine zweibändige Untersuchung der Dialogi [der angeblich von Gregor dem Großen verfassten Hauptquelle zu Benedikt] vor, in der er die Hypothese vertritt, das Werk sei unecht. Der Verfasser sei nicht der 604 gestorbene Papst Gregor, sondern ein Fälscher, der im späten 7. Jahrhundert gelebt habe.

    Der Wikipedia-Artikel geht noch weiter auf die darauf folgende Kontroverse ein, die ich als Laie mit „mehr oder weniger offen im Hinblick auf die Existenz einer einzigen Person mit den wesentlichen Punkten von Benedikts Biografie“ zusammenfassen würde.

    Zu Scholastika nun finden sich außerhalb der frommen Legenden von Gregor oder einem Gregor-Fälscher überhaupt keine Spuren. Dass „Benedikt“ als (mutmaßlicher) Erfinder von Ora et Labora eine Schwester, gar Zwillingsschwester, haben soll, die irgendwas wie Gelehrsamkeit heißt: Also bitte! Das kann mensch 400 Jahre nach Gallilei und fast 200 Jahre nach Baur und seiner Schule gerne mit mildem Spott oder meinetwegen auch freundlicher Verspieltheit rezipieren – aber jedenfalls nicht als „ereignet haben muss“.

    Nichts als Stress

    Die fromme Legende von der innigen Geschwisterliebe hat mich jedoch immerhin daran erinnert, dass ich noch einer anderen Geschichte zur Geschwisterthematik aus dem Deutschlandfunk nachgehen wollte, und zwar einem Segment aus Forschung aktuell am 13. September.

    Hintergrund davon ist eine Arbeit von Verena Behringer vom Deutschen Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen und einigen KollegInnen, „Transition to siblinghood causes a substantial and long-lasting increase in urinary cortisol levels in wild bonobos“ (sagen wir: „Wilde Bonobos stresst es, kleine Geschwister zu kriegen“), die dieses Jahr in eLife erschienen ist, doi:10.7554/eLife.77227.

    Der Artikel hat mich schon deshalb interessiert, weil meine KollegInnen vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung, seit sie aus der niedersächsischen Provinz nach Göttingen gekommen sind, Nachbarn des DPZ sind und berichten, von dort seien öfter mal seltsame Geräusche zu hören. Insofern bin ich neugierig, was am DPZ so geforscht wird.

    Behringers Arbeit scheint allerdings kein Fall für die Ethikkommission zu sein, auch wenn da zweifelsohne eine draufgeguckt haben wird; dazu unten ein paar Worte. Als kleiner Bruder habe ich aber auch ein persönliches Interesse an den Ergebnissen, denn wir kleine Geschwister kommen in der Arbeit gar nicht gut weg. Grafisch dargestellt:

    Die Punkte in den Plots entsprechen Konzentrationen von Cortisol im Urin von jungen Bonobos. Cortisolspiegel gelten in vielen Spezies als Proxy dafür, wie gestresst ein Individuum gerade ist. Beachtet, dass die Ordinate logarithmisch aufgeteilt ist; auch wenn ein linearer Zusammenhang zwischen „gefühltem“ Stress und dem Spiegel ausgeschlossen werden kann, ist hier jedenfalls viel Dynamik im Graphen.

    Auf der Abszisse stehen die Jahre vor bzw. nach der Geburt des jeweils ersten kleinen Geschwisters. Der senkrechte Strich zwischen Null und Eins markiert fünf Monate nach der Geburt des Geschwisters. Schon ohne tiefergehende Analyse fällt auf, dass in diesen ersten fünf Monaten als Schwester oder Bruder die Bonobos nie entspannt waren und sich die Stresslevel (wenn mensch denn an den Cortisolproxy glaubt) durchweg stark am oberen Rand bewegen. Danach, immerhin, normalisiert sich die Situation erkennbar.

    Die Linien mit so einer Art Konfidenzintervallen drumrum sind Modellfits für den „typischen“ Verlauf des Cortisolspiegels, jeweils getrennt nach Jungen und Mädchen (die Bestimmung der Farbzuordnung ist dem/der LeserIn zur Übung anempfohlen). Der Schluss ist fast unausweichlich: kleine Geschwister sind Stress, jedenfalls für eine ganze Weile. TTS nennen das Behringer et al, Transition to Siblinghood.

    Alle zehn Tage ein paar Tropfen Urin

    Wer sich fragt, wie die Leute an die Urinproben gekommen sind: Nun, die Max-Planck-Gesellschaft betreibt im Kongo eine Einrichtung namens LuiKotale, die in der Openstreetmap als tourism:camp_site getaggt ist. Es lohnt sich, die Karte etwas rauszuzoomen, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was für eine einsame Angelegenheit das ist und wie klein das Risiko, dass sich wirklich mal TouristInnen dorthin verirren könnten. In der Umgebung des Camps leben einige Stämme von Bonobos, die sich an urinsammelnde und zuguckende Menschen gewöhnt haben, ansonsten aber offenbar ihrem üblichen Leben nachgehen können.

    Die DPZ-WissenschaftlerInnen haben zwischen Juli 2008 und August 2018 – ich bin allein schon wegen der zehn Jahre beeindruckt – Urin vom Bonobonachwuchs gesammelt, wenn er (der Urin, nicht der Nachwuchs) auf Blättern gelandet ist und nicht verkotet war. Aus diesen Proben konnten sie offenbar Konzentrationen verschiedener Hormone – darunter Cortisol – bestimmen. Ich verstehe zu wenig von den Laborprozeduren, um beurteilen zu können, wie groß die Fehlerbalken an den Punkten im Plot oben wohl sein sollten. Alleine die Überlegung, dass die Blätter nicht immer trocken gewesen sein werden, schlägt schon sehr große statistische Fehler vor. Andererseits würden selbst Fehler von 50% in der logarithmischen Darstellung nicht besonders auffallen und jedenfalls nichts an den grundsätzlichen Ergebnissen ändern.

    Am Schluss kamen über die zehn Jahre 319 nutzbare Urinproben von passenden Kindern zusammen. Die Leute haben also weniger als alle zehn Tage eine Probe gewinnen können. Ihre Methode mag ethisch weitgehend unbedenklich sein, sie braucht aber ganz klar viel Geduld und Glück.

    Etwas verblüffend finde ich, dass im Sample 20 Mädchen, aber nur 6 Jungen vorhanden sind. Ein solches Ungleichgewicht ist – ohne das jetzt wirklich durchgerechnet zu haben – fast sicher kein Zufall. Sind die Jungen vielleicht scheuer? Sie hängen jedenfalls signifikant mehr an ihren Müttern (Abb. 2 D im Artikel). Gibt es in den beobachteten Stämmen vielleicht einfach weniger von ihnen? Wenn die Studie das kommentiert, habe ich es überlesen.

    Versuch einer Ehrenrettung

    Die Arbeit verwendet einige Sorgfalt darauf, herauszukriegen, was genau diesen Stress auslöst. Zusammengefasst sind die zentralen Ansätze in der Abbildung 2 im Paper, die betrachtet, was sich postnatal sonst noch so alles ändern könnte im Verhältnis von Mutter und großem Geschwister. Die zugrundeliegenden Daten wurden durch stundenweise Beobachtung der jeweiligen Kinder gewonnen. Ja, diese Leute kennen ganz offenbar ihre Affen.

    Es zeigt sich, dass weder beim Säugen (oder entsprechenden Ersatzhandlungen) noch beim Kuscheln oder der gemeinsamen Nahrungsaufname über die Geburt hinweg viel passert, denn die Mütter entwöhnen größtenteils schon vorher. Beim Rumschleppen („Riding“) der älteren Kinder tut sich tatsächlich etwas, jedenfalls, wenn diese älteren Kinder selbst noch jung und männlich sind (Abb. 2 D und E im Paper). Dieser Alterseffekt ist aber in den Cortisoldaten nicht nachweisbar, so dass „weniger getragen werden“ als Grund des starken Stresssignals wohl ausfällt.

    Die AutorInnen spekulieren über weitere Gründe für das erhöhte Stressniveau, beispielsweise, dass die Geschwister mit dem Baby spielen wollen, aber nicht dürfen (yeah, right), oder dass sich die Mütter perinatal von der Gruppe absetzen und so auch die Geschwister isolierter sind. Stress könnten auch die üblichen Grobiane in den Stämmen machen, indem sie die älteren Kinder ärger quälen, während die Mutter anderweitig beschäftigt ist. Richtig überzeugend ist das alles nicht. Kleine Geschwister sind wohl einfach an und für sich stressig.

    Und es handelt sich klar um ein starkes Signal. Aus den Modell-Fits ergibt sich, dass sich bei der TTS die Cortisolniveaus verfünffachen. Demgegenüber kommen Menschen, wenn sie den Tieren im Labor Stress machen wollen, gerade mal auf eine Verdoppelung der Cortisolniveaus, bei Kämpfen zwischen Bonobo-Stämmen ist es kaum ein Faktor 1.5. Erst eine schlimme Lungenseuche, an der ziemlich viele Tiere starben – deutlich mehr als Menschen an SARS-2 – hat einen ähnlichen Effekt gehabt, so in etwa einen Faktor 10.

    Als Merksatz ließe sich also für die ersten fünf Monate des Große-Geschwister-Daseins feststellen: Kleine Geschwister sind ungefähr so schlimm wie Corona.

    Erstaunlicherweise gibt sich das alles nach den ersten fünf Monaten. Behringer et al machen den Scholastika-ErzählerInnen auch ein paar Friedensangebote.

    Alternatively, it has been suggested that early-life events of ‘tolerable stress’ [...] may serve to prime subjects to develop stress resistance later in life. Moreover, TTS may accelerate acquisition of motor, social, and cognitive skills [...] Having an older sibling may enhance the development and survival of the younger sibling that contributes to the inclusive fitness of both the older sibling and the mother.

    Würde ich die Dinge nur aus der …

  • Hilfe bei E-Bike und Schule

    Fast ebenso billig wie das Lamentieren über den Zustand der Bahn ist es, die religösen Praktiken anderer Menschen zu belächeln. Aber es ist mindestens ebenso schwierig, der Versuchung zu widerstehen.

    Das gilt ganz besonders im Dunstkreis katholischer Wallfahrten und Votivgaben. Aus der Sicht nach 1750 („Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“) sozialisierter Menschen wirken diese häufig eher wie böser Spott auf Religion als als ernstgemeinte Äußerung von, nun ja, Spiritualität. Sie werden aber dennoch eher letzteres sein.

    Zwei für mich recht spektakuläre Beispiele dafür sind mir gestern untergekommen, als ich vor einem Regenschauer in der Wallfahrtskirche Maria Trost bei Nesselwang im Allgäu Schutz suchte und – vielen Dank an die verantwortlichen Gottheiten oder Autoritäten – fand.

    Das erste Beispiel hatte jemand an die Kirchentür gemalt:

    In stilisierte Wolke auf Holz in Kinderschrift geschrieben: Liebe Muttergottes! laß mich in der Schule gut durchkommen.  Pfronten 15.4.72

    Allein, dass jemand sowas an eine Kirchentür schmiert, würde schon reichlich Material für eine Geschichte von Ludwig Thoma oder von René Goscinny liefern. Was mich jedoch völlig hingerissen hat, war die Rede vom „Durchkommen“. Es ging der bittstellenden Person nicht etwa ums „Mitkommen“, also das ordnungsgemäße Aufnehmen des Lehrstoffs. Es hätte ihr offenbar auch völlig gereicht, wenn Maria ihr jeweils hinreichende Möglichkeiten zum Abschreiben gegeben hätte oder peinliche Prüfungsrituale (aktueller Literaturtipp dazu: Der Vater eines Mörders von Alfred Andersch) rechtzeitig durch himmlische Intervention (ich sage mal: vorzeitige Pausenglocke oder, wenn gar nichts anders hilft, tanzende Englein) beendet.

    Katholizismus, wie ihn Max Weber nicht besser hätte karikieren können: da das im April 1972 geschrieben wurde, als die Aufklärung erst allmählich das Allgäu erreicht hat[1], mag das nicht weiter überraschen. Dennoch wäre ich neugierig, was die Person, die das Graffito verfasst hat, heute wohl treibt. Stimmt das Datum – und ich habe wenig Grund, daran zu zweifeln –, würde sie jetzt allmählich auf die Sechzig zugehen.

    Sendet sie immer noch möglicherweise nicht ganz zu Ende überlegte Wünsche an Maria? Eine Fürbitte aus dem September 2022, dieses Mal brav ins Gästebuch geschrieben, würde ich jedenfalls der Schrift nach noch eine Altersklasse weiter oben verorten:

    In etwas ungeübter Handschrift: „Erbitte Segen auf allen Wegen mit dem neuen E-Bike“

    Als Agnostiker mit einer sehr festen Überzeugung, dass Wunder nichts als Glückssache sind, habe ich bei der Kombination von solchen Fürbitten von mutmaßlich recht alten Menschen und steilen Schotterwegen kein sehr gutes Gefühl. Für den Fall, dass ich mit meinem Skeptizismus falsch liege: Maria hilf!

    [1]Das war immerhin noch sechzehn Jahre vor dem Memminger Prozess, der weithin als (vorerst) letzter Hexenprozess im deutschsprachigen Raum angesehen wird.
  • Nur ihr werdet wissen, ob wir es getan haben

    Foto einer Gletscherzunge zwischen Bergen

    So sah der Ochsentaler Gletscher im August 2017 ungefähr von da aus aus. Ich wäre neugierig, wie sich das inzwischen verändert hat.

