• Warum CRISPR im Elfenbeinturm bleiben sollte: Entholzte Pappeln

    Zur Frage technischer Lösungen sozialer Probleme – sagen wir: Klimawandel –, die mich neulich bewegt hat, ist mir gestern noch eine bemerkenswerte Ergänzung untergekommen, und zwar in den Deutschlandfunk-Wissenschaftsmeldungen vom 14.7. Darin hieß es:

    Mit Hilfe der Gen-Schere CRISPR sollen Bäume nachhaltiger werden.

    Ein Forschungsteam der North Carolina State University hat Gen-Scheren eingesetzt, um einen Baum mit möglichst idealen [!] Holzeigenschaften [!] zu entwickeln [!].

    Die Holzfasern der genomeditierten Pappeln sollen sich besonders gut für die Verarbeitung eignen, zum Beispiel in der Papierindustrie oder sogar für Windeln. Dabei entsteht möglichst ebenmäßiges Material mit einem geringen Anteil an Lignin, einem besonders harten holzigen Bestandteil von Bäumen. Laut der Publikation im Fachmagazin Science könnten durch den Einsatz der genmodifizierten Holzfasern die Emissionen in der Holzverarbeitung deutlich gesenkt werden.

    Ich finde, diese Meldung illustriert ganz gut, warum Hoffnungen auf „Innovationen“ zur Erreichung von mehr „Nachhaltigkeit“ so lange Illusionen sind, wie wir nicht von der Marktwirtschafts- und Wachstumslogik loskommen: Die „Nachhaltigkeit“ von der die Redaktion hier redet, besteht nur in einer weiteren Intensivierung unserer Dienstbarmachung der Natur, mithin also in weiteren Schritten auf dem Weg ins Blutbad (ich übertreibe vermutlich nicht).

    Und dabei habe ich noch nicht die Geschacksfrage erwogen, wie freundlich es eigentlich ist, irgendwelche Organismen so herzurichten, dass sie besser zu unseren industriellen Prozessen passen, Organismen zumal, die uns über Jahrhunderte unsere Wege beschattet und Tempolimits erzwungen haben:

    Eine Pappelallee mit breiter Auto- und akzeptabler Fahrradspur, im Vordergrund ein dickes Schild mit Geschwindigkeitsbegrenzung 70.

    Die Pappelallee auf dem Damm, der die Bodenseeinsel Reichenau mit dem Festland verbindet, im Juli 2019 bereits mit einem akzeptablen Fahrradweg.

    Statt also einfach viel weniger Papier zu produzieren und nachzudenken, wie wir von der ganzen unerfreulichen Einwegwindelei runterkommen, ohne dass das in zu viel Arbeit ausartet, machen wir lieber weiter wie bisher. Was kann schon schiefgehen, wenn wir riesige Plantagen ligninarmer Gummipappeln im Land verteilen, damit wir weiter Papier verschwenden und unsere Babys in Plastik verpacken können? Ich erwähne kurz: Bäume machen das Lignin (wörtlich übersetzt ja in etwa „Holzstoff“) ja nicht aus Spaß, sondern weil sie Struktur brauchen, um in die Höhe zu kommen.

    Die Schote liefert auch ein gutes Argument gegen die Normalisierung von CRISPR-modifizierten Organismen in der Agrarindustrie, die in diesen Kreisen immer weniger verschämt gefordert wird. Es mag ja gerne sein, dass ein ganzer Satz Risiken wegfällt, wenn mensch nicht mehr wie bei der „alten“ Gentechnik dringend Antibiotika-Resistenzgene zur zielgerichteten DNA-Manipulation braucht. Das fundamentale Problem aber bleibt: CRISPR gibt Bayer und Co längere Hebel, und die setzen die natürlich nicht ein, um die Welternährung zu retten – das ist ohnehin Quatsch, weil diese eine Frage von Verteilung, „Biosprit“ und vielleicht noch unserem Fleischkonsum ist und Technologie in allen diesen Punkten überhaupt nicht hilft. Sowieso nicht werden sie Pflanzen herstellen, die die BäuerInnen im globalen Süden besser durch Trockenzeiten bringen werden, Pflanzen gar, die diese selbst nachziehen und weiterentwickeln können („aber… aber… denkt doch an das geistige Eigentum!“).

    Nein. Sie werden den langen Hebel nutzen für Quatsch wie Pappeln, schneller einfacher zu gewinnendes Papier liefern – und das ist noch ein guter Fall im Vergleich zu Round up-Ready-Pflanzen (die höhere Glyphosat-Dosen aushalten) oder Arctic Apples (deren einziger Zweck zu sein scheint, dass Supermärkte ein paar mehr arme Schweine zum Apfelschnippeln hernehmen können, um nachher lecker-weiß leuchtende Apfelschnitzen teurer verkaufen zu können).

    Wie der industrielle Einsatz von CRISPR zu beurteilen wäre, wenn die dadurch verfolgten Zwecke ökologisch oder wenigstens sozial akzeptabel wären, kann dabei dahingestellt bleiben. Solange die Technologieentwicklung im Allgemeinen durch Erwägungen von „Märkten“ getrieben wird, ist es für uns alle besser, wenn allzu mächtige Technologien scharf reguliert sind. Und das gilt schon drei mal für Kram mit einem so langen Hebel wie CRISPR.

    Schließlich: Wenn ihr in die Meldungen reinhört, lasst sie doch noch laufen bis zu diesem genderpolitischen Offenbarungseid:

    Laut der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA ist fast die Hälfte aller Schwangerschaften in den USA ungewollt.

    Das passiert, wenn du ChristInnen deine Lehrpläne gestalten lässt – und es ist weiterer Hinweis darauf, dass reproduktive Selbstbestimmung ein zentraler Baustein einer menschenwürdigen Gegenwart und Zukunft ist.

  • Technoseum: Innovationen für den Umweltschutz von 1910

    Verschiedene kleine Geräte mit Walzen und Kurbeln in einer Vitrine arrangiert.

    Ratet, was das ist. Dann lest weiter.

    Erfreulicherweise verschafft mir mein Museumspass auch im Landesmuseum für Arbeit und Technik in Mannheim – Verzeihung, „Technoseum”, inzwischen – freien Eintritt.

    Da. Ich habe gleich damit aufgemacht: ich konnte das leicht bräsige „Arbeit und Technik“ gut leiden, schon, weil es den historischen Kompromiss der späten 1970er Jahre atmet. Ich stelle mir immer vor, dass Alt-Ministerpräsident Späth damals eine Art Propagandaabteilung für seine Daimler-Bosch-Spätzlesconnection bauen wollte, im seinerzeit noch viel gewerkschaftsgeprägteren Mannheim dabei aber viele Zugeständnisse machen musste. Wie viel Realität auch immer in dieser Fantasie stecken mag: mensch kann noch heute die Internationale hören im Museum, bekommt Einblick in die Elendsviertel der Gründerzeit und findet zwischen all den Wunderwerken dann und wann auch Einsprengsel von Technikfolgenabschätzung.

    Vor diesem Hintergrund war ich bei meinem Museumspass-Besuch neulich hocherfreut, dass ein paar der bunten „Zeitreise“-Klötze weiter an die Gründerjahre des Landesmuseums erinnern. Auf ihnen leitet immer noch ein Botschafter der späten achtziger Jahre in herzigen Videos in noch fernere Zeiten:

    Vier Klötze in kräftigen Farben, Sitzklötze in Blau, ein Monitorklotz in rot.  Auf dem Monitor eine Anzeige „Zeitreisen/Bitte nähertreten“.

    Museumspädagogik der späten 1980er: Ich oute mich hier als Fan.

    Ihr habt geraten, was am Anfang des Texts zu sehen ist?

    Aber eigentlich will ich ja verraten, was die Dinger im Foto oben sind. Nämlich: Das sind verschiedene Maschinen, die erlaubten, Wechselklingen für Nassrasierer zu schärfen und so deren Lebensdauer zu vervielfachen. Das war erkennbar ein nenenswerter Markt, so zwischen 1900 und 1920.

    Ich fand das bemerkenswert, weil zwar Rasierausrüstung aktuell vermutlich bei fast niemandem nennenswert ökologischen Fußabdruck ausmacht, das aber nur daran liegt, dass wir ansonsten so viel Dreck machen. All die Sprays, Geräte, Wässerchen und Einweg-Klingenhalter, die die breite Mehrheit der Menschen beiderlei Geschlechts mittlerweile auf die Entfernung von Haaren verwendet, dürfte schon einige zehn Kilo CO₂-Äquivalent im Jahr ausmachen[1] – pro Nase. Das wäre vermutlich schon im Prozentbereich des gesamten Fußabdrucks eines Menschen von 1910 gewesen, wenn es sich nicht gerade um Fürstinnen oder Soldaten handelte.

    So gesehen betrachtet ihr oben eine der berühmten technischen Lösungen, die uns bei der Bewältungung der Klimakrise helfen sollen, nur, dass die Rede von der Innovation bei Kram aus dem Kaiserreich wirklich nicht mehr passt [Pflichtmitteilung: Ich bleibe überzeugt, dass es für die Klimakrise keine technische Lösung gibt; sie ist ein fundamental wirtschaftliches, also soziales Problem und braucht daher auch soziale Lösungen; im vorliegenden Fall schlage ich Großentspannung in Sachen Körperbehaarung vor.]

