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  • Machen Straßen auch nach 2000 Jahren noch Dreck?

    Foto: Straße mit braunem Tourismus-Hinweis: Limes

    Zumindest die Kolonnenwege am Limes sind heute meist grüne Wiese (oder Maisfeld oder Wald). Aber wie ist es mit Spuren größerer Römerstraßen?

    Neulich habe ich die DLF-Wissenschaftsmeldungen vom 23.11. gehört. Ab Minute 2:30 ging es römisch zu:

    Römerstraßen prägen noch immer den Wohlstand in Europa [...] Die anhand von Lichtspuren erkennbare heutige Verteilung von Siedlungen, Populationsdichte und Wirtschaftsleistung in Europa folgt noch immer den gleichen Mustern [wie das römische Straßennetz].

    Ich will nun gar nicht darüber schimpfen, dass ausgerechnet Licht- und damit Umweltverschmutzung als Maß für „Wohlstand“ (im Original etwas zweideutiger „prosperity“) genommen wird. Nein, meine spontane Reaktion war: „Boah, was für ein Wiwi[1]-Bullshit. Natürlich sind die römischen Straßen da, wo die damals ihre Städte gebaut haben, und natürlich haben sie ihre Städte im Groben da gebaut, wo wir das immer noch tun: dort, wo Schiffe gut hinkommen, wo das Wetter nicht zu garstig ist, wo nicht zu viele Berge sind, wo der Boden Ertrag bringt.”

    Damalige und heutige Produktions- und Bevölkerungsdichte werden also in jedem Fall stark korreliert sein, und das nicht, weil das eine das andere bedingen würde – immerhin trennt ein recht weitgehender und mithin kausal entkoppelnder Zusammenbruch[2] die beiden Sorten von Metriken –, sondern weil sie beide von ungefähr gleichen zugrundeliegenden Variablen wie „Verkehrsgunst“ oder meinetwegen „ökonomisches Potenzial des Bodens“ abhängen.

    Aber ich habe erstens einen Römerfimmel und will mich zweitens nicht unverdient des Natwi-Chauvinismus zeihen lassen. Deshalb habe ich das Paper herausgesucht. Es handelt sich um „Roman roads to prosperity: Persistence and non-persistence of public infrastructure“ von Carl-Johan Dalgaard und KollegInnen, erschienen leider bei Elsevier im Journal of Comparative Economics. Ich linke da nicht gerne drauf, zumal es nicht open access ist und selbst Leute mit Zugang derzeit durch ein dämliches Javascript-Fegefeuer müssen, um ein ordentliches PDF zu bekommen. Aber es hilft alles nichts: doi:10.1016/j.jce.2022.05.003.

    Korrelation oder Kausation?

    Die dänischen WirtschaftswissenschaftlerInnen – es hat offenbar niemand mit akademisch verbürgten Antike-Hintergrund mitgeschrieben – um Dalgaard prüfen in der Tat die Hypothese, dass sich Investitionen in die öffentliche Infrastruktur (also, ähh: Straßen) noch nach 2000 Jahren lohnen können, und die DLF-Zusammenfassung kommt auch insoweit hin, als sie diese Hypothese für den europäischen Teil des römischen Reichs bejahen.

    Natürlich war Dalgaard et al der Einwand der gemeinsamen Ursache der Korrelation durchaus bewusst, und so bieten sie bereits in der Einleitung an:

    Roman road construction did not follow the rules of infrastructure planning in the contemporary era. The Roman roads were built mainly with a military purpose in mind, and geographic obstacles in the landscape were often surmounted rather than evaded.

    Zum Beleg führen die AutorInnen den Prototyp der römischen Straße an, die Via Appia, die ohne viel Federlesens schnurgerade quer durch die Pontischen Sümpfe gelegt wurde. Aber schon ein schneller Blick auf die Abbildung A1 aus den Anhängen des Artikels stellt klar, dass die römischen PlanerInnen ihre Straßen sehr wohl den geographischen Gegebenheiten angepasst haben:

    Eine Landkarte des nördlichen Mittelitaliens, in die einige römische Straßen eingezeichnet sind; sie vermeiden ersichtlich bergige Gegenden.

    Straßen durch den Apennin gibt es, wenn überhaupt, nur in den Tälern, und wo niemand wohnt, ist auch keine Straße; ansonsten verbinden die Straßen halt Städte auf relativ direktem Weg und umgehen Unwegsamkeiten, wenn das ohne allzu große Umwege geht. Rechte: Dalgaard et al

    Richtig ist allerdings, dass die Römer durchaus auch größere Konstruktionen in Angriff genommen haben, wenn sie dadurch Strecke einsparen konnten. Schöne Beispiele dafür finden sich im Wikipedia-Artikel zur Via Claudia Augusta. Nebenbei zur Frage der Kontinuitäten: So sieht die Via Claudia Augusta heute bei Franzensfeste/Fortezza – wo das Tal übrigens so eng ist, dass es gar nicht so arg viele Alternativtrassen gibt – aus:

    Eine in den Felsen gegrabene Karrenspur, stark zugewachsen.

    Die Via Claudia Augusta belegt anonsten aber, dass römische Straßen den gleichen natürlichen Gegebenheiten unterworfen waren wie unsere heutigen Straßen auch. Damals wie heute sind Reschenpass und Fernpass halbwegs attraktiv, damals wie heute ging die Autobahn (oder damals halt die Via Raetia) schließlich über den bequemeren Brennerpass.

    Wer sich ein Bild zur Korrelation über die parallele Auswahl der Siedlungsräume machen will, möge eine Karte des obergermanischen Limes betrachten (zum Beispiel in den tollen Limes-Heften der Deutschen Limeskommission). Dort sind ein paar eigenartige Ausbuchungen zu sehen, insbesondere fürs Neuwieder Becken, für das die Provinzverwaltung den Limes extra noch ein Stück nach Norden gezogen hat, und die Wetterau, die insgesamt hübsch vom Limes eingeschlossen wird. Natürlich werden römische wie unsere Straßen mit solchen Gebieten korrelieren.[3]

    Oder ist da doch noch was?

    Damit könnte das Thema eigentlich erledigt sein, aber Dalgaard et al vermuten – so lege ich ihnen das mal in den Mund –, dass es da noch ein Extrasignal geben könnte, dass also der damalige Straßenbau heutige Umweltverschmutzung (in ihren Worten: wirtschaftliche Entwicklung) verursachen würde, die es bei sonst gleicher Geographie ohne den Straßenbau nicht gegeben hätte.

    Das Problem: wie findet mensch so einen Extra-Effekt? Die grundsätzliche Technik ist, in Analysen „für Confounder zu kontrollieren“, also im Groben zu versuchen, die (hier) störenden Einflüsse durch analoge Motivationen zum Straßenbau zu schätzen und dann herauszurechnen. Das ist tatsächlich kein völliger Hokuspokus, auch wenn es oft eine Familienpackung Modellierung und Annahmen braucht. Die englische Wikipedia deutet in controlling for a variable an, wie das gehen kann; wo sowas in der deutschen Wikipedia steht, weiß ich offen gestanden nicht.

    Die Achillesferse des Kontrollierens ist das Modell, was denn wohl (in diesem Fall) die möglichen gemeinsamen Einflüsse sein könnten. Dalgaard et al bieten dazu die Seehöhe an – auf den Bergen ist es kälter und unwirtlicher; etwas, das sie „Caloric Suitability“[4] nennen und das Boden, Wetter und Feuchtigkeit zusammenfasst zu einem Maß, wie viel Essen mensch aus dem Boden rausholen kann, getrennt nach vor-Kartoffel und nach-Kartoffel, so dass für die römische Zeit andere Kriterien gelten als für unsere; „agricultural suitability“, was so ähnlich funktioniert, aber andere AutorInnen hat; den Abstand zum nächsten größeren Fluss; den Abstand zum Meer; und antike Minen.

    Obendrauf meinen sie, moderne Systematiken rausrechnen zu müssen, vor allem den Einfluss von Sprache und Land auf die Wirtschaftsleistung, aber dann auch völlige Albernheiten wie die Entfernung zu Wittenberg als Proxy für Neigung zu Protestantismus – als sei dieser eine sich langsam ausbreitende Infektionskrankheit, die einfach noch nicht genug Zeit hatte, um sich, sagen wir, in Italien durchzusetzen – und inspiriert von Max Webers Theorie vom Protestantismus als Basisideologie des Kapitalismus. Wer schmunzeln will: die Arbeit sieht schwach signifikant, dass es mit wachsender Entfernung von Wittenberg im römischen Reich dunkler wird.

    Wie rechnet mensch die Verstraßung der Landschaft aus?

    Um ihre unabhängige Variable, die Straßendichte in römischer Zeit, auszurechnen, teilen Dalgaard et al das römische Reich in Zellen von ein Grad in Länge und ein Grad in Breite auf. Wenn ich das als Astronom mit Neigung zum Natwi-Chauvinismus sagen darf: In Zeiten von HEALPix ist das etwas fußgängerisch. Aber das römische Reich hat hinreichend wenig von der Kugelform der Erde mitbekommen, so dass zu Fuß laufen vermutlich keine nennenswerten Probleme einführt. Dann legen sie um die römischen Straßen aus dem Barrington-Atlas (ausleihbar in der Library Genesis) 5-km-Umgebungen – in der GIS-Szene „Buffer“ genannt – und rechnen das Verhältnis der so erzeugten Fläche zur Gesamtfläche in ihrer Zelle aus.

    Warum die das so machen, ist mir offen gestanden nicht klar, denn es benachteiligt ausgerechnet besonders gut vernetzte Orte, um die herum sich diese Buffer massiv überlagern werden. Als Zeichen für die Verbundenheit einer Zelle schiene mir jedenfalls die Gesamtlänge der Straßen in ihr als Metrik erheblich naheliegender. Wahrscheinlich ist das römische Straßennetz so grobmaschig, dass die Überlagerung allenfalls in ausgesprochenen Knotenpunkten wie Rouen überhaupt eine Rolle spielt. Aber etwas seltsam ist die Bufferflächen-Metrik doch.

    Damit fangen Dalgaard et al an zu rechnen. Sie fitten eine Unzahl linearer Zusammenhänge zwischen den Logarithmen aller möglicher dieser Metriken. Sachlich also unterstellen sie Potenzgesetze, a ∝ bγ, wobei sie endlose Tabellen dieser γ für alle möglichen Parameter ausrechnen, während sie für alles Mögliche kontrollieren.

    Ihr zentrales Ergebnis (aus der Tabelle 3, Spalte 7 im Paper) ließe sich etwa formulieren als: Die moderne Lichtverschmutzung geht ungefähr mit der Wurzel der antiken Straßendichte, also: 25 Mal mehr Straßen damals macht fünf Mal mehr Lichtverschmutzung heute[5].

    Zentral^WZahlenfriedhof

    Um ein Gefühl dafür zu kriegen, wie empfindlich dieses Ergebnis auf die diversen Kontrollen für Land, Leute, Höhe und Breite reagiert, kann mensch auf die anderen Spalten der erwähnten Tabelle spitzen: Das γ kann statt ungefähr 1/2 auch mal eher 3/2 sein (nämlich ganz ohne Kontrollen), was dann auf 125 Mal mehr Lichtverschmutzung für das 25-mal dichtere Straßennetz führen würde, oder auch mal 1 (wenn sie für die Zeit seit der lokalen neolithischen Revolution kontrollieren, wenn ich die etwas hemdsärmelige Beschreibug der Tabelle richtig lese), was einfach auf 25-fache Lichtverschmutzung führen würde.

    Ergebnisse, die je nach Modellierung so wild schwanken, rufen nach einer Plausibilisierung der zugrundeliegenden Modelle. Ich glaube, dass die Zahlenfriedhöfe, die das Paper und seine Anhänge durchziehen, dieser Plausibilisierung dienen sollen, und ich habe eine ganze Weile auf Tabellen dieser Art gestarrt (nur zur Illustration; die Werte, die ich für meine Betrachtung als relevant erachte …

  • Von der Banalität der Banalität des Bösen

    Als Hannah Arendt den Prozess gegen Adolf Eichmann beobachtete, prägte sie den Begriff der Banalität des Bösen, die erschreckende Einsicht, dass Menschen gelegentlich die schlimmsten Grausamkeiten aus Motiven begehen, wie sie uns auch im Alltag bewegen. Bei Eichmann, der damals die Tragödie eines einfachen Beamten aufführte, der sozusagen in Ausprägung von Sekundärtugenden die fabrikmäßige Vernichtung von Millionen von Menschen organisiert hat, war das zwar Quatsch. Er war, weitab von Alltagsrassissmus, ein rabiater, von glühendem Antisemitismus angetriebener Faschist (vgl. die Sassen-Interviews). Die Banalität des Bösen ist dennoch sehr real, wenn auch glücklicherweise in Ligen weit unterhalb industriellen Massenmords.

    Ein überraschend deutliches Beispiel dafür findet sich in der taz von diesem Wochenende: Ein Interview mit Wolfgang Schäuble, in dem dieser Einiges über die Beweggründe seiner schrecklichen Politiken verrät. Lasst mich zwei Datenpunkte zum Beleg seiner scheinbar gewissenlosen, autoritären Schurkigkeit beibringen.

    (1) Als Finanzminister (2009-2013) hat er nach der Lehman Brothers-Bankenkrise wesentlich den Einriss des (bereits zuvor eher rudimentären) griechischen Sozialstaats orchestriert (Troika-Politik); ein wenig davon lässt sich im DLF-Hintergrund Politik vom 16.8.2018 nachlesen. Auch für erklärte Metriken-SkeptikerInnen wie mich eindrücklich ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Lebenserwartung in Griechenland nach Weltbank-Daten. Aufgeteilt in die Zeit vor (Prä) und nach (Post) dem großen Schäuble-Sozialabbau in Griechenland und mit linearen Fits der Entwicklung vor (bis 2011) und nach dem Greifen der Troika-Maßnahmen (ab 2012) sieht das so aus:

    Ein Plot mit einem klaren Knick im Jahr 2012: Vorher ziemlich linearer Anstieg, danach Stagnation

    Was passiert, wenn schwäbische Hausfrauen Sozialpolitik machen: Lebenswerwartung in Griechenland (Daten: CC-BY-SA Weltbank).

    Da mag 2020 ein wenig Corona dabei sein, das Ende des Anstiegs der Lebenswerwartung war jedoch auch vorher schon sonnenklar. Wer will, kann aus dieser Kurve mit einigem Recht schätzen, dass Schäubles Politik den GriechInnen inzwischen zwei Lebensjahre geraubt hat. Und wer sich schon so weit in diese Sorte Metriken begeben hat, kann auch gleich weiterrechnen.

    Griechenland hat um die 107 EinwohnerInnen. Mithin sterben dort jedes Jahr um die 105 Menschen (weil sie so in etwa 102 Jahre alt werden). Wenn die jetzt im Schnitt zwei Jahre kürzer leben, gehen aufgrund von Schäubles Politik Jahr für Jahr rund 200'000 Lebensjahre in Griechenland verloren. Das lässt sich noch etwas krasser ausdrücken: Wer ein mittelgroßes Stadion mit 104 Plätzen, also in etwas wie den…

    …mit 60-Jährigen (die noch eine Restlebenswerwartung von 20 Jahren haben) füllt, das dann mit einer hinreichend großen Bombe sprengt und innerhalb eines Jahres das Stadion wieder aufbaut, um das Ganze zu wiederholen: So jemand sorgt für ein vergleichbares Blutbad.

    Das ist kein Unfall. Schäuble hat eine so konsequente Verarmungs- und Privatisierungspolitik gerade auch im Gesundheitswesen erzwungen, dass über deren Ergebnisse von vorneherein keine Zweifel bestehen konnten. Er kann schlicht nicht sagen, dass er das Gemetzel nicht gewollt habe.

    (2) Als Innenminister (1989/1990 und wieder 2005-2009) hat Schäuble legendär im Bereich der Menschenrechte gewütet. Erwähnt seien hier etwa

    • die Erfindung der „Antiterror“-Datei, mit der unter anderem das uns von den Alliierten geschenkte Trennungsgebot von Polizei und Geheimdienst ziemlich obsolet würde (wenn nicht das Misstrauen zwischen Polizei und Geheimdiensten noch einen gewissen Restschutz böte).
    • in diesem Zusammenhang die Erfindung eines „Supergrundrechts auf Sicherheit“, das noch jede Aushebelung von Menschenrechten rechtfertigen würde und so quasi die Urmatrize autoritärer Politik darstellt.
    • die wesentliche Beförderung (gut: im Einklang mit seinen Länderkollegen) des Staatstrojaners, auch wenn er, als sein Werk 2011 spektakulär explodierte, schon dem Finanzministerium vorsaß.
    • die drastische Ausweitung von „Zuverlässigkeitsprüfungen” im Vorfeld der Fußball-WM der Männer 2006, seit der es ganz normal ist, dass über Menschen, die, sagen wir, Würstel in Fußballstadien verkaufen wollen, Auskunft bei den Polizeien eingeholt wird und so die üblichen und willkürlichen Datenspeicherungen der Exekutive existenzgefährdend werden können.
    • die Aushandlung und Durchsetzung des Vertrags von Prüm, mit dem unter anderem diese willkürlichen Daten über politisch missliebige und andere Personen quer durch Europa verschoben werden dürfen.
    • die Nutzung dieses Mechanismus beim NATO-Jubiläum 2009 in Baden-Baden, Kehl und Straßburg, um mutmaßliche GegendemonstrantInnen von den französischen Behörden abfangen zu lassen, nachdem Gerichte Schäuble untersagt hatten, das von deutschen Behörden erledigen zu lassen.
    • vergleichbar das wüste Vorgehen gegen die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007 mit großflächigen Hausdurchsuchungen im Vorfeld, gewaltigen Sperrzonen, militärischen Polizeieinsätzen und Polizeieinsätzen des Militärs („russische Verhältnisse“ sagte damals sogar Attac; weniger gleichmütige Stimmen haben weit drastischere Bilder).