    In Forschung aktuell vom 26. August gab es ein Segment über mögliche Zukünfte der Alpengletscher. Darin wird von einer Art Grabstein für den inzwischen (praktisch) weggeschmolzenen isländischen Gletscher Okjökull[1] berichtet, dessen an die Nachwelt gerichtete Inschrift ich wunderbar pathetisch fand und so treffend, dass ich ihn hier schon mal für meine ZeitgenossInnen wiedergeben will, die es wahrscheinlich nicht nach Island schaffen werden:

    Wir wissen, was passiert und was wir tun müssen. Nur ihr werdet wissen, ob wir es getan haben.

    Utopia.de hat auch ein Bild davon; und nachdem ich mal eine Suchmaschine nach dem Text gefragt habe, bin ich überrascht, dass die Geschichte, die offenbar so gegen 2018 ihren Anfang nahm, bisher an mir vorübergegangen ist.

    [1]Ich vermute, dass der mal hier war. Die Openstreetmap hat da nur noch „bare rock“ – auch von daher ist das also durchaus plausibel. Die Openstreetmap-Tiles kamen bei mir übrigens nur sehr langsam. Ich vermute fast, dass da so selten wer hinguckt, dass die Tiles gerade frisch für mich gerechnet wurden. Und: von dem Grabstein ist in der OSM keine Spur zu sehen. Kennt wer wen in Island, der/die das fixen könnte?
  • Dialektik der Ökonomie

    Ich bin bekennender Skeptiker bezüglich allem, was sich Wirtschaftswissenschaft nennt (wobei ich die Verdienste einiger ihrer VertreterInnen um die angewandte Mathematik nicht leugnen will). Und ich wundere mich, warum das nicht viel mehr Menschen sind, sind doch die Vorhersagen, die aus dieser Ecke kommen, eigentlich immer im Einzelnen falsch („Wachstumsprognose nach unten korrigiert“). Tatsächlich kommen aber schon die qualitativen Aussagen offensichtlich nicht annähernd hin.

    Zu den zentralen Glaubenssätzen jedenfalls marktradikaler Ökonomie gehört ja, dass niedrige Zinsen Wachstum und Inflation steigen lassen und hohe Zinsen die Inflation eindämmen, aber das Wachstum abwürgen. Dieser Glaube ist sogar in vielen Geschichtsbüchern reflektiert, wenn etwa die Hochzinspolitik der späten Carter- und frühen Reagan-Jahre für die Überwindung der „Stagflation“ verantwortlich gemacht wird; glücklicherweise ist die (gegenwärtige) Wikipedia da etwas realistischer und benennt, was die eigentlichen Gründe der Inflation in den 1970er Jahren waren (nämlich die Stärke der OPEC; dazu wären noch Bankenspiele und starke Gewerkschaften zu nennen).

    Der Glaube an die Kraft des Zinssatzes ist offenbar durch keinerlei Tatsachen zu erschüttern, nicht einmal die Folgen der Nullzinspolitik der letzten zehn Jahre. Außer im schattigen Bereich von Immobilien, Aktien, Derivaten, Großkunst und Kryptogeld fanden diese nämlich nicht statt. Es gab weder nennenswerte Inflation noch nennenswertes Wachstum (allen Gottheiten sei dank – Zukunft hätte das eh nicht).

    Um so unverständlicher ist, dass Klemens Kindermann aus der Deutschlandfunk-Wirtschaftsredaktion (nun: vorher Handelsblatt) vorhin die EZB schalt, weil sie die Zinsen so lange niedrig ließ und deshalb Schuld habe an den hohen Inflationsraten im Euro-Raum. Wörtlich:

    Fehler Nummer 2: Allerspätestens seit Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine hätte das Ruder herumgerissen werden müssen. In den USA hat das die Zentralbank erkannt und massiv gegengesteuert.

    Damit meint er: sie haben die Leitzinsen erhöht. Nun: wenn das so ist, was war die Wirkung? Sehen wir bei aller Reserviertheit gegenüber der Kennzahl Inflationsrate mal auf Zahlen meinethalben von irgendeinem Datensammler: Inflationsrate USA 8.5%, Inflationsrate BRD 8.5% (für Juli).

    Wer erklären kann, warum HandelsblättlerInnen und ihre Adpeten diese Zinsgeschichte so unbeirrt auspacken, wenn doch ganz offensichtlich ist, woher die Preisentwicklung kommt – derzeit: diverse Schwierigkeiten im Chinageschäft und ein Stellvertreterkrieg von fast vietnamösen Ausmaßen[1] –: Für mich wäre der oder die einE heißeR KandidatIn für den Wirtschafts-„Nobelpreis”.

    [1]Der Vietnamkrieg ist in diesem Zusammenhang vor allem deshalb zu erwähnen, weil seine Kosten wesentlich zur Aufgabe des an sich halbwegs vernünftigen Bretton-Woods-Systems geführt haben. Die daraus resultierenden „freien“ Wechselkurse wiederum haben der Freihandelspolitik und dem ganzen Elend, das mit ihr einherging, nochmal einigen Extraschwung gebracht. Nun sind die tatsächlichen Kriegskosten in der Ukraine im Vergleich zu Vietnam ziemlich klein – es sind ja nicht unsere Jungs, die „den Russen“ da bekämpfen, und auch in Tonnage von Bomben und Entlaubungsmittel ist das noch eine andere Liga –, aber es wird trotzdem spannend, ob der patriotische Rückenwind noch für ein paar komforable neue Umverteilungprogramme reichen wird…
  • Das ist keine Schlange

    In einem deutlich reptilienorientierten Blog wie diesem habe ich die unabweisbare Verpflichtung, ein paar Sekunden eines Mitschnitts einer Begegnung am letzten Samstag unterzubingen:

    Was das so anmutig züngelt und schlängelt, ist jedoch keine Schlange. Es ist eine Blindschleiche. Also eine Schleiche, womit ihre Beinlosigkeit eher ein Zufall ist.

    Ihr könntet jetzt einwenden, dass das mit Schleichen und Schlangen völlig wertloses Wissen ist. Das ist es aber nicht.

    Stellt euch vor, ihr begegnet so einer Blindschleiche auf der Straße, und sie ist nicht dazu zu bewegen, sich vor herankommenden Autos in Sicherheit zu bringen, vielleicht, weil sie noch nicht hinreichend warm geworden ist. Wäre sie eine Schlange, könntet ihr sie am Schwanz packen und wegtragen. Also gut: vielleicht gibt es bei manchen Schlangen weitere Erwägungen, die das immer noch als einen eher begrenzt cleveren Plan qualifizieren könnten, aber die sind hier nicht mein Thema.

    Schleichen jedenfalls solltet ihr so nicht anfassen, denn sie werden wie Eidechsen ihren Schwanz abwerfen, wenn sie den Eindruck haben, dass sie jemand daran wegtragen will. Das tun sie so gerne, dass Linné sogar ihren zoologischen Namen, Anguis fragilis, zerbrechlich, danach gewählt hat. Anders als Eidechsen lassen sie ihn zudem nicht nachwachsen. In den Worten der Wikipedia:

    In manchen Populationen hat mehr als die Hälfte der Erwachsenen keinen vollständigen Schwanz mehr.

    All das war mir neu. Danke, Wikipedia. Und sagt, was ihr wollt: Taxonomie ist alles andere als ein Orchideenfach.

  • Schon die Werbung für Fahrradhelme schadet

    Fahrradschilder, links „Auto zu Gast“, rechts „It is compulsore to wear a bike helmet”

    Was RadlerInnen helfen soll: links Niederlande, rechts Australien. Ihr müsst wohl nicht lange nachdenken, wo mehr Leute radfahren – und wo AutofahrerInnen weniger von ihnen zermanschen.

    Ich bin fest überzeugt, dass es Fahrradhelme ohne die Autolobby nicht gäbe; wichtigstes Indiz ist, dass der Anteil der HelmfahrerInnen stark korreliert ist mit der Rate zermanschter RadlerInnen pro geradeltem Kilometer. Das ist dann recht gut erklärbar, wenn Helmtragen und schlechte Bedingungen fürs Radfahren eine gemeinsame Ursache haben. Ein sehr naheliegender Kandidat für diese Ursache ist eine starke Autolobby (dort, wo es viele Helme gibt und also viel zermanscht wird).

    Vielleicht kommt das etwas konspirologisch daher, aber es dreht den hervorragend recherchierten DLF-Hintergrund vom 10. August nur ein klein wenig weiter. Dessen Thema ist, wie Leute die Niederlande in das Fahrradparadies verwandelt haben, das sie (jedenfalls im Vergleich zu sonst fast allem) sind. So macht er beispielsweise den Punkt, dass Menschen in den 1970er und 1980er Jahren kräftig für die richtige Verkehrspolitik gerungen haben („es brauchte fast Straßenkämpfe in Amsterdam […], um das System zu ändern“), übrigens gegen erheblich stärkeren Widerstand als wir ihn heute haben. Die Nachricht, dass sich die Dinge nicht von selbst ändern, dass sie sich aber ändern lassen, finde ich höchst wichtig.

    Im Hinblick auf die Helmfrage zitiert der Beitrag Meredith Glaser vom Urban Cycling Institute der Uni Amsterdam (Übersetzung DLF):

    Die Forschung zeigt: Wenn es Gesetze gibt, die das Tragen von Helmen vorschreiben, dann geht die Fahrradnutzung zurück. Das hat sich auch in Kopenhagen gezeigt. Dort hat die Regierung eine gewisse Zeit lang für das Tragen von Helmen geworben. Und in diesem Zeitraum wurde weniger Fahrrad gefahren.

    Vom Schaden der Helmpflicht wusste ich schon aus den Studien aus Australien (wo sie den Unfug, soweit ich weiß, immer noch nicht wieder aufgehoben haben); dass schon die Werbung schädlich ist, war mir neu. Um so naheliegender ist der Schluss der Sendung. Er kann aber nicht oft genug wiederholt werden, da ja nun die Autolobby ihre Sprüche auch unermüdlich daherbetet:

    Eine Helmpflicht würde auch dazu führen, dass weniger Radfahrer auf den Straßen unterwegs wären. Und das wiederum habe dann tatsächlich Einfluss auf die Sicherheit der Radlerinnen und Radler.

    Das ist der Grund für meine betretene Miene, wenn ich RadlerInnen mit Helmen sehe: Sie gefährden mein Leben.

    Für den Fall, dass hier Helm-Fans vorbeikommen, will ich noch kurz auf ein paar irrige Argumente eingehen:

    • „Na gut, dann hilft das Plastikding vielleicht nicht, wenn mensch vom Auto zermanscht wird, aber bei normalen Stürzen ist es doch super“ – nun, die Studienlage dazu ist, was Alltagsradeln angeht, allenfalls knapp über Globuli-Niveau. Das liegt daran, dass Alltagsradeln an sich eine recht sichere Angelegenheit ist. Wer nun in eine recht sichere Sache global eingreift, muss genau aufpassen, dass der Nutzen (d.h. leichtere Verletzungen bei der kleinen Klasse von Unfällen, bei denen der Helm wirkt) größer ist als die Summe der unerwünschten Nebenwirkungen (weniger vorsichtige Fahrweise, weniger Rücksicht durch Autofahrende, Fummeln am Helm zur falschen Zeit, erhöhte Umweltbelastung durch Produktion, Transport und Entsorgung der Helme, und natürlich: weniger Räder auf der Straße). Nur zur Sicherheit: Diese Abwägung mag bei tatsächlich gefährlichen Tätigkeiten („Sport“, hier: Rennradfahren; ggf. auch E-Bikes) anders ausgehen. Das normale Fahrrad aber zeichnet sich eben durch sein menschliches Maß aus.
    • „Och, das sind dieselben Abwehrgefechte wie bei der Gurtpflicht oder der Helmpflicht für Motorradfahrer“ – Nein, sind sie nicht. Erstens, weil die Epidemiologie bei diesen beiden Maßnahmen ganz klar war: Es braucht keine großen Studien, um zu zeigen, dass bei den im motorisierten Individualverkehr (MIV) herrschenden Gewalten Menschen viel größere Überlebenschancen haben, wenn sie ordentlich Rüstung anlegen. Aber auch wenn Fahrradhelme erwiesenermaßen günstige Gesundheitseffekte hätten, wäre die Situation immer noch eine ganz andere, denn während es ein willkommener Effekt wäre, weniger Autos und Motorräder auf der Straße zu haben, hätte eine Verdrängung vom Fahrrad auf den MIV dramatisch negative Effekte auf die allgemeine Gesundheit (Lärm, Dreck, Bewegungsmangel, unzugänglicher öffentlicher Raum). Angesichts dessen müssten die Effekte bei Fahrradhelmen schon gigantisch sein, um ihre Einführung oder auch nur Bewerbung zu etwas anderem als einer menschenfeindlichen Operation zu machen.
    • „Aber man kann doch Helm tragen und trotzdem was für besseren Fahrradverkehr tun.” – Klar. Wenn nicht Helme die Leute in die Autos treiben würden und die Leserbriefspalten bei jedem zermanschten Radler noch lauter „da, hätte er mal einen Helm getragen“ röhren würden, dann wäre es so oder so wurst. Aber so ist es nicht.
    • Dein Argument hier – das Feedback-Formular wartet auf dich.