    Ich hoffe, mit diesen Blech- und Messingwundern aus der ausgehenden Gaslichtzeit alle Steampunk-Fans des Internets hierher gelockt zu haben. Herzlich willkommen, und wo ihr schon da seid, habe ich ein weiteres Schmankerl aus dem Landesmuseum für euch:

    Ein in Kiloampere geeichter Strommesser und ein Voltmeter, rund, auf Marmorgrund, darüber en Blechschind in Sans-Serif: Turbodynamo II.

    „Turbodynamo II“ klingt wie albernes Technobabble aus Star Trek, ist aber echt. Wenn ich das Arrangement richtig interpretiere, gehörte das gute Stück zum Kleinkraftwerk, das die Waggonfabrik Fuchs – in einem Produkt der Firma könnt ihr im Technoseum Dampfzug fahren – Ende des 19. Jahrhunderts in Heidelberg hat errichten lassen. Die dazugehörige Dampfmaschine wird im Landesmuseum normalerweise ein paar Mal am Tag in Aktion vorgeführt, wenn auch mit anderswo erzeugtem Dampf, so dass niemand Kohle schaufeln muss. Dennoch: Steampunks, kommt nach Mannheim.

    Ein letztes Exponat habe ich noch zu bieten, und zwar eins aus der aktuellen Sonderausstellung zur Geschichte des Rundfunks:

    Auf eine Holzplatte montierte elektrische Bauteile, vor diesen ein großer Drehregler.

    Das ist ein frühes Radio (ein Audion), das eine unbekannte Person im Deutschland der 1920er Jahre gebaut hat.

    Aus diesem Exponat habe ich Hoffnung geschöpft, denn es stellt sich heraus, dass in dieser Zeit der Selbstbau von Radios bei Strafe verboten war; der Grund war wahrscheinlich ein wenig, dass die Erhebung der Rundfunkgebühr durch die Kontrolle des Gerätehandels erleichtert werden sollte.

    Doch versichert die Ausstellung, die Regierung habe sich vielmehr um ausländische Spione besorgt, die durch Radiobasteln leichter mit ihren Auftraggebern hätten kommunizieren können. Die Sorge war auch ganz sicher berechtigt. Der Irrsinn aber, dass eine Obrigkeit aus Angst um ihre Herrschaft ihren Untertanen das Basteln verbietet, der hatte hier keinen Bestand, zumal größere Teile der Bevölkerung eben doch Radios bastelten.

    Der derzeit als Einbahnstraße erscheinende Weg zu immer mehr „Sicherheitsgesetzen“ ist nicht unumkehrbar, schon gar nicht, wenn hinreichend viele Menschen die unerfreulichen Vorstellungen der Obrigkeit von „Sicherheit“ nicht teilen.

    An der Stelle muss ich meine Prinzipien der Trennung von Arbeit und Blog verletzen und eine Anekdote aus den späten neunziger Jahren erzählen. Ich habe damals am ADS gearbeitet, einer großen Datenbank mit fast allem, was in der Astronomie jemals wissenschaftlich publiziert wurde. Weil damals die Leitungen über den Atlantik insgesamt in etwa die Kapazität eines heutigen Haushaltsanschlusses hatten, unterhielten wir Spiegel in etlichen Ländern, darunter auch in Frankreich.

    Die französische Regierung jedoch – ich kratze die Kurve zurück zum Thema – hatte damals ihrer Bevölkerung nennenswerte Kryptographie verboten (kein Witz!), und so durfte das Institut, das den Spiegel betrieb, auch keinen sshd laufen lassen (ich erfinde das nicht). Und deshalb hatten wir für den französischen Spiegel extra irgendeinen haarsträubenden Hack, um trotzdem irgendwie rsyncen zu können. Auch dieser Unsinn ist ein paar Jahre später – längst hatte natürlich praktisch jedeR Netzwerkende in Frankreich ssh, und überall unterstützten auch Browser in Frankreich https – stillschweigend zu Grabe getragen worden.

    Erstaunlicherweise hat das Staatswesen die nicht mehr durch Kryptoverbote gehemmten Umtriebe der Spione seitdem überlebt – und wenn die Freie Kryptographie der Gesellschaft überhaupt einen Schaden zugefügt hat, war der jedenfalls ungleich kleiner als, ich sag mal, die Verheerungen durch Sarkozy, Hollande oder gar Macron.

    Ihr seht: Obrigkeitlicher Zugriff auf die Technologiewahl ihrer Untertanen ist kein Privileg von Kaisern oder mit Freikorps paktierenden Reichspräsidenten. Das machen auch ganz regulär unsere – <hust> demokratisch legitimierten – Regierungen. Aber Menschen, die in Zeiten von Chatkontrolle und Hackertoolparagraphen leben, erzähle ich damit wohl nichts Neues.

    [1]In dem hier schon öfter zitierten Standardwerk „How Bad Are Bananas“ schätzt Mike Berners-Lee (inflationsbereinigt) 500 g CO₂-Äquivalent pro für Supermarkt-Essen oder ein Auto ausgegebenem Dollar – übrigens gegenüber 6 kg, wenn ihr für den Dollar US-amerikanisches Benzin zu 2010er Preisen gekauft habt. Ganz grob dürftet ihr also auch für einen für plausible Konsumgüter ausgegeben Euro innerhalb eines Faktors drei ein halbes Kilo CO₂ rechnen müssen. Wer dann 100 Euro fürs Enthaaren (ist das realistisch? Ich mach dabei ja nicht mit…) ausgibt, darf dafür zwischen dreißig Kilo und dreihundert Kilo CO₂e veranschlagen (um in die Nähe der höheren Schätzung zu kommen, müsstet ihr jedoch ganz schön viele Schaumdosen mit interessanten Treibmitteln kaufen).
  • Fixing “libqca-ossl is missing”

    In all honesty, I don't expect many people who might profit from this post will ever see the message below. But since common web searches don't yield anything for it (yet), I figure I should at least document it can happen. I also want to praise kwallet's author(s) because whatever went wrong yielded what turned out to be a rather useful error message rather than a spectacular crash:

    createDLGroup failed: maybe libqca-ossl is missing
    

    Here's what lead up to it: in Debian bookworm, my old Mastodon client tootle started crashing when viewing images. Its development has moved to a new client called Tuba, and even though that is not packaged yet I figured I might as well move on now rather than fiddle with tootle. Tuba, however, needs a password manager more sophisticated than the PGP-encrypted text file I use otherwise. So I bit the bullet and installed kwalletmanager; among the various password managers, it seemed to have the most reasonable dependencies.

    With that, Tuba can do the oauth dance it needs to be able to communicate with the server. But when it tries to save the oauth token it gets from the Mastodon instance, I got the error message above. Tuba can still talk to the the server, but once the session is over, the oauth token is lost, and the next time I start Tuba, I have to do the oauth dance again.

    Fixing the error seemed simple enough:

    $ apt-file search libqca-ossl
    libqca-qt5-2-plugins: /usr/lib/i386-linux-gnu/qca-qt5/crypto/libqca-ossl.so
    $ sudo apt install libqca-qt5-2-plugins
    

    – as I said: kwallet's is a damn good error message. Except the apt install has not fixed the problem (which is why I bother to write this post). That's because kwalletmanager starts a daemon, and that daemon is not restarted just because the plugins are installed.

    Interestingly, just killing that daemon didn't seem to fix the problem; instead, I had to hit “Close“ in kwalletmanager explicitly and then kill the daemon (as in killall kwalletd):

    Screenshot: kdewallet with a close button and two (irrelevant) tabs.

    I give you that last part sounds extremely unlikely, and it's possible that I fouled something up the first time I (thought I) killed kwalletd. But if you don't want to do research of your own: Just hit Close and relax.

    You could also reasonably ask: Just what is this “ossl” thing? Well… I have to admit that password wallets rank far down in my list of interesting software categories, and hence I just gave up that research once nothing useful came back when I asked Wikipedia about OSSL.

  • Die Heilige Ursula, ein großes Gemetzel und das Musée de l'Œuvre Notre-Dame in Straßburg

    Als ich neulich mit meinem Museumspass in Straßburg war (zuvor: zum Musée Historique) habe ich mir auch im Musée de l'Œuvre Notre-Dame allerlei Sehenswertes rund um das Straßburger Münster zu Gemüte geführt. In Analogie zum Speyrer Domschatz und zur entsprechenden Einrichtung in Basel erlaube ich mir, das Haus für diesen Post „Münsterschatz“ zu nennen, weil ich zu faul bin, dem Œ eine angemessen beqeueme Tastenkombination zu geben.

    Ich will vorneweg den meist tatsächlich sinnvollen Technik-Einsatz in diesem Museum loben: VR-Brillen, die schwindelerregende Blicke in den Turm erlauben, AR-Tablets, die einen Eindruck von der ursprünglich bunten Erscheinung einiger Statuen geben, kleine 3D-Monitore mit Hologrammen rekonstruierter Kunstwerke und – ganz Messing und Glas – ein Teleskop mit Blick aufs echte Münster.