    Undsoweiterundsofort. Ich könnte weiter machen mit den Fiesheiten, die er in den Einigungsvertrag mit der DDR hat reinschreiben lassen, seiner düsteren Rolle in der Kohl-Spendenaffäre, seiner Verwicklung in Cum-Ex oder vielem mehr. Keine Frage: Schäuble ist ein Schurke, der konsequent immer auf der falschen Seite jeder Geschichte stand.

    Und was erzählt dieser Mensch nun im taz-Interview, warum er im Jahr 2000 in der Politik geblieben ist, warum er also letztlich die Mehrzahl der hier aufgezählten Schurkigkeiten begangen hat?

    Als ich nach der Spendenaffäre als Fraktions- und Parteivorsitzender zurückgetreten war, war für mich eigentlich klar, dass ich nicht mehr für den Bundestag 2002 kandidieren werde. Aber für einen 60-Jährigen, der seit 10 Jahren im Rollstuhl sitzt und seit 30 Jahren in der Politik ist, waren die Möglichkeiten, etwas anderes zu machen, nicht so groß. Ich wollte keinen Lobbyposten. [...] Ich war vor 1972 in der Steuerverwaltung und bin Lebenszeitbeamter mit Rückkehranspruch. Aber mit 60 Jahren in die Steuerverwaltung zurückzukehren, war auch keine attraktive Idee.

    Also im Groben: Er hat den sozialen Abstieg gefürchtet.

    Ein schon damals alter, aber machtgewohnter Mann hat all den Schaden angerichtet, weil er sich um sein Ansehen sorgte. Und das in einer bemerkenswerten Verdrehtheit, denn auf die Frage, warum er wohl keinen Lobbyposten wollte, antwortet er: „Ich mache nicht alles.“ Was wohl zu lesen ist als: Die Leute, die sich kaufen ließen, um Einfluss auf die Politik zu nehmen (ein paar Beispiele: Kohl für Kirch, Fischer für BMW, Koch für Bilfinger Berger, Schröder für Gazprom oder gar Oettinger für Rosatom und mein Liebingsbeispiel Berninger für Mars) sind irgendwie noch schlechter als jemand, der hunderttausende Lebensjahre raubt und das Grundgesetz rupft.

    Nun wäre es ja denkbar, dass Schäuble auch mit weniger fieser Politik den Sozialstatus erhalten hätte, den er haben wollte. Wie kam er also ausgerechnet auf die Schurkereien, die er wirklich verfolgt hat? Er erläutert das so:

    Ich hatte immer meinen eigenen Kopf. Aber ich bin loyal. [...] Ich habe Kohl gesagt: Ich mache, was er machen würde, wenn er sich mit den Dingen beschäftigen würde. Ich mache, was in seinem Interesse ist. Das ist mein Verständnis von Loyalität.

    Das war schon lange meine Vermutung: Wenn Leute Politik machen, die offensichtlich eklig oder falsch ist, liegt es fast immer daran, dass sie irgendwem und vor allem irgendwas (typisch: dem, was sie „Volk“ nennen; siehe) gegenüber loyal sein wollen und dieser Loyalität Einsicht und Empathie unterordnen.

    Und ja, ich glaube tatsächlich, dass Leute wie Schäuble solche Bekundungen ernst meinen. Anders könnten sie, denke ich, mit all dem Mist, den sie mit ihrer „Verantwortungsethik“ angerichtet haben, gar nicht leben, jedenfalls, wenn ihre Boshaftigkeit tatsächlich banal ist. Das wiederum schien mir bei Schäuble bereits angesichts seines naiven Gequatsches von schwäbischen Hausfrauen schon immer nahezuliegen. Das Interview in der taz hat diesen Eindruck noch verstärkt.

  • Seuchen, Christen und das Ende des Imperiums

    Fotos antiker Inschriften: eine schön in regelmäßig, die andere völlig krakelig.

    Mein Sinnbild für den Zusammenbruch der antiken Kultur: Zwei Inschriften aus dem Kölner Römisch-Germanischen Museum, die eine schon christlich-apokalyptisch (mit Flammenvisionen), aber noch erkennbar von Profis mit Anschluss an die mediterrane Kultur gefertigt, die andere, vielleicht 100 Jahre später, nur noch freihändiges Gekrakel fränkischer Amateure.

    Ich habe mich schon im März eines gewissen Römerfimmels bezichtigt. Dieser Schwäche nachgebend lese ich gerade „The Fate of Rome – Climate, Disease & the End of an Empire“ von Kyle Harper (Princeton University Press, 2017, entleihbar bei libgen; gibts auch auf Deutsch bei C.H. Beck als „Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reichs“, aber das habe ich nicht).

    Der Untertitel verrät es: Harper analysiert hier den Untergang des römischen Reichs als Folge von Klimaveränderung und Seuchen. Das klingt nicht nur wie ein Film am Discovery Channel, es ist auch ein wenig so geschrieben. Gut, der eingebettete Arztroman über Galen ist immerhin noch motiviert, weil dieser eine wichtige Quelle zur Antoninischen Pest (nach Harpers Einschätzung eine Pockenepedemie) ist, aber dennoch wirken Spannungsbögen in so einem Buch schnell albern oder ranschmeißerisch. Und Harpers Tendenz, das Gleiche mehrfach hintereinander leicht variiert zu sagen, verbunden mit einer oft ziemlich atemlosen Sprache, nervt doch etwas. Eine Kostprobe:

    But it was not yet a crisis: [...] The fruits of Severan success were abundant. A bloom of cultural efflorescence, more inclusive than ever before, unfolded. The influx of provincial talent was a jolt to Severan culture. The ancient capital remained the focal point of imperial patronage.

    Allzu oft wirkt es, als hätte Harper Zeilen geschunden. Das Buch könnte bei gleichem Informationsgehalt auch halb so lang sein und wäre dabei jedenfalls für Menschen wie mich lesbarer.

    Dabei sind viele der Gedanken sehr wertvoll und verdienen überhaupt nicht, im Stil einer Fernsehreportage über spontane Selbstentzündung serviert zu werden. So hatte ich zwar schon lange die Ausbreitung des apokalyptischen Christentums mit dem weitgehenden Zusammenbruch der antiken Kultur in Verbindung gebracht. Über die Ursache dieser Ausbreitung hatte ich mir jedoch nie wirklich Gedanken gemacht – es war in meiner Vorstellung, wahrscheinlich unter dem übermächtigen Einfluss von Bertrand Russell, eben so, dass die Leute plötzlich auf orientalische Kulte Lust hatten, ob nun Isis und Osiris, Mithras, Jupiter Dolichenus[1] oder halt Jesus Christus.

    Nun bietet Harper eine historisch-materialistisch befriedigendere Geschichte an:

    Bis 200 ndcE[2] sind Christen in der Überlieferung praktisch unsichtbar. Die Christen der ersten zwei Jahrhunderte wären kaum eine Fußnote der Geschichte, wären da nicht die späteren Ereignisse. Es wird geschätzt, dass es in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts größenordnungsmäßig 100'000 ChristInnen gegeben hat [wie gesagt, Harper sagt die Dinge gerne drei Mal]. Im Jahr 300 ndcE hatte sich ein atemberaubender Wandel ergeben. Das deutlichste Zeichen ist die plötzliche Verbreitung christlicher Vornamen. Eine aktuelle Arbeit schätzt, dass zu diesem Zeitpunkt erstaunliche 15-20 Prozent der ägyptischen Bevölkerung ChristInnen waren.

    Dazwischen fand – neben dramatischen Missernten infolge von mit einer Abkühlung des Weltklimas verbundenen Dürren im Mittelmeerraum[3] – die nach Harpers Darstellung verheerende Cyprianische Pest statt, für die er einen Ebola-ähnlichen Erreger vorschlägt. Es ist höchst plausibel, dass ein Massensterben an hämorrhagischem Fieber – also: Leute bluten aus jeder Pore ihres Körpers – größte Zweifel an den herrschenen Weltbildern auslösen kann. Harper schreibt dazu:

    Die Verbindung von Pest und Verfolgung scheint die Verbreitung des Christentums beschleunigt zu haben. So jedenfalls sah die Erinnerung einer bestimmten Christengemeinde aus, der von Neocaesarea in Pontus. In den Volkserzälungen rund um den Ortsheiligen, Gregor den Wundertäter, war die Pest ein Wendepunkt in der Christianisierung der Gemeinde. Das Massensterben zeigt die Machtlosigkeit der Götter der Alten und stellte die Tugenden des christlichen Glaubens heraus. Mag die Geschichte auch stark schablonenhaft sein, sie konserviert einen Kern historischer Erinnerung über die Rolle der Pest in der religösen Bekehrung der Gemeinde.

    Der klarste Vorteil des Christentums war seine unerschöpfliche Kapazität, mittels einer Ethik aufopfernder Liebe familienähnliche Netzwerke zwischen völlig Fremden zu knüpfen.

    Ohne, dass das viel an Harpers Darstellung ändern würde, würde ich persönlich ja in der erwähnten Tradition von Bertrand Russell eher spekulieren, dass das zumindest in etlichen Ausprägungen heitere antike Pantheon – ich verweise auf das leicht skandalöse, aber den römischen Geschmack m.E. gut treffende Riesendia im Römermuseum Osterburken:

    Foto: Ein farbenprächtig-sinnliches modernes Gemälde eines runden Dutzends antiker Götter

    – in einer Zeit von Hunger- und Pestkatastrophen viel weniger attraktiv wirkte als die Endzeitreligion, die das damalige Christentum ganz sicher war. Die zeitgenössichen Missionierenden dürften mindestens ebenso alarmistisch unterwegs gewesen sein wie die „das Ende ist nah“-Zeugen, die sich heute auch nicht davon beirren lassen, dass sich ihre Vorhersagen der Weltuntergänge 1914, 1925 und 1975 allesamt als nicht ganz zutreffend erwiesen haben[4].

    Und damit landen wir in der Gegenwart. Gewiss ist die SARS-2-Pandemie verglichen mit einem Krankheitsgeschehen mit einer Gesamtsterblichkeit im einige-zehn-Prozent-Bereich nicht zu vergleichen – aber dann ist unsere Gesellschaft in mancherlei Hinsicht etwas menschlicher geworden (auch wenn Blicke etwa in Fußballstadien oder Boxhallen anderes vermuten lassen). Und so mögen auch die insgesamt weniger dramatischen Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit zusammen mit der Erfahrung von Lockdown, Aussperrung und Heimarbeit sowie dem Doomscrolling auf Twitter durchaus zu vergleichbaren Aufwühlungen geführt haben. Müssen wir jetzt also mit religiösen Erweckungsbewegungen der Größenordnung der Christianisierung Roms rechnen?

    Ich sage mal mutig: eher nicht. Ohne tiefere Recherche scheint mir, dass grob vergleichbare Ereignisse in der Moderne auch keine solchen Konsequenzen hatten. Weder die spanische Grippe, die noch dazu vor der Horrorfolie des gerade zu Ende gegangenen ersten Weltkriegs ablief und fast überall deutlich dramatischer war als SARS-2, noch die vermutlich letzte Coronapandemie vor SARS-2 mit einer Sterblichkeit, die damals wahrscheinlich mit der in heutigen Lassen-Wirs-Laufen-Ländern vergleichbar gewesen sein wird, hatten offenbar nennenswerten Einfluss auf den Missionserfolg von Adventisten, Zeugen oder vergleichbaren Endzeitkulten.

    Schauen wir mal. Wer Anzeichen von Post-Corona-FlagellantInnen sieht: Ich bin für Hinweise dankbar.

    [1]Der ist übrigens mein Lieblingskult in dieser Liga, weil er eine der wenigen Religionen in der Geschichte der Menschheit sein dürfte, die an Kollisionen mit der Realität scheiterten. Der Hauptgott war eine milde angepasste Interpretatio Romana des mesopotamischen Superhelden Hadad, der vor allem mal alles zerschmettern konnte. Zitat Wikipedia: „Nach der Zerstörung des Hauptheiligtums in Doliche durch den Sassaniden-König Schapur I. Mitte des 3. Jahrhunderts ging der Kult unter.“ Sagt, was ihr wollt: Ein Kult, der einen solchen Gegenbeweis der Glaubensinhalte zum Anlass zur Auflösung – statt, wie in dem Geschäft sonst üblich, zu Zelotentum und verdrehten Ausflüchten – nimmt, kann so verkehrt nicht gewesen sein.
    [2]„nach der der christlichen Epoche“; vgl. dazu diese Fußnote.
    [3]Aus Heidelberger Sicht vergleichbar relevant: In der fraglichen Zeit, also zwischen 240 und 260, löste sich auch das Grenzregime am Limes auf, und die römischen Truppen zogen sich an Rhein und Donau zurück (von ein paar Brückenköpfen wie Ladenburg oder Köln-Deutz mal abgesehen).
    [4]Nur, damit ich nicht falsch verstanden werde: Verglichen mit zahlreichen anderen Kulten kann ich Jehovas Zeugen trotzdem total gut leiden. Einerseits natürlich wegen der Steinigungsszene im Life of Brian, vor allem aber, weil eine Lehre, aus der konsequente und radikale Kriegsdienstverweigerung (lokales Beispiel) folgt, extrem viel Nachsicht erwarten kann.
  • Alle Richtungen

    Foto: Zwei Fahrrad-Umleitungsschilder, die in verschiedene Richtungen weisen.

    Derzeit bei Heidelberg: Umleitungsbeschilderung für Fahrräder, an der Ortsfremde lange rätseln werden.

    Die Beschilderung von Radwegen gehört zu den permanenten Ärgernissen meines Fahrradlebens, soweit es außerhalb der Niederlande stattfand: Ausgerechnet Radwege, die ja überall (außerhalb der Niederlande) kompliziert um die einfach zu benutzenden (und deshalb für Autos freigeregelten) Straßen herumgeflochten werden, sind normalerweise freihändig mit ein paar kleinen Schildchen oder Fahrradlogos auf dem Asphalt markiert. Nach ein paar Jahren ist dann ein Großteil davon zugewachsen, umgefallen abgerubbelt oder zugeparkt, jedenfalls, soweit sich nicht Freiwillige vom ADFC drum kümmern (dürfen).

    Insofern finde ich bemerkenswert, dass sich (ich denke) die Stadt Heidelberg bei den derzeitigen Bauarbeiten im Handschuhsheimer Feld – Kontext: das ist eine Drehscheibe des Fahrradverkehrs, der von Norden und Nordwesten in die Stadt kommt – erhebliche Mühe zu geben scheint, Radfahrende irgendwie um die Sperrungen herumzuleiten.

    Nur: leider hilft viel in diesem Fall nicht viel. Was sich die SchildaufstellerInnen bei dem oben dokumentierten Konstrukt gedacht haben mögen? Witz am Rande: Auch in die dritte Richtung, in Blickrichtung nach links, steht ein, wenn auch kleineres und grünes, Fahrradumleitungsschild, das allerdings immerhin grenzwertig nützlich ist; es verrät nämlich, dass es dort ohne Baustelle nach Ladenburg gehen soll.

    Ich wäre ja schon neugierig, ob all diese Schilder gleichzeitig aufgestellt wurden oder nacheinander, und in jedem Fall, wie es dazu kam. Sollte jemand aus der Stadtverwaltung Heidelberg dazu etwas wissen: Ich behandele Hinweise auf Wunsch vertraulich.

    Unterdessen: In gewisser Weise ist das ein schönes Symbolbild für jede Sorte wünschbarer „Verkehrswende“: Egal, wo du hinwillst, am Ende muss es Richtung Fahrrad gehen.

  • Lenard vs. Einstein: Vom langsamen Fortschreiten der Zivilisation

    Erst vor ein paar Tagen habe ich das Wort „Augusterlebnis“ so richtig wahrgenommen: Es handelt sich um die 1914er-Version der modernen „Zeitenwende“ von 2022. Auch damals, als sich der Rüstungswettlauf der 1900er Jahre in einem lang erwarteten Krieg entlud, haben sich viele Menschen – leider auch welche, die sich als links und/oder intellektuell verstanden – patriotisch hinter das „eigene“ Land (und dessen Verbündete) gestellt, als dieses mit hinreichender Entschlossenheit und Tiefe Kriegspartei wurde.

    Ich habe dieses Phänomen schon während „unserer“ diversen Kriege im ehemaligen Jugoslawien ungläubig bestaunt. Nach dieser Erfahrung war ich nicht mehr ganz so entsetzt über die vielen Stimmen auch aus in normalen Zeiten weniger patriotischen Kreisen, die im vergangenen Frühling fürs Vaterland wieder töten, sterben oder doch wenigstens waffenliefern wollten.

    Foto: Stehendes Buch im Halbprofil

    Immer wieder gut für historische Perspektiven auf Deutsche, die in den Krieg ziehen (lassen) wollen: Wolfram Wettes „Ernstfall Frieden“.