    Bei der Gurtpflicht lohnt sich übrigens noch ein anderer Gedanke: Was wäre, wenn das autobedingte Blutvergießen damals nicht durch Aufrüstung (also Sicherung und stärkere Panzerung), sondern durch Abrüstung (also: global Tempo 30 für den MIV) angegangen worden wäre? Ich gehe hohe Wetten ein, dass das hunderttausende Leben gerettet hätte, ganz speziell welche ohne Lenkrad. Und wir hätten sehr wahrscheinlich viel weniger Autos auf den Straßen von heute. Wenn das international geklappt hätte, hätte es vielleicht sogar ein, zwei Zehntelgrad Klimaerwärmung ersparen können, zumal, wenn mensch einrechnet, dass es auf diese Weise wohl auch weniger Einfamilienhäuser gegeben hätte.

    Das führt zwanglos auf die Schlüsse der Hintergrund-Sendung, die sich nämlich genau mit Visionen für den öffentlichen Raum beschäftigen. Es heißt dort, eine weniger durchgeknallte Verkehrspolitik würde bewirken, „dass Straßen dann wieder als öffentlicher Raum wahrgenommen würden und nicht nur als Verkehrssystem.“

    Genau meine Rede.

  • Adenauer vs. Ägypten: Frühe Einsichten zur Arbeit

    Vielleicht passe ich gerade nur etwas besser auf, aber mir kommen derzeit besonders viele Fundstücke zum Thema Postwachstum und der Frage der Arbeit unter – die beiden sind ja, so behaupte ich, eng verbunden. Wenn wir nämlich wirklich in eine Gesellschaft übergehen, die den Menschen materielle Sicherheit bei einer minimalen Belastung von Natur und Mensch gewährleistet (und anders wird das wohl nichts mit der „Nachhaltigkeit“, vgl. Meadows ff von neulich), würden wir beim heutigen Stand der Produktivität locker mit zehn Stunden pro Woche Lohnarbeit auskommen – oder halt das, was in so einer Gesellschaft statt Lohnarbeit stattfinden würde.

    Ein Beispiel für das genaue Gegenteil dieser aus meiner Sicht positiven Utopie war im DLF-Kalenderblatt vom 6.8. zu hören. Es erinnerte an die Eröffnung des ersten deutschen Autobahn-Teilstücks durch den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Fans von Volker Kutscher wissen das gleich zeitlich einzuordnen: Es war 1932. Die zentrale Nachricht des DLF-Beitrags sollte wohl sein, dass der postfaschistische Mythos von den Nazi-Autobahnen Quatsch ist. Für mich – da mir die Rubrizierung der Autobahnen als Nazimist eigentlich immer gut gepasst hat – viel eindrücklicher war aber die entspannte Selbstverständlichkeit, mit der der Potsdamer Historiker Ernst Piper in der Sendung die Aussage illustriert, der Autobahnbau sei eine „Maßnahme zur Bekämpfung der damaligen Massenarbeitslosigkeit“ gewesen.

    Deswegen gab es zum Beispiel ja auch die Vorgabe – es galt auch für das kleine Stück, was Adenauer eingeweiht hat, das war dort genauso –, dass Maschinen nicht eingesetzt werden sollten. Es sollte alles, was irgend möglich war, mit Handarbeit erledigt werden, um möglichst viele Leute dort in Lohn und Brot zu bringen.

    Ich finde es schlicht empörend, dass wir wegen der verrückten Religion von „wer nichts arbeitet, soll auch nichts essen“ Leute völlig sinnlos schinden. Mal abgesehen davon, dass netto die Menschheit wahrscheinlich besser dran wäre, wenn es keine Autobahnen gäbe und so die ganze Arbeit besser nicht gemacht worden wäre: Hätte, sagen wir, ein Zehntel der Leute mit ordentlichen Maschinen gearbeitet und die anderen, die da geschunden wurden, derweil vielleicht ein wenig gegärtelt und sich ansonsten ausgeruht, hätte es die Autobahn und wahrscheinlich sogar mehr Essen oder sonstwas Schönes oder Nützliches gegeben.

    Die Schinderei hatte also auch dann überhaupt keinen Sinn, wenn die Autobahn als solche wertvoll gewesen wäre.

    Dass dieser ziemlich ins Sadistische spielene Irrsinn noch nach 90 Jahren nicht zu einem Aufschrei der Empörung angesichts von solchen Mengen mutwilliger Zufügung von Leid führt, sagt, soweit es mich betrifft, viel darüber aus, wie viel Aufklärung noch zu besorgen ist gegen die Marktreligion und ihre Anhängsel.

    Es mag etwas ironisch sein, dass ausgerechnet der Aberglaube im antiken Ägypten in diesem Punkt moderner, ehrlicher, aufgeklärter und nicht zuletzt pragmatischer wirkt. Gelernt habe ich das aber erst gestern, als ich im hessischen Landesmuseum in Darmstadt folgende Exponate sah:

    Jede Menge Tonfiguren in einer Glasvitrine

    Diese Tonfiguren sind Uschebtis. Zu deren Funktion erklärt die Wikipedia in Übereinstimmung mit den Angaben des Museums:

    Wurde der Verstorbene nun im Jenseits zum Beispiel dazu aufgerufen, die Felder zu besäen oder die Kanäle mit Wasser zu füllen, so sollte der Uschebti antworten: „Hier bin ich.“ (6. Kapitel des Totenbuches). Damit der Uschebti die dem Toten aufgetragene Arbeit, insbesondere Feldarbeit, verrichten konnte, wurden ihm in älterer Zeit kleine Modelle der Geräte mitgegeben, die der Uschebti in den Händen hielt. In späterer Zeit wurden die Geräte auf die Figuren gemalt.

    Ist das nicht großartig? Wie wenig ÄgypterInnen mit der modernen (und nein, Herr Weber, nicht nur protestantischen) Arbeitsmoral anfangen konnten, lässt sich an der Unmenge von Uschebtis ablesen, die wir noch nach 3000 Jahren finden. Die Museums-Leute haben erzählt, die Dinger seien im 19. Jahrhundert sehr populäre Mitbringsel von Ägypten-Urlauben gewesen, denn sie seien eigentlich überall zu finden gewesen.

    Klar, außerhalb ökonomischer Diskussionen sind sich auch heute alle einig, dass Lohnarbeit stinkt – vgl. die „Endlich Freitag“-Spots der ARD –, aber kaum zwei Ecken weiter kommt doch wieder die fast nie öffentlich in Frage gestellte Gegenunterstellung, ein Leben ohne Lohnarbeit müsse traurig und sinnlos sein (wäre das so, würde das, wie schon Bertrand Russell bemerkt hat, ein sehr schlechtes Licht auf unser Bildungssystem werfen). Zumindest diesen Unfug hat es schon im ägyptischen Totenbuch nicht mehr gegeben.

    Dass wir 4500 Jahre nach dessen ersten Anfängen wieder Mühe haben, diese Dinge klar zu kriegen, zeigt erneut, dass der Prozess der Zivilisation schwierig ist und es immer wieder Rückschläge gibt.

    Übrigens will ich natürlich mitnichten zurück zu ägyptischen Praktiken. Abgesehen davon, dass die Herstellung der Uschebtis zweifellos in die Klasse der wirtschaftlichen Aktivitäten fällt, deren Einstellung die Welt besser gemacht hätte: Die Sitte, die zunächst so sympathisch wirkt (solange mensch nicht ans Totenreich oder jedenfalls die Leidensfähigkeit von Tonfiguren glaubt), hat sich im Laufe der Jahrhunderte in Weisen entwickelt, die an moderne Freihandelszeiten erinnert. Nochmal die Wikipedia:

    Während es in der 18. Dynastie meist nur einzelne Exemplare waren, konnte die Anzahl in der Spätzeit weitaus höher sein. [...] Ab dem Ende der 18. Dynastie, vom Höhepunkt des Neuen Reiches bis zu den Ptolemäern, wurden sie durch Aufseherfiguren ergänzt [...] Der Aufseher hatte zu überwachen, dass der Uschebti die Arbeiten ordnungsgemäß durchführte. Er wurde dafür mit Stock und Peitsche ausgeführt.
  • Und nochmal Postwachstum: Von Friedrichstadt zu Isnogud

    Als ich vor gut einem Monat Friedrichstadt als Modell für eine gemütliche und hübsche Postwachstumsgesellschaft gelobt habe, habe ich auf eine wirklich augenfällige Besonderheit des Ortes nicht hingewiesen: Vor fast allen Häusern wachsen auf kleinstem Raum sorgfältig gepflegte Blumen, zumeist Rosen. Hier drei keineswegs untypische Beispiele:

    Montage aus drei spektakulären Szenen mit Blumen vor Haustüren

    Nun glaube ich nicht, dass der Mensch zum Wettbewerb geboren ist – dass es spätestens auf Schulhöfen so aussehen mag, lässt sich zwanglos als Herausforderung im Prozess der Zivilisation auffassen. Solange aber die soziale Praxis ist, wie sie ist, finde ich die Friedrichstädter Ableitung von Wettbewerbstrieb in eine dekorative und weitgehend unschädliche Richtung eine großartige Strategie zur, hust, Nachhaltigkeit (Übersetzung aus dem Blablaesischen: Das können sie auch noch 1000 Jahre so treiben, ohne dass es ihnen um die Ohren fliegt).

    Wenn die Menschen hingegen darum wettbewerben, wer das größere Auto hat oder, noch viel schlimmer, wessen Unternehmen mehr produziert, hat das ganz offensichtlich dramatische Konsequenzen; in einer Art individualpsychologischer Kapitalismusanalyse würde es sogar taugen, die ganze Wachstumskatastrophe zu erklären.

    Allerdings machen manche der Friedrichstädter Blumen durchaus den Eindruck, als hätten sie Dünger auf Mineralölbasis bekommen oder auch fiese Pestizide, so dass bei so einem Herumdoktorn an Symptomen des Wettbewerbswahnsinns jedenfalls Vorsicht nötig ist. Sobald die Leute nämlich in ihrer Wettbewerberei immer größere Flächen düngen oder begiften können, ist es schon wieder vorbei mit der, hust, Nachhaltigkeit. Ich denke, das ist meine Chance, das neueste der wunderbaren Worte, die wir der Nuklearlobby zu verdanken haben, in meinen aktiven Wortschatz aufzunehmen:

    Wir sollten Rosenzucht wie in Friedrichstadt als Streckbetrieb der Wettbewerbsgesellschaft denken.

    —Anselm Flügel (2022)

    Die Friedrichstadt-Thematik ist aber eigentlich nur Vorgeplänkel, denn wirklich verweisen wollte ich auf den Artikel „Bevölkerungswachstum – Wie viele werden wir noch?“ von David Adam im Spektrum der Wissenschaft 2/2022 (S. 26; Original in Nature 597 (2021), S. 462), der mir vorhin in die Hände gefallen ist.

    Diesen Artikel fand ich schon deshalb bemerkenswert, weil er recht klar benennt, dass ein Ende des Wachstums (in diesem Fall der Bevölkerung) wünschenswert und zudem auch fast unvemeidlich ist, sobald Frauen über ihre Fortpflanzung hinreichend frei entscheiden können und sich Religion oder Patriotismus oder Rassismus nicht zu stark verdichten. Vor allem aber wird dort eine große Herausforderung für fortschrittliche Menschen angekündigt:

    In 23 Ländern könnte sich die Bevölkerung laut dieser Vorhersage bis Ende des Jahrhunderts sogar halbiert haben, unter anderem in Japan, Thailand, Italien und Spanien.

    Ich bin überzeugt, dass sich die wenigsten MachthaberInnen mit so einer Entwicklung abfinden werden, so willkommen sie gerade in diesen dicht besiedelten Staaten (gut: Spanien und Thailand spielen mit um die 100 Ew/km² schon in einer harmloseren Liga als Japan oder Baden-Württemberg mit um die 300) auch sind. Menschen mit Vernunft und ohne Patriotismus werden dann sehr aufdringlich argumentieren müssen, dass Bevölkerungsdichten von 50 oder auch nur 10 Menschen auf dem Quadratkilometer das genaue Gegenteil vom Ende der Welt sind und jedenfalls für ein paar Halbierungszeiten überhaupt kein Anlass besteht, darüber nachzudenken, wie Frauen, die keine Lust haben auf Schwangerschaft und Kinderbetreuung, umgestimmt werden könnten.

    Wie würde ich argumentieren? Nun, zunächst mal in etwa so:

    Die kulturelle Blüte unter Hārūn ar-Raschīd (um mal eine recht beeindruckende Hochkultur zu nennen; siehe auch: Isnogud) fand in einer Welt mit höchstens 300 Millionen Menschen statt, also rund einem sechzehntel oder 2 − 4 der aktuellen Bevölkerung. Angesichts der damaligen Gelehrsamkeit dürfte als sicher gelten, dass mit so relativ wenigen Menschen immer noch eine interessante (technische) Ziviliation zu betreiben ist. Demnach haben wir mindestens vier Halbierungszeiten Zeit, ohne dass unsere Fähigkeit, in der Breite angenehm zu leben, aus demographischen Gründen in Frage steht.

    Wenn unsere modernen Gesellschaften von Natur aus um 1% im Jahr schrumpfen würden, wäre eine Halbierungszeit etwa 75 Jahre, und die vier Halbierungszeiten würden zu 300 Jahren, in denen wir uns wirklich in aller Ruhe überlegen könnten, wie wir unsere Reproduktion so organisieren, dass Frauen im Schnitt auch wirklich die 2.1 Kinder bekommen wollen, die es für eine stabile Bevölkerungszahl bräuchte (oder wie wir die Bevölkerungszahl anders stabilisiert kriegen; soweit es mich betrifft, ist ja auch die ganze Sterberei deutlich überbewertet).