    Besser erzählen lassen sich aber andere Geschichten, so etwa die der heiligen Ursula und ihrer 11'000 „Jungfrauen“, die, so jedenfalls eine Fassung der Legende, beim Versuch, die auf Köln anstürmenden Hunnen zu befrieden im 4. Jahrhundert den Märtyrertod gefunden haben sollen. Im Münsterschatz sieht das in Mittelalter-typisch fragwürdiger Perspektive so aus:

    Bild in mittelalterlichem Stil: Männer tragen ziemlich steif liegende, jeweils mit einer Speer- oder Pfeilspitze durchbohrte Frauen weg.  Alle Frauen haben einen Heiligenschein.

    Natürlich ist die morbide Prämisse von massenhaftem Opfertod unerfreulich, und ich habe zumindest starke Zweifel, ob die Schlachtfelder im vierten (oder fünfzehnten) Jahrhundert tatsächlich nur oder auch nur wesentlich von Männern aufgeräumt wurden.

    Andererseits stellt das Bild eine theologische und keine historische Szene dar, und so ist vorliegend die Frage viel spannender, ob Heiligenscheine wirklich nach dem Tod weiterschimmern, ob diese also an den Körper oder nicht doch eher die „Seele“ – wir befinden uns ja tief in nichtmaterialistischem Terrain – gebunden sind. Wer dazu Lehrmeinungen kennt, möge sie einsenden.

    Der kommerzielle Wert eskalierender Opferzahlen

    In Wirklichkeit hat mich das Bild aber aus einem ganz anderen Grund hingerissen. Es hat mich nämlich daran erinnert, dass die auch nach Maßstäben von frommen Legenden exorbitante Märtyerinnenzahl bei der Ursulageschichte plausiblerweise einen profund materiellen Hintergrund hat.

    Jetzt gerade erklärt die Wikipedia dazu:

    Die Zahl 11.000 geht möglicherweise auf einen Lesefehler zurück. In den frühen Quellen ist gelegentlich von nur elf Jungfrauen die Rede. Deshalb wurde vermutet, dass die Angabe „XI.M.V.“ statt als „11 martyres virgines“ fälschlich als „11 milia virgines“ gelesen wurde. Allerdings berichtet Wandalbert von Prüm bereits 848 über Tausende (millia) von getöteten Heiligen.

    Ich möchte eine andere Version der Geschichte anbieten, die ich vor Jahren in einem längst vergessenen Köln-Reiseführer gelesen habe und die zu gut ist, um nicht erzählt zu werden, auch wenn sie aus Gründen bis dahin unzureichender wirtschaftlicher Erholung ziemlich klar nicht vor Wandalberts Berichten aus dem Jahr 848 stattgefunden haben kann – aber wer weiß schon, ob wir heute wirklich lesen, was Wandalbert geschrieben hat?

    Wichtig dabei ist, dass St. Ursula in Köln etwas außerhalb der römischen Stadt CCAA[1] liegt, deren Nordmauer sich weiter südlich etwa beim heutigen Dom befand. Gleich um die Ecke der Kirche verläuft die heutige Straße Eigelstein, die auf der Trasse der Römerstraße von der CCAA Richtung der Colonia Ulpia Traiana (also, Stadt-Land-Fluss-SpielerInnen aufgepasst: Xanten) verläuft. Menschen mit Römerfimmel mögen ahnen, was jetzt kommt, denn entlang ihrer Ausfallstraßen haben die Römer ihre Toten[2] begraben. Tatsächlich war der eponymische Eigelstein ein bis in die Neuzeit auffälliges römisches Monumentalgrab. Der Boden unter St. Ursula ist also voll von römischen Knochen.

    Soweit die Fakten. Die Geschichte des Reiseführers war nun, dass die Originallegende der Ursula elf Gefährtinnen mitgab – die Wikipedia erwähnt ja auch diese Möglichkeit. Irgendwann hätten dann geschäftstüchtige ReliquienherstellerInnen versucht, die Knochen der zwölf Frauen bei St. Ursula zu finden, was ihnen dank der römischen Bestattungspraktiken leicht gelang.

    Nachdem das Geschäft mit den mutmaßlichen Überresten der Heiligen gut ging, gruben die Leute weiter. Da die CCAA eine große Stadt war, hatte es auch viele Tote gegeben und mithin auch viel Leichenbrand oder – aus der vergleichsweise kurzen christlichen Zeit der CCAA, als die Brandbestattungen außer Mode kamen – auch komplette Skelette. So fanden sich in der Umgebung von St. Ursula zu viele Knochen für zwölf Menschen, so viele gar, dass es ein Jammer gewesen wäre, das Geschäft aufzugeben. Und so sorgten die ReliquienherstellerInnen kurzerhand dafür, dass die Zahl der Jungfrauen in der offiziellen Legende verzehnfacht wurde.

    Das Spiel der Expansion der Metzelerzählung wiederholte sich, während das Geschäft exponentiell wuchs, bis es irgendwem bei 11'000 heiligen Märtyrerinnen offenbar zu dumm wurde oder der Preis für Duodezreliquien unter die Profitabilitätsschwelle gefallen war. Am Schluss jedenfalls landeten wirklich absurde Mengen menschlicher Überreste in der „goldenen Kammer“ von St. Ursula, in der die Wände mit Schädeln und Knochen tapeziert sind:

    Aus allerlei verschiedenen wohl meist menschlichen Knochen gestaltete Muster an einer Wand; ein paar Kunstköpfe stehen auf einem Fries.

    Eine Wand der goldenen Kammer von St. Ursula in Köln; CC-BY-SA 3.0 Hans Peter Schäfer

    Zumindest als ich vor ein paar Jahren mal in Köln war, war die leicht gruselige Installation noch öffentlich zugänglich. Für Menschen, die sich gerne von der katholischen Kirche entfremden wollen, ist das ein lohnender Besuch. Ob hingegen die Geschichte vom Großmassaker wirklich einen ökonomischen Hintergrund hat: Wer weiß?

    Wo Wikipedia-AutorInnen fehlgehen

    Widersprechen möchte ich – auch wenn es weit vom Münsterschatz wegfürt – der Passage

    Eine weitere Grabung [nach noch mehr Reliquien von Ursula und ihrer Schar] wurde zwischen 1155 und 1164 durch die Deutzer Benediktiner im Auftrag von Erzbischof Arnold II. durchgeführt. Dabei fanden sich neben Frauen natürlich auch Männer und Kinder-Gebeine.

    aus dem aktuellen Wikipedia-Artikel zur heiligen Ursula. Ich würde noch zugestehen, dass Knochen von Kindern mit den Mitteln des zwölften Jahrhunderts von denen Erwachsener unterscheidbar waren. Eine Geschlechtsbestimmung hingegen war aussichtslos. Die klappt notorisch nicht mal mit Methoden modernerer Archäologie, wie sich regelmäßig zeigt, wenn irgendwo genetische Analysen einziehen – und selbst dann bleibt es schwierig, wie etwa die Debatte um den_die „Krieger(in) von Birka“ zeigt (vgl. z.B. doi:10.1002/ajpa.23308).

    Es bleibt, aus einem Beitrag über ein spanisches Kupferzeit-Grab in DLF-Forschung aktuell vom 7. Juli diesen Jahres zu zitieren, in dem Christiane Westerhaus lapidar feststellt:

    Zu oft projizierten Forscher ihr eigenes Rollenbild auf die Wissenschaft.

    Da das für mittelalterliche Benediktinermönche sicher nochmal verschärft gilt, wäre ich versucht, die Stelle in der Wikipedia zu

    Etliche der dabei auftauchenden Knochen klassifizierten die Mönche auch als die Überreste von Männern.

    zu korrigieren. Mal sehen, ob ich dieses Fass aufmachen möchte.

    Hunde am Münster

    Der Straßburger Münsterschatz hat nicht nur meine Erinnerung an die wilde Ursula-Geschichte aus Köln aufgefrischt, sondern auch den etwas piefigen Goethe- bzw. Dumont-Claim „Man sieht nur, was man weiß“ dick unterstrichen. Ich war nämlich ziemlich überrascht, als im Museum immer wieder Hunde-Plastiken zu sehen waren, darunter einige, denen ich durchaus ein gewisses Viralitätspotenzial zusprechen würde:

    Eine Sandsteinfigur eines Hundes mit Schlappohren und extrem großen Augen.

    Der Begleittext erläutert, dass diese Figuren viele der zahlreichen Dachspitzen des in glorioser Zuckerbäckergotik erbauten Münsters zieren. Das war mir nie vorher aufgefallen, auch nicht, als ich vor Jahren mal hochgestiegen bin.

    Als ich aber wieder vor der Tür des Münsterschatzes und mithin vor dem Münster selbst stand, fiel mir sofort das hier ins Auge:

    Eine Sandsteinfigur eines Hundes auf einer Turmspitze vor dem Hintergrund einer gotischen Fassade.