    Ebenfalls nicht überrascht hat mich die Diffamierung jener, die historische Evidenz beibrachten dafür, dass all das Sterben und Töten Dinge nicht besser, wohl aber blutiger macht. Je nach individuellem Geschmack gelten sie neuen wie alten PatriotInnen als Verblendete, Träumer oder böswillig. Großer Konsens auf allen Seiten ist nach Augusterlebnissen und Zeitenwenden: Wer nicht schießen will, ist ausländischer Agent bzw. gleichbedeutend russischer Troll.

    Das Manifest der 93

    Die Geschichte vom Augusterlebnis von 1914 fand ich, als ich historische Perspektiven dieser Art mit einer Neulektüre des immer wieder informativen Ernstfall Frieden von Wolfram Wette (Bremen: Donat Verlag, 2017) auffrischte. Diese rief mir auch ein für mich besonders deprimierendes Beispiel für Aufwallungen deutschen Patriotismus' in Erinnerung: Das Manifest der 93, eine Erklärung, der sich, während sich die Soldaten im September 1914 an den diversen Fronten eingruben und die ersten Signale zurückkamen, wie ein industrialisierter Krieg wohl aussehen könnte, 93 häufig immer noch recht bekannte „Intellektuelle“[1] des deutschen Reichs anschlossen.

    Die Wikipedia dokumentiert den vollen Text des Manifests; lasst mich ein paar Zitate heraussuchen, die besonders nach heute klingen:

    Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden.

    Das erinnert sehr an die Entschlossenheit vieler aktueller PatriotInnen, mit viel Verve und Empörung die Beiträge zu bestreiten, die „unsere“ Angriffskriege („völkerrechtswidrig“ oder nicht), Grenzverschiebungen, imperialen Abenteuer und Landnahmen auf dem Weg in den Krieg gespielt haben. Ganz entgegen dem Augenschein ist in dieser Erzählung die eigene Seite die personifizierte Friedlichkeit. ImperialistInnen waren auch damals schon immer („nur“, wo es ein „auch“ bräuchte) die anderen.

    Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen.

    Außer, wenn er einen Panthersprung vollführte oder seine Flotte aufrüstete oder… nun, bei genauerer Betrachtung war ihm der Weltfrieden doch eigentlich immer ziemlich scheißegal. Aber klar, vielleicht hat er die Flotte ja wirklich gegen Piraten gebraucht, so wie… wir zum Beispiel mit unserer Operation Atalanta.

    Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer Verletzung entschlossen. Nachweislich war Belgien damit einverstanden. Selbstvernichtung wäre es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen.

    …ganz wie unsere Waffen heute mit dem Einverständnis „der Ukrainer“ helfen, das Land in Schutt und Asche zu legen. Hauptsache (imaginiert eine quäkende Stimme) „aber der hat angefangen“, denn dann dürfen wir es auch.

    Es ist nicht wahr, daß unsere Truppen brutal gegen Löwen [Zum Kontext: gemeint waren nicht Tiere, sondern die flandrische Stadt Leuven/Louvain] gewütet haben. An einer rasenden Einwohnerschaft, die sie im Quartier heimtückisch überfiel, haben sie durch Beschießung eines Teils der Stadt schweren Herzens Vergeltung üben müssen.

    Auch das eine Invariante des Patriotismus: Massaker verüben die anderen. Unsere Herzen sind hingegen immer noch schwer, weil uns ruchlose Feinde zwangen, bei Kundus schlimme Anschläge zu verhindern.

    Töten aus Liebe zur Kunst

    Weiter im Manifest der 93:

    Aber so wenig wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend jemand übertreffen lassen, so entschieden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerks mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen.

    …denn „verlieren“, verlieren dürfen „wir“ nicht. Selbst wenn dafür Städte zu Klump gehen, SoldatInnen ungezählte Menschen töten oder verstümmeln und die, die übrig bleiben, gefälligst fürs Vaterland frieren und hungern sollen.

    Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust.

    Das, was mensch – von der Kontinuität sprachlicher Figuren, dem radikalen Othering der Kriegspropaganda abgesehen – aus dieser Passage wirklich lernen kann: Wie kam es eigentlich dazu, dass heute „im Westen“ keine Brüste mehr zerrissen werden?

    Mensch kann diese Geschichte gewiss als die einer totalen Niederlage erzählen, durch die Deutschland „geläutert“ worden sei. Weit stimmiger wird das aber durch die Betrachtung, dass im Gegensatz zur Zeit nach dem ersten Weltkrieg nach dessen zweiter Ausgabe auf beiden Seiten von Rhein und Brenner Menschen regierten, die – eingestandenermaßen unter der gefühlten Bedrohung „aus dem Osten“ – beschlossen haben, die dämlichen Auseinandersetzungen um die Kontrolle des Elsaß, von Südtirol oder von Eupen und Malmedy einzustellen und sich zu vertragen, ganz egal, wer irgendwann mal angefangen hat, diese Landstücke wem anders wegzunehmen.

    Ein paar Jahrzehnte später hat sich diese Vernunft – dann schon gegen heftigen Widerstand – sogar auf Oder, Erzgebirge und Böhmerwald ausgedehnt. Stellt euch vor, wie furchtbar die Verhältnisse an diesen Grenzen heute wären, hätte sich damals die „kein Fußbreit unseres Vaterlands unseren Feinden“-Fraktion durchgesetzt.

    Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt

    Zwar möchte heute noch niemand offen das Hohelied des Militarismus singen – die Geschichte, „ohne starke Armee“ müsse das Land untergehen allerdings erzählen leider wieder ziemlich viele Leute. Und zwar auch welche, deren Muttersprache Wörter wie Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz hervorbringt. Wenn diese wieder Typenbezeichnungen von Panzerhaubitzen kennen, ist das jedenfalls nicht weit von „deutschem Militarismus“ weg.

    Wir können die vergifteten Waffen der Lüge unseren Feinden nicht entwinden.

    Nun gut – wir können es zumindest versuchen.

    Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.

    Dass in den entsprechenden Statements von heute eher von Freiheit und Menschenrechten die Rede ist als von schon damals über hundert Jahre alten Geistesgrößen sowie der „Scholle“, das erkenne ich als klaren Fortschritt an.

    Klar unterschreiben Ekelpakete...

    Deprimierend finde ich das Manifest vor allem, weil sich in dem Kreis der Unterzeichner – es hat wirklich keine Frau ihren Namen hergegeben; wahrscheinlich wurde aber auch keine gefragt – finsterste Schurken mit recht normalen Wissenschaftlern und zum Teil sogar ziemlich fortschrittlich denkenden Menschen mischen.

    So steht etwa Philipp Lenard unter der Erklärung, der später in seiner „Deutschen Physik“ die Beiträge von JüdInnen aus der Physik tilgen wollte und der zusammen mit der NSDAP von deutscher Weltherrschaft träumte; seine Wirkungsstätte Heidelberg bekam deshalb das „Institut für Weltpostwesen” neben die Physik am Philosophenweg gestellt, denn das Weltreich, von dem Lenard und seine Freunde träumten, hätte ja schließlich stabile transkontinentale Kommunikation gebraucht.

    Unvermeidlich bei dieser Sorte Aufwallung war natürlich ein Vertreter der Familie Wagner, und zwar einer, dem 1924 nach einem Besuch bei Mussolini nur einfiel: „Alles Wille, Kraft, fast Brutalität. Fanatisches Auge, aber keine Liebeskraft darin wie bei Hitler und Ludendorff.“

    Gut auf dieser Liste macht sich auch Fritz Haber, der später die Giftgas-Kriegsführung erfand und mit seinem Engagement fürs Land seine Frau Clara Immerwahr dazu brachte, sich mit seinem Offiziersrevolver zu erschießen. Oder Ernst Haeckel, der zwar wunderschöne Strukturen der Natur dokumentierte, sich aber ansonsten als rabiater Sozialdarwinist hervortat.

    ...aber dann auch normale Menschen

    Dass solche Menschen patriotische Erklärungen unterzeichnen, wird niemanden überraschen. Dass aber auch viele mehr oder weniger normale Wissenschaftler ihre Namen unter das Papier setzten, finde ich zumindest bedenkenswert.

    Max Planck steht da zum Beispiel, der immerhin an anderer Stelle leichteren Hochschulzugang für Frauen gefordert hatte (vom Manifest hat er sich später wohl distanziert), oder Wilhelm Wien (der vom Verschiebungsgesetz) oder Wilhelm Conrad Röntgen (der mit den Strahlen; auch er soll die Unterschrift später bedauert haben) oder Friedrich Wilhelm Ostwald, den ich vor allem als Begründer einer feinen Buchreihe mit „Klassikern der exakten Wissenschaften“ kenne.

    Und dann stehen da Biowissenschaftler unter der Erklärung, die mit ihrer Arbeit ungezählte Leben gerettet haben: Emil Behring – der Namensgeber meiner alten Schule übrigens; hätte ich das damals mal gewusst – etwa, oder Paul Ehrlich, also der mit dem Institut, von dem während Corona die Rede war, wenn es ums Impfen und Testen ging.

    Vielleicht noch erstaunlicher sind die Bona-Fide-Intellektuellen unter der Erklärung: mit Max Reinhardt eine der zentralen Figuren der Kultur des Weimarer Berlin zum Beispiel oder, in gewisser Weise noch schlimmer, Gerhart Hauptmann, der mit den Webern ein wirklich beeindruckendes Sozialdrama geschaffen hatte (und nach einigen Jahren auch wieder zur Vernunft kam).

    Es war sogar ein Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft mit von der Partie, nämlich der Astronom (und Gründer des Instituts, an dem ich arbeite) Wilhelm Foerster. Als ausgewiesener Pazifist fand er …

  • Mehrfach geschachtelte Chutzpe

    Foto: "Wir protestieren gegen das Verbot dieser Symbole" über einem Satz von Fahnen und Wimpeln kurdischer Organisationen und deinem Öcalan-Portrait.

    In der taz vom Wochenende: Der saarländische Flüchtlingsrat und die Aktion 3. Welt Saar unterlaufen geschickt das übelriechende Verbot von allerlei Fähnchen und Wimpeln diverser kurdischer Organisationen. Solche Hacks braucht es, wenn Innenministerien über Jahrzehnte hinweg geschlossen autoritäre „Lösungen“ durchzudrücken versuchen.

    Seit Hans-Dietrich Genscher und Otto G. Lambsdorff 1983 ihren Parteifreund Gerhart Baum als Innenminister gestürzt haben, waren eigentlich alle Innenministerien von Bund und Ländern – mitsamt ihrer Aufsicht über Polizei und den staatsanwaltlichen Teil der Justiz – durchweg von menschenrechtsfeindlichen, autoritären Rechtsauslegern der jeweiligen Regierungen besetzt. Namen wie, uh, Old Schwurhand Friedrich Zimmermann, Boris Pistorius, Jörg Schönbohm, Otto Schily, Manfred Kanther oder Abschiebungen-zum-Geburtstag Horst Seehofer jagen teils auch Jahrzehnte nach dem Ende der Unwesen ihrer Träger Menschen mit minimalem bürgerrechtlichem Instinkt wahlweise Schauer über den Rücken oder Zornesröte ins Gesicht.

    Hoffnungen, das könne bei der gegenwärtigen Amtsinhaberin anders werden, die sich ja immerhin in Sachen NSU 2.0 mal in diskutabler Weise geäußert hat, erwiesen sich als weitgehend vergebens, wie nicht nur ihr jüngstes Trommeln für die Ursünde Vorratsdatenspeicherung zeigt. Ein Blick in die aktuellen Gesetzesvorhaben aus ihrem Haus gleicht einem Aufmarsch der Polizei-Bruderschaft:

    Insbesondere hat Faeser nicht die skandalöse Kriminalisierung von indymedia linksunten durch ihren Vorgänger aufgehoben – was sie per Federstrich tun könnte –, und sie tut auch nichts gegen die bizarren Verfolgungen von Menschen, die Abzeichen einiger kurdischer Organisationen tragen, die die türkische Regierung nicht mag. Spätestens seit dem Flüchtlingsdeal mit den Machthabern in der Türkei wird zum Beispiel verfolgt, wer die falschen Kombinationen von Gelb, Grün und Rot durch die Straßen trägt; einige davon könnt ihr im Aufmacherbild bewundern.

    Nun bin ich spätestens seit meinen Berichten zu kurdischer PKK-Skepsis in meiner Chios-Geschichte allzu großer Euphorie Richtung PKK sicher unverdächtig. Dennoch: im Genre der bewaffneten Aufstände der Gegenwart ist die PKK mit ihrem doch deutlich über das übliche „unser Boss soll Kalif sein anstelle des Kalifen“ hinausgehenden Programm schon ein Lichtblick, und es gibt nun wirklich keinen menschenrechtsverträglichen Grund für die verbissene Wut, mit der deutschen Innenministerien nachgeordnete Behörden hinter deren Wimpeln herermitteln.

    Aber wenn autoritäre Politik im Wesentlichen unkontrolliert walten kann, hilft Kreativität. So wie bei der Beilage in der taz vom Wochenende, die ich oben dokumentiere. Was dort zu sehen ist, ist ein Forttransparent einer Demo, die mit dem Zeigen der inkriminierten Symbole davonkam, weil sie ja dokumentieren musste, worum ihr Protest geht. Die beiden Organisationen, die das Flugblatt herausgegeben haben, haben das eins weitergedreht: Sie können die verbotenen Zeichen drucken, weil sie Widerstand gegen das Verbot dokumentieren.

    Nun, und ich kann das jetzt nochmal eine Runde weiterdrehen: Ich darf die Zeichen zeigen, weil ich Leute loben will, die mit Chutzpe und Kreativität die autoritären Betonköpfe aus den verschiedenen Innenministerien gekonnt ausspielen. Dafür schwinge sogar ich mal eine Fahne. Eine? Fünfzehn!

  • Magie im Spam

    Leider vermag mich halbwegs origineller Spam durchaus mal nerdzusnipen (ref; zuvor). Und so habe ich mich heute über ein Angebot für dieses Gerät gefreut:

    Werbebild von irgendeinem Zwischenstecker und seiner Verpackung

    Rechte: Tja, halt bei irgendeinem Spammer.

    Beschrieben wird das im begleitenden Text (genauer: der text/plain-Alternative) als:

    Fangen Sie mit E-Energy schon heute an zu sparen! E-Energy sprecher die erhaltene reaktive Elektroenergie und gibt die aktive Elektroenergie an das Gerät ab, welches sich im selben Stromkreis mit dem Stromsparer befindet.

    Funktionsweise von E-Energy >>

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    Das ist natürlich kompletter Unfug, der mit Physik ungefähr so viel zu tun hat wie in die Zukunft blickende Glaskugeln. Demgegenüber hat selbst der Technobabble der originalen Star-Trek-Serie noch jede Menge Plausibilität. Schön!

    Ebenfalls schön ist, dass stil- und genresicher das, was diese Mail erzeugt hat, nicht in der Lage war, Entities aus dem doofen HTML in ordentliches Unicode zu übersetzen. Dennoch sind die Spammer in der Hinsicht den Schurken von cleverreach voraus, denn immerhin steht etwas im Plain Text.

    Was dort allerdings völlig unklar bleibt: Ist das ein Versuch, Leute zum Klicken auf giftige Links zu verleiten oder will da wirklich wer was verkloppen? In der HTML-Alternative stehen Links drin, und zwar auf eine Domain dirabore.co.in. Habt Verständnis, dass ich keinen Link draufsetze; zwar habe ich nicht viel Pagerank zu vergeben, aber auch den sollen sie nicht haben.

    Das wiederum redirectet (mit einem selbst unterschriebenen Zertifikat) auf eine wirre Seite auf litbeurope.com (soll das Vertipper von libreurope fangen?) mit folgendem Teaser:

    Screenshot mit Text: „So bestrafte ein einfacher Dortmunder die E.ON für den BETRUG and der ganzen Bevölkerung“

    Im Weiteren behauptet der „Text“, eon habe den Einsatz des e-energy-Wunderdings gerichtlich verbieten lassen wollen. Interessanter sind die (vermutlichen) Kauf-Links auf der Seite, denn die haben ohne Javascript keine Ziele. Rauspopeln, welches Javascript die setzt oder diese Leute gar Javascript bei mir ausführen lassen – nun, so neugierig bin ich dann auch nicht.

    Die Frage, ob das Betrug mit funktionslosen Steckern oder nicht ausgeführten Lieferungen ist oder ob das doch nur ein elaborierter Versuch ist, Leuten Malware unterzuschieben: Das muss ich dann wohl offen lassen. Dennoch schönen Dank an die AutorInnen für unterhaltsamen Spam.

    Ergänzung 2022-11-25: Oh wow. Das ist mehr als ein wirres Randphänomen. Es geht offenbar gerade groß im Netz rum – jedenfalls warnt die Bundesnetzagentur vor Maschen dieses Typs (heise online dazu). Was für eine katastrophale Niederlage für unser Schulsystem…

  • Wird Thomas Watson Recht behalten?

    In der diesjährigen Buchmesse-Sendung von Forschung aktuell am Deutschlandfunk ging es vor allem um Bücher zur Zukunft an und für sich. In der Anmoderation dazu sagte Ralf Krauter:

    Die Geschichte der Menschheit ist denn auch voll von krass falschen Prognosen. Die vielleicht bekannteste – oder eine meiner Favoriten – kennen Sie womöglich. Tom Watson, der fühere IBM-Chef, sagte im Jahr 1943 mal: Ich denke, es gibt einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer. Kam dann anders, wie wir alle wissen, aber es zeigt schon: Selbst die Prognosen von absoluten Fachleuten sind mit Vorsicht zu genießen.