    Allerdings ist das wahrscheinlich ohnehin alles müßig. Zu den bedrückendsten Papern der letzten 20 Jahre gehört für mich A comparison of The Limits to Growth with 30 years of reality von Graham Turner, erschienen in (leider Elsevier) Global Environmental Change 18 (2008), 397 (doi:10.1016/j.gloenvcha.2008.05.001; bei libgen). Darin findet sich folgende Abbildung:

    Vergleich verschiedener Modelle mit der Realität in einem Plot, ein Modell, das in den 2030er Jahren kippt, passt am besten

    Copyright 2008 Elsevier (Seufz! Das Mindeste wäre ja, dass die Rechte bei denen liegen, die die Forschung bezahlt haben, in diesem Fall also der CSIRO)

    Was ist da zu sehen? Die Kuven in grün und rot geben jeweils die Umweltverschmutzungs-Metrik der Modelle, die Dennis Meadows et al um die 1970 herum gerechnet haben und die zur Publikation der Grenzen des Wachstums geführt haben. Rot ist dabei das Modell, in dem es glaubhafte technische Bemühungen um Umweltschutz gibt, ansonsten aber weiter Wachstumskurs herrscht. Die grüne Kurve zeigt das Modell, in dem Leute allenfalls so tun als ob.

    Dass mit „Grünem Wachtum“ (in einem Wort: Elektroautos) die totale Umweltverschmutzung einen viel höheren Peak nimmt (wenn auch später), ist schon mal eine Einsicht, an die sich nicht mehr viele erinnern wollen; Meadows et al teilen jedenfalls meine Einschätzung, dass es keine technische Lösung für das Problem der Endlichkeit des Planeten gibt. Wer sowas dennoch versucht, sollte wissen, worum es geht: Die Umweltverschmutzung geht in den Modellen nach den Gipfeln zurück, weil die Umweltverschmutzenden (a.k.a. die Menschen) in großer Zahl (zu mehr als 2/3) verhungert, an Seuchen oder sonst irgendwie vor ihrer Zeit gestorben sind.

    So viel war schon vor Turners schlimmem Paper klar. Turners Beitrag war nun, reale Messgrößen auf Meadows' Metriken abzubilden – darüber ließe sich, wie immer bei Metriken, sehr trefflich streiten. Akzeptiert mensch diese Abbildung jedoch, ist die reale Entwicklung durch die schwarzen Punkte knapp unter der grünen Kurve repräsentiert. Das würde heißen: für die 30 Jahre zwischen 1970 und 2000 kommt eines von Meadows Modellen ziemlich genau hin: Das Modell, das in den 2030er Jahren kippt.

    Und nochmal: „Kippen“ ist hier ein terminus technicus dafür, dass etwas wie zwei von drei Menschen innerhalb von grob einem Jahrzehnt sterben.

    Wenn sich Meadows und Turner nicht ordentlich verrechnet haben – und ja, ich hätte an beiden Arbeiten reichlich zu meckern, nur wohl leider nicht genug, um die grundsätzlichen Ergebnisse ernsthaft zu bestreiten –, wird in gut zehn Jahren die Frage eines düsteren 80er Jahre-Graffitos in einer Erlanger Unterführung brandaktuell:

    Who will survive? And what will be left of them?

    Ungefähr hier

  • Strafgericht ist für die anderen

    Als vor ein paar Wochen der der Olivindex tief im braunen Bereich war, war allenthalben der Wunsch zu hören, Wladimir Putin möge sich möglichst schnell vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten. Daraus wird wohl schon deshalb nichts, weil Russland das Gericht nicht anerkennt.

    Das aber fanden die RuferInnen nach Gerechtigkeit damals in der Regel ebenso wenig erwähnenswert wie die Tatsache, dass auch die USA die Jurisdiktion des Haager Gerichtshofs ebensowenig anerkennen wie unsere Regierung beispielsweise das Verbot von Atombomben. „It wouldn't do to mention,“ sagt mensch da im englischen Sprachraum, zumal es bei der US-Abstinenz genau um Straffreiheit bei Handlungen in Angriffskriegen („Kriegsverbrechen“ halte ich ja für einen Pleonasmus) geht.

    Wer aber glaubt, die EU verhalte sich nennenswert anders, täuscht sich. Gerade jetzt gibt es dazu höchst aufschlussreiches Anschauungsmaterial. Die EU rüstet nämlich den Apparat im Senegal nicht nur mit fieser Biometrie auf, sie will dort mit Frontex auch selbst aktiv werden. Die Bedingungen dazu werden gerade verhandelt. Zum Glück ist der EU-Apparat voll undichter Stellen, und so konnte Statewatch jüngst die Verhandlungsposition der Kommission befreien.

    Und darin wird blank gezogen:

    [Frontex-Leute] sollten berechtigt sein, alle Aufgaben der Grenzkontrolle zu erfüllen und die dazu nötige Exekutivgewalt ausüben [...]; sie sollten berechtigt sein, Dienstwaffen, Munition und Ausrüstung mitzuführen und diese gemäß der Gesetze der Republik Senegal zu nutzen.

    (Übersetzung von mir; die offizielle EU-Übersetzung ist nicht befreit).

    Mit anderen Worten: Die EU wird den Senegal zur Übergabe seiner staatlichen Gewalt zwingen. Wer sich fragt, was passiert, wenn sich der Senegal nicht darauf einlässt, mag sich die Geschichte der jüngsten Erpressung von Kenia durch die EU ansehen, als sich das Land gegen EU-Dumpingimporte (von der EU euphemistisch als „European Partnership Agreement“ bezeichnet) wehren wollte.

    Und wer meint, der Senegal dürfte vielleicht nicht die Exekutive, aber doch die Legislative behalten, wird im nächsten Absatz eines Besseren belehrt:

    Insbesondere sollten [die Frontex-Leute] unter allen Umständen volle Immunität gegenüber der Strafjustiz der Republik Senegal genießen. Sie sollten ebenfalls zivilrechtliche Immunität für Handlungen genießen, die sie in Wahrnehmung ihrer offiziellen Funktionen vornehmen.

    Sind wir mal besser froh, dass niemand irgendwem im Senegal Panzerhaubitzen liefert. Slava Senegal!

  • Mary Lea Heger: Interstellares Natrium und Geburtstage

    Fotonegativ eines hellen Sterns und des umgebenden Sternfelds.

    Der Stern δ Orionis in einer Aufnahme von 1927 (B5232a aus HDAP) – das war eines der zwei Objekte, in deren Spektrum Mary Lea Heger das interstellare Natrium entdeckt hat.[1]

    In der DLF-Sternzeit vom 13. Juli ging es um Mary Lea Heger, die vor rund 100 Jahren entdeckte, dass es Natrium im Raum zwischen den Sternen gibt (auch wenn sie sich im verlinkten Artikel von 1919 noch nicht ganz sicher war, wo genau). Wer mal Himmelsaufnahmen aus der Zeit gesehen hat, wird ahnen, wie haarig das gewesen sein muss.

    Heger hat nämlich Spektren aufgenommen, was damals überhaupt nur für sehr helle Sterne wie den oben abgebildeten δ Orionis alias Mintaka (der am weitesten rechts stehende Gürtelstern des Orion) sinnvoll ging. Aus diesen Spektren hat sie dann Radialgeschwindigkeiten abgeleitet, also im Groben beobachtete Wellenlängen von Spektrallinien bekannter Elemente mit deren auf der Erde messbaren Wellenlängen verglichen, daraus die Blau- bzw. Rotverschiebung abgeleitet und daraus wiederum bestimmt, wie schnell sich die Objekte gerade auf uns zu oder von uns weg bewegen.

    Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie das damals gemacht wurde. Heute malt einem der Computer schöne Kurven und kann dann auch beliebige Funktionen dranfitten. Damals hingegen war, denke ich, schon die numerische Erfassung der Schwärzungen der Fotoplatte (bei der ihrerseits doppelte Schwärzung mitnichten doppeltes Licht bedeutet) eine echte Herausforderung. Die Wikipedia schreibt leider unter Densitometer nichts zur Geschichte dieser Geräte, und zu einer richtigen Recherche kann ich mich gerade nicht aufraffen.

    Mintaka und Hegers zweites Objekt, der von uns aus kaum ordentlich zu beobachtende β Scorpii alias Akrab[2], sind beides ziemlich heiße Sterne, im Jargon Spektralklasse B mit Oberflächentemperaturen deutlich über 20000 Kelvin (die Sonne: 6000 K). Weil bei diesen Temperaturen die Atome recht schnell unterwegs sind, wenn sie Photonen absorbieren, sind die Linien solcher Sterne in der Regel breit (vgl. Dopplerverbreiterung); auf den Fotos, aus denen solche Spektren gewonnen wurden, wirken die Linien sozusagen ausgewaschen.

    Tanzende und stehende Linien

    Heger hat nun aber auch ein paar recht scharfe Linien von Kalzium und Natrium in den Spektren dieser Sterne gefunden, und zwar in Absorption, was heißt: Irgendwo zwischen da, wo das Licht herkommt und Hegers Spektrographen muss es Kalizum- und Natriumatome geben, die das Licht der passenden Wellenlängen absorbiert (und dann wieder woandershin emittiert) haben. Und davon nicht zu knapp.

    Plot einer Kurve, beschriftet mit Wellenlängen

    Ein modernes Spektrum von β Ori (vom FEROS-Spektrographen der ESO, HD36485_1069462_2014-08-24T08:30:43.517_S0.5x11_1x1_UVB_NOD). Auf der x-Achse ist die Wellenlänge in Nanometer, auf der y-Achse die Flussdichte in Instrumenteneinheiten. Gezeigt ist die Umgebung der Fraunhofer-Linien H (Labor: 393,368 nm) und K (Labor: 396,847 nm) des einfach ionisierten Kalziums. Links ist eine relativ schmale und unstrukturierte Linie zu sehen, wie sie Heger für die interstellare Absorption gesehen haben wird, rechts dann eine breite Linie mit vielen Komponenten von den Einzelsternen: die Höcker da drauf würden tanzen, wenn mensch einen Film machen würde. Nach etwas Überlegung habe ich beschlossen, mich nicht festzulegen, was welche Linie ist…

    Sowohl Akrab als auch Mintaka sind zudem recht enge Doppelsterne[3]. So enge, dass sie mit damaligen Techniken wie ein Stern erschienen. Dass es sich um Doppelsterne handelt, war bekannt, weil in ihren Spektren (im Groben) jede Linie nicht ein Mal, sondern zwei Mal vorhanden ist, und die Teile eines Paars darüber hinaus regelmäßig umeinander tanzen. Die Erklärung: jeder Stern macht für sich eine Linie, die je nach Stellung in der Bahn anders dopplerverschoben ist als die seines Partners. Nun sind solche Sterne sehr schwer, und sie umkreisen sich auf relativ engen Bahnen (bei Mintaka: das Jahr ist im engen Paar 5.7 Tage lang), so dass die Bahngeschwindigkeiten bis hunderte Kilometer pro Sekunde betragen können[4]. Damit sind auch die Dopplerverschiebungen der Linien recht ernsthaft, und so ist die Natur der ersten dieser spektroskopischen Doppelsterne schon Ende des 19. Jahrhunderts aufgefallen.

    Nur: Hegers scharfe Linien tanzen nicht. Sie bleiben stur stehen, während die Sterne umeinander rasen. Und damit ist klar, dass die absorbierenden Atome zumindest nicht zu den einzelnen Sternen gehören. Sie könnten im Prinzip aus der Erdatmosphäre kommen, denn die Natriumschicht in so um die 100 km Höhe, die heute für Laser-Leitsterne verwendet wird, ist in hinreichend empfindlichen Spektren durchaus zu sehen. Wie das mit damaligen Spektren war, weiß ich nicht, die Schicht als solche wurde aber erst 1929 entdeckt (was sich jedoch nur auf die spezifische Verteilung des Natriums beziehen mag – andererseits ist neutrales Natrium in Gegenwart von Sauerstoff nicht gerade stabil. Also: ich weiß es wirklich nicht).

    Abgeleitete Kopfzahl: mit 30⋅3600 Sachen um die Sonne

    Heger wird aber (auch wenn sie das im verlinkten Artikel nicht schreibt, weil die entsprechende Korrektur Teil der Standard-Datenreduktion war und ist) in ihren scharfen Linien doch eine Bewegung gesehen haben, nämlich um etwas weniger als 30  km ⁄ s. Das ist der Reflex der Bewegung der Erde um die Sonne, und der wäre in atmosphärischen Linien nicht zu sehen, da sich ja die Atmosphäre mit der Erde bewegt.

    Die Geschwindigkeit der Erde bei ihrem Weg um die Sonne ist übrigens mit zwei Kopfzahlen schnell abgeschätzt: erstens dem Dauerbrenner 30 Millionen Sekunden pro Jahr (oder π⋅107  s, was tatsächlich die Art ist, in der ich mir das merke) und dann die 150 Millionen km (was ich mir als 1.5⋅1011  m merke) für den Radius der Erdbahn. Die Geschwindigkeit ist dann einfach Umfang der Erdbahn geteilt durch ein Jahr oder in überschaubareren Einheiten

    (2⋅π⋅1.5⋅108  km)/(π⋅107  s) = 3⋅101  km ⁄ s

    Das “etwas weniger“ als diese 30  km ⁄ s kommt daher, dass die volle Amplitude dieser Bewegung nur bei Sternen in der Ekliptik, also der Abbildung der Erdbahn am Himmel, zu sehen ist. Geht mensch von dieser gedachten Linie weg, wird die Geschwindigkeitskomponente in Richtung des Sterns kleiner (nämlich mit dem Kosinus der ekliptikalen Breite), bis am ekliptikalen Pol gar kein Reflex der Erdbewegung mehr zu sehen ist[5].