    – und gleich danach bemerkte ich viele weitere Hunde oder hundeartige Wesen auf allen möglichen Spitzen. Wo sie mir mal aufgefallen waren, konnte ich nicht mehr verstehen, wie mir diese Merkwürdigkeit vorher hatte entgehen können. Gruselige Wasserspeier, klar, das ist ja praktisch die Definition von Gotik – wer guckt da noch hin? Aber Hunde auf allen Türmen? Wer hat sich das ausgedacht? Und warum?

    Was nicht mehr im Münsterschatz ist

    Gerade im Vergleich mit dem Domschatz in Speyer fällt auf, dass im Straßburger Münsterschatz praktisch nichts Goldenes ausgestellt wird. Es gibt demgegenüber haufenweise Steine, ein wenig Plunder aus verarbeitetem Elfenbein und noch ein paar Objekte, bei denen sich viele wünschen werden, sie hätten sie nicht gesehen. Ich führe mal dieses, nun, „Objekt“ aus dem Besitz eines der Fürstbischöfe als Beispiel an:

    Eine Plastik eines silberfarbenen Stiefels mit einer Spore und einem relativ hohen Absatz

    Der Grund für die Abwesenheit allzu prunkvoller Albernheiten ist einfach: in Straßburg hatten die Leute 1789ff eine zünftige Revolution – ich hatte dazu ja neulich schon philosophiert. Bei der Gelegenheit haben die dritten und vierten Stände dem fürstbischoflichen Hof einen Besuch abgestattet und den Kram, der wertvoll oder nützlich erschien, rausgetragen und vergesellschaftet.

    Besonders beeindruckend fand ich, dass sie die Bücher aus dem Palais Rohan, dem Amtssitz des Fürstbischofs, in die bürgerliche Stadtbücherei integriert haben. Schade allein, dass sie dort verbrannt sind, wenn ich mich recht entsinne, aufgrund des Wütens der deutschen Truppen von 1870 (auch dazu vgl. neulich) – aber das ist den RevolutionärInnen nun wirklich nicht vorzuwerfen.

    Wer mehr über diese Geschichte wissen will, sollte ins Straßburger Kunstgewerbemuseum (Musée des Arts décoratifs) gehen, in dem der Raum der damals sozialisierten Bibliothek heute (für 7.50 oder halt einen Museumspass) zugänglich ist Vielleicht habe ich dazu demnächst noch etwas mehr zu sagen.

    [1]Also Colonia Claudia Ara Agrippinensium, der volle Name des antiken Kölns. Der war schon deren Bewohnern zu lang, weshalb die Abkürzung CCAA tatsächlich auf etlichen Weihesteinen und Bauinschriften überliefert ist.
    [2]Respektive das, was von ihnen, also den Toten, nach der in heidnischen Zeiten obligatorischen Brandbestattung übrig geblieben ist.
  • Musée Historique de Strasbourg: „Von der Pfaffen Grittigkeit“

    Sandsteintafel mit Frakturschrift vor schwarzem Hintergrund; Text: Gottes Barmherzigkeit ⋅ Der Pfaffen Grittigkeit ⋅ Und der Bauern Bosheit ⋅ Durchgründt niemand bei meinem Eid

    Aus dem Musée Historique de Strasbourg: Diese Tafel war seit 1418 am Weißturmtor von Straßburg angebracht. Je nun: was wollte uns der Autor damit sagen?

    Dank meines Museumspasses hat es mich neulich in das Musée Historique de Strasbourg verschlagen, und neben vielem anderen mehr oder minder wildem Kram ist dort die oben gezeigte Steinplatte ausgestellt. Mit etwas Mühe lässt sich die Frakturschrift auch von modernen Menschen entziffern als:

    Gottes Barmherzigkeit ⋅
    Der Pfaffen Grittigkeit ⋅
    Und der Bauern Bosheit ⋅
    Durchgründt niemand bei meinem Eid

    Ich habe kein Wort verstanden, und leider erklärt auch die Beschreibung des Exponats nicht, was dieser Spruch den durch das Tor tretenden Menschen wohl hat mitteilen wollen. Bei mir fing es ja schon bei „Grittigkeit“ an. Was ist das wohl?

    Duckduckgo führt (neben – leider! – haufenweise falsch Positiven wie Wörterbucheinträgen zu „Griffigkeit“) immerhin auf das Lemma „grittig“ im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm. Dort werden als Bedeutungen „zänkisch“ und „habgierig“ angeboten, letzteres mit einem Beleg „das die pfaffen ungerecht werent mit hoffart, mit grittikeit und unkúscheit“. Das wirds also sein: die Habgier der Pfaffen.

    Aber was ist jetzt das „durchgründt“? Auch hier helfen die Grimms, die das zu „völlig ergründen […] bis auf den grund durchdringen“ auflösen. Damit wäre die letzte Zeile in modernem Deutsch etwas wie „Wallah, das versteht keine Sau“; ein unmittelbarer Zusammenhang mit irgendwelchen konkreten Bürgereiden (sowas gab es natürlich auch in Straßburg, und auch dort war zeitweise heftig umkämpft, ob „Pfaffen“ oder auch Adlige ihn leisten müssten) scheint mir nicht plausibel.

    Nicht nur Lexik

    Nach Beilegung der lexikalischen Schwierigkeiten verstand ich aber immer noch nicht, warum wer so einen Spruch über dem Stadttor angebracht haben könnte. Ich hatte jedoch zwischendurch auch Google nach der Grittigkeit befragt, und dort kamen einige Matches in deren gescannten Büchern. Oh, was für eine Schande, dass all unsere öffentlichen Bibliotheken nicht ein vergleichbares Scan-Programm haben auflegen können, dessen Früchte ordentlich public domain wären und nicht hinter der Verwertungsmaschinerie von Google lägen!

    Aber noch leben wir in einer anderen Welt, und so habe ich die Zähne gefletscht und meine DNS-Blockade für googleusercontent.com überschrieben[1]. So kam ich an ein PDF der „Neuen Vaterländischen Geschichte der Stadt Straßburg“ von Johannes Friese[2] aus dem Jahr 1792 – sie erschien also, da Straßburg damals schon zu Frankreich gehörte, mitten in der Revolution oder „im vierten Jahr der Freiheit“, wie es auf dem Titelblatt heißt.

    In dem Werk findet sich das Grittigkeits-Verslein auf PDF-Seite 374[3], interessanterweise aber gleich mit „ergründet“ statt „durchgründet”. Da die Platte damals wohl noch am Tor gehangen haben wird: Hat Frieses Erinnerung auf dem Weg vom Turm zur Schreibstube schon eine Modernisierung der Sprache vorgenommen? Oder war die Änderung Absicht? Hing gar eine andere Tafel am Turm?

    Wie auch immer – das Buch stellt die Platte in folgenden Kontext:

    Die Stiftsherren bey St. Thomas hatten den Zehnten im Königshofer Bann. Nun war es zwar kein Recht, aber doch eine alte Gewohnheit, daß man den Bauern in der Aerndte eine gemeine Zeche von Brod und Wein reichte; dieses wollten aber die gestitlichen Herren diesmal nicht thun, obgleich die Aerndte sehr ergiebig war. Die Bosheit der Bauern, durch den Geiz der Priester gereizt, verursachte darauf, daß der Zehnte, der noch auf dem Felde lag, durch böse Buben verbrannt wurde. Diese Geschichte soll Anlaß gegeben haben, daß der Stein am Weissenthurnthor [sic!] mit der bekannten Inschrift gesetzt wurde.

    Dann wäre „Bosheit“ also wohl eher als „Wut“ zu aktualisieren, und das Ganze wäre ein Kopfschütteln über die Sinnlosigkeit sowohl des klerikalen Übergriffs wie auch der vielleicht etwas sehr schlechtgelaunten bäuerlichen Reaktion auf ihn.

    Vaterland?

    Das „Vaterland“ im Titel des des Friese-Buchs ist übrigens auch nicht ganz leicht zu interpretieren, denn wie gesagt: „Vaterland“ war in Straßburg 1792 bereits seit rund hundert Jahren – wenn überhaupt etwas – Frankreich, nachdem Louis XIV 1681 die türkische Belagerung von Wien zur eigenen („l'état c'est moi”) Arrondierung genutzt hatte. Was Friese tatsächlich unter „Vaterland“ verstanden hat, habe ich nicht zu „durchgründen“ versucht. Dass er auf Deutsch veröffentlicht hat, ist jedenfalls kein klares Signal, denn das wurde zu seiner Zeit erst langsam unüblich im französischen Straßburg. Davon kann mensch sich im Musée Historique verschiedentlich überzeugen. So wird beispielsweise eine Polizeiverordnung von 1708 ausgestellt, die – sehr passend! – auf Deutsch überflüssiges Essen und Trinken verbot.

    Aus Frieses Zeit kommt dieses Exponat, das das gewaltsame Ende von Robespierre am 28. Juli 1794 den BürgerInnen von Straßburg bekannt machte:

    Papier mit einer Guillotine-Zeichnung in der Mitte und darum in an Fraktur angelehnter Handschrift: „Roberts Piere ist nun tod/schönck den frieden uns O Gott/dieses winscht die ganze welt [...]