    Als ich das gerade gehört habe, wollte ich spontan einwenden, dass das Urteil über Thomas Watsons Prognose noch aussteht. Natürlich wird es auf absehbare Zeit hunderte Milliarden von Mikroprozessoren geben, aber die meisten von denen tun Dinge, für die es früher vielleicht diskrete Steuerungen oder Analogelektronik gegeben hätte – sie dienen genau nicht als die universellen programmierbaren Geräte, die Watson bei seiner Schätzung im Kopf gehabt haben wird.

    Viele andere sind verbaut in den späten Erben der Fernschreiber und Terminals der Großrechnerära: Den Mobiltelefonen, die heute vielfach kaum mehr sind als Ein-/Ausgabegeräte für eine Handvoll großer Computer. Dabei muss mensch nochmal die Augen etwas zusammenkneifen; wenn wir Watson geben, dass er von riesigen Mainframes gesprochen hat, mit vielen, vielen CPUs, dann sind die heutigen „Clouds“ von Google, Facebook, Microsoft und Alibaba im Wesentlichen jeweils ein Computer im Sinn von Watson. In dieser Zählung – in der Router und Endgeräte nicht, die Rechenzentren der „Hyperscaler“ jeweils als ein Computer zählen – teilen sich in der Tat fünf oder zehn Computer den Großteil der Computernutzung eines Großteils der Menschheit.

    Je dominanter das Modell wird, in dem dumme Clients unter Kontrolle von Apple bzw. Google („Smartphones“) Dienste ausspielen, die auf einer kleinen Zahl von Infrastrukturen laufen („Cloud“), desto näher kommen wir wieder Watsons Einschätzung. Noch gibt es natürlich ordentliche Computer in allen möglichen Händen. Wie sehr sich die Menschen jedoch schon an das Konzept gewöhnt haben, dass sie nur Terminals, aber keine eigenen Computer mehr haben, mag eine Anekdote von meiner letzten Bahnreise illustrieren.

    Ich sitze im Zug von Würzburg nach Bamberg; er steht noch im Bahnhof. Ich kann mich nicht beherrschen und linse kurz auf den Bildschirm neben mir, und ich bin sehr erfreut, als dort jemand halbwegs ernsthafte Mathematik tippt, natürlich mit dem großartigen TeX. Meine Freude trübt sich etwas auf den zweiten Blick, denn der Mensch benutzt Overleaf, ein System, bei dem mensch in einem Webbrowser editiert und den TeX-Lauf auf einem Server macht, der dann die formatierten Seiten als Bilder wieder zurückschickt.

    Ich habe Overleaf, muss ich sagen, nie auch nur im Ansatz verstanden. Ich habe TeX schon auf meinem Atari ST laufen lassen, der ein Tausendstel des RAM der kleinsten heute verkauften Maschinen hatte, dessen Platte in einem ähnlichen Verhältnis zur Größe der kleinsten SD-Karte steht, die mensch heute im Drogeriemarkt kaufen kann. Gewiss, mit all den riesigen LaTeX-Paketen von heute wäre mein Atari ST überfordert, aber zwischen dem TeX von damals und dem TeX von heute ist kein Faktor 1000. LaTeX ist wirklich überall verfügbar, und es gibt gut gewartete und funktionierende Distributionen. Wer mit anderen gemeinsam schreiben will, kann auf eine gut geölte git-Infrastruktur zurückgreifen. Am wichtigsten: die Menschen vom Stamme vi können damit editieren, jene der emacs-Fraktion mit ihrem Lieblingseditor, niemand wird auf das hakelige Zeug von Overleaf gezwungen.

    Aber zurück zur Anekdote:

    Obwohl er also ganz einfach TeX auch auf seinem Rechner laufen lassen könnte, klickt mein Sitznachbar nur ein wenig hilflos herum, als wir den Bahnhof verlassen und mit dem WLAN auch das Hirn von Overleaf verschwindet. Er versucht dann, mit seinem Telefon die Nabelschnur zum Overleaf-Computer wiederherzustellen, aber (zum Unglück für Herrn Watson) ist die Mobilfunkversorgung der BRD marktförmig organisiert. Die Nabelschnur bleibt am flachen Land, wo zu wenig KundInnen Overleaf machen wollen, gerissen. Schließlich gibt er auf und packt seinen Nicht-Computer weg. Zu seinem Glück geht auf seinem Telefon immerhin noch mindestens ein Spiel ohne Internetverbindung…

    Dass die gegenwärtige Welt offenbar gegen die Vorhersagen von Thomas Watson konvergiert, dürfte kein Zufall sein. Watson war ein begnadeter Verkäufer, und er hat vom Markt geredet. Spätestens seit das WWW breite Schichten der Bevölkerung erreicht, wird auch das Internet mehr von begnadeten VerkäuferInnen und „dem Markt“ gestaltet als von BastlerInnen oder Nerds.

    Wenn ihr die Welt mit fünf Computern für eine Dystopie haltet und das Internet nicht „dem Markt“ überlassen wollt: Arg schwer ist das nicht, denn zumindest Unix und das Netz haben noch viel vom Erbe der WissenschaftlerInnen und BastlerInnen, die die beiden geschaffen haben. Siehe zum Beispiel die Tags Fediverse und DIY auf diesem Blog.

  • Ach, Fraport: Verdrängung von Armut

    Neulich war ich mal wieder am Frankfurter Flughafen[1], und als ich mich bei der Gelegenheit etwas umgesehen habe, ist mir das hier aufgefallen:

    Foto: Mülleimer mit: „Jede unberechtigte Entnahme wird als Diebstahl angezeit“

    Die Kreativität, Armut in der Gestalt von FlaschensammlerInnnen aus den Hallen vor den Business Lounges ausgerechnet über das Eigentumsrecht am Müll anderer Leute fernhalten zu wollen, verdient eine zweifellos einige, wenn auch entsetzte, Bewunderung.

    Allerdings stellt sich bei diesem haarsträubenden Rechtskonstrukt die interessante Frage: Kann eigentlich Fraport da klagen? Habe ich, wenn ich etwas in diesen Mülleimer werfe, es damit Fraport geschenkt? Und was ist, wenn ich, Pfand gehört daneben, mein Leergut einfach neben den Mülleimer stelle – bleibe ich dann nicht Eigentümer, um so mehr, als Fraport mich ja womöglich deshalb verfolgen könnte?

    Wie auch immer: Die Schurken von der Startbahn West haben es mit diesem Schild geschafft, nicht nur die Supermärkte mit ihrem verbissenen Feldzug gegen das Containern zu toppen – immerhin verfolgen die Supermärkte noch Leute, die Krempel nehmen, den sie selbst weggeworfen haben. Nein, Fraport wirkt hier als Sympathieträger für die Bahn, die zwar arme Menschen durchaus auch mal belästigt und dafür allerlei Hausordnungstricks aufruft; Aggression gegen FlaschensammlerInnen im Auftrag der Bahn ist mir aber noch nie aufgefallen.

    [1]Disclaimer: Das mag sich so anhören, als müsste ich jetzt Flugscham haben, aber das ist nicht so. Über Teilnahme-an-Fragwürdigen-Treffen-Scham können wir reden.
  • Vögel von unten betrachten

    Grüne Papageien sitzen herum, einer davon lüftet seine Flügel

    VertreterInnen von Heidelbergs Halsbandsittich-Population im Dezember 2018. Beachtet, wie die Unterseite der Schwingen deutlich stärker gemustert ist als die Oberseite.[1]

    Schon im Juli hat Forschung aktuell im Deutschlandfunk kurz ein Paper erwähnt, das mein Amateurinteresse an Zoologie geweckt hat: In den Wissenschaftsmeldungen vom 6.7. hieß es ungefähr 2 Minuten in das Segment rein, die oft wilden Muster auf den Unterseiten von Vogelflügeln könnten der Vermeidung von Kollisionen zwischen den fliegenden Tieren dienen.

    Die zugrundliegende Arbeit ist „Contrasting coloured ventral wings are a visual collision avoidance signal in birds“ von Kaidan Zheng und KollegInnen von der Sun Yat-sen-Uni in Guangzhou[2] und der Uni Konstanz, erschienen in den Proceedings B der Royal Society, Vol. 289, doi:10.1098/rspb.2022.0678. Forschungsziel dieser Leute war, Risikofaktoren für Kollisionen – also etwa große Schwärme, Bedarf an hektischen Manövern (sagen wir: Paviane überfallen Flamingos), eingeschränkte Manövierfähigkeiten (z.B. bei großen, schweren Vögeln) – mit auffällig gemusterteten Flügelunterseiten zu korrelieren.

    Mich hat das wahrscheinlich vor allem deshalb angesprochen, weil im Garten meines Instituts regelmäßig kleine Schwärme der oben abgebildeten Halsbandsittiche waghalsige Flugmanöver vollziehen, und dabei zwar viel Krach machen, aber erstaunlicherweise nie ineinander oder gar in die Äste der Bäume fliegen. Und ich bin jederzeit dafür, dass Wissenschaft sich solcher Alltagsrätsel annimmt.

    Die Studie hat auch meine Sympathie, weil sie ein Beispiel ist für Archive Science, also Wissenschaft, die auf der geschickten Nachnutzung bereits bestehender Daten basiert. Das macht fast immer weniger Dreck als neu erhobene Daten, spart besonders im Bereich der Biologie der Ethikkommission Arbeit, und, davon bin ich jedenfalls fest überzeugt, sie hat das Zeug dazu, unerwartete Zusammenhänge aufzudecken, die im üblichen Beantragen-Messen-Publizieren-Zyklus schwer zu finden sind.[3]

    Hunderttausend Blicke

    Wobei: Ganz ohne Leid ging auch diese Studie nicht ab. Die AutorInnen haben Bilder von 3500 Unterseiten von Vogelflügeln aus drei verschiedenen Archiven im Netz gezogen und dabei 1780 Spezies abgedeckt. Um den gesuchten Zusammenhang zu finden, mussten sie zunächst bestimmen, wie konstrastreich oder markant die jeweiligen Flügel eigentlich sind. Dazu haben sie vor allem 30 Studis der Sun Yat-Sen-Uni rekrutiert, die jeweils alle diese Bilder als „starker Kontrast“ oder „eher nicht“ klassifizierten. 3500 Bilder sind viel, wenn mensch sie beurteilen soll. Ich frage mich, wie sich wer nach so einer Sitzung fühlt.

    Um mal eine grobe Abschätzung einzuwerfen: Wenn die Leute schnell waren und alle 10 Sekunden so eine Klassifizierung hinbekamen, reden wir über 30 × 3500 × 10  s ≈ 106 Sekunden oder knapp zwei Wochen (nämlich: 1/30 Jahr) konzentrierter Bildbeurteilung, die in die Arbeit geflossen sind. Whoa.

    Daraus jedenfalls kommt der Score, mit dem das Paper vor allem arbeitet: Wie viele der KlassifiziererInnen haben den Flügel als kontrastreich klassifiziert? Der Score ist auch mal nicht-ganzzahlig, wie etwa beim Sperber in Abbildung 1, der auf 0.4 kommt; das passiert, wenn mehrere Bilder einer Spezies gemittelt werden.

    Für kontrolliert aufgenommene Bilder aus Museumssammlungen berechnet das Paper weiter als eine Art „objektiver“ Größe Standardabweichungen über die Grauwerte der Pixel der Schwingen. Zu dem Teil der Arbeit hätte ich einiges Rumgemäkel. Ganz vornedran gefällt mir nicht, dass dieses Maß kleinräumiges Rauschen, das plausiblerweise nicht gut als mittelreichweitiges Signal taugt (und das sie in ihren Anweisungen für ihre Studis auch wegfiltern wollten), genauso behandelt wie großräumige Strukturen. Mit etwas Glättung und Segmentierung wäre das sicher viel besser gegangen, und da sie eh schon opencv verwenden, hätten es dazu auch nicht schrecklich viel Aufwand gebraucht.

    Eigenartig finde ich auch, dass sie die Bilder in Grauwerte umgerechnet haben, während sie im Paper öfter über Farben reden. In der Tat muss mensch Vögel nur ansehen, um stark zu vermuten, dass sie (und ganz besonders die Vogelfrauen) sehr wohl Farben wahrnehmen. In der Tat sehen manche sogar UV und dürften in jedem Fall eher eine bessere Farbwahrnehmung haben als wir.

    Ich hätte also die „objektiven“ Kontrastscores doch zumindest mal separat nach Farbkanälen ausgewertet – das wäre nicht viel Arbeit gewesen und hätte das Hedging in der Artikelzusammenfassung überflüssig gemacht. Aber dann: es spielt für den Rest des Papers nur eine eher untergeordnete Rolle, weil sie diese Standardabweichungen eigentlich nur dazu verwenden, ihre „manuellen“ Scores zu validieren, indem nämlich (für mich offen gestanden etwas überraschend) die beiden Typen von Scores recht stark korrelieren.

    Zu diesen Scores kamen schließlich aus anderen Archiven – vor allem wohl dem trotz Javascript- und local storage-Zwang bezaubernden Birds of the World – Merkmale wie Masse, Schwarmgröße oder „Koloniebrüterei“ für 1780 Spezies, wobei letzteres einfach wahr oder falsch sein konnte.

    Monte Carlo Markov Chain

    Und jetzt mussten die AutorInnen nur noch sehen, welche dieser Merkmale mit ihren Kontrast-Scores korrelierten. Dazu fuhren sie recht schweres Geschütz auf, nämlich über MCMC-Verfahren geschätzte Verteilungen – erfreulicherweise unter Verwendung der Freien Software R und MCMCglmm. Ich kann nicht sagen, dass ich verstehen würde, warum sie da nicht schlichtere Tests machen. Vermutlich würde es helfen, wenn ich wüsste, was „the phylogenetic relatedness among species was included as a random effect in these models“ praktisch bedeutet und warum sie das überhaupt wollen.

    Aber solche Fragen sind es, wozu mensch FachwissenschaftlerInnen braucht, und ich bin, was dieses Fach angeht, kompletter Laie (erschwerend: ich habe noch nicht mal in meinem Fach wirklich was mit MCMC gemacht). So will ich gerne glauben, dass das methodisch schon in Ordnung geht.

    Vielleicht ist das aber auch wurst, denn die nach den Modellen richtig überzeugende Korrelation ist auch in Abbildung 3 des Papers mit einer großzügigen Portion Augenzusammenkneifen zu erkennen:

    In klaren Worten: Bei Vögeln, die in Kolonien brüten, geht die Strukturierung der Flügelunterseiten deutlich stärker mit der Masse des einzelnen Vogels nach oben als bei Vögeln, die das nicht tun. Wer etwa die Pelikane von Penguin Island vor Augen hat:

    Foto: Pelikane und andere Vögel stehen in loser Gruppe, zwei landen in ziemlicher Nähe

    oder, viel näher und mit kleineren Vögeln, die Insel der Möwen in der Wagbach-Niederung:

    Foto: Insel mit sitzenden und brütenden Möwen

    mag schon ein Bild entwickeln von einem gewissen evolutionären Druck auf, sagen wir, Pelikane, Mechanismen zu entwickeln, die es leichter machen, nicht ineinander zu fliegen.

    Aber ganz ehrlich: so richtig schlagend finde ich das Paper nicht. Ein wenig mehr Betrachtung, warum zum Beispiel die Vögel, die den blauen Punkte rechts unten in der oben reproduzierten Abbildung 3 entsprechen, offensichtlich auch ohne wohlmarkierte Flügel relativ kollisionsfrei gemeinsam brüten können, hätte mir schon geholfen, etwas mehr Vertrauen zu den Schlüssen zu fassen.

    Oder umgekehrt: Koloniebrüter haben plausiblerweise auch andere zusätzliche Kommunikationsbedürfnisse als andere Vögel, z.B. beim auskaspern, wer wo brüten darf (cf. Kopffüßer in Octopolis). Vielleicht kommt der Extra-Aufwand bei der Gestaltung der Schwingen ja auch daher? Und die Korrelation mit der Größe hat vielleicht mehr was mit Beschränkungen bei der Strukturbildung zu tun? Hm.

    Referees, gebt euch etwas mehr Mühe

    Beim Lesen des Textes habe ich mir übrigens an ein paar Stellen gedacht, dass die GutachterInnen des Papers schon noch ein paar gute Ratschläge mehr hätten geben können. So schreiben die AutorInnen allen Ernstes „Birds are well known for their ability to fly, besides a few flightless lineages such as ratites and penguins“ – das kann mensch in einem Kinderbuch machen oder in GPT-3-generierten Textoiden, die die Aufmerksamkeit von Google gewinnen sollen; in einem Fachartikel in einer biologischen Fachzeitschrift wirkt es jedenfalls für einen Physiker ziemlich verschroben.

    Hätte ich das begutachtet, hätte ich weiter angemerkt, dass, wer Rocket Science wie verallgemeinerte lineare Modelle mit MCMC aufruft, besser nicht den Schätzer für die Standardabweichung (Gleichung 2.1) breit ausstellen sollte – und dann noch als einzige Gleichung im ganzen Paper. Das ist ein wenig wie bei dem Monty-Python-Sketch zur Kilimandscharo-Expedition: Wir fahren über die Gneisenaustraße zur B37, wechseln am Heidelberger Kreuz auf die A5 und dann fahren dann weiter zum Kilimandscharo.