    Akrab nun steht in einem Tierkreiszeichen und von daher quasi per definitionem nahe an der Ekliptik. Auch der Orion (gleich südlich vom Stier) ist nicht weit von ihr entfernt – die ekliptikale Breite von Mintaka ist ungefähr 23.5 Grad. Deshalb taugt 30  km ⁄ s schon als Abschätzung für die Amplitude der Radialgeschwindigkeit der beiden Sterne aufgrund der Bewegung der Erde um die Sonne.

    Mit 10⋅3600 Sachen mit der Sonne durch die Strom

    Tatsächlich konnte Mary Lea Heger die Rotverschiebungen ihrer scharfen Linien und unscharfen Linien messen und kam auf folgendes Geschwindigkeiten (alles in km/s):

    Objekt β Sco δ Ori
    Natrium -9.2 17.6
    Kalzium -8.5 18.7
    RG des Systems -11.0 15.2
    Sonnenbewegung -10.7 18.1

    Die „Sonnenbewegung“ ist dabei das, was damals schon gemessen war als Bewegung der Sonne gegenüber der allgemeinen galaktischen Rotation von etwa 200  km ⁄ s – wie die damals darauf gekommen sind, ist eine ganz eigene Geschichte –, projiziert auf den Richtungsvektor zum jeweiligen Stern. Die „Radialgeschwindigkeit (RG) des Systems“ hingegen ist die Geschwindigkeit, mit der der Schwerpunkt der jeweiligen Sternsysteme auf uns zukommt oder sich von uns entfernt.

    Dass die Sonnenbewegung und Radialgeschwindigkeiten hier recht eng beieinander liegen, ist übrigens kein Zufall. Beide Sterne sind wie gesagt heiße B-Sterne, und diese sind[6] nach astronomischen Maßstäben sehr jung, gerade erst (also: vor ein paar oder ein paar zehn Millionen Jahren) aus Gaswolken geboren. Die Gaswolken wiederum laufen sehr brav mit der allgemeinen galaktischen Rotation mit. Sie können gar nicht anders, denn anders als die Sterne kollidieren Gaswolken in Galaxien durchaus miteinander, wenn eine versucht, quer zum Strom zu schwimmen. Wenn sie dann kollidieren, verlieren sie rasch ihre Eigengeschwindigkeiten (und produzieren sehr wahrscheinlich noch eifrig Sterne). Was übrig bleibt, läuft wieder brav mit dem Rest der Galaxis.

    Sterne hingegen können sich frei durch die Galaxis bewegen, weil sie praktisch nie mit anderen Sternen kollidieren – für einen Stern, kompakt wie er ist, ist die Galaxis quasi ein Vakuum, wenn auch eins mit Gavitationsfeld. Gerät ein Stern allerdings in die Nähe schwerer Dinge (wie etwa solchej Wolken), wird er ein wenig aus seiner Bahn gehoben, und das äußert sich am Ende in Eigengeschwindigkeiten wie der Sonnenbewegung von oben. Junge Sterne hatten noch keine Zeit, diese Sorte Schwung zu holen, und so ist die Radialgeschwindigkeit oben eigentlich nichts anderes als die Sonnenbewegung.

    Auch wenn Heger keine Fehlerschätzungen angibt, ist die Übereinstimmung der Geschwindigkeiten der scharfen Linien und der Sonnenbewegung umwerfend gut, jedenfalls, wenn mensch die Schwierigkeiten der in diese Tabelle eingehenden Messungen bedenkt. Tatsächlich gibt die Wikipedia für die Radialgeschwindigkeit des Gesamtsystems Akrab  − 1±2  km ⁄ s gegen Hegers -11; in einem System aus sechs Sternen muss das noch nicht mal auf ein Problem bei Heger hindeuten, aber ganz ehrlich: Ich wäre sehr verwundert, wenn sie besser als auf, sagen wir, 5 km/s hätte messen können.

    Hegers Fazit

    Entsprechend war Heger in ihren Schlussfolgerungen vorsichtig:

    The agreement of the velocity obtained from the D lines …
  • Wird Bolsonaro Schuld sein an der nächsten großen Seuche?

    Diagramm mit Einflussfaktoren wie Wald-Dichte, Artenvielfalt, Stadtnähe und ihren Korrelationen untereinander und mit der Inzidenz von Zoonosen

    Wie verschiedene Metriken die Häufigkeit von Zoonosen beeinflussen: Abbildung zwei aus doi:10.1126/sciadv.abo5774. CC-BY-NC Winck et al.

    Auch wenn (oder gerade weil) in China ein SARS-Erreger schon mal aus enem Labor entkommen ist, glaube ich ja immer noch ziemlich fest daran, dass SARS-2 aus (zu) engem Kontakt von Menschen und Wildtieren entstanden ist. Wo es viele Tiere gibt, sind solche Krankheiten mit tierischer Beteiligung, Zoonosen, Regel eher als Ausnahme, und wo es viele verschiedene Tiere gibt, ist entsprechend mit vielen Überraschungen zu rechnen. So erscheint Brasilien als ideales Land, um quantitative Schätzungen zu bekommen zur Frage, wie insbesondere neuartige Krankheitserreger Artgrenzen überwinden können und was dann passiert.

    Das war das Projekt von Gisele R. Winck und Ciclilia Andreazzi vom Institiuto Oswaldo Cruz in Rio de Janeiro sowie KollegInnen von verschiedenen anderen brasilianischen Instituten, über das sie in „Socioecological vulnerability and the risk of zoonotic disease emergence in Brazil”, Science Advances 8 (2022), doi:10.1126/sciadv.abo5774, berichten – und auch gleich anmerken, dass Brasilien vielleicht doch kein ganz ideales Land ist, ist doch ein Großteil der derzeit in Brasilien grassierenden Zoonosen gar nicht in Amerika entstanden: Malaria, Dengue, Zika oder Gelbfieber kommen alle aus der alten Welt.

    Aber es gibt auch Beispiele für Zoonosen aus Südamerika, so etwa Chagas, ein von Trypanosomen – das sind einzellige Eukaryoten, also in gewissem Sinn einfache Tiere – hervorgerufenes Syndrom, das zu tödlichen Verdauungsstörungen führen kann, sich aber nur gemeinsam mit relativ memmigen Wanzen weiterverbreiten kann.

    Pfadanalyse

    Winck et al versuchen, der Frage nach künftigen Zoonose-Risiken mit einer Pfadanalyse auf den Grund zu gehen, einer statistischen Methode zur Aufklärung von Netzwerken einander beeinflussender Größen, von der der ich, soweit ich mich erinnere, zuvor noch nie gehört habe. Diese Lücke dürfte wohl damit zusammenhängen, dass die Methode in der Biologie entwickelt wurde (ihr Erfinder war Populationsgenetiker) und im Bereich von Physik und Astronomie wenige etwas damit anzufangen wussten.

    Eine entsprechende ADS-Anfrage (und das ADS hat eigentlich alles, was es in der Astronomie gibt) liefert dann auch vor allem Kram aus Randbereichen, darunter eine Studie in den Geophysical Review Letters, die fast in das aktuelle Thema passt: „Urban Vegetation Slows Down the Spread of Coronavirus Disease (COVID-19) in the United States“. Da allerdings wette ich ungelesen, dass von dem Effekt wenig übrigbleibt, wenn mensch die Korrelation zwischen graueren Vierteln und Armut auf der einen und SARS-2 und Armut auf der anderen Seite rausrechnet.

    Wie dem auch sei: Bei einer Pfadanalyse braucht es eine Zielgröße (also das, dessen Verhalten erklärt werden soll) und „Kausalfaktoren“ (also Größen, das Verhalten der Zielgröße erklären sollen). Die Zielgröße im Paper ist die Fallzahl von einigen Zoonosen[1] in den verschiedenen brasilianischen Bundesstaaten.

    Das grobe Modell, das der Arbeit zugrundeliegt, ist nun, dass enge Kontakte zwischen Menschen und Tieren, gerade wenn wie beim Verzehr von Bushmeat Blut im Spiel ist, die Zoonosen nach oben treibt. Es könnte auch indirekte Effekte geben, wenn es etwa Wildtieren schlechter geht, weil die Menschen gerade ihr Habitat zerstören, und daher Pathogene, die vorher selten und harmlos waren, genau dann durch die geschwächte Population rauschen, wenn Menschen und Wildtiere während der Rodungen und vor der Etablierung funktionierender Landwirtschaft besonders wahrscheinlich interagieren. Mit solchen Motivationen betrachtet die Arbeit folgende Kausalfaktoren (vgl. Tabelle 1 im Paper):

    • Exposition gegenüber Zoonosen (Wie viele wilde Tiere gibt es? Wie gut ist die medizinische Versorgung der Nutztiere? Wie viel Boden ist (artenarme und in der Hinsicht wahrscheinlich eher sichere) landwirtschaftliche Fläche? Wie ist der Anteil der im Wesentlichen unberührten Fläche? Wie schnell gehen unberührte Flächen verloren?)
    • Empfindlichkeit gegenüber Zoonosen (Bäume in Städten als Proxy für die Art der Besiedlung; Kontakt mit Hausmüll als Proxy für die Dichte des Kontakts zu Vektoren wie Ratten und Mücken; Zustand der Abwassererfassung; Bruttoinlandsprodukt pro EinwohnerIn als Proxy für die Armutsrate)
    • Resilienz (Wie viel Gesundheitspersonal gibt es? In wie vielen Einrichtungen? Wie weit ist es in die nächste Stadt, in der spezialisierte Kliniken verfügbar sein werden?)

    Ich muss an der Stelle ein wenig die Nase rümpfen, denn an sich kann dieses Modell nicht so richtig das, was die AutorInnen zu versprechen scheinen: Aufklären, was mensch tun könnte, um neue Zoonosen im Zaum zu halten. Die Zielgröße ist ja die Ausbreitung längst an den Menschen gewöhnter Erreger. Zudem wird die Mehrheit der untersuchten Zoonosen von einzelligen Tieren verursacht und nicht von Viren oder Bakterien, deren pandemisches Potenzial ich weit höher einschätze, zumal, wenn sie anders als die meisten Einzeller keine Zwischenwirte brauchen.

    Aber seis drum: Ganz unplausibel ist ja nicht, dass, wo bekannte Erreger besonders intensiv zwischen Menschen und Tieren ausgetauscht werden, sich auch unbekannte Erreger allmählich an Menschen gewöhnen können.

    BIP ist wurst

    Angesichts des betrachteten Reichtums an Faktoren ist schon erstaunlich, dass die Mathematik der Pfadanalyse mit den Daten von Winck et al das Bild am Anfang des Posts ergibt (nicht signifikante Kausalfaktoren sind dort nicht gezeigt), also etwa das Bruttoinlandsprodukt pro EinwohnerIn keinen signifikanten Einfluss auf die Zoonoserate hat (was aus meiner Sicht nur heißen kann, dass es in Brasilien kein nützliches Maß für den Wohlstand mehr ist). In den Worten des Artikels:

    Zoonotic epidemic risks, as inferred from the observed mean number of ZD cases, are positively associated with vegetation loss (path analysis coefficient = 0.30), mammalian richness (0.47), and remoteness (0.72) and negatively related to urban afforestation (−0.33) and vegetation cover (−0.82).

    Also: Bäume in der Stadt (hätte ich erstmal nicht als einen wichtigen Faktor geraten, aber siehe das oben erwähnte GeoRL-Paper) und vor allem intakte Wildnis sind gut gegen Zoonosen. Eine hohe Dichte wilder Säugetiere, mit denen Menschen im Zuge von Entwaldung eifrig interagieren und, noch stärker, die Entfernung von größeren menschlichen Ansiedlungen befördern demgegegenüber solche Krankheiten.

    Besonders stark ist dabei der Effekt der Bewaldung (bzw. Besteppung oder Bemoorung, wenn das die lokal vorherrschenden Ökosysteme sind): Sie fördert zwar sehr stark die Artenvielfalt von Säugetieren, doch hemmt sie dennoch Zoonosen insgesamt. Das passt erstaunlich gut zur Beobachtung von Jared Diamond in seinem lesenswerten Buch „Collapse: How societies choose to fail or succeed“[2], dass Entwaldung wohl der allerwichtigste Faktor für den Zusammenbruch von Zivilisationen ist.

    Und dann die Schurken

    Ich bin auf das Paper wie üblich über einen Beitrag in der DLF-Sendung Forschung aktuell gegekommen, in dem Fall vom 30.6. Darin wurde vor allem abgehoben auf den Schluss der AutorInnen, die aktuelle Herrschaft in Brasilien beeinflusse die Kausalfaktoren mit ihrer marktradikalen, reaktionären und teils auch anderweitig dummen Politik stark in Richtung Zoonose:

    Ein weiterer wichtiger Aspekt, dessen Relevanz sich gerade erst erwiesen hat, ist die Empfindlichkeit gegenüber fehlgeleiteten politischen Maßnahmen, wie sie von den augenblicklichen Regierungen veranlasst wurden.

    Besonders gut hat mir dabei gefallen die Rede von einer „increasing socioecological degradation“, also einem zunehmenden sozio-ökologischen Verfall, zumal ich dabei an meine eigene brasilianische Geschichte denken musste.

    Foto eines Schildes aus Portugiesisch: Vorsicht, Waldtiere auf der Straße

    Im Parco de Tijuca auf dem Stadtgebiet von Rio de Janeiro: Warnung vor den „Waldtieren“, die auf der Straße rumlaufen. Tatsächlich turnen Affen sogar durch die Telefonleitungen, die zum Nationalobservatorium führen.