    Spätestens zu diesem Zeitpunkt jedoch war Deutsch massiv auf dem Rückzug aus Straßburg, und zwar – gewiss neben Aufwallungen von Nationalismus und Zorn über von deutschsprachigen Potentaten nach Frankreich getragenem Krieg – wohl aus einem recht nachvollziehbaren Grund: Das Regierungssystem in Frankreich war trotz Durchknallereien wie im Fall Robespierre einfach viel überzeugender als irgendwas, das aus Wien, Berlin oder meinethalben auch Baden-Baden, Durlach oder Mannheim hätte kommen können, und so orientierten sich immer weitere Teile der Bevölkerung eben an Paris.

    Insbesondere gehörte dazu auch das metrische System, das aus meiner Sicht alleine hinreichend Grund gewesen wäre, mit Haut und Haaren Richtung Paris zu blicken. Im Musée Historique sind dazu zeitgenössische Maße für Volumen zu bewundern:

    Drei Kannen aus Blech in einer Vitrine arrangiert.

    Die auch darüber hinaus deutlich erkennbar zunehmende Gallisierung der Straßburger Bevölkerung in dieser Zeit illustriert, finde ich, ganz gut, wie patriotisch-verdreht (oder, wie ich neulich fand, bizarr) die Rede von „Befreiungskriegen“ für die Feldzüge der deutschen Reaktion von 1812 bis 1815 war und ist.

    Die Katastrophe von 1870

    Dementsprechend wenig angetan dürfte die lokale Bevölkerung auch über den Einfall deutscher Truppen 1870 gewesen sein, selbst wenn dieser keine so furchtbar schlimme Katastrophe für Straßburg gewesen wäre wie er es in Wirklichkeit war.

    Hier muss ich wieder meinen Geschichtsunterricht anklagen. Die Geschichte, die dort vom 1870/71-Krieg erzählt wurde, war in etwa: Bismarck, der alte Fuchs, hat mit der Emser Depesche die Franzosen dazu gebracht, „uns“ anzugreifen, so dass sich alle hinter Preußen versammelten und es tolle Einheit gab – ach, wie sich irrationale Reflexe doch bis heute gehalten haben –, und dann gab es ein wenig Geballer, das „wir“ grandios gewonnen haben, weil „unsere“ Gewehre beim Schießen keinen Qualm mehr gemacht haben, und dann war Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles, hurra.

    Das war natürlich Quatsch, und zwar schon lange, bevor die unrühmliche Rolle der Deutschen beim Dahinmetzeln der KommunardInnen nicht erwähnt wurde. Der Krieg damals war mies und blutig, ganz vornedran in Straßburg. Im Musée Historique ist dazu das hier zu sehen:

    Ein Bild, auf dem ein Mann durch eine zerstörte Stadt geht, vor einem großen Foto-Hintergrund mit einer zerstörten Stadt.

    Das Bild zeigt den Straßburger Bürgermeister Küss bei der Besichtigung der Schäden durch deutsche Artillerie (gemalt 1873 von Jules-Theophile Schuler nach seiner Erinnerung; Küss floh nach der Machtübernahme durch die Deutschen). Dahinter ist ein Foto der Zerstörungen in Straßburg nach der deutschen Belagerung von 1870 gelegt. Das Museum ordnet diese Belagerung als das „blutigste und opferreichste Ereignis der Stadtgeschichte“ ein, nach dem „ein Drittel der Stadt in Schutt und Asche“ gelegen sei.

    Das Bild des Gentleman-Krieges, das in bayrischen Gymnasien der 1980er Jahre gezeichnet wurde, passt da jedenfalls mal gar nicht. Was sagt eigentlich der moderne deutsche Geschichtsunterricht?

    Zu allem entschlossene Wissenschftler

    Was es 1871 noch nicht gab: empfindliche Seismographen. Das war bei den alliierten Bomben im zweiten Weltkrieg anders. Eine Aufzeichnung eines solchen Angriffs findet sich (zum Glück, denn das Seismologische Muesum in Straßburg ist leider auf unbestimmte Zeit geschlossen) im Musée Historique:

    Viele weiße hoizontale Striche auf schwarzem Grund mit gelegentlichen größeren Wellen.  Ungefähr in der Mitte des Bildes ein Gekrakel als Kreissegment, an dem die weißen Striche aufhören, um im unteren Drittel wieder anzufangen.

    Auf dem Seismogramm verläuft die Zeit schnell von links nach rechts und langsam von oben nach unten. Als größere Zitterer zu erkennen sind einige Bombeneinschläge in größerer Entfernung. Schließlich explodiert etwas in ziemlicher Nachbarschaft: Das ist der große Krakel links der Mitte, nach dem das Seismogramm erstmal aufhört, vermutlich, weil die Kratzspitze abgefallen oder abgebrochen ist. Ich habe keinen sicheren Zeitmaßstab und kann daher nicht sicher sagen, wie lang der Ausfall gedauert haben wird. Angesichts der Länge der Erschütterungen durch die Bomben (Größenordnung Sekunden) sind das aber allenfalls Stunden. Irgendein entschlossener Wissenschaftler hat demnach das Gerät vermutlich recht unmittelbar nach dem Ende des Luftalarms in Ordnung gebracht.

    Schade, dass dieser Held der Wissenschaft einer von der „Reichsuniversität“ Straßburg war. Denn der Laden war speziell während der deutschen Besatzung in den 1940ern eine fürchterliche Hochburg schlimmer Reaktionäre und Faschisten, wovon im Musée Historique nur ein wenig berichtet wird. Das Übrige erzählt das (aus den Zeiten der ersten deutschen Besatzung stammende) Hauptgebäude der Uni –

    Panorama eines hässlichen Gründerzeit-Klotzes

    – und die Ausstellung im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, wo die Herren Wissenschaftler aus Straßburg (und auch aus Heidelberg; es war ja das Stammlager für das Lagersystem hier in der Region) eifrig experimentierten.

    Aber davon ein andermal mehr.

    [1]

    Wenn ihr meine dnsmasq-Zeilen verwendet: Zumindest zur Zeit könnt ihr gezielt die Bücher freigeben durch:

    address=/books.googleusercontent.com/172.217.16.193
    

    – dnsmasq merkt, dass die Adresse spezieller ist als das allgemeine:

    address=/googleusercontent.com/127.0.0.1
    
    [2]Soweit ich erkennen kann, verbietet Google nicht die Weiterverbreitung; aber ich nehme das PDF dennoch aus dem allgemeinen CC0 auf diesen Seiten heraus.
    [3]Das ist S. 33 von Band Zwei des Werkes. Ich vermute mal, dass das ursprünglich wirklich zwei Bücher waren, die aber die Bibliothek der University of Wisconsin – von der Google hat das Original bekommen – oder …
  • Antisprache: Arbeitsplätze

    Unter all den eigenartigen Ritualen des politischen Diskurses verwundert mich so ziemlich am meisten, dass „gefährdet Arbeitsplätze“ fast universell als Argument gegen eine Maßnahme, als ultimativer Warnruf gilt. Lasst mich einige der befremdlicheren Zitate den DLF-Presseschauen des vergangenen Jahres anführen:

    …ganze Branchen wegen ihres hohen Gasverbrauchs in Existenznot, tausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.

    —Rheinische Post (2022-10-11)

    In diesem Sinne ist es ein Ansporn, schnell gute, neue Produkte zu entwickeln, die den großen Teil der Arbeitsplätze sichern.

    —Badische Zeitung (2023-02-15)

    Die Politik muss aufpassen, dass sie nicht deutsche Arbeitsplätze opfert…

    —Reutlinger General-Anzeiger (2023-02-15)

    …wie einst bei der Solarbranche der Ausverkauf der deutschen Wärmepumpenindustrie bevorsteht und Arbeitsplätze sowie hoch spezialisiertes Wissen abwandern.

    —Rhein-Zeitung (2023-04-27)

    Was da in einen negativen Kontext gestellt wird, ist nüchtern betrachtet: Leute müssten weniger arbeiten, und das meist ohne erkennbar negative Folgen. Ist das nicht ganz offensichtlich eine gute Sache?

    Es schimpfen doch fast alle Menschen mehr oder weniger deutlich über ihre Lohnarbeit, oder? Obendrauf habe ich schon zu oft gehört, Leute würden ja den Rest der Welt schon gerne vor ihrem Auto verschonen, aber die Lohnarbeit zwinge sie, sich jeden Morgen in ihren Blechkäfig zu setzen. Und das muss dringend geschützt und gehegt werden?

    Obendrauf gibts allerlei Wunder, die Arbeit sparen: Staubsaug- und Rasenmähroboter, Lieferdienste und vielleicht irgendwelche Apps. Die wiederum gelten als „Innovation“ und damit irgendwie gut (mehr Antisprache dahingestellt). Wie geht es zusammen, dass einerseits Leute weniger arbeiten möchten, andererseits aber Möglichkeiten, wie sie weniger arbeiten könnten, an Bedrohlichkeit über dem Weltuntergang stehen („Klimaschutz darf keine Arbeitsplätze kosten”, „Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie“)?