    Natürlich ist Begutachtung von Fachveröffentlichung ein brotloser Job (auch wenn ich vermute, dass es fast jedeR macht wie ich und dafür jedenfalls mal eine gute Ecke Arbeitszeit verwendet; dann ist es eine weitere öffentliche Subvention für die Verlage). Aber trotzdem, Referees: Ratet zu weniger Text! Nicht zuletzt gibt es ja bei vielen Blättern noch (und im Zusammenhang mit Open Access gerade) Page Charges – Leute müssen also dafür bezahlen, dass ihre Artikel gedruckt werden, und um so mehr, je länger der Artikel ist. Weniger Text schadet also den Verlags-Geiern und ist mithin ein Gewinn für alle anderen! Ref: „Academic publishers make Murdoch look like a socialist“.

    [1]Disclaimer: Auch, wenn das hier anders aussehen mag, füttere ich mitnichten Papageien oder andere Wildtiere. Aber ich kann nicht lügen: Ich bin jenen dankbar, die es tun, weil ich ohne sie weit weniger hübsche Tiere zu sehen bekäme.
    [2]Stetige LeserInnen dieses Blogs sind der Stadt am Perlfluss zum letzten Mal in SARS-1 und das Zimmer 911 begegnet.
    [3]Noch ein Disclaimer: Ich werde dafür bezahlt, Archive Science zu ermöglichen. Es könnte also sein, dass ich in diesem Zusammenhang nicht mein übliches Neutralitätslevel „Salomon“ erreiche.
  • Betonwüste Heidelberg

    Vier Fotos von Plätzen in Heidelberg mit viel Beton

    Wunderbar fotografiert vom Nabu: Baukunst in Heidelberg. Rechte beim Nabu Heidelberg.

    Anlässlich demnächst anstehender Wahlen zum/r Heidelberger OberbürgermeisterIn hat der lokale Nabu wunderschöne Flugblätter rumgeschickt. Auf dem einen erfährt mensch, dass Heidelberg nur 7 m² öffentliche Grünfläche pro Kopf hat, was selbst Pforzheim – zweifellos eine der hässlichsten Städte der weiteren Umgebung – locker überbietet (13 m²), während Karlsruhe satte 27 m² zu bieten hat. Wo ich gerade aus Karlsruhe zurückkomme: es macht wirklich schwer was aus. Zum Glück hat Heidelberg immerhin die nahen Berge mit ihren einladenden Wäldern.

    Noch besser hat mir das andere Flugblatt gefallen, dessen zentrale visuelle Botschaft diesen Post aufmacht: Die augenblickliche Stadtregierung hat wirklich viel dafür getan, dass der Grünanteil ja nicht wächst. Stattdessen hat sie jede Menge zugepflasterte Plätze produziert. Mehr noch: eine Fläche, die mit etwas gutem Willen als kleiner Park durchgegangen ist, den Montpellierplatz, hat sie für eine neue Tiefgarage weggebuddeln lassen.

    Ich hätte die Misere in dem Bereich nicht besser illustrieren können.

    Opus Caementitium oder Beton?

    Leider ist die Möglichkeit, bei dieser Wahl Informationen zu übertragen, also etwa weniger destruktive Politiken zu einzufordern, auch nach den ohnehin beschränkten Maßstäben dieses Polit-Genres extrem beschränkt. Die Wahl wird entschieden zwischen zwei KandidatInnen, die beide konsequente Beton-, Auto-, Wachstums-, Wettbewerbs- und Ausgrenzungspolitiken fahren werden.

    Da ist zum einen der auf einem breiten Rechtsticket an die Macht gekommene Amtsinhaber Eckhard Würzner, der für die abgebildeten Baukatastrophen verantwortlich ist und nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, den kleinen Pentapark am Neckar für eine Hotelerweiterung zu verhökern. Von absurden Ampeln mit Fahrradsymbolen drauf, die gerade dann grün werden, wenn die kreuzenden Autos auch grün haben, der Komplettasphaltierung der weiteren Umgebung des Bahnhofs oder dem rücksichtslosen Feilbieten der Aufmerksamkeit seiner Untertanen will ich gar nicht anfangen.

    Gegen ihn tritt an Theresia Bauer, die die letzten Jahre als Chefin des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst in Stuttgart von Wachstum und „Exzellenz“ geredet hat. Oh, ich will fair sein: Gegenüber ihrem CDU-Vorgänger Frankenberg hat sie immerhin dafür gesorgt, dass der im Ministerium ausgeschenkte Kaffee nun fair gehandelt war. Wirklich sprechend dagegen ist die Tatsache, dass unter ihr Baden-Württemberg eines der wenigen Bundesländer geworden ist (wenn ich den Überblick nicht verloren habe: das einzige), das noch formale Studiengebühren erhebt, wenn auch nur von Menschen, die nicht aus einem EU-Staat kommen.

    Drei für grüne Studiengebühren

    Das ist wirklich ihr Werk. Ihr diesbezüglicher Eifer ist auch nicht überraschend, denn sie ging schon in den 1990er Jahren, lang vor den Sachzwängen rot-grüner Machtausübung, mit allerlei Studiengebührenmodellen hausieren, gemeinsam mit Boris Palmer (der das damals von der Grünen Hochschulgruppe in Tübingen aus betrieb) und Matthias Berninger, der gerne statt Edelgard Bulmahn[1] Schröders Wissenschafts- und Bildungsminister geworden wäre. Daraus wurde zwar nichts, aber er fand über die Schröder-Jahre im Ministerium für Verbraucherschutz ein Auskommen, bis er nach der Abwahl von Rot-Grün 2005 direkt zu den Zuckerbäckern von Mars wechselte und mithin zu einem der Unternehmen, vor denen „Verbraucher“ am meisten hätten geschützt werden müssen.

    In der Liga intensiv riechender Seitenwechsel nach dem Schröder-Armageddon rangiert das sicher weit vor dem Wechsel von Außenminister Fischer zu BMW – zumal BMW, soweit ich weiß, derzeit nichts von dem Kriegsgerät herstellt, das Fischer einsetzen ließ –, und, soweit es mich betrifft, sogar noch vor der Gazprom-Connection von Schröder selbst.

    Ich kann mir angesichts dieser Freunde und Ideologeme der Kandidatin kaum vorstellen, dass der Nabu mit „Stadtgrün“ eine Empfehlung für den Wahlvorschlag von Bündnis 90/Die Grünen aussprechen wollte. Wenn er das doch gewollt haben sollten, wird es ein bitteres Erwachen geben.

    Nachtrag (2023-04-24)

    Und siehe da: Kaum ist Bauer aus dem Mittnachtbau (dem Sitz des Wissenschaftsministeriums in Stuttgart) ausgezogen, schon geht es mit den Studiengebühren für AusländerInnen zu Ende. Jetzt müssten wir nur noch an die albernen Zweitstudiengebühren ran…

    [1]Das ist die, derem Spätwerk wir die fürchterliche „Exzellenzinitiative“ zu verdanken haben. Ob das mit Berninger nicht ganz so schlimm ausgegangen wäre? Ich würde ja dagegen wetten.
  • Die BGE spielt Stadt-Land-Fluss

    Mein unergründlicher Stapel von heftoidem A4-Kram, den ich mal lesen sollte, hat heute Einblicke Nummer 10 hervorgespült, die ein Jahr alte Ausgabe des Magazins der Bundesgesellschaft für Endlagerung. Darin fand ich, nicht ganz so angeordnet, diese Illustrationen:

    Drei Dioramen, Stadt, Land und Wasser, jeweils mit darunterliegenden Atommülllagern.

    Rechte bei der BGE

    Mich hat diese Sorte Kunst sofort und direkt angesprochen. Schon die Darstellung des Atommülls: Da sieht mensch gleich, wie der Kram strahlt. Aber natürlich ist insbesondere die Komposition der Dioramen bemerkenswert. Es scheint, als hätte der_die Künstler_in sagen wollen: Stadt, Land, Fluss, ganz egal, wir buddeln überall unsere Höhlen und stellen ein paar Fässer Atommüll rein. Oben drüber merken es weder Banker noch Rinder noch Fische. Doch schon schlängeln sich lange Klüfte in unsere strahlenden Höhlen…

    Ich finde das anrührend und offen gestanden auch allzu verständlich angesichts des wahrscheinlich unlösbaren Problems der BGE. Ich gehe ziemlich hohe Wetten ein, dass sich nach dem Fiasko von Gorleben in der BRD kein Standort für ein Endlager für den hochradioaktiven Müll finden wird, an dem die Polizei Bau und Befüllung nicht paramilitärisch (also wie beim Zwischenlager in Gorleben) wird durchprügeln müssen; doch genau diese Gewaltorgien soll die BGE verhindern. Da dürfte der Gedanke, einfach überall heimlich ein paar Fässchen zu verbuddeln, wie eine schöne Utopie wirken.

    Bei diesem Thema möchte ich noch eben die erste Hälfte von Neal Stephensons Roman „Anathem“ empfehlen. Ich spoilere wahrscheinlich nicht zu viel, wenn ich verrate, dass darin eine ganz besondere und aus meiner Sicht auch realistische Lösung für das Problem der BGE vorschlagen wird. Nebenbei entwirft das Buch eine Welt, wie sie sein könnte, wenn seinerzeit pragmatische PythagoräerInnen das Rennen im römischen Reich gemacht hätten statt Stoiker, Mithras-Anhänger und schließlich ChristInnen.

    Aber spart euch die zweite Hälfte vom Buch. Soweit es mich betrifft, hätte die Handlung das Kloster nie verlassen sollen. Keine Apert für Anathem!

  • Rekursives 419: Ein brillianter Betrugsversuch

    Screenshot: Mail mit 'I am a banker'

    Ich glaube, jedeR hat irgendwelche dunklen Marotten, die normalen Menschen eigentlich peinlich sind. Ich zum Beispiel bin ein großer Fan der Nigeria-Connection, etwas korrekter Vorschussbetrug oder ähnlich inkorrekt (weil auch auf Nigeria bezogen) 419er-Mails genannt. Ich verfüge, ich gestehe es, ohne rot zu werden, über eine 12 Megabyte umfassende Sammlung handverlesener einschlägiger Mails aus den letzten 20 Jahren, die ich bei Interesse gerne für wissenschaftliche oder andere Untersuchungen zur Verfügung stelle.

    Heute kam nun eine besondere Perle: Ein 419er-Scam, der Opfern anderer 419er-Scams Hilfe anempfiehlt, natürlich gegen eine kleine Gebühr. Fantastisch. Wer könnte ein dankbareres Opfer für diese Sorte von Betrug sein als jemand, der/die schon mal auf sowas reingefallen ist? In meiner Begeisterung über die selbstbezügliche Genialität dieses Kozepts missachte ich eventuelle Urheberrechte und reproduziere hier die ganze Mail:

    Date: Tue, 18 Oct 2022 10:32:57 +0100
    From: William Christian <williamsgeorge00051@gmail.com>
    To: undisclosed-recipients:
    Subject: I HAVE GOOD NEWS FOR YOU

    Hi my friend,

    I must apologize for this spontaneous email to you. I am aware of this is certainly not a conservative way of approaching you, but you will understand the need for my action thought It’s true we don’t know each other, but “I” think you need to hear this truth to protect yourself from being defrauded.

    I am Williams Christian, from , I was one of the Victims in Africa by some individuals whom I contacted to help me get my Inheritance Funds, but they all took advantage of me and left me a Bankrupt, I have tried in different ways to get my payment but all to know avail, I lost my life savings to different FAKE groups that claimed to be working in Banks like CBN Bank, Zenith bank, UBA, First bank etc. and many others thinking they were helping me, but rather, they were busy defrauding my hard earned money, I am very sorry telling my past, but I think there are many innocent people out there too that need this message.

    Honestly I wouldn't want anybody to experience what I went through in the hands of those crooks scammers, I lost all my friends because I refused to listen to their advice, simply because I thought I was on the right part without knowing I was dealing with scammers,

    But the good news today is that God has finally remembered me, few weeks ago I received a mail from a unknown person, a man in the state of Arizona advising me to contact one senior and professional attorney Mr Femi Falana, He is a Nigerian international lawyer and human rights activist whose law firm is made up of UK/Nigerian qualified solicitor and renders commercial legal services in due diligence, corporate investigation and trade secrets, immigration, intellectual property etc.

    He actually helped me in Nigeria in other west African countries to claim my lost funds and if I have not gotten mine I wouldn’t have bothered to advice another person, although at the beginning ,I thought it was another trick to scam me, but two weeks I decided to give it a try by contacting the attorney using email address provided, and to my greatest surprise it happened to be 100% real and I got my lost funds.

    Of course, I promised myself never to share my testimony/news until I receive my fund and then be convinced enough before letting people know, and Today I am now writing with joy to advise us all to STOP feeding scammers out there and contact this attorney on the email below if you haven’t claimed your lost money yet,

    Although, you may be wondering how I got my funds without paying a cent, yes I paid little money to the attorney which is normal to secure a some documents including permit certificate in my name of which I have the copy on file, but my advice to you is to STOP dealing with those scammers and contact this senior attorney to claim all your lost funds, his email address ID and phone number are(sexkepy@gmail.com) (+2348145880372)

    I encourage you to contact him for your own money and he will help you get it because I am a living testimony.

    Yours Sincerely
    William Christian

    Gut: Stilistisch reicht es jetzt nicht ganz zum Literaturnobelpreis. Aber William Christian sollte, finde ich, zumindest den Münchhausen-Preis der Stadt Bordenwerder erhalten, denn der soll „Personen mit besonderer Begabung in Darstellungs- und Redekunst, Fantasie und Satire“ auszeichnen. All of the above.

  • Schrödingers Tiger

    Wieder mal bin ich erstaunt über die Relation von Corona- zu sonstiger Berichterstattung. Während die Deutschlandfunk-Nachrichten um 7:30 aufmachten mit 800 Austritten aus der Linkspartei, gab es kein Wort dazu, dass derzeit hier im Land recht wahrscheinlich mehr SARS-2-Viren umgehen als je zuvor.

    Das ist aus den robusten Schätzern (Lang lebe small data!) zu schließen, die das RKI in seinen Wochenberichten veröffentlicht – die Inzidenzzahlen aus der Vollerfassung reflektieren ja inzwischen eher reales Verhalten als reale Verhältnisse, weil kaum mehr jemand PCR-testet. Bessere Zahlen sind zu schätzen aus dem, was ganz normale Leute über das GrippeWeb des RKI (Danke an alle, die mitmachen!) zu Erkältungen und Co berichten und aus den Diagnosen bei ÄrztInnen, wie viele Leute derzeit mit Symptonen Covid haben:

    Screenshot-Zitat: COVID-ARE-Inzidenz zwischen 1300 und 3100/100000

    (Quelle). Sehen wir uns an, wie das zum Höhepunkt der Omikron-Welle im Frühling aussah; die höchste Schätzung war für Kalenderwoche 11 im Bericht vom 24.3.:

    Screenshot-Zitat: COVID-ARE-Inzidenz zwischen 2000 und 3300/100000

    Nun gebe ich euch, dass das Mittel der damaligen Schätzung noch eine Ecke über der von heute liegt und inzwischen die Fehlerbalken größer sind. Aber wirklich signifikant verschieden sind die geschätzten Inzidenzen nicht.

    Und das sind nur Leute mit Symptomen. Weil inzwischen viel mehr Menschen SARS-2 schon einmal überstanden haben als im März, ist anzunehmen, dass auch viel mehr Menschen asymptomatisch erkrankt (aber vielleicht noch infektiös) sein werden als in Kalenderwoche 11. Wenn sich die entsprechende Dunkelziffer auch nur um ein Drittel erhöht hat, laufen jetzt fast sicher mehr SARS-2-infektiöse Menschen herum als damals.

    Dass „Infektionsraten wieder zurück auf Märzniveau“ gar keine Nachricht ist, finde ich zumindest in der Schrödinger-Interpretation des derzeitigen Pandemie-Umgangs interessant. Im Pandemie-vorbei-Zustand – und Abschnitt 1.6.3 im aktuellen RKI-Wochenbericht scheint in anzuzeigen –, wäre die Nachricht nämlich im Effekt „alle haben Schnupfen“, was eingestandenermaßen eher auf dem Niveau von „Hund beißt Mann“ ist und vielleicht wirklich nicht in die DLF-Nachrichten gehört. Stellt sich allerdings heraus, dass die Pandemie nicht vorbei ist, ist das, was da in der Schrödinger-Kiste ist, keine Katze mehr, sondern ein Tiger.

    Ich selbst – der gerade das erste Rhinoviren-Elend der Saison durchläuft – neige mittlerweile deutlich zur Einschätzung, dass wir mit „ist vorbei“ durchkommen werden, ohne noch unser Normal-Moralniveau im Bereich öffentlicher Gesundheit verlassen zu müssen.

    Aber wie es so ist mit den Kisten vom Schrödinger-Typ: Beim Öffnen kann es Überraschungen geben. Und so fände ich es schon ganz korrekt, wenigstens ein Mal die Woche, also nach dem Wochenbericht, kurz durchzusagen, dass, wer sich einschlägig Sorgen macht, derzeit die Ohren auf Märzniveau anlegen sollte.

  • Schurken, Orden, und der Bau von U-Bahnen

    Viel behelmte Polizei auf einer städtischen Straße

    Mangels eines Freien Fotos zur Menschenrechtslage in Ägypten: So sah es auf der Route der Welcome to Hell-Demo beim G20-Gipfel im Juli 2017 aus, kurz nachdem die im Vergleich zu Ägypten ja noch relativ milde deutsche Staatsgewalt mit ihr fertig war.