    Im Jahr 2014 habe ich rund eine Woche am Nationalobservatorium in Rio de Janeiro gearbeitet. Ich denke, es ist nicht verkehrt, so etwa in dieser Zeit den Höhepunkt der Wirkungen der Sozialpolitik von Lula da Silva zu verorten, der speziell mit seiner bolsa familia Dutzenden Millionen Menschen ein halbwegs menschenwürdiges Leben ermöglicht hat.

    Das hatte sehr profunde Konsequenzen auch für Menschen aus der Mittelschicht. Mein Gastgeber etwa erzählte, er sei vor Lulas Sozialpolitik „Opfer ungefähr jedes Verbrechens gewesen, das es gibt“, und das sei eine recht typische Erfahrung der Cariocas gewesen. Demgegenüber sei in den vieleicht fünf Jahren vor meinem Besuch eigentlich nichts mehr in der Richtung passiert. Ein weiterer Kollege ergänzte, er sei in dieser Zeit nur einmal ausgeraubt worden, und zwar mit chirurgischer Präzision (seine Worte), als er in den frühen Morgenstunden schon ziemlich beschickert unterwegs gewesen sei und die Räuber die Nettigkeit hatten, ihm seinen Geldbeutel wieder zurückzugeben, zwar ohne Bargeld, aber mit allem Plastikwahnsinn, dessen Wiederbeschaffung wirklich viel Stress gewesen wäre.

    Diese Zeiten sind lange vorbei. Nach dem (rückblickend ist diese Charakterisierung wohl nicht zu bestreiten) Putsch gegen Dilma ging die Politik zurück zur Umverteilung von unten nach oben, mit den erwartbaren Konsequenzen für das Leben in einer Stadt wie Rio – und den weniger offensichlichen Konsequenzen für das Heranbrüten der nächsten großen zoonotischen Pandemie.

    Ich frage mich ja bei solchen Betrachtungen immer, wie Leute wie Bolsonaro eigentlich ruhig schlafen können. Aber dann: Die Frage stellt sich ja ganz analog für Scholz, Steinmeier, für Fischer und Schröder, die mit Hartz IV oder der versuchten Rentenprivatisierung ganz ähnliche Dinge, wenn auch vielleicht auf kleinerer Flamme, angerichtet haben. Und ich vermute, ich habe den Kern der Antwort schon berechnet: Allein der Umstand, dass diese Menschen Macht haben, macht es sehr wahrscheinlich, dass sie über erhebliche moralische Flexibilität verfügen.

    [1]Im einzelnen Bilharziose, Leishmaniose (innere und Haut-; wird im Rahmen des Klimawandels auch in der BRD häufiger), Leptospirose (letzter großer Ausbruch in der …
  • Der Markov-Preis für die ungewöhnlichste Wortfolge

    Ich bin kein besonderer Freund der Triggerwarnung an sich, aber hier warne ich mal: Es geht um Rassismus, schreckliche Gewalt (wenn das für euch einen Unterschied macht: obendrein gegen Kinder) und Religion. Eigentlich ist das alles viel zu ernst für einen Spaßpreis.

    Aber es hilft nichts: Der Markov-Preis für die ungewöhnlichste Wortfolge[1] geht heute an den Deutschlandfunk für den Hintergrund Politik vom 2. Juli, dessen Thema der Sender wie folgt umschreibt:

    Tausende indigene Kinder wurden zwischen 1870 und 1996 in Kanada von ihren Familien getrennt und in Internaten untergebracht. Oft wurden sie dort sexuell missbraucht, viele starben. Die Aufarbeitung dieses Kapitels der kanadischen Geschichte hat erst begonnen – und wird die Gesellschaft noch lange beschäftigen.

    Darin heißt es bei Minute 12:00: „Die Nonnen hatten alle Lederpeitschen.“ Nennt mich naiv im Hinblick auf die Realität des Christentums, aber: jedenfalls außerhalb der engeren BDSM-Szene ist das schon ein Satz, dem eine durchschnittliche künstliche Intelligenz eine eher geringe Wahrscheinlichkeit zuordnen würde. Der Neugier halber habe ich kurz meinen Müllbrowser angeworfen (in dem darf liberal Javascript laufen), um zu sehen, was Google dazu einfällt:

    Google-Suchfeld mit "Die Nonnen hatten alle" und vorgeschlagener Ergänzung "folgen"

    Bei näherer Überlegung muss ich die Preisvergabe allerdings relativieren, denn wenn ich (erneut) an Edgar Allen Poes Kurzgeschichte Die Grube und das Pendel denke, erscheint die prämierte Wortfolge und auch ihre BDSM-Konnotation gar nicht mehr so abwegig.

    Eine weitere Verbindung zu jüngeren Themen aus diesem Blog fand ich bei Minute 10:20. In der Übersetzung des Deutschlandfunks:

    Sie kamen mit diesen Lastwagen, mit denen sonst Vieh transportiert wird. Damit haben sie uns abgeholt…

    …nämlich in die besagten residential schools.

    Ich glaube, es ist kein Zufall, dass da Fahrzeuge eingesetzt wurden, die normalerweise Schlachttiere bewegen. Gegen Ende meiner Überlegungen zu Königinnenkämpfen neulich hatte ich schon darauf hingewiesen, dass die Charakterisierung von Menschen als lästige (oder im vorliegenden Fall zu tötende) Tiere ein „konstantes Feature so gut wie aller Kriege und anderer Massenmorde der Geschichte“ ist.

    Ganz gewiss hat es der Transport der Kinder in Schlachtvieh-Wagen den im Apparat beschäftigten Menschen erheblich leichter gemacht, so unmenschlich zu handeln. Und ja, das ist sowohl ein Argument für die Erhaltung der Empathie mit Schlachtvieh als auch ein Argument gegen den Transport von Menschen in Viehtranportern[2].

    [1]Benannt ist der Preis nach Andrei Andrejewitsch Markow in seiner in Fachkreisen üblicheren englischen Umschreibung (sich selbst wird er wohl vor allem Марков geschrieben haben). Markov-Ketten waren bis zum Durchmarsch der neuronalen Netze das Mittel der Wahl zur statistischen Modellierung sprachlicher Äußerungen, also letztlich zur Beantwortung der Frage, wie wahrscheinlich es ist, kurz nach dem Token „Nonne“ ein Token wie „Hostie“, „Backschaufel“, „Gesangbuch“, „Rohrstock“ oder eben „Lederpeitsche“ zu finden.
    [2]Auch wenn ich irgendwelche Nazigeschichten hier lieber raushalten würde (denn da ist nochmal was ganz anderes passiert), muss ich, wo ich schon grob das Thema habe, noch anmerken: Ich bin überzeugt, dass Adolf Eichmann nicht nur aus Sachzwang Viehwaggons gewählt hat, um all die Menschen in die NS-Vernichtungslager verschleppen zu lassen.
  • Bertrand Russell und die Faulheit

    Als ich angefangen habe, an diesem Blog zu schreiben, wollte ich eigentlich regelmäßig über den Wahnsinn ranten, dass wir Unmengen Plunder und „Dienstleistungen“ herstellen, ohne die die Welt eigentlich besser wäre, und dafür sowohl uns selbst als auch den Planeten furchtbar stressen. Wenn ich jetzt sehe, was ich wirklich unter dem Tag Faulheit geschrieben habe: Am Schluss gab es doch immer andere Themen.

    Unterdessen war am 18. Mai der 150. Geburtstag von Bertrand Russell, von dem hier verschiedentlich schon die Rede war, allerdings eher im Zusammenhang mit seiner Philosophiegeschichte und weniger aufgrund seiner Arbeiten an den Grundlagen der Mathematik, seiner zähen Arbeit gegen religiösen Wahn oder seines pazifistischen Elans[1]; mit all dem hat mich Russell schon sehr lange begeistert.

    Erst im Portrait von Russell in SWR2 Wissen am 13.5. (Audio lohnt sich: Russell spricht selbst, Englisch und Deutsch!) jedoch erfuhr ich, dass er mal wegen Aufruf zu Widerstand gegen die Staatsgewalt im Gefängnis saß (zudem im Alter von 89 Jahren) – und, dass er schon 1932 die zornige Diatribe gegen den Unsinn exzessiver Lohnarbeit geschrieben hat, die ich für diesen Blog vorgesehen hatte.

    Sind wir 90 Jahren später klüger?

    Allerdings schrieb Russell seinen kleinen Aufsatz auf dem Höhepunkt der Großen Depression, also unter fantastischen Arbeitslosenraten, und so unterscheidet sich seine Analyse schon in vielem von meiner; der wichtigste Punkt wäre wohl, dass Russell in erster Linie die vorhandene Arbeit gleichmäßiger verteilen wollte, während ich, 90 Jahre später, überzeugt bin, dass die Gesamtmenge an Arbeit drastisch reduziert werden muss und kann, um den allgemeinen Wohlstand zu heben. Aber wir haben eben auch 90 Jahre Produktivitätssteigerung trotz Übergangs in die „Dienstleistungsgesellschaft“ hinter uns, und Russell konnte nichts von Indexfonds, Fidget Spinnern, SAP, SUVs, Nagelstudios, Bundesligafernsehen, Rechteverwertungsgesellschaften, Flimmerwände, TikTok und all dem anderen bunten Mist wissen, mit dem wir uns heute das Leben gegenseitig schwer machen.

    Russells Essay „In Praise of Idleness“ ist beim Web Archive zu haben (fragt mich nicht, wie das gerade mal 50 Jahre nach Russells Tod trotz Contentmafia zugeht; schlechter auf Deutsch), und wo ich ihn schon gelesen habe, möchte ich ein paar der schöneren Zitate hier versammeln, zumal seine Argumente inzwischen vielleicht unvollständig, sicher aber nicht falsch sind. Die Übersetzungen sind jeweils von mir.

    Russell fängt mit etwas an, das zwar zu lang ist, um ein gutes Gaffito zu machen, und vielleicht klingt „rechtschaffen“ („virtuous“) ein wenig angestaubt. Ich würde damit dennoch jeden Tag auf eine Fridays For Future-Demo gehen:

    Ich glaube, dass viel zu viel Arbeit getan wird in der Welt, und dass der Glaube, Arbeit sei rechtschaffen, unermesslichen Schaden anrichtet [...]

    Ursprüngliche Gewalt

    Im Weiteren leitet Russell die „Arbeitsethik“ in etwa dadurch ab, dass früher mal Krieger die Leute, die die Arbeit gemacht haben, nicht dauernd mit Gewalt zwingen wollten, sie zu füttern. Russell, der ja Kommunist gewesen war, bis er Lenin getroffen hat, waren gewiss die Parallelen zu Marx' ursprünglicher Akkumulation[2] bewusst; ich frage mich ein wenig, warum er darauf nicht wenigstens kurz anspielt.

    Und dann kommt seine scharfe Beobachtung, dass es während des ersten Weltkriegs mit all seiner völlig destruktiven Verschwendung den ArbeiterInnen im UK eigentlich besser ging als in Zeiten ganz normalen Wirtschaftens:

    Trotz all [der Verschwendung aufs Töten] war das generelle Wohlstandsniveau der ungelernten LohnarbeiterInnen auf der Seite der Alliierten höher als davor oder danach. Die tatsächliche Bedeutung dieser Tatsache wurde durch Finanzpolitik versteckt: Die Kriegsanleihen ließen es so aussehen, als würde die Zukunft die Gegenwart ernähren. Aber das ist natürlich unmöglich; ein Mensch kann keinen Brotlaib essen, der noch nicht existiert.

    Diese Argumentation zeigt in der anderen Richtung übrigens den Unsinn (oder die Fiesheit) kapitalgedeckter Rentenversicherungen: Wenn in 50 Jahren niemand mehr Brot backt, wird es für all das angesparte und zwischenzeitlich zerstörerische Kapital kein Brot zu kaufen geben – über diesen spezifischen Wahnsinn hatte ich es schon kurz im letzten April.

    In diesem speziellen Fall würde ich Russell allerdings fragen wollen, ob das ähnlich auch für die britischen Kolonien galt; einige indische Hungersnöte im Megaopferbereich fallen durchaus in die verschiedenen Kriegszeiten, und ich vermute, Russell sieht hier zu guten Stücken lediglich die während Kriegen erheblich größere Kampfkraft nicht allzu patriotischer Gewerkschaften reflektiert.

    Philosophie und Sklavenhaltung

    Wenig später folgt ein weiteres Bonmot, wenn Russell zunächst die immer noch herrschende Ideologie erklärt:

    Warum [sollten Leute ohne Lohnarbeit verhungern und die anderen furchtbar lang arbeiten]? Weil Arbeit Pflicht ist, und Menschen nicht im Verhältnis zu dem bezahlt werden sollen, was sie herstellen, sondern im Verhältnis zu ihrer Tugendhaftigkeit, wie sie durch ihren Fleiß unter Beweis gestellt wird.

    Das ist die Moralität des Sklavenstaates, angewandt auf Umstände, die völlig verschieden sind von denen, unter denen sie entstand.

    Ich merke kurz an, dass Russell als Philosoph dem antiken Sklavenstaat durchaus etwas abgewinnen konnte, denn ohne die Arbeit all der SklavInnen hätten Thales und Demokrit wohl keine Muße gehabt, ihren von Russell sehr geschätzten Gedanken nachzuhängen. Dabei ist er gar nicht so furchtbar darauf fixiert, dass die Leute in ihrer Muße dringend philosophieren[3] müssen:

    Es wird der Einwand kommen, dass, wenn auch ein wenig Muße angenehm ist, die Leute nicht wüssten, mit was sie ihre Tage füllen sollen, wenn sie nur vier Stunden von ihren vierundzwanzig arbeiten müssen. Soweit das in unserer modernen Welt wirklich zutrifft, ist es eine Verdammung unserer Zivilisation; es war jedenfalls in keiner vorherigen Epoche wahr. Es hat vor uns eine Fähigkeit gegeben für Freude und Spiel, die in gewissem Maß von unserem aktuellen Kult der Effizienz gehemmt wird. Der moderne Mensch denkt, dass es für jede Tätigkeit einen Grund außerhalb ihrer selbst geben müsse, dass Dinge nie um ihrer selbst willen getan werden dürfen.