    Ein Minimum an Lohnarbeit

    Die Antwort: Gar nicht. „Arbeitsplatz“ ist ein klassischer Fall von Antisprache, also Wörtern und Phrasen, die Information nicht übertragen, sondern annihilieren. Der Antisprache von den Arbeitsplätzen gelingt es, die Information zu annihilieren, dass wir längst die Technologie und wahrscheinlich auch die soziale Reife hätten, um allen Menschen mit einem Minimum an Lohnarbeit[1] ein ökologisch vertretbares Leben ohne Existenzsorgen zu ermöglichen. Dass der Lebensunterhalt an „Arbeitsplätze“ gebunden ist, ist mithin eine überflüssige, grausame und gefährliche Konvention, die durch ehrlichere Wortwahl sichtbar gemacht werden könnte.

    Ein „Minimum an Lohnarbeit“ hat übrigens fast nichts mit der drei- oder vier-Tage-Woche zu tun, die die taz gestern mal wieder erwähnt hat, denn diese bleibt dem alten Mechanismus des Kapitalismus verhaftet. Dabei werden Waren produziert oder Dienstleistungen erbracht, weil manche Leute („Unternehmer“) reich werden wollen und nicht etwa, weil Menschen sie brauchen und das Zeug nicht allzu schädlich ist. So kommt es, dass wir schockierende Mengen von Arbeitskraft und Natur verschwenden auf jedenfalls gesamtgesellschaftlich schädliche Dinge wie Autos, andere Waffen, Einfamilienhäuser, fast fashion, Zwangsbeflimmerung und das rasende Umherdüsen in überengen fliegenden Röhren.

    Es ist die Konvention, Menschen durch Drohung mit dem Entzug ihres Lebensunterhalts[2] dazu zu zwingen, all den unsinnigen Krempel herzustellen, die auch dafür sorgt, dass „wir“ uns eine überflüssige Lohnarbeit nach der anderen einfallen lassen. Meist sind das „Dienstleistungen“ (auch so ein schlimmes Wort), was dann immerhin manchmal nicht ganz so schädlich ist wie der ganze überflüssige Quatsch (Autobahnen, Konferenzzentren, Ultra-HD-Glotzen) auf der Produktionsseite[3].

    Ein eher harmloser Nebeneffekt des Ganzen beschäftigte übrigens Casper Dohmen und Hans-Günther Kellner im Deutschlandfunk-Hintergrund vom 23.6., der sich ebenfalls an weniger Arbeit trotz Kapitalismus abarbeitete:

    In den neunziger Jahren betrug die Produktivitätssteigerung in Deutschland im Schnitt noch mehr als zwei Prozent jährlich, seitdem weniger als ein Prozent. Die Entwicklung ist typisch für hoch entwickelte Industriestaaten. Das liegt daran, dass es schon länger keine wesentlichen Innovationen gab, mit denen sich die Produktivität erhöhen ließe.

    Schon die Antisprache von den „Innovationen“ lässt ahnen, dass das in der ganz falschen Richtung sucht – auch wenn das Rationalisierungspotenzial durch Rechner im Bürobereich tatsächlich drastisch überschätzt ist (Bob Solow: „You can see computers everywhere except in the productivity statistics“).

    Aber den eigentlich notwendigen Kram kriegen wir mit wirklich beeindruckend wenig menschlichem Aufwand und also atemberaubender Produktivität hergestellt. Letztes Wochenende etwa hat ein Mensch das Getreidefeld neben meinem Gärtchen (grob „ein Morgen“ oder ein halber Hektar) in der Zeit abgeerntet, in der ich fünf Codezeilen geschrieben habe. Natürlich muss mensch noch die Arbeitszeit dazurechnen, die im Mähdrescher und dessen Sprit steckt, aber auch die wird sich, auf die Flächen umgelegt, die mit der Maschine bearbeitet werden, zwanglos in Minuten messen lassen.

    Nein, der Grund für die mehr oder minder stagnierende Produktivität der Gesamtgesellschaft (kurzerhand definiert als Bruttoinlandsprodukt pro Arbeitsstunde) ist die Ausweitung des Niedriglohn-Sektors, sind Jobs wie Lieferdienste, „Juicer“ (dass Menschen für sowas Lebenszeit opfern müssen, beschämt mich zutiefst), Wachdienste, also das gesamte Jobwunder im Gefolge von Hartz IV: Wer für eine Handvoll Euro viele Stunden arbeiten muss, senkt natürlich den Durchschnitt von BIP/Zeit, und wenn das erschreckend viele sind, wird das auch nicht mehr von den paar Leuten mit Salären im 104 Euro/Stunde-Bereich ausgeglichen[4]. So erklärt sich übrigens das „neunziger Jahre“ versus „seitdem“ aus dem DLF-Beitrag ganz natürlich: Die Schröder-Regierung hat die Hartzerei zwischen 2002 und 2005 eingephast.

    Es sind also gerade all die „Innovationen“ vom Schlage zu juicender Elektroroller, die die Produktivität drücken. Natürlich wird das nichts mit BIP/Arbeitsstunde, wenn ein wesentlicher Teil der Menschen in privatwirtschaftlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stecken, für die jetzt wirklich niemand viel Geld bezahlen will.

    In Klarsprache übersetzt

    Wozu also führen wir die Tragikomödie mit dem Lohnarbeitszwang auf? Sachlich, damit sich ein paar Grobiane gut fühlen, weil das Bruttoinlandsprodukt ihres Landes steigt, und ein paar andere, weil ihr Kontostand wieder ein paar Milliarden ihrer bevorzugten Währung mehr zeigt.

    Letzteres ist wiederum besonders verdreht, denn so viel Geld könnten diese Leute nie für tatsächliche Waren ausgeben, schon, weil es gar nicht so viel zu kaufen gibt außerhalb von mondbepreisten Kunstwerken, Aktien und Immobilien, deren Kosten in überhaupt keinem Verhältnis mehr stehen zur in ihnen vergegenständlichten Arbeit.

    Die Antisprache von den Arbeitsplätzen wirft in Summe einen dicken Nebel rund um etwas, das schlicht ein hässliches Erbe der trüben Verangenheit ist. Wie so oft bei Antisprache lichtet sich der Nebel um groteske Sachverhalte schon, wenn mensch einfach die Antisprache ersetzt durch Wörter mit der jeweils zutreffenden Bedeutung. Ich habe das mal mit ein paar der Presseschau-Texte gemacht:

    In diesem Sinne ist es ein Ansporn, schnell gute, neue Produkte zu entwickeln, die viel Arbeit machen.

    —nicht Badische Zeitung (2023-02-15)

    …wie einst bei der Solarbranche der Ausverkauf der deutschen Wärmepumpenindustrie bevorsteht und sich danach andere Menschen als wir plagen müssen sowie hoch spezialisiertes Wissen abwandert.

    —nicht Rhein-Zeitung (2023-04-27)

    Die beiden Zitate könnt ihr im Original oben nachlesen. Vergleicht mal. Und dann ratet, wie die folgenden Zitate wohl wirklich ausgesehen haben werden:

    Kein Wunder, dass die Bevölkerung allmählich Existenzängste bekommt, wenn Heizen unbezahlbar zu werden droht und sie dann auch noch frei bekommen könnten.

    —nicht Dithmarscher Landeszeitung (2022-09-02)

    Entscheidend ist, alles zu tun, dass alle arbeitsfähigen Menschen auch arbeiten müssen und es sich lohnt zu arbeiten.

    —nicht Mediengruppe Bayern (2022-11-23)

    Vielleicht bietet der jetzige Kahlschlag [bei Karstadt], der erneut Tausende Mitarbeiter von stupider Arbeit an der Kasse und im Lager erlöst und daher äußerst bitter ist, die Chance auf ein Gesundschrumpfen.

    —nicht Badische Zeitung (2023-03-14)

    Menschlich ist es verständlich, dass auch Politiker eine möglichst angenehme Atmosphäre schätzen, wenn sie sich schon plagen müssen.

    —nicht Schwäbische Zeitung (2023-05-04)

    Nur, falls sich wer schlimm ärgert über diese Klarstellungen: Ja, mir ist klar, dass es unter den Bedingungen des Lohnarbeitszwangs jedenfalls sozial und möglicherweise auch materiell wirklich bitter ist, gefeuert zu werden.

    Aber es hilft ja nichts: wir müssen uns so oder so um den Übergang in eine Gesellschaft kümmern, die maximale Existenzsicherheit mit minimaler Belastung für Menschen (also vor allem: Arbeit) und Umwelt (also vor allem: Dreck) zusammenbringt, und das bei maximaler Partizipation bei der Aushandlung dessen, was „Existenz” eigentlich bedeutet. Das Gerede von Arbeitsplätzen steht dem klar im Weg, schon, weil es den Betroffenen Willen und Möglichkeit raubt, zu diesem Übergang beizutragen.

    Unterdessen verspreche ich, gelegentlich Constanze Kurz' Beitrag zu dieser Debatte zu lesen. Dass der jetzt auch schon zehn Jahre alt ist und die Presseschau immer noch voll ist mit Arbeitsplatzprosa, illustriert mal wieder, dass mensch bei der Verbesserung der Gesellschaft langen Atem braucht.