    Auch wenn ich bekennender Freund der Le Monde Diplomatique bin, bin ich erst jetzt dazu gekommen, die Ausgabe vom April 2022 zu lesen und darin eine recht bemerkenswerte Anekdote zu finden. Sie geht, in den Worten des Artikels Pharaonische Obsession von Léa Polverini, so:

    Am 7. Dezember 2020 verlieh Präsident Emmanuel Macron [dem ägyptischen Diktator] Marschall al-Sisi – wenn auch diskret – das Große Kreuz der Ehrenlegion. Am 8. November 2021 konnte der französische Alstom-Konzern einen 876-Millionen-Euro-Auftrag für die Renovierung der Kairoer Metro melden, finanziert über die staatliche Entwicklungshilfe, also die Agence française de développement (AFD).

    Nun mag es sein, dass das alles Zufall ist und nicht Industriepolitik; es ist ja auch fast ein Jahr zwischen den Ereignissen vergangen. Wirklich plausibel ist das jedoch nicht, zumal es prima zu meinen Experimenten zur Auswahl von „Führungspersonal“ passt. Deren Ergebnis – die starke Anreicherung von gewissenlosen Schurken hierarchieaufwärts – müsste nach dieser Geschichte allerdings ergänzt werden zu „gewissenlose eitle Schurken“. Ich nehme als Hausaufgabe mit, ein Modell zu ersinnen, das auch auf Eitelkeit selektiert.

    Bei der vorliegenden Geschichte liegt die Gewissenlosigkeit und Schurkigkeit zunächst bei Macron. Ich will niemandes Gefühle verletzen, indem ich meine Präferenzen für die Aufnahme in die Ehrenlegion bei einer Wahl zwischen Putin und al-Sisi äußere, aber was Polizeiwillkür, Folter, Zensur, Militarisierung des Alltags, ungerechte Einkommensverteilung, rücksichtslose und wahnsinnige Großprojekte oder so in etwa jeden anderen Aspekt von Menschenrechten angeht, müssten sich die ÄgypterInnen mindestens ebenso dringend befreien wie die RussInnen. Wie sehr muss mensch jeder Sorte „Gesinnungsethik“[1] entsagt haben, um dem Organisator dieser Orgie von Unrecht Orden (und dann noch erster Stufe) an die Brust zu heften?

    Ungefähr ebenso erschreckend finde ich jedoch den Eitelkeitsaspekt, der hier vor allem von al-Sisi abgedeckt wird (nicht, dass der kein Schurke wäre). Kann es wirklich sein, dass so ein Stück Blech über zahlreiche Leichen gehende Menschen wie al-Sisi in ihren politischen Entscheidungen beeinflusst? Nur zur Einordnung, worum es hier geht, zitiere ich aus der Wikipedia zur physischen Erscheinung des besagten Großkreuzes:

    Ordensstern auf der linken Brust, dazu Ordensband getragen über rechter Schulter

    Dafür vergibt der Mann Milliardenaufträge, finanziert durch Kredite, deren Rückzahlung wieder ein paar hunderttausend ÄgypterInnen in Not und Armut stoßen werden?

    Aber gut: Wahrscheinlich hätten Blech und Tuch alleine doch nicht gereicht. Vielleicht könnte jemand in Frankreich mal die Details zur erwähnten „Finanzierung“ des Deals durch die französische Seite befreien. Wahrscheinlich fände ich beruhigend, was dabei herauskommt. Und wenn sich wer schon die Mühe macht: Einblicke in die Diplomatie rund um das ähnliche Düfte verströmende U-Bahn-Projekt in Belgrad (LMD 8/2022, „Eine Metro für Belgrad“; ist leider noch nicht offen online) wären bestimmt auch interessant.

    [1]Um mal den übelriechenden Gegensatz Max Webers zu „Verantwortungsethik“ (a.k.a. Schurkigkeit) aufzunehmen.
  • Religion vs. Wissenschaft: Null zu Eins gegen kleine Geschwister

    Detail aus einem gemalten Bild: Benedikt gestikuliert, Scholastika betet ihn an

    Geschwisterliebe – hier zwischen Benedikt und Scholastika von Nursia – in der Fantasie des Illustrators der Klosterkirche Elchingen (Dank an den Wikipedia-Fotografen).

    Am 22. September musste ich etwas früher als normal aufstehen, und so bekam ich die Morgenandacht im Deutschlandfunk mit. Thema war unter anderem die große Geschwisterliebe zwischen Benedikt von Nursia und seiner Schwester Scholastika von Nursia. Die Geschichte ist, wie wohl die meisten Heiligenlegenden, etwas Stulle. Gregor ruft die Pflicht, Scholastika will aber noch etwas Zeit mit ihrem Bruder verbringen, was im DLF-Andachtsduktus so klingt:

    Sie kann nicht genug bekommen. Sie hat noch so viel auf dem Herzen. Und so betet sie. Und kurz darauf tobt ein Unwetter los. Benedikt kann erstmal nicht ins Kloster zurückkehren. Zum Glück für Scholastika.

    Geschwisterliebe?

    Nun wäre viel zu diesem Stakkatostil zu sagen, doch kann ich, der ich am liebsten jeden zweiten Satz mit einem „und“ anfangen würde, da nicht hinreichend sicher mit Steinen werfen. Mich hat aber ohnehin eher die Einleitung zu dieser Passage gereizt:

    Papst Gregor der Große hat dieses Gespräch, das sich im Jahr 543 ereignet haben muss, aufgeschrieben. [Hervorhebung ich]

    Umm… Schon zu Benedikt selbst steht in der Wikipedia zur Zeit:

    Eine Minderheit von Forschern bezweifelt aufgrund der problematischen Quellenlage, dass Benedikt eine reale historische Persönlichkeit war. [...] Der Theologe Francis Clark legte 1987 eine zweibändige Untersuchung der Dialogi [der angeblich von Gregor dem Großen verfassten Hauptquelle zu Benedikt] vor, in der er die Hypothese vertritt, das Werk sei unecht. Der Verfasser sei nicht der 604 gestorbene Papst Gregor, sondern ein Fälscher, der im späten 7. Jahrhundert gelebt habe.

    Der Wikipedia-Artikel geht noch weiter auf die darauf folgende Kontroverse ein, die ich als Laie mit „mehr oder weniger offen im Hinblick auf die Existenz einer einzigen Person mit den wesentlichen Punkten von Benedikts Biografie“ zusammenfassen würde.

    Zu Scholastika nun finden sich außerhalb der frommen Legenden von Gregor oder einem Gregor-Fälscher überhaupt keine Spuren. Dass „Benedikt“ als (mutmaßlicher) Erfinder von Ora et Labora eine Schwester, gar Zwillingsschwester, haben soll, die irgendwas wie Gelehrsamkeit heißt: Also bitte! Das kann mensch 400 Jahre nach Gallilei und fast 200 Jahre nach Baur und seiner Schule gerne mit mildem Spott oder meinetwegen auch freundlicher Verspieltheit rezipieren – aber jedenfalls nicht als „ereignet haben muss“.

    Nichts als Stress

    Die fromme Legende von der innigen Geschwisterliebe hat mich jedoch immerhin daran erinnert, dass ich noch einer anderen Geschichte zur Geschwisterthematik aus dem Deutschlandfunk nachgehen wollte, und zwar einem Segment aus Forschung aktuell am 13. September.

    Hintergrund davon ist eine Arbeit von Verena Behringer vom Deutschen Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen und einigen KollegInnen, „Transition to siblinghood causes a substantial and long-lasting increase in urinary cortisol levels in wild bonobos“ (sagen wir: „Wilde Bonobos stresst es, kleine Geschwister zu kriegen“), die dieses Jahr in eLife erschienen ist, doi:10.7554/eLife.77227.

    Der Artikel hat mich schon deshalb interessiert, weil meine KollegInnen vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung, seit sie aus der niedersächsischen Provinz nach Göttingen gekommen sind, Nachbarn des DPZ sind und berichten, von dort seien öfter mal seltsame Geräusche zu hören. Insofern bin ich neugierig, was am DPZ so geforscht wird.

    Behringers Arbeit scheint allerdings kein Fall für die Ethikkommission zu sein, auch wenn da zweifelsohne eine draufgeguckt haben wird; dazu unten ein paar Worte. Als kleiner Bruder habe ich aber auch ein persönliches Interesse an den Ergebnissen, denn wir kleine Geschwister kommen in der Arbeit gar nicht gut weg. Grafisch dargestellt:

    Die Punkte in den Plots entsprechen Konzentrationen von Cortisol im Urin von jungen Bonobos. Cortisolspiegel gelten in vielen Spezies als Proxy dafür, wie gestresst ein Individuum gerade ist. Beachtet, dass die Ordinate logarithmisch aufgeteilt ist; auch wenn ein linearer Zusammenhang zwischen „gefühltem“ Stress und dem Spiegel ausgeschlossen werden kann, ist hier jedenfalls viel Dynamik im Graphen.

    Auf der Abszisse stehen die Jahre vor bzw. nach der Geburt des jeweils ersten kleinen Geschwisters. Der senkrechte Strich zwischen Null und Eins markiert fünf Monate nach der Geburt des Geschwisters. Schon ohne tiefergehende Analyse fällt auf, dass in diesen ersten fünf Monaten als Schwester oder Bruder die Bonobos nie entspannt waren und sich die Stresslevel (wenn mensch denn an den Cortisolproxy glaubt) durchweg stark am oberen Rand bewegen. Danach, immerhin, normalisiert sich die Situation erkennbar.

    Die Linien mit so einer Art Konfidenzintervallen drumrum sind Modellfits für den „typischen“ Verlauf des Cortisolspiegels, jeweils getrennt nach Jungen und Mädchen (die Bestimmung der Farbzuordnung ist dem/der LeserIn zur Übung anempfohlen). Der Schluss ist fast unausweichlich: kleine Geschwister sind Stress, jedenfalls für eine ganze Weile. TTS nennen das Behringer et al, Transition to Siblinghood.

    Alle zehn Tage ein paar Tropfen Urin

    Wer sich fragt, wie die Leute an die Urinproben gekommen sind: Nun, die Max-Planck-Gesellschaft betreibt im Kongo eine Einrichtung namens LuiKotale, die in der Openstreetmap als tourism:camp_site getaggt ist. Es lohnt sich, die Karte etwas rauszuzoomen, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was für eine einsame Angelegenheit das ist und wie klein das Risiko, dass sich wirklich mal TouristInnen dorthin verirren könnten. In der Umgebung des Camps leben einige Stämme von Bonobos, die sich an urinsammelnde und zuguckende Menschen gewöhnt haben, ansonsten aber offenbar ihrem üblichen Leben nachgehen können.

    Die DPZ-WissenschaftlerInnen haben zwischen Juli 2008 und August 2018 – ich bin allein schon wegen der zehn Jahre beeindruckt – Urin vom Bonobonachwuchs gesammelt, wenn er (der Urin, nicht der Nachwuchs) auf Blättern gelandet ist und nicht verkotet war. Aus diesen Proben konnten sie offenbar Konzentrationen verschiedener Hormone – darunter Cortisol – bestimmen. Ich verstehe zu wenig von den Laborprozeduren, um beurteilen zu können, wie groß die Fehlerbalken an den Punkten im Plot oben wohl sein sollten. Alleine die Überlegung, dass die Blätter nicht immer trocken gewesen sein werden, schlägt schon sehr große statistische Fehler vor. Andererseits würden selbst Fehler von 50% in der logarithmischen Darstellung nicht besonders auffallen und jedenfalls nichts an den grundsätzlichen Ergebnissen ändern.

    Am Schluss kamen über die zehn Jahre 319 nutzbare Urinproben von passenden Kindern zusammen. Die Leute haben also weniger als alle zehn Tage eine Probe gewinnen können. Ihre Methode mag ethisch weitgehend unbedenklich sein, sie braucht aber ganz klar viel Geduld und Glück.

    Etwas verblüffend finde ich, dass im Sample 20 Mädchen, aber nur 6 Jungen vorhanden sind. Ein solches Ungleichgewicht ist – ohne das jetzt wirklich durchgerechnet zu haben – fast sicher kein Zufall. Sind die Jungen vielleicht scheuer? Sie hängen jedenfalls signifikant mehr an ihren Müttern (Abb. 2 D im Artikel). Gibt es in den beobachteten Stämmen vielleicht einfach weniger von ihnen? Wenn die Studie das kommentiert, habe ich es überlesen.

    Versuch einer Ehrenrettung

    Die Arbeit verwendet einige Sorgfalt darauf, herauszukriegen, was genau diesen Stress auslöst. Zusammengefasst sind die zentralen Ansätze in der Abbildung 2 im Paper, die betrachtet, was sich postnatal sonst noch so alles ändern könnte im Verhältnis von Mutter und großem Geschwister. Die zugrundeliegenden Daten wurden durch stundenweise Beobachtung der jeweiligen Kinder gewonnen. Ja, diese Leute kennen ganz offenbar ihre Affen.

    Es zeigt sich, dass weder beim Säugen (oder entsprechenden Ersatzhandlungen) noch beim Kuscheln oder der gemeinsamen Nahrungsaufname über die Geburt hinweg viel passert, denn die Mütter entwöhnen größtenteils schon vorher. Beim Rumschleppen („Riding“) der älteren Kinder tut sich tatsächlich etwas, jedenfalls, wenn diese älteren Kinder selbst noch jung und männlich sind (Abb. 2 D und E im Paper). Dieser Alterseffekt ist aber in den Cortisoldaten nicht nachweisbar, so dass „weniger getragen werden“ als Grund des starken Stresssignals wohl ausfällt.

    Die AutorInnen spekulieren über weitere Gründe für das erhöhte Stressniveau, beispielsweise, dass die Geschwister mit dem Baby spielen wollen, aber nicht dürfen (yeah, right), oder dass sich die Mütter perinatal von der Gruppe absetzen und so auch die Geschwister isolierter sind. Stress könnten auch die üblichen Grobiane in den Stämmen machen, indem sie die älteren Kinder ärger quälen, während die Mutter anderweitig beschäftigt ist. Richtig überzeugend ist das alles nicht. Kleine Geschwister sind wohl einfach an und für sich stressig.

    Und es handelt sich klar um ein starkes Signal. Aus den Modell-Fits ergibt sich, dass sich bei der TTS die Cortisolniveaus verfünffachen. Demgegenüber kommen Menschen, wenn sie den Tieren im Labor Stress machen wollen, gerade mal auf eine Verdoppelung der Cortisolniveaus, bei Kämpfen zwischen Bonobo-Stämmen ist es kaum ein Faktor 1.5. Erst eine schlimme Lungenseuche, an der ziemlich viele Tiere starben – deutlich mehr als Menschen an SARS-2 – hat einen ähnlichen Effekt gehabt, so in etwa einen Faktor 10.

    Als Merksatz ließe sich also für die ersten fünf Monate des Große-Geschwister-Daseins feststellen: Kleine Geschwister sind ungefähr so schlimm wie Corona.

    Erstaunlicherweise gibt sich das alles nach den ersten fünf Monaten. Behringer et al machen den Scholastika-ErzählerInnen auch ein paar Friedensangebote.

    Alternatively, it has been suggested that early-life events of ‘tolerable stress’ [...] may serve to prime subjects to develop stress resistance later in life. Moreover, TTS may accelerate acquisition of motor, social, and cognitive skills [...] Having an older sibling may enhance the development and survival of the younger sibling that contributes to the inclusive fitness of both the older sibling and the mother.

    Würde ich die Dinge nur aus der …

  • Hilfe bei E-Bike und Schule

    Fast ebenso billig wie das Lamentieren über den Zustand der Bahn ist es, die religösen Praktiken anderer Menschen zu belächeln. Aber es ist mindestens ebenso schwierig, der Versuchung zu widerstehen.

    Das gilt ganz besonders im Dunstkreis katholischer Wallfahrten und Votivgaben. Aus der Sicht nach 1750 („Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“) sozialisierter Menschen wirken diese häufig eher wie böser Spott auf Religion als als ernstgemeinte Äußerung von, nun ja, Spiritualität. Sie werden aber dennoch eher letzteres sein.

    Zwei für mich recht spektakuläre Beispiele dafür sind mir gestern untergekommen, als ich vor einem Regenschauer in der Wallfahrtskirche Maria Trost bei Nesselwang im Allgäu Schutz suchte und – vielen Dank an die verantwortlichen Gottheiten oder Autoritäten – fand.

    Das erste Beispiel hatte jemand an die Kirchentür gemalt:

    In stilisierte Wolke auf Holz in Kinderschrift geschrieben: Liebe Muttergottes! laß mich in der Schule gut durchkommen.  Pfronten 15.4.72

    Allein, dass jemand sowas an eine Kirchentür schmiert, würde schon reichlich Material für eine Geschichte von Ludwig Thoma oder von René Goscinny liefern. Was mich jedoch völlig hingerissen hat, war die Rede vom „Durchkommen“. Es ging der bittstellenden Person nicht etwa ums „Mitkommen“, also das ordnungsgemäße Aufnehmen des Lehrstoffs. Es hätte ihr offenbar auch völlig gereicht, wenn Maria ihr jeweils hinreichende Möglichkeiten zum Abschreiben gegeben hätte oder peinliche Prüfungsrituale (aktueller Literaturtipp dazu: Der Vater eines Mörders von Alfred Andersch) rechtzeitig durch himmlische Intervention (ich sage mal: vorzeitige Pausenglocke oder, wenn gar nichts anders hilft, tanzende Englein) beendet.