    Die lahmeren Einwände gegen das bedingungslose Grundeinkommen kamen also auch damals schon. Ich stimme Russells Entgegnug aus diesem Absatz herzlich zu, auch wenn er wie ich auch nicht widerstehen kann, kurz darauf von einer generellen Begeisterung für Wissenschaft zu träumen:

    In einer Welt, in der niemand gezwungen ist, mehr als vier Stunden pro Tag zu arbeiten, wird jede Person, die die wissenschaftliche Neugier packt, sich dieser hingeben können, und alle MalerInnen werden malen können, ohne zu verhungern, gleichgültig, wie großartig ihre Bilder sein mögen.

    Nun… Bis zum Beweis des Gegenteils glaube ich fest daran, dass eine Gesellschaft mit minimalem Lohnarbeitszwang eine Gesellschaft von BastlerInnen und Amateurastronominnen sein wird. Schaun wir mal.

    Krieg ist viel Arbeit

    Ich kann dieses Best-of aus Russells Artikel nicht ohne seine Brücken zum Kriegführen beenden. Krieg erwähnt er, wenn er Techniken diskutiert, die die Übersetzung von Produktivitätsfortschritten in weniger Arbeit verhindern:

    Wenn sich alle diese Methoden als unzureichend herausstellen, machen wir Krieg; wir lassen ein paar Leute Explosivstoffe herstellen und ein paar andere diese zünden, ganz als wären wir Kinder, die gerade Feuerwerk entdeckt haben.

    Und dann sagt er in der Abteilung Utopie:

    [Wenn die Leute nicht mehr so wahnsinnig viel arbeiten,] wird der der Hunger nach Krieg aussterben, teils aus diesem Grund [weil die Leute netter und weniger misstrauisch wären] und teils, weil Krieg viel und schwere Arbeit mit sich bringen würde.
  • Libellen aufs Kreuz gelegt

    Eine Königslibelle sitzt senkrecht an einem Stück Holz; seitlich hängt eine leere Hülle einer Libellenlarve.

    Diese Libelle – ausweislich der leeren Larvenhülle halbrechts unten wahrscheinlich gerade erst geschlüpft – ist hoffentlich Zeit ihres Lebens (ein paar Wochen im Sommer 2020) mit sehenden Augen in der Gegend vom Weißen Stein herumgeflogen.

    Als ich in den Kurzmeldungen in Forschung aktuell vom 16.5. (ab Minute 1:50) davon hörte, wie Leute Libellen auf den Rücken gedreht und dann fallen gelassen haben, habe ich unmittelbar Lausbuben assoziiert, die strampelnden Käfern zusehen. Das hörte sich nach einer vergleichsweise eher gutgelaunten Angelegenheit für meine fiktionale Ethikkommission an. Jetzt, wo ich die zugrundeliegende Arbeit, „Recovery mechanisms in the dragonfly righting reflex“, Science 376 (2022), S. 754, doi:10.1126/science.abg0946, gelesen habe, muss ich das mit der guten Laune etwas relativieren.

    Zunächst beeindruckt dabei der interdisziplinäre Ansatz. Hauptautorin ist Jane Wang, Physikerin von der Cornell University (kein Wunder also, dass im Paper eine Differentialgleichung gelöst wird), mitgeholfen haben der Luftfahrtingenieur James Melfi (auch von Cornell; kein Wunder, dass rechts und links Euler-Winkel gemessen werden) und der Neurobiologe Anthony Leonardo, der am Janelia Resarch Campus in Virgina arbeitet, augenscheinlich eine Biomed-Edeleinrichtung im Umland von Washington DC.

    Zusammen haben sie mit Hochgeschwindingkeitskameras eine Variante des Schwarzweiß-Klassikers „Wie eine Katze auf den Füßen landet[1] aufgenommen, dieses Mal eben mit Libellen. Dabei haben sie den Libellen einen Magneten auf den Bauch geklebt, sie mit diesem in Rückenlage an einem Elektromagneten festgeklemmt, gewartet, bis sich die Tiere beruhigt hatten und dann den Strom des Elektromagneten abgeschaltet, so dass die Libellen (im physikalischen Sinn) frei fielen.

    Libellen rollen präzise nach rechts

    Wenn das exakt so gemacht war, war offenbar sehr vorhersehbar, was die Libellen taten. Wang et al geben an, es sei ganz entscheidend, dass die Füße der Tiere in der Luft hängen, weil sonst einerseits eigene Reflexe von den Beinen ausgelöst würden und andererseits die Libellen selbst starten wollen könnten: „voluntary take-off via leg-kicks introduces a large variability“.

    Bis dahin regt sich meine Empathie nur wenig. Zwar schätzen es die Libellen ganz sicher nicht, auf diese Weise festgehalten zu werden. Aber andererseits ist das alles ganz gut gemacht, und die Ergebnisse der Studie sind soweit ganz überzeugend und beeindruckend. Die Tiere drehen sich konsistent um ihre Längsachse, um wieder auf den Bauch zu kommen, fangen mit der Drehung nach gerade mal 100 ms an (als Reaktionszeit für Menschen gelten so etwa 300 ms; aber ok, wir haben auch viel längere Nerven) und sind dann nach gut zwei Zehntelsekunden oder vier Flügelschlägen fertig, also bevor unsereins überhaupt beschlossen hätte, was zu tun ist.

    Für mich unerwarteterweise findet die Drehung sehr kontrolliert und offenbar vorgeplant statt. Ich lese das aus der Tatsache, dass die Winkelgeschwindigkeit der Drehung zwischen 170 Grad (fast auf dem Rücken) und vielleicht 40 Grad (schon recht gut ausgerichtet) praktisch konstant ist. Abbildung 2 B des Papers fand ich in der Hinsicht wirklich erstaunlich: nicht vergessen, das Tier bewegt derweil ja seine Flügel.

    Die AutorInnen betrachten weiter die Stellung der beiden Flügelpaare im Detail, um herauszubekommen, wie genau die Libellen die präzise Drehung hinbekommen. Das ist bestimmt sehr aufregend, wenn mensch irgendwas von Flugzeugbau versteht, aber weil ich das nicht tue, hat mich das weniger begeistert. Außerdem war ich zu dem Zeitpunkt bereits etwas voreingenommen, nachdem ich erfahren hatte, dass, um die Flügelstellung mit den Analyseprogrammen, die Wang et al hatten, rekonstruieren zu können, die Libellen mit Nagellack sechs Punkte auf die Flügel gemalt bekamen.

    Die Erzählung wird düsterer

    Für die Libellen noch unangenehmer dürfte, so denke ich mir, das kleines Y-förmige Plastikgestell gewesen sein, das ihnen die ExperimentatorInnen auf den Thorax geklebt haben. Sie sagen, es sei nötig, um das Bezugssystem der fallenden Libelle bestimmen zu können. Und dann gibts noch den Magneten, der die Libelle vor dem Abwurf hält: alles zusammen wiegt ungefähr 25 mg, bei einer Libelle, die selbst gerade mal ein Viertelgramm wiegt. Andererseits, und das will ich gerne glauben, nehmen heranwachsende Libellen bis zu 50 mg am Tag zu (sie haben ja auch nur ein paar Wochen Zeit als Imago), so dass sie Massenänderungen dieser Art vielleicht wirklich nicht belasten.

    Tote Königslibelle hängt in der Luft an einem Spinnfaden

    Wie es eine Spinne hinbekommen hat, diese Libelle zu erlegen, weiß nicht nicht. Aber immerhin sind ihre Augen und Ocellen nicht zugepinselt.

    Wirklich geregt hat sich mein Mitleid – unter der Maßgabe der letzten Absätze der Geschichte mit den Wespen – aber, als es um die Frage ging, woher Libellen eigentlich ihre Orientierung kennen, woher sie also wissen, ob sie gerade auf dem Rücken fliegen oder vielleicht auf der Seite.

    Die Arbeitshypothese von Wang et al war offenbar, dass das im Wesentlichen der Sehsinn ist. Moment: „Der Sehsinn“? Nein: „Die Sehsinne“. Libellen haben nämlich gleich zwei davon, einerseits ihre Facettenaugen, dazu jedoch noch einfache, nicht abbildende Sensoren, die Ocellen. Ich sags ganz ehrlich: Ich habe das Paper vor allem gelesen, weil ich wissen wollte, wie sie den Libellen die Augen und Ocellen verbunden haben.

    Da ich das jetzt weiß, kenne ich die Stelle, an der ich als Ethikkommission nein gesagt hätte, denn die Sinne der Tiere wurden mit einem bestimmt nicht mehr entfernbarem Pamp aus schwarzer Farbe vermischt mit UV-blockierendem Kleber zugekleistert. Die Versuchsreihe mit geblendeten Libellen haben Wang und ein lediglich in den Acknowledgements erwähnter Leif Ristroph unabhängig von der ersten durchgeführt, dramatischerweise im Courant-Institut, grob als „Angewandte Mathe“ zu klassifizieren, unangenehm nah an dem, wofür ich bezahlt werde.

    „Drei kamen durch“ ist kein Rezept für gute Wissenschaft

    Diese beiden haben also vierzehn Libellen in New York City gefangen und elf weitere von KollegInnen bekommen. Und jetzt (aus dem Supplementary PDF):

    Beim Bemalen der Augen und Ocellen ist es wichtig, einen feinen Pinsel zu verwenden, damit keine Farbe auf den Hals oder Mund [des Tieres] tropft.

    Aus dieser Sammlung von Libellen haben drei die vollständigen Experimente überlebt, zwei der Gattung Perithemis tenera, eine der Gattung Libellula lydia. Dies umfasste die Tests mit normalem Sehsinn und mit blockierten Sehsinnen. Alle waren präzise [? Original: rigorous] Flieger. Mit funktionierendem Sehsinn rollten sie nach rechts. Sie überlebten auch mindestens zwei Kältephasen im Kühlschrank, eine vor dem Ankleben des Magnets, eine weitere vor dem Bemalen der Augen.

    Nennt mich angesichts dessen, was wir täglich 108-fach mit Hühnern, Schweinen, Rindern und Schafen machen, sentimental, aber wenn ein Protokoll von 25 Tieren 22 tötet, bevor das Experiment fertig ist, ist es nicht nur roh, sondern fast sicher auch Mist. Es ist praktisch unvorstellbar, dass bei so einer Selektion nicht dramatische Auswahleffekte auftreten, die jedes Ergebnis mit Fragezeichen in 72 pt Extra Bold, blinkend und rot, versehen.

    In diesem Fall war das Ergebnis übrigens, dass die Libellen ohne Ocelli etwa 30% später mit dem Drehen anfingen und anschließend nicht mehr ins Gleichgewicht kamen, bevor die Kamera voll war (ich hätte es trotzdem nett gefunden, wenn Wang wenigstens anekdotisch berichten würde, ob sie es am Schluss geschafft haben). Mit zugepinselten Facettenaugen sind die Libellen ins Gleichgewicht gekommen, wenn auch langsamer und weniger kontrolliert. Waren Ocellen und Facettenaugen blockiert, sind die Libellen häufig einfach nur runtergefallen „like leaves“.

    Was aber, wenn – ja vielleicht im Einzelfall doch existierende – nichtoptische Gleichgewichtsorgane Libellen anfälliger dafür macht, die Torturen des Experiments nicht zu überleben? Was, wenn auch die überlebenden Libellen anfangs ein nichtoptisches Gleichgewichtsorgan hatten, das aber durchs Einfrieren oder eine andere überwiegend tödliche Prozedur kaputt gegangen ist?

    Hätte ich das Vorhaben ethisch begutachten müssen, wäre ich vermutlich eingestiegen auf Abschnitt 2.3 der ergänzenden Materialien (wenn etwas in der Art im Antrag gewesen wäre), in dem es heißt, „Dragonflies perform mid-air righting maneuvers often during their prey-capture maneuvers”.

    Also… wenn die solche Manöver auch freiwillig fliegen, wäre es dann nicht besser gewesen, sie in solchen Situationen zu filmen? Klar, das wäre dann wahrscheinlich fies den Ködern gegenüber, die mensch ziemlich sicher fest positionieren (und damit ihrerseits festkleben) müsste, damit das mit dem Hochgeschwindigkeitsfilmen klappt. Aber trotzdem: Für mich wäre das das mildere Mittel gewesen.

    Außerdem hätten die Köder ja Mücken sein können.

    Nachtrag (2022-07-11)

    Meine Sorgen über ethisch grenzwertige bis unhaltbare Experimente mit Insekten liegen offenbar im wissenschaftlichen Trend. Am 10. Juli haben die Science Alerts einen Beitrag über die Schmerzwahrnehmung von Insekten veröffentlicht, der einige weitere beunruhigende Experimente anführt (etwa zu Phantomschmerzen bei Drosophilen). Immer mehr sieht es aber so aus, als fände bei vielen Insekten durchaus Schmerzverarbeitung statt, auch wenn diese im Detail etwas anders funktioniert als bei uns.