    [1]Gleich vorneweg: In vernünftigen Szenarien ist „Lohnarbeit“ kein sehr nützlicher Begriff. Die bessere Rede von „gesellschaftlich notwendiger Arbeit“ würde aber sicher auch Kram umfassen, der im Augenblick massiv nicht durch Lohnarbeit abgedeckt wird, ganz vorneweg Reproduktion oder etwas moderner Care-Arbeit. Insofern ist die Schätzung der Fünf-Stunden-Woche (die im aktuell lohnarbeitigen Sektor über die Lebenszeit integriert und für eine global vertretbare Produktion wohl schon realistisch wäre) so irreführend, dass ich sie im Haupttext nicht erwähne.
    [2]Ich kann nicht anders: Auch das ist ein Beispiel dafür, wie unsere Vorfahren einer autoritären Versuchung nachgegeben haben: Statt Menschen zu überzeugen, dass eine Arbeit gemacht werden soll oder muss, haben sie diese durch Drohung mit Hunger oder Erfrieren zur Arbeit gezwungen. Einfach, aber mit schlimmen Konsequenzen, wie wir nicht nur auf unseren Straßen sehen.
    [3]Es gibt aber auch Beispiele für extrem schädliche Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Beispielsweise hat die Finanzbranche ganz verheerende reale Auswirkungen (ein hübsches Stück Mainstream-Literatur dazu ist “Eine Billion Dollar“ von Andreas Eschbach …
  • Deutscher Wetterdienst: Nachricht schlecht, Technik gut

    Die schlechte Nachricht zuerst:

    Europakarte mit Regenmengen für Juni 2023, braun ist zu trocken, und u.a. im Oberrheingraben und im türkisch-syrischen Erdbebengebiet ist es ziemlich braun.

    Rechte: DWD (vgl. Text)

    Ja, es ist trocken hier im Oberrheingraben, und noch mehr ausgerechnet im türkisch-syrischen Erdbebengebiet. Aber nein, für einen einzelnen Monat ist das einfach nur die übliche Gemeinheit der Natur und kein Signal des Klimawandels. Aber von denen haben auch wirklich genug andere.

    Ich verblogge das hier jedoch aus einem ganz anderen Grund: Ich will dem Deutschen Wetterdienst ein großes Lob aussprechen, denn der Dienst, der diese Bilder macht, funktioniert einwandfrei[1] ohne Javascript: Schnell, unproblematisch, mit verschwindender CPU-Belastung am Client, geht auch im netsurf, insgesamt weniger Daten übertragen als andere für ihr doofes Javascript-Framework brauchen.

    So sollte das Netz sein. Genau so. Und so könnte es auch sein, ohne dass es irgendwem außer der Belästigungs-„Industrie” weh täte. Danke, DWD!

    Und ihr anderen mit euren Krapizität-300-Webseiten, bei denen ohne Javascript local storage noch nicht mal statischer Text kommt: Schämt euch.

    [1]Na gut, fast einwandfrei: Die Auswahl der anderen Parameter haben sie im Augenblick ohne Javascript vermurkst.
  • Ehre, Sieg und Carl Diem: Auf dem falschen Fuß erwischt

    Am Samstag hat Rainer Brandes in den DLF-Informationen am Morgen Daniel Möllenbeck[1] zur Frage der Bundesjugendspiele interviewt. Das Gespräch bot viele Belege für meine Behauptung, Sport sei rechts, etwa, wenn Möllenbeck diesem den Begriff „Spaß an Bewegung“ gegenüberstellt (ca. 2:35), oder wenn Brandes gleich danach von „verweichlicht“ redet und Möllenbeck das offensichtlich als Vorwurf auffasst.

    Aber das ist nicht der Grund, warum ich diesen Post schreibe. Nein, der Grund ist ein ganz eigenartiger Live-Moment. In der Regel wird ja bei einem Interview vorher vereinbart, was so an Fragen kommt, natürlich mit dem Verständnis, dass das Gespräch auch mal einige Schlenker nehmen kann. Im Pressebereich ist es vor allem die Sorge vor solchen Schlenkern, die zu im Nachhinein „autorisierten“ Plastikinterviews führt. Insofern großes Lob an den DLF und die dort Interviewten, dass die Gespräche zum Großteil live geführt werden. Presseerklärungen gibt es schon genug.

    Beim Möllenbeck-Interview von gestern gab es nun einen ziemlich großen und sprechenden Schlenker, und ich frage mich, ob Brandes ihn nicht angekündigt oder Möllenbeck bei der Vorbesprechung geschlafen hat. Unabhängig von der Genese halte ich den Austausch für eine wunderbare Illustration des Werts live gesendeter Gespräche, und ich will hier explizit nicht Möllenbeck anpissen, der, für einen Sportfunktionär jedenfalls, eigentlich ganz nett wirkt.

    Wer das im Kontext hören will, sollte bei 5:45 anfangen. Ich steige im Audio hier gleich beim Schulterwurf ein (ab 6:30):

    Transkript: Brandes: Aber viele hängen sich ja auch allein an der Bezeichnung dieser Urkunden auf, also da ist eben Ehre und Sieger steckt da mit drin, das erinnert viele doch noch sehr an die Zeit des Erfinders der Jugendspiele, an Carl Diem, der eben auch im Nationalsozialismus eine unrühmliche Rolle gespielt hat. Wäre es da nicht Zeit, sich da auch sprachlich von zu distanzieren? Möllenbeck: (seufzt) Hwo, kann man drüber nachdenken, sicherlich, em, aber das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Also das ist jetzt vom… Haben wir noch nicht diskutiert im Verband, ob das, ob das notwendig ist, sicherlich, öh, das zu tun, das ist sicherlich Sache der KMK oder der äh (Brandes versucht die Situation zu retten)

    Wenn die Frage nicht abgesprochen war, dann darf es wohl schon als etwas, haha, unsportlich gelten, einen heutigen Sportfunktionär mit dem Kaiserreich-und-Danach-Kollegen Carl Diem zu konfrontieren. Das schwierige Verhältnis der hiesigen Sportorga zu ihrem Doyen mag ein von der Deutschen Sporthochschule angestrengtes Gerichtsverfahren dokumentieren: der Laden wollte Diems Namen dringend in seiner Adresse behalten, als die Stadt Köln ihre Straßennamen entnazifiziert hat.

    Wer solche KollegInnen hat, hat sich vermutlich schon mit „kann man drüber nachdenken“ in den Ruch des – von sowas wird leider nicht nur in diesen Kreisen immer noch geredet – Verrats gebracht. Was immer jedoch „Verrat“ sein mag, jedenfalls im vorliegenden Fall ist er eine prima Sache.

    Insofern: Sympathie für Daniel Möllenbeck und alle, die sich trotz des Risikos erhellender Blicke hinter die Kulissen live interviewen lassen. Wie viel besser ist dieses Stück Audio als das, was wir bei einem „autorisierten“ Interview („Der DSLV steht zu seiner historischen Verantwortung und wird zeitnah und in aller Ruhe beraten, wie eine zukunftsfeste Lösung unter Beteiligung aller Stakeholder aussehen kann“) gelesen hätten?

    [1]Der Mann ist Vizepräsident eines Ladens namens „Deutscher Sportlehrerververband“, der entgegen meiner Erwartung keine Untergruppierung des Beamtenbundes ist, aber dank einer (technisch) furchtbaren Webseite (ja, ohne Javascript ist das ein Totalschaden) und der Verwicklung in die „Führungsakademie des DOSB“ dennoch bei mir keine Sympathiepunkte sammelt.
  • BKA: Telefonsupport ade

    In seinem Volkszählungsurteil erklärte das Bundesverfassungsgericht schon 1983:

    Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden.

    Diese Erwägung ist, was hinter den Auskunftsrechten steht, die seit den Urzeiten des Datenschutzes bestehen (auch wenn viele Unternehmen sie erst mit den verschärften Sanktionen der DSGVO bemerkt haben). Sie sorgte auch dafür, dass mensch von Anfang bei den diversen Polizeien kostenlos Auskunft verlangen konnte über die dort zur eigenen Person gespeicherten Daten. Seit 2003 hat zusätzlich der Auskunftsgenerator bei datenschmutz.de das etwas weniger nervig gemacht.

    Weil ich diesen Dienst betreibe, fragen mich gelegentlich NutzerInnen, was wohl irgendwelche Auskunfte bedeuten, die sie von Behörden bekommen. So auch neulich, als sich jemand wunderte, wie er in die Datei PIAV-WSK komme – „WSK“ steht hier für Waffen- und Sprengstoffkriminalität. Schon der Namen lässt ahnen: das ist keine Datei, in der mensch gerne einen Eintrag hat.

    Die Speicherung war zudem selbst nach Maßstäben deutscher Polizeidatenbanken besonders wenig nachvollziehbar. Aus dem lakonischen „Landfriedensbruch”, das in der Auskunft stand, konnte jedenfalls ich keine WSK-Relevanz erkennen. Und so dachte ich mir, ich frage mal wieder beim BKA nach. Früher stand auf den Auskünften die Durchwahl zum behördlichen Datenschutzbeauftragten des BKA, der die Auskünfte abwickelt[1], und das hat früher manchmal wirklich geholfen.