    Katholizismus, wie ihn Max Weber nicht besser hätte karikieren können: da das im April 1972 geschrieben wurde, als die Aufklärung erst allmählich das Allgäu erreicht hat[1], mag das nicht weiter überraschen. Dennoch wäre ich neugierig, was die Person, die das Graffito verfasst hat, heute wohl treibt. Stimmt das Datum – und ich habe wenig Grund, daran zu zweifeln –, würde sie jetzt allmählich auf die Sechzig zugehen.

    Sendet sie immer noch möglicherweise nicht ganz zu Ende überlegte Wünsche an Maria? Eine Fürbitte aus dem September 2022, dieses Mal brav ins Gästebuch geschrieben, würde ich jedenfalls der Schrift nach noch eine Altersklasse weiter oben verorten:

    In etwas ungeübter Handschrift: „Erbitte Segen auf allen Wegen mit dem neuen E-Bike“

    Als Agnostiker mit einer sehr festen Überzeugung, dass Wunder nichts als Glückssache sind, habe ich bei der Kombination von solchen Fürbitten von mutmaßlich recht alten Menschen und steilen Schotterwegen kein sehr gutes Gefühl. Für den Fall, dass ich mit meinem Skeptizismus falsch liege: Maria hilf!

    [1]Das war immerhin noch sechzehn Jahre vor dem Memminger Prozess, der weithin als (vorerst) letzter Hexenprozess im deutschsprachigen Raum angesehen wird.
  • Nur ihr werdet wissen, ob wir es getan haben

    Foto einer Gletscherzunge zwischen Bergen

    So sah der Ochsentaler Gletscher im August 2017 ungefähr von da aus aus. Ich wäre neugierig, wie sich das inzwischen verändert hat.

    In Forschung aktuell vom 26. August gab es ein Segment über mögliche Zukünfte der Alpengletscher. Darin wird von einer Art Grabstein für den inzwischen (praktisch) weggeschmolzenen isländischen Gletscher Okjökull[1] berichtet, dessen an die Nachwelt gerichtete Inschrift ich wunderbar pathetisch fand und so treffend, dass ich ihn hier schon mal für meine ZeitgenossInnen wiedergeben will, die es wahrscheinlich nicht nach Island schaffen werden:

    Wir wissen, was passiert und was wir tun müssen. Nur ihr werdet wissen, ob wir es getan haben.

    Utopia.de hat auch ein Bild davon; und nachdem ich mal eine Suchmaschine nach dem Text gefragt habe, bin ich überrascht, dass die Geschichte, die offenbar so gegen 2018 ihren Anfang nahm, bisher an mir vorübergegangen ist.

    [1]Ich vermute, dass der mal hier war. Die Openstreetmap hat da nur noch „bare rock“ – auch von daher ist das also durchaus plausibel. Die Openstreetmap-Tiles kamen bei mir übrigens nur sehr langsam. Ich vermute fast, dass da so selten wer hinguckt, dass die Tiles gerade frisch für mich gerechnet wurden. Und: von dem Grabstein ist in der OSM keine Spur zu sehen. Kennt wer wen in Island, der/die das fixen könnte?
  • Dialektik der Ökonomie

    Ich bin bekennender Skeptiker bezüglich allem, was sich Wirtschaftswissenschaft nennt (wobei ich die Verdienste einiger ihrer VertreterInnen um die angewandte Mathematik nicht leugnen will). Und ich wundere mich, warum das nicht viel mehr Menschen sind, sind doch die Vorhersagen, die aus dieser Ecke kommen, eigentlich immer im Einzelnen falsch („Wachstumsprognose nach unten korrigiert“). Tatsächlich kommen aber schon die qualitativen Aussagen offensichtlich nicht annähernd hin.

    Zu den zentralen Glaubenssätzen jedenfalls marktradikaler Ökonomie gehört ja, dass niedrige Zinsen Wachstum und Inflation steigen lassen und hohe Zinsen die Inflation eindämmen, aber das Wachstum abwürgen. Dieser Glaube ist sogar in vielen Geschichtsbüchern reflektiert, wenn etwa die Hochzinspolitik der späten Carter- und frühen Reagan-Jahre für die Überwindung der „Stagflation“ verantwortlich gemacht wird; glücklicherweise ist die (gegenwärtige) Wikipedia da etwas realistischer und benennt, was die eigentlichen Gründe der Inflation in den 1970er Jahren waren (nämlich die Stärke der OPEC; dazu wären noch Bankenspiele und starke Gewerkschaften zu nennen).

    Der Glaube an die Kraft des Zinssatzes ist offenbar durch keinerlei Tatsachen zu erschüttern, nicht einmal die Folgen der Nullzinspolitik der letzten zehn Jahre. Außer im schattigen Bereich von Immobilien, Aktien, Derivaten, Großkunst und Kryptogeld fanden diese nämlich nicht statt. Es gab weder nennenswerte Inflation noch nennenswertes Wachstum (allen Gottheiten sei dank – Zukunft hätte das eh nicht).

    Um so unverständlicher ist, dass Klemens Kindermann aus der Deutschlandfunk-Wirtschaftsredaktion (nun: vorher Handelsblatt) vorhin die EZB schalt, weil sie die Zinsen so lange niedrig ließ und deshalb Schuld habe an den hohen Inflationsraten im Euro-Raum. Wörtlich:

    Fehler Nummer 2: Allerspätestens seit Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine hätte das Ruder herumgerissen werden müssen. In den USA hat das die Zentralbank erkannt und massiv gegengesteuert.

    Damit meint er: sie haben die Leitzinsen erhöht. Nun: wenn das so ist, was war die Wirkung? Sehen wir bei aller Reserviertheit gegenüber der Kennzahl Inflationsrate mal auf Zahlen meinethalben von irgendeinem Datensammler: Inflationsrate USA 8.5%, Inflationsrate BRD 8.5% (für Juli).

    Wer erklären kann, warum HandelsblättlerInnen und ihre Adpeten diese Zinsgeschichte so unbeirrt auspacken, wenn doch ganz offensichtlich ist, woher die Preisentwicklung kommt – derzeit: diverse Schwierigkeiten im Chinageschäft und ein Stellvertreterkrieg von fast vietnamösen Ausmaßen[1] –: Für mich wäre der oder die einE heißeR KandidatIn für den Wirtschafts-„Nobelpreis”.

    [1]Der Vietnamkrieg ist in diesem Zusammenhang vor allem deshalb zu erwähnen, weil seine Kosten wesentlich zur Aufgabe des an sich halbwegs vernünftigen Bretton-Woods-Systems geführt haben. Die daraus resultierenden „freien“ Wechselkurse wiederum haben der Freihandelspolitik und dem ganzen Elend, das mit ihr einherging, nochmal einigen Extraschwung gebracht. Nun sind die tatsächlichen Kriegskosten in der Ukraine im Vergleich zu Vietnam ziemlich klein – es sind ja nicht unsere Jungs, die „den Russen“ da bekämpfen, und auch in Tonnage von Bomben und Entlaubungsmittel ist das noch eine andere Liga –, aber es wird trotzdem spannend, ob der patriotische Rückenwind noch für ein paar komforable neue Umverteilungprogramme reichen wird…
  • Das ist keine Schlange

    In einem deutlich reptilienorientierten Blog wie diesem habe ich die unabweisbare Verpflichtung, ein paar Sekunden eines Mitschnitts einer Begegnung am letzten Samstag unterzubingen:

    Was das so anmutig züngelt und schlängelt, ist jedoch keine Schlange. Es ist eine Blindschleiche. Also eine Schleiche, womit ihre Beinlosigkeit eher ein Zufall ist.

    Ihr könntet jetzt einwenden, dass das mit Schleichen und Schlangen völlig wertloses Wissen ist. Das ist es aber nicht.

    Stellt euch vor, ihr begegnet so einer Blindschleiche auf der Straße, und sie ist nicht dazu zu bewegen, sich vor herankommenden Autos in Sicherheit zu bringen, vielleicht, weil sie noch nicht hinreichend warm geworden ist. Wäre sie eine Schlange, könntet ihr sie am Schwanz packen und wegtragen. Also gut: vielleicht gibt es bei manchen Schlangen weitere Erwägungen, die das immer noch als einen eher begrenzt cleveren Plan qualifizieren könnten, aber die sind hier nicht mein Thema.

    Schleichen jedenfalls solltet ihr so nicht anfassen, denn sie werden wie Eidechsen ihren Schwanz abwerfen, wenn sie den Eindruck haben, dass sie jemand daran wegtragen will. Das tun sie so gerne, dass Linné sogar ihren zoologischen Namen, Anguis fragilis, zerbrechlich, danach gewählt hat. Anders als Eidechsen lassen sie ihn zudem nicht nachwachsen. In den Worten der Wikipedia:

    In manchen Populationen hat mehr als die Hälfte der Erwachsenen keinen vollständigen Schwanz mehr.

    All das war mir neu. Danke, Wikipedia. Und sagt, was ihr wollt: Taxonomie ist alles andere als ein Orchideenfach.

  • Schon die Werbung für Fahrradhelme schadet

    Fahrradschilder, links „Auto zu Gast“, rechts „It is compulsore to wear a bike helmet”

    Was RadlerInnen helfen soll: links Niederlande, rechts Australien. Ihr müsst wohl nicht lange nachdenken, wo mehr Leute radfahren – und wo AutofahrerInnen weniger von ihnen zermanschen.

    Ich bin fest überzeugt, dass es Fahrradhelme ohne die Autolobby nicht gäbe; wichtigstes Indiz ist, dass der Anteil der HelmfahrerInnen stark korreliert ist mit der Rate zermanschter RadlerInnen pro geradeltem Kilometer. Das ist dann recht gut erklärbar, wenn Helmtragen und schlechte Bedingungen fürs Radfahren eine gemeinsame Ursache haben. Ein sehr naheliegender Kandidat für diese Ursache ist eine starke Autolobby (dort, wo es viele Helme gibt und also viel zermanscht wird).

    Vielleicht kommt das etwas konspirologisch daher, aber es dreht den hervorragend recherchierten DLF-Hintergrund vom 10. August nur ein klein wenig weiter. Dessen Thema ist, wie Leute die Niederlande in das Fahrradparadies verwandelt haben, das sie (jedenfalls im Vergleich zu sonst fast allem) sind. So macht er beispielsweise den Punkt, dass Menschen in den 1970er und 1980er Jahren kräftig für die richtige Verkehrspolitik gerungen haben („es brauchte fast Straßenkämpfe in Amsterdam […], um das System zu ändern“), übrigens gegen erheblich stärkeren Widerstand als wir ihn heute haben. Die Nachricht, dass sich die Dinge nicht von selbst ändern, dass sie sich aber ändern lassen, finde ich höchst wichtig.

    Im Hinblick auf die Helmfrage zitiert der Beitrag Meredith Glaser vom Urban Cycling Institute der Uni Amsterdam (Übersetzung DLF):

    Die Forschung zeigt: Wenn es Gesetze gibt, die das Tragen von Helmen vorschreiben, dann geht die Fahrradnutzung zurück. Das hat sich auch in Kopenhagen gezeigt. Dort hat die Regierung eine gewisse Zeit lang für das Tragen von Helmen geworben. Und in diesem Zeitraum wurde weniger Fahrrad gefahren.

    Vom Schaden der Helmpflicht wusste ich schon aus den Studien aus Australien (wo sie den Unfug, soweit ich weiß, immer noch nicht wieder aufgehoben haben); dass schon die Werbung schädlich ist, war mir neu. Um so naheliegender ist der Schluss der Sendung. Er kann aber nicht oft genug wiederholt werden, da ja nun die Autolobby ihre Sprüche auch unermüdlich daherbetet:

    Eine Helmpflicht würde auch dazu führen, dass weniger Radfahrer auf den Straßen unterwegs wären. Und das wiederum habe dann tatsächlich Einfluss auf die Sicherheit der Radlerinnen und Radler.

    Das ist der Grund für meine betretene Miene, wenn ich RadlerInnen mit Helmen sehe: Sie gefährden mein Leben.

    Für den Fall, dass hier Helm-Fans vorbeikommen, will ich noch kurz auf ein paar irrige Argumente eingehen:

    • „Na gut, dann hilft das Plastikding vielleicht nicht, wenn mensch vom Auto zermanscht wird, aber bei normalen Stürzen ist es doch super“ – nun, die Studienlage dazu ist, was Alltagsradeln angeht, allenfalls knapp über Globuli-Niveau. Das liegt daran, dass Alltagsradeln an sich eine recht sichere Angelegenheit ist. Wer nun in eine recht sichere Sache global eingreift, muss genau aufpassen, dass der Nutzen (d.h. leichtere Verletzungen bei der kleinen Klasse von Unfällen, bei denen der Helm wirkt) größer ist als die Summe der unerwünschten Nebenwirkungen (weniger vorsichtige Fahrweise, weniger Rücksicht durch Autofahrende, Fummeln am Helm zur falschen Zeit, erhöhte Umweltbelastung durch Produktion, Transport und Entsorgung der Helme, und natürlich: weniger Räder auf der Straße). Nur zur Sicherheit: Diese Abwägung mag bei tatsächlich gefährlichen Tätigkeiten („Sport“, hier: Rennradfahren; ggf. auch E-Bikes) anders ausgehen. Das normale Fahrrad aber zeichnet sich eben durch sein menschliches Maß aus.
    • „Och, das sind dieselben Abwehrgefechte wie bei der Gurtpflicht oder der Helmpflicht für Motorradfahrer“ – Nein, sind sie nicht. Erstens, weil die Epidemiologie bei diesen beiden Maßnahmen ganz klar war: Es braucht keine großen Studien, um zu zeigen, dass bei den im motorisierten Individualverkehr (MIV) herrschenden Gewalten Menschen viel größere Überlebenschancen haben, wenn sie ordentlich Rüstung anlegen. Aber auch wenn Fahrradhelme erwiesenermaßen günstige Gesundheitseffekte hätten, wäre die Situation immer noch eine ganz andere, denn während es ein willkommener Effekt wäre, weniger Autos und Motorräder auf der Straße zu haben, hätte eine Verdrängung vom Fahrrad auf den MIV dramatisch negative Effekte auf die allgemeine Gesundheit (Lärm, Dreck, Bewegungsmangel, unzugänglicher öffentlicher Raum). Angesichts dessen müssten die Effekte bei Fahrradhelmen schon gigantisch sein, um ihre Einführung oder auch nur Bewerbung zu etwas anderem als einer menschenfeindlichen Operation zu machen.
    • „Aber man kann doch Helm tragen und trotzdem was für besseren Fahrradverkehr tun.” – Klar. Wenn nicht Helme die Leute in die Autos treiben würden und die Leserbriefspalten bei jedem zermanschten Radler noch lauter „da, hätte er mal einen Helm getragen“ röhren würden, dann wäre es so oder so wurst. Aber so ist es nicht.
    • Dein Argument hier – das Feedback-Formular wartet auf dich.

    Bei der Gurtpflicht lohnt sich übrigens noch ein anderer Gedanke: Was wäre, wenn das autobedingte Blutvergießen damals nicht durch Aufrüstung (also Sicherung und stärkere Panzerung), sondern durch Abrüstung (also: global Tempo 30 für den MIV) angegangen worden wäre? Ich gehe hohe Wetten ein, dass das hunderttausende Leben gerettet hätte, ganz speziell welche ohne Lenkrad. Und wir hätten sehr wahrscheinlich viel weniger Autos auf den Straßen von heute. Wenn das international geklappt hätte, hätte es vielleicht sogar ein, zwei Zehntelgrad Klimaerwärmung ersparen können, zumal, wenn mensch einrechnet, dass es auf diese Weise wohl auch weniger Einfamilienhäuser gegeben hätte.

    Das führt zwanglos auf die Schlüsse der Hintergrund-Sendung, die sich nämlich genau mit Visionen für den öffentlichen Raum beschäftigen. Es heißt dort, eine weniger durchgeknallte Verkehrspolitik würde bewirken, „dass Straßen dann wieder als öffentlicher Raum wahrgenommen würden und nicht nur als Verkehrssystem.“

    Genau meine Rede.

  • Adenauer vs. Ägypten: Frühe Einsichten zur Arbeit

    Vielleicht passe ich gerade nur etwas besser auf, aber mir kommen derzeit besonders viele Fundstücke zum Thema Postwachstum und der Frage der Arbeit unter – die beiden sind ja, so behaupte ich, eng verbunden. Wenn wir nämlich wirklich in eine Gesellschaft übergehen, die den Menschen materielle Sicherheit bei einer minimalen Belastung von Natur und Mensch gewährleistet (und anders wird das wohl nichts mit der „Nachhaltigkeit“, vgl. Meadows ff von neulich), würden wir beim heutigen Stand der Produktivität locker mit zehn Stunden pro Woche Lohnarbeit auskommen – oder halt das, was in so einer Gesellschaft statt Lohnarbeit stattfinden würde.