    [1]

    Das Genre „Wir drehen Tiere auf den Rücken und lassen sie fallen“ ist ausweislich des Papers beeindruckend fruchtbar. Zumindest heißt es …

  • Kopfzahlen: Über Grenzregimes

    Dann und wann können Kopfzahlen ziemlich bedrückend sein. So die 50000 Toten (genauer: 48647), die die, na ja, NGO UNITED for Intercultural Action in ihrer Liste der der Opfer der Festung Europa aus den Jahren zwischen 1993 und 2022 bestimmt. Das sind nur die gut dokumentierten Fälle, und da die in die EU Einwandernden vor allem im Mittelmeer und in den Weiten des Ostens sterben, dürften zu ihnen zahlreiche undokumentierte Tote kommen. Nimmt mensch sehr konservativ eine Dunkelziffer in der Größenordnung der dokumentierten Toten an und teilt durch die 30 Jahre, ergiben sich etwas wie 3000 Tote pro Jahr in direkter Folge der EU-Migrationskontrolle.

    Zum Vergleich: an der Berliner Mauer starben, Unfälle, Grenzsoldaten und Herzinfrakte eingeschlossen, zwischen 1961 und 1989 ungefähr 400 Menschen (vgl. Wikipedia-Artikel Mauertote). In dem Sinn könnte mensch sagen, dass das EU-Grenzregime jedes Jahr so viele Menschen umbringt wie sechs Berliner Mauern während ihrer ganzen Betriebsdauer.

  • Darf mensch Königinnen aufeinander hetzen?

    Nicht in meiner DLF-Lieblingssendung Forschung aktuell, sondern im Freistil vom 5.6.2022 bin ich auf den nächsten Fall meiner kleinen Sammlung von Fragen an die Ethikkommission bei Tierversuchen gestoßen. Im Groben: Ist es ok, Tiere bewusst und absichtlich gegeneinander kämpfen zu lassen? Und gibt es im Hinblick auf diese Frage Unterschiede zwischen Stieren und Regenwürmern?

    Aus meiner Sicht nicht weit von der Mitte der Wurm-Rind-Skala entfernt befinden sich die Papierwespen, für die die deutsche Wikipedia enttäuschenderweise auf die ordinäre Wespenseite weiterleitet. Speziell für die Stars dieses Posts, Polistes fuscatus – die biologische Normenklatur könnte mich der Physik abspenstig machen – gibt es immerhin einen Link auf der Feldwespen-Seite, doch hat sich noch niemand gefunden, der/die die zugehörige Seite angefangen hätte.

    Portraits von vier Wespen

    Fast noch spannender als die Frage, ob Wespen die Gesichtszeichnungen von Individuen auseinanderhalten können, finde ich ja die Frage, ob sie auch mal gut gelaunt aussehen können. Bildrechte: doi:10.1016/j.cub.2008.07.032 (bearbeitet).

    Bei Freistil klang es nun so, als habe jemand jeweils zwei Königinnen dieser Wespen miteinander bekannt gemacht; dass sie sich erkennen können, und zwar ziemlich sicher am Gesicht, ist offenbar spätestens seit den Arbeiten von Michael Sheehan und Elizabeth Tibbetts wohlbekannt. Unter den einschlägigen Artikeln, die ab den 2000er Jahren an der Uni von Michigan in Ann Arbor entstanden sind, ist viel zitiert „Specialized Face Learning Is Associated with Individual Recognition in Paper Wasps“ (viel zitiert vermutlich weil: Science 334 (2011), 1272, doi:10.1126/science.1211334). Das darin beschriebene Experiment ist erkennbar nicht das, von dem im Freistil die Rede war, wirft aber selbst eine ethische Frage auf:

    Darf mensch Königinnen elektroschocken?

    Sheehan und Tibbet gaben den Wespen nämlich eine T-förmige Flugzone, die überall Elektroschocks verabreichte, bis auf eine Stelle, die dann mit einem von einem paar von Bildern markiert war. Mithin war der Reiz, den die Leute zum Training der Wespen nutzten, die Abwesenheit von Elektroschocks, wenn es die Wespen richtig machten. Hm. Hrrmmmmmmmm! Wäre das nicht auch etwas freundlicher gegangen?

    Ausgangspunkt der Arbeit war die Vermutung, dass fuscatus-Wespen, die staatenbildend sind und deren Königinnen sich vor Gründung ihres Staates mit einem ganzen Haufen anderer Wespen raufen, zwei verschiedene Wespengesichter besser auseinanderhalten können („habe ich gegen die schon mal verloren?“) als metricus-Wespen, die meist allein leben und sich wenig prügeln. Um ein wenig sicherer zu sein bei der Frage, was da eigentlich beobachtet wird, haben Sheehan und Tibbetts auch Versuchstiere („healthy wild-caught adult female[s]“) auf Raupen (die die Wespen gerne essen), geometrische Zeichen (Kreuze, Dreiecke und sowas) und Wespenköpfe ohne Antennen trainiert.

    Das Ergebnis: Wespengesichter mit Antennen haben ausgelernte fuscatus-Wespen in 80% der Fälle vorm Elektroschock bewahrt (wobei der Nulleffekt 50% wäre), und sie haben die Gesichter schneller gelernt als die an sich viel einfacheren Zeichen. Waren die Antennen rausretuschiert, hat das Lernen länger gedauert, und bei 70% richtiger Wahl war Schluss.

    Wie viel Ausdauer braucht es für 10'000 Versuchsläufe?

    Und von wegen „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“: Wenn der Hinweis aus verschiedenen Raupensorten bestand, haben die Wespen nur in 60% der Fälle die trainierte Raupe gefunden, also fast nicht häufiger als durch Zufall zu erwarten. Und etwa genauso gut wie die einsiedlerischen metricus-Wespen, die mit den Gesichtern ihrer Artgenossinnen gar nichts anfangen konnten.

    Fleißbienchen am Rande: grob überschlagen müssen Sheehan und Tebitt die Wespen gegen 10'000 Mal haben fliegen lassen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie viel Ausdauer es dafür gebraucht haben mag. Auf beiden Seiten. Aufgrund vorheriger Interaktionen mit Wespen vermute ich jedoch fast, dass für diese der repetetive Charakter der Unternehmung weniger problematisch gewesen sein dürfte. Ach ja, und ich würde gerne wissen, wie viele Stiche sich die beiden Menschen während der Arbeiten eingefangen haben.

    Wie ist es mit Kämpfen?

    Sheehan, der inzwischen an die Cornell-Universität in New York gewechselt ist, hatte schon zuvor (und hat noch weiter) mit den Wespen gearbeitet und berichtet darüber zum Beispiel in Current Biology 18 (2008), Nr. 18, R851 (doi:10.1016/j.cub.2008.07.032), „Robust long-term social memories in a paper wasp“. Für diese Studie haben die Leute ebenfalls einen Haufen fuscatus-Papierwespen gefangen, dieses Mal aber gezielt Begegnungen herbeigeführt. Dabei haben sie an Tag 0, 6 und 8 jeweils Wespen zusammengeführt, die sich nicht kannten, am siebten Tag dagegen nochmal die von Tag 0 vorbeigeschickt. Das fand ich schon mal ein recht cleveres Design: Wenn sich die Rauflustigkeit der Wespen generell geändert hätte, wäre das durch die Kontrollen an den Tagen sechs und acht aufgefallen.

    Aber das führt auf die Eingangsfrage: Ist diese Sorte Experiment nicht ziemlich eng verwandt mit Hahnenkämpfen, bei denen zwei Tiere, die, wären sie nicht in menschlicher Gefangenschaft, vermutlich friedlich vor sich hingelebt hätten, künstlich dazu gebracht werden, aufeinander einzuhacken? Wäre ich in einer Ethikkommission, müsste ich zumindest mal etwas nachdenken, ob ich Königinnenkämpfe eigentlich absegnen möchte, auch wenn es hier nicht um das Gaudium einer blutrünstigen Menge, sondern um die Förderung der Wissenschaft geht.

    Unter Bekannten doppelt so viele Begegnungen ohne Gewalt

    Immerhin scheinen die Kämpfe der Wespen relativ zivilisiert abzulaufen. Zumindest berichten Sheehan et al nicht davon, dass die Begegnungen an Tag 7 mal hätten ausfallen müssen, weil die Besucherinnen von Tag 0 inzwischen vielleicht totgestochen worden wären (Disclaimer: ich habe die Zusatzdaten nicht auf solche Vorkommnisse hin durchgesehen, denn ich war ja eigentlich auf der Suche nach etwas anderem).

    Das Ergebnis ist wieder recht beeindruckend; kannte sich ein Wespenpaar, gingen offenbar doppelt so viele Begegnungen ohne Gewalt aus wie andernfalls.

    Meine eingestandenermaßen oberflächliche Literaturrecherche hat aber leider kein Paper geliefert, bei dem jemand Wespen geschminkt hätte; ich hatte ich die Geschichte aus dem Freistil nämlich so verstanden, dass jemand zwei Wespen bekannt gemacht hat und dann das Gesicht einer der beiden verändert, um zu prüfen, ob es wirklich das ist, an das sich die Wespen erinnern und nicht etwa, sagen wir, der Geruch oder die Melodie des Summens. Auch wenn das Elektroschockexperiment das sehr nahelegt: Ich finde es völlig plausibel, so ein Schminkexperiment zu machen. Wer die dazugehörige Studie findet: das Antwortfomular gehört völlig euch.

    Empathietraining

    Wer die ganze Sendung hört, dürfte auf ein anderes ethisches Problem stoßen, eines, das mir, der ich nicht in einer Ethikkommission sitze, deutlich mehr Sorgen macht: Im O-Ton wird eingespielt, wie jemand eine Drosophile erst mit Wachs festklebt und dann immer weiter fesselt. „Drosophile“: Ihr merkt, ich habe rein emotional ein spezielles Verhaltnis zu Fruchtfliegen, weil ich in ihnen, die wie ich Obst nicht widerstehen können – je süßer, je besser – ganz entfernt Geistesverwandte sehe.

    Andererseits: Wenn ich den Kompostmüll leere, nehme ich, ehrlich gesagt, keine Rücksicht darauf, wie viele von ihnen ich dabei wohl zerquetsche. Die insgesamt vergleichbar menschenähnlichen Mücken und Zecken töte ich sogar gezielt, wenn ich kann. Und nun habe ich diesen Bericht gehört und musste mich sehr beherrschen, um mich nicht zu empören. Das mag ein wenig zu tun haben mit dem völlig überflüssigen Gag, Enrico Caruso durch das Drosophilenohr aufzunehmen, denn Folter[1] ist nochmal schlimmer, wenn irgendeine Sorte, ach ja, „Humor“ mitschwingt.

    Aber auch ohne das: Ist es verlogen, wenn ich mich über die Misshandlung von Lebewesen empöre, die ich andererseits ohne große Reue und ganz nebenbei – oder gar gezielt – töte?. Auf der anderen Seite will mensch, so glaube ich, diese Anflüge von Empathie auch nicht wirklich bekämpfen. Die Charakterisierung der Feinde als Ratten und Schmeißfliegen (der Namenspate des Münchner Flughafens, Franz Josef Strauß, war Meister dieses Genres), als Tiere also, mit denen Empathie zu haben wirklich schwerfällt, wenn sie sich erstmal ordentlich vermehrt haben, ist ein recht konstantes Feature so gut wie aller Kriege und anderer Massenmorde der Geschichte.

    Mit diesem Gedanken bin ich nach der Freistil-Sendung auf folgendes Fazit gekommen: Selbst wenn es nicht der Tiere selbst wegen geboten sein sollte, schon ganz speziezistische Humanität gebietet es, diese Sorte von Mitleid mit jeder Kreatur zu hegen und nicht zu kritisieren. Und vor den Feldzügen gegen die Nacktschnecken wenigstens noch ein wenig mit sich zu ringen.

    [1]Ja, ich behaupte, es ist Folter, wenn mensch so ein Lebewesen bei lebendigem Leibe immer weiter eingießt, bis es (nehme ich an) erstickt, weil die Tracheen alle dicht sind.
  • Zum Glück ist das nicht Hollywood

    Die ziemlich hörenswerte Miniserie über Pilze und Menschen in der Deutschlandfunk-Sendung Wissenschaft im Brennpunkt (Teil 1, Teil 2) endet mit folgenden Worten von (ich glaube) Oliver Kurzai von der Uni Würzburg:

    Deswegen müssen wir glaub ich nicht damit rechnen, dass wir in absehbarer Zeit tasächlich, ich sag mal, eine Killerpilz-Pandemie kriegen, die auch den normalen, gesunden Menschen bedroht.

    Wenn unsere Realität irgendeine Ähnlichkeit hat mit einem zünftigen Katastrophenfilm, wisst ihr, was als Nächstes passieren wird.

  • Aus der Seele gesprochen

    Selten hat mir jemand so aus der Seele gesprochen wie Susanne Fischer in ihrer Glosse 9-Euro-Reporter in der taz von gestern, in der sie nach etwas Spott über die verbreitete Berichterstattung in Sachen 9-Euro-Ticket – anscheinend größtenteils geschrieben von Menschen, die schon lange keine Züge mehr von innen gesehen haben – ihre eigene Situation beschreibt:

    Der größte Mehrwert für mich ist, dass ich neuerdings in fremden Städten den ÖPNV nutzen kann, ohne vorher ein mehrstündiges Tarifstudium zu absolvieren – mit praktischer Prüfung an Automaten, deren Software vom sadistischen Andi-Scheuer-Fanclub programmiert wurde.

    Ja! Ja! Ja! Ich kann mich nicht erinnern, wann ein Satz zuletzt so in Resonanz mit meinen eigenen Gedanken stand.

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