    Ein Beispiel für das genaue Gegenteil dieser aus meiner Sicht positiven Utopie war im DLF-Kalenderblatt vom 6.8. zu hören. Es erinnerte an die Eröffnung des ersten deutschen Autobahn-Teilstücks durch den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Fans von Volker Kutscher wissen das gleich zeitlich einzuordnen: Es war 1932. Die zentrale Nachricht des DLF-Beitrags sollte wohl sein, dass der postfaschistische Mythos von den Nazi-Autobahnen Quatsch ist. Für mich – da mir die Rubrizierung der Autobahnen als Nazimist eigentlich immer gut gepasst hat – viel eindrücklicher war aber die entspannte Selbstverständlichkeit, mit der der Potsdamer Historiker Ernst Piper in der Sendung die Aussage illustriert, der Autobahnbau sei eine „Maßnahme zur Bekämpfung der damaligen Massenarbeitslosigkeit“ gewesen.

    Deswegen gab es zum Beispiel ja auch die Vorgabe – es galt auch für das kleine Stück, was Adenauer eingeweiht hat, das war dort genauso –, dass Maschinen nicht eingesetzt werden sollten. Es sollte alles, was irgend möglich war, mit Handarbeit erledigt werden, um möglichst viele Leute dort in Lohn und Brot zu bringen.

    Ich finde es schlicht empörend, dass wir wegen der verrückten Religion von „wer nichts arbeitet, soll auch nichts essen“ Leute völlig sinnlos schinden. Mal abgesehen davon, dass netto die Menschheit wahrscheinlich besser dran wäre, wenn es keine Autobahnen gäbe und so die ganze Arbeit besser nicht gemacht worden wäre: Hätte, sagen wir, ein Zehntel der Leute mit ordentlichen Maschinen gearbeitet und die anderen, die da geschunden wurden, derweil vielleicht ein wenig gegärtelt und sich ansonsten ausgeruht, hätte es die Autobahn und wahrscheinlich sogar mehr Essen oder sonstwas Schönes oder Nützliches gegeben.

    Die Schinderei hatte also auch dann überhaupt keinen Sinn, wenn die Autobahn als solche wertvoll gewesen wäre.

    Dass dieser ziemlich ins Sadistische spielene Irrsinn noch nach 90 Jahren nicht zu einem Aufschrei der Empörung angesichts von solchen Mengen mutwilliger Zufügung von Leid führt, sagt, soweit es mich betrifft, viel darüber aus, wie viel Aufklärung noch zu besorgen ist gegen die Marktreligion und ihre Anhängsel.

    Es mag etwas ironisch sein, dass ausgerechnet der Aberglaube im antiken Ägypten in diesem Punkt moderner, ehrlicher, aufgeklärter und nicht zuletzt pragmatischer wirkt. Gelernt habe ich das aber erst gestern, als ich im hessischen Landesmuseum in Darmstadt folgende Exponate sah:

    Jede Menge Tonfiguren in einer Glasvitrine

    Diese Tonfiguren sind Uschebtis. Zu deren Funktion erklärt die Wikipedia in Übereinstimmung mit den Angaben des Museums:

    Wurde der Verstorbene nun im Jenseits zum Beispiel dazu aufgerufen, die Felder zu besäen oder die Kanäle mit Wasser zu füllen, so sollte der Uschebti antworten: „Hier bin ich.“ (6. Kapitel des Totenbuches). Damit der Uschebti die dem Toten aufgetragene Arbeit, insbesondere Feldarbeit, verrichten konnte, wurden ihm in älterer Zeit kleine Modelle der Geräte mitgegeben, die der Uschebti in den Händen hielt. In späterer Zeit wurden die Geräte auf die Figuren gemalt.

    Ist das nicht großartig? Wie wenig ÄgypterInnen mit der modernen (und nein, Herr Weber, nicht nur protestantischen) Arbeitsmoral anfangen konnten, lässt sich an der Unmenge von Uschebtis ablesen, die wir noch nach 3000 Jahren finden. Die Museums-Leute haben erzählt, die Dinger seien im 19. Jahrhundert sehr populäre Mitbringsel von Ägypten-Urlauben gewesen, denn sie seien eigentlich überall zu finden gewesen.

    Klar, außerhalb ökonomischer Diskussionen sind sich auch heute alle einig, dass Lohnarbeit stinkt – vgl. die „Endlich Freitag“-Spots der ARD –, aber kaum zwei Ecken weiter kommt doch wieder die fast nie öffentlich in Frage gestellte Gegenunterstellung, ein Leben ohne Lohnarbeit müsse traurig und sinnlos sein (wäre das so, würde das, wie schon Bertrand Russell bemerkt hat, ein sehr schlechtes Licht auf unser Bildungssystem werfen). Zumindest diesen Unfug hat es schon im ägyptischen Totenbuch nicht mehr gegeben.

    Dass wir 4500 Jahre nach dessen ersten Anfängen wieder Mühe haben, diese Dinge klar zu kriegen, zeigt erneut, dass der Prozess der Zivilisation schwierig ist und es immer wieder Rückschläge gibt.

    Übrigens will ich natürlich mitnichten zurück zu ägyptischen Praktiken. Abgesehen davon, dass die Herstellung der Uschebtis zweifellos in die Klasse der wirtschaftlichen Aktivitäten fällt, deren Einstellung die Welt besser gemacht hätte: Die Sitte, die zunächst so sympathisch wirkt (solange mensch nicht ans Totenreich oder jedenfalls die Leidensfähigkeit von Tonfiguren glaubt), hat sich im Laufe der Jahrhunderte in Weisen entwickelt, die an moderne Freihandelszeiten erinnert. Nochmal die Wikipedia:

    Während es in der 18. Dynastie meist nur einzelne Exemplare waren, konnte die Anzahl in der Spätzeit weitaus höher sein. [...] Ab dem Ende der 18. Dynastie, vom Höhepunkt des Neuen Reiches bis zu den Ptolemäern, wurden sie durch Aufseherfiguren ergänzt [...] Der Aufseher hatte zu überwachen, dass der Uschebti die Arbeiten ordnungsgemäß durchführte. Er wurde dafür mit Stock und Peitsche ausgeführt.
  • Und nochmal Postwachstum: Von Friedrichstadt zu Isnogud

    Als ich vor gut einem Monat Friedrichstadt als Modell für eine gemütliche und hübsche Postwachstumsgesellschaft gelobt habe, habe ich auf eine wirklich augenfällige Besonderheit des Ortes nicht hingewiesen: Vor fast allen Häusern wachsen auf kleinstem Raum sorgfältig gepflegte Blumen, zumeist Rosen. Hier drei keineswegs untypische Beispiele:

    Montage aus drei spektakulären Szenen mit Blumen vor Haustüren

    Nun glaube ich nicht, dass der Mensch zum Wettbewerb geboren ist – dass es spätestens auf Schulhöfen so aussehen mag, lässt sich zwanglos als Herausforderung im Prozess der Zivilisation auffassen. Solange aber die soziale Praxis ist, wie sie ist, finde ich die Friedrichstädter Ableitung von Wettbewerbstrieb in eine dekorative und weitgehend unschädliche Richtung eine großartige Strategie zur, hust, Nachhaltigkeit (Übersetzung aus dem Blablaesischen: Das können sie auch noch 1000 Jahre so treiben, ohne dass es ihnen um die Ohren fliegt).

    Wenn die Menschen hingegen darum wettbewerben, wer das größere Auto hat oder, noch viel schlimmer, wessen Unternehmen mehr produziert, hat das ganz offensichtlich dramatische Konsequenzen; in einer Art individualpsychologischer Kapitalismusanalyse würde es sogar taugen, die ganze Wachstumskatastrophe zu erklären.

    Allerdings machen manche der Friedrichstädter Blumen durchaus den Eindruck, als hätten sie Dünger auf Mineralölbasis bekommen oder auch fiese Pestizide, so dass bei so einem Herumdoktorn an Symptomen des Wettbewerbswahnsinns jedenfalls Vorsicht nötig ist. Sobald die Leute nämlich in ihrer Wettbewerberei immer größere Flächen düngen oder begiften können, ist es schon wieder vorbei mit der, hust, Nachhaltigkeit. Ich denke, das ist meine Chance, das neueste der wunderbaren Worte, die wir der Nuklearlobby zu verdanken haben, in meinen aktiven Wortschatz aufzunehmen:

    Wir sollten Rosenzucht wie in Friedrichstadt als Streckbetrieb der Wettbewerbsgesellschaft denken.

    —Anselm Flügel (2022)

    Die Friedrichstadt-Thematik ist aber eigentlich nur Vorgeplänkel, denn wirklich verweisen wollte ich auf den Artikel „Bevölkerungswachstum – Wie viele werden wir noch?“ von David Adam im Spektrum der Wissenschaft 2/2022 (S. 26; Original in Nature 597 (2021), S. 462), der mir vorhin in die Hände gefallen ist.

    Diesen Artikel fand ich schon deshalb bemerkenswert, weil er recht klar benennt, dass ein Ende des Wachstums (in diesem Fall der Bevölkerung) wünschenswert und zudem auch fast unvemeidlich ist, sobald Frauen über ihre Fortpflanzung hinreichend frei entscheiden können und sich Religion oder Patriotismus oder Rassismus nicht zu stark verdichten. Vor allem aber wird dort eine große Herausforderung für fortschrittliche Menschen angekündigt:

    In 23 Ländern könnte sich die Bevölkerung laut dieser Vorhersage bis Ende des Jahrhunderts sogar halbiert haben, unter anderem in Japan, Thailand, Italien und Spanien.

    Ich bin überzeugt, dass sich die wenigsten MachthaberInnen mit so einer Entwicklung abfinden werden, so willkommen sie gerade in diesen dicht besiedelten Staaten (gut: Spanien und Thailand spielen mit um die 100 Ew/km² schon in einer harmloseren Liga als Japan oder Baden-Württemberg mit um die 300) auch sind. Menschen mit Vernunft und ohne Patriotismus werden dann sehr aufdringlich argumentieren müssen, dass Bevölkerungsdichten von 50 oder auch nur 10 Menschen auf dem Quadratkilometer das genaue Gegenteil vom Ende der Welt sind und jedenfalls für ein paar Halbierungszeiten überhaupt kein Anlass besteht, darüber nachzudenken, wie Frauen, die keine Lust haben auf Schwangerschaft und Kinderbetreuung, umgestimmt werden könnten.

    Wie würde ich argumentieren? Nun, zunächst mal in etwa so:

    Die kulturelle Blüte unter Hārūn ar-Raschīd (um mal eine recht beeindruckende Hochkultur zu nennen; siehe auch: Isnogud) fand in einer Welt mit höchstens 300 Millionen Menschen statt, also rund einem sechzehntel oder 2 − 4 der aktuellen Bevölkerung. Angesichts der damaligen Gelehrsamkeit dürfte als sicher gelten, dass mit so relativ wenigen Menschen immer noch eine interessante (technische) Ziviliation zu betreiben ist. Demnach haben wir mindestens vier Halbierungszeiten Zeit, ohne dass unsere Fähigkeit, in der Breite angenehm zu leben, aus demographischen Gründen in Frage steht.

    Wenn unsere modernen Gesellschaften von Natur aus um 1% im Jahr schrumpfen würden, wäre eine Halbierungszeit etwa 75 Jahre, und die vier Halbierungszeiten würden zu 300 Jahren, in denen wir uns wirklich in aller Ruhe überlegen könnten, wie wir unsere Reproduktion so organisieren, dass Frauen im Schnitt auch wirklich die 2.1 Kinder bekommen wollen, die es für eine stabile Bevölkerungszahl bräuchte (oder wie wir die Bevölkerungszahl anders stabilisiert kriegen; soweit es mich betrifft, ist ja auch die ganze Sterberei deutlich überbewertet).

    Allerdings ist das wahrscheinlich ohnehin alles müßig. Zu den bedrückendsten Papern der letzten 20 Jahre gehört für mich A comparison of The Limits to Growth with 30 years of reality von Graham Turner, erschienen in (leider Elsevier) Global Environmental Change 18 (2008), 397 (doi:10.1016/j.gloenvcha.2008.05.001; bei libgen). Darin findet sich folgende Abbildung:

    Vergleich verschiedener Modelle mit der Realität in einem Plot, ein Modell, das in den 2030er Jahren kippt, passt am besten

    Copyright 2008 Elsevier (Seufz! Das Mindeste wäre ja, dass die Rechte bei denen liegen, die die Forschung bezahlt haben, in diesem Fall also der CSIRO)

    Was ist da zu sehen? Die Kuven in grün und rot geben jeweils die Umweltverschmutzungs-Metrik der Modelle, die Dennis Meadows et al um die 1970 herum gerechnet haben und die zur Publikation der Grenzen des Wachstums geführt haben. Rot ist dabei das Modell, in dem es glaubhafte technische Bemühungen um Umweltschutz gibt, ansonsten aber weiter Wachstumskurs herrscht. Die grüne Kurve zeigt das Modell, in dem Leute allenfalls so tun als ob.

    Dass mit „Grünem Wachtum“ (in einem Wort: Elektroautos) die totale Umweltverschmutzung einen viel höheren Peak nimmt (wenn auch später), ist schon mal eine Einsicht, an die sich nicht mehr viele erinnern wollen; Meadows et al teilen jedenfalls meine Einschätzung, dass es keine technische Lösung für das Problem der Endlichkeit des Planeten gibt. Wer sowas dennoch versucht, sollte wissen, worum es geht: Die Umweltverschmutzung geht in den Modellen nach den Gipfeln zurück, weil die Umweltverschmutzenden (a.k.a. die Menschen) in großer Zahl (zu mehr als 2/3) verhungert, an Seuchen oder sonst irgendwie vor ihrer Zeit gestorben sind.

    So viel war schon vor Turners schlimmem Paper klar. Turners Beitrag war nun, reale Messgrößen auf Meadows' Metriken abzubilden – darüber ließe sich, wie immer bei Metriken, sehr trefflich streiten. Akzeptiert mensch diese Abbildung jedoch, ist die reale Entwicklung durch die schwarzen Punkte knapp unter der grünen Kurve repräsentiert. Das würde heißen: für die 30 Jahre zwischen 1970 und 2000 kommt eines von Meadows Modellen ziemlich genau hin: Das Modell, das in den 2030er Jahren kippt.

    Und nochmal: „Kippen“ ist hier ein terminus technicus dafür, dass etwas wie zwei von drei Menschen innerhalb von grob einem Jahrzehnt sterben.

    Wenn sich Meadows und Turner nicht ordentlich verrechnet haben – und ja, ich hätte an beiden Arbeiten reichlich zu meckern, nur wohl leider nicht genug, um die grundsätzlichen Ergebnisse ernsthaft zu bestreiten –, wird in gut zehn Jahren die Frage eines düsteren 80er Jahre-Graffitos in einer Erlanger Unterführung brandaktuell:

    Who will survive? And what will be left of them?

    Ungefähr hier

  • Strafgericht ist für die anderen

    Als vor ein paar Wochen der der Olivindex tief im braunen Bereich war, war allenthalben der Wunsch zu hören, Wladimir Putin möge sich möglichst schnell vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten. Daraus wird wohl schon deshalb nichts, weil Russland das Gericht nicht anerkennt.

    Das aber fanden die RuferInnen nach Gerechtigkeit damals in der Regel ebenso wenig erwähnenswert wie die Tatsache, dass auch die USA die Jurisdiktion des Haager Gerichtshofs ebensowenig anerkennen wie unsere Regierung beispielsweise das Verbot von Atombomben. „It wouldn't do to mention,“ sagt mensch da im englischen Sprachraum, zumal es bei der US-Abstinenz genau um Straffreiheit bei Handlungen in Angriffskriegen („Kriegsverbrechen“ halte ich ja für einen Pleonasmus) geht.

    Wer aber glaubt, die EU verhalte sich nennenswert anders, täuscht sich. Gerade jetzt gibt es dazu höchst aufschlussreiches Anschauungsmaterial. Die EU rüstet nämlich den Apparat im Senegal nicht nur mit fieser Biometrie auf, sie will dort mit Frontex auch selbst aktiv werden. Die Bedingungen dazu werden gerade verhandelt. Zum Glück ist der EU-Apparat voll undichter Stellen, und so konnte Statewatch jüngst die Verhandlungsposition der Kommission befreien.

    Und darin wird blank gezogen:

    [Frontex-Leute] sollten berechtigt sein, alle Aufgaben der Grenzkontrolle zu erfüllen und die dazu nötige Exekutivgewalt ausüben [...]; sie sollten berechtigt sein, Dienstwaffen, Munition und Ausrüstung mitzuführen und diese gemäß der Gesetze der Republik Senegal zu nutzen.

    (Übersetzung von mir; die offizielle EU-Übersetzung ist nicht befreit).

    Mit anderen Worten: Die EU wird den Senegal zur Übergabe seiner staatlichen Gewalt zwingen. Wer sich fragt, was passiert, wenn sich der Senegal nicht darauf einlässt, mag sich die Geschichte der jüngsten Erpressung von Kenia durch die EU ansehen, als sich das Land gegen EU-Dumpingimporte (von der EU euphemistisch als „European Partnership Agreement“ bezeichnet) wehren wollte.

    Und wer meint, der Senegal dürfte vielleicht nicht die Exekutive, aber doch die Legislative behalten, wird im nächsten Absatz eines Besseren belehrt:

    Insbesondere sollten [die Frontex-Leute] unter allen Umständen volle Immunität gegenüber der Strafjustiz der Republik Senegal genießen. Sie sollten ebenfalls zivilrechtliche Immunität für Handlungen genießen, die sie in Wahrnehmung ihrer offiziellen Funktionen vornehmen.

    Sind wir mal besser froh, dass niemand irgendwem im Senegal Panzerhaubitzen liefert. Slava Senegal!

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