    Nicht mehr. Auf den Briefen steht inzwischen nur noch die Nummer der BKA-Telefonzentrale. Böses ahnend rief ich neulich dort an und hörte kaum überrascht irgendeine Warteschleife irgendwas aus dem Telefon quaken. Ich fingerte schon nach dem Auflegeknopf, als sich überraschend schnell doch ein Mensch meldete, dazu noch mit ganz unbeamtigen Sound. Jedoch musste ich „Rückfrage zu Auskunftsersuchen“ nicht fertigsprechen, bevor er auch schon sagte (nicht ganz wörtlich): „Das machen die Datenschützer. Wir haben Anweisung, da nicht hinzuverbinden, und die heben auch nicht ab. Schreiben Sie eine Mail.“

    Diese Einstellung des Telefonsupports mag nur ein kleiner Nadelstich gegen das Menschenrecht auf informationelle Selbstbestimmung (also das „mit hinreichender Sicherheit überschauen” des BVerfG) sein. Aber wer hinreichend oft „sagen wir nicht wegen Gefährdung des Bestands des Bundes“ in halb autogenerierten amtlichen Antwort- oder eher Abwimmelmails gelesen hat, wird ahnen, dass der Wegfall von Gesprächsmöglichkeiten ein durchaus erheblicher Verlust ist. Ich jedenfalls werde erstaunt sein über jedes Faktoid, das das BKA per Mail herauslässt.

    PIAV-WSK und der Landfriedensbruch

    Die Speicherung, die ich gerne geklärt gehabt hätte, war übrigens in gewisser Weise ähnlich beunruhigend wie die Einstellung des Telefonsupports.

    Ihre Vorgeschichte war ein Naziaufmarsch irgendwo und eine Gegenkundgebung von ein paar Antifas, die die Polizei zusammengeknüppelt hat. Wie üblich in solchen Fällen, hat die Polizei allen, die sie testierbar verletzt haben könnte, präventiv ein Landfriedensbruch-Verfahren reingewürgt, weil das gegen mögliche Anzeigen der Opfer zusätzlich immunisiert (nicht, dass es das bräuchte; die polizeiliche Straffreiheit ist seit dem verlinkten amnesty-Bericht von 2004 eher schlimmer geworden). Wie zumindest nicht unüblich – so weit funktioniert der Rechtsstaat des Öfteren noch – hat gleich das erste Gericht das Verfahren wegen Bullshittigkeit eingestellt.

    Das sollte für die Polizei Grund sein, den Vorwurf aus ihren Datenbanken zu löschen („regelmäßig“ heißt das in den zahlreichen Urteilen zur Thematik). Ist es aber schon seit jeher (der verlinkte Artikel ist von 2009) nicht, und es finden sich leider zu viele Gerichte, die die speicherwütigen Behörden davonkommen lassen mit: „Klar müsst ihr im Prinzip löschen, aber was ihr hier macht, geht gerade noch so” (mehr zur Logik der Negativprognose). Die Polizei hört das als: „Speichert eingestellte Verfahren nach Lust und Laune“.

    Insofern steht der arme Mensch nun dank LKA Baden-Württemberg als politisch motivierter Krimineller in diversen Datenbanken. Weil fast alle wissen, dass die diversen Staatsschutze Limo-PHWs mit Freude, Fleiß und freier Hand verteilen (übersetzt: Das ist alles Quatsch), ist das zwar ärgerlich, aber vom Schaden her meist noch überschaubar.

    Weniger überschaubar dürfte der mögliche Schaden bei Waffen- und Sprengstoff-Dateien sein, zumal sich das „PIAV” vor dem WSK auf die breit zugreifbare und schwer durchschaubare, wenn auch nicht mehr ganz neue BKA-Superdatenbank bezieht (vgl. Piff, Paff, PIAV von 2017). Während die Einzelregelungen zu PIAV BKA-Geschäftsgeheimnis sind, macht die Auskunft zudem keine verwertbare Angabe zur Frage, wer genau alles die fraglichen Daten sieht und damit vom Waffen- und Sprengstoffverdacht „wissen“ wird.

    Da das BKA die Telefonberatung eingestellt hat, will ich mich mal an einer spekulativen Erklärung der mysteriösen Speicherung versuchen: Im Oktober 2016 hat im beschaulichen Georgsgmünd ein besonders verstrahlter Faschist („Reichsbürger”) einen Polizisten erschossen, der bei der Beschlagnahme seiner – also des Faschisten – Waffen helfen wollte.

    Da es jetzt einer der ihren war – und nicht einer der hunderten anderer Menschen, die FaschistInnen in der BRD in den letzten 30 Jahren umgebracht haben –, ging daraufhin ein Ruck durch die Polizei. Schon nach einigen weiteren, wenn auch weniger tödlichen, Vorfällen dieser Art begann sie, diesem Milleu den Waffenbesitz etwas zu erschweren und ließ sich dafür auch entsprechende Gesetze geben. Disclaimer: Nein, ich glaube nicht, dass das was bringt – aber das ist ein anderes Thema.

    In Zeiten jedoch, in denen die Antisprache vom Extremismus Staatsraison ist, treffen staatliche Maßnahmen „gegen rechts“ natürlich gleich doppelt Linke. Und deshalb vermute ich, dass Menschen mit einem PHW „linksmotivierter Gewalttäter“ (und dafür reichte dem baden-württembergischen LKA schon das eingestellte Polizeischutzverfahren mit Landfriedensbruchgeschmack) ebenfalls keine Waffenscheine mehr bekommen sollen. Sollte es eine nichtleere Schnittmenge von Schützenverein und Antifa geben, dürften bestehende Waffenscheine wohl eingezogen werden.

    Dieser Teil findet ziemlich sicher statt. Spekulativ ist, dass der Mechanismus dazu die PIAV-WSK ist, denn ich habe wie gesagt keine Ahnung von Waffenscheinen und der Art, wie sie vergeben werden. Es ist aber plausibel, dass die Behörden, die sie ausgeben, irgendeine Regelanfrage an die Polizei stellen, und die dann halt Bedenken aus der PIAV-PSK generiert.

    Solange das nur Menschen aus der Schnittmenge von Schützenverein und Antifa trifft, dürfte die Wirkung minimal sein. Aber auch ein Blick in eine trübe Glaskugel reicht mir für die Vorhersage, dass es ein paar Leute ziemlich hart treffen wird, wenn sie plötzlich in den Ruch der Sprengstoffkriminalität kommen. Und wenn es nur ist, dass sie deshalb eine Lehrstelle in einer doofen Behörde verlieren.

    Nachtrag (2023-07-08)

    Wenige Stunden, nachdem ich das geschrieben habe, war ich beim Tag der offenen Tür des Rhein-Neckar-Kreises. Dabei hatte ich Gelegenheit, die Leute, die hier die Waffenscheine ausstellen, nach der PIAV-WSK zu fragen. Die Antwort war nur beschränkt kohärent, aber es klang so, als könnten die Leute dort zwar direkt auf das Bundeszentralregister zugreifen, hätten aber von der PIAV-WSK noch nichts gehört. Das ist zumindest konsistent mit meiner Spekulation.

    [1]

    Tatsächlich machen das fast alle Polizeien so: die behördlichen Datenschutzbeauftragten bearbeiten die Anträge. Mich hat das immer etwas irritiert, denn eigentlich sollten diese den Auskunftsprozess beaufsichtigen und begleiten, und das nicht bei sich selbst tun müssen; ich verweise auf Artikel 39 Abs. 1 DSGVO:

    Dem Datenschutzbeauftragten obliegen zumindest folgende Aufgaben:

    1. Unterrichtung und Beratung des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters und der Beschäftigten, die Verarbeitungen durchführen, hinsichtlich ihrer Pflichten nach dieser Verordnung sowie nach sonstigen Datenschutz­ vorschriften der Union bzw. der Mitgliedstaaten;
    2. Überwachung der Einhaltung dieser Verordnung, anderer Datenschutzvorschriften der Union bzw. der Mitgliedstaaten sowie der Strategien des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters für den Schutz personenbezogener Daten einschließlich der Zuweisung von Zuständigkeiten, der Sensibilisierung und Schulung der an den Verarbeitungsvorgängen beteiligten Mitarbeiter und der diesbezüglichen Überprüfungen;
    3. Beratung — auf Anfrage — im Zusammenhang mit der Datenschutz-Folgenabschätzung und Überwachung ihrer Durchführung gemäß Artikel 35;
    4. Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde;
    5. Tätigkeit als Anlaufstelle für die Aufsichtsbehörde in mit der Verarbeitung zusammenhängenden Fragen, einschließlich der vorherigen Konsultation gemäß Artikel 36, und gegebenenfalls Beratung zu allen sonstigen Fragen.

    Bei den Behördenleitungen kommt das aber schon traditionell an als „Na ja, der ganze Hippiequatsch halt“.

  • Wenn Gewalt doch mal hätte helfen können

    Als vor ein paar Tagen der französische Fußballspieler Kylian Mbappé angesichts der jüngsten Riots in Frankreich forderte, die „Zeit der Gewalt muss enden“ – und schon gleich, als Jakob Augstein bereits 2014 etwas Ahnliches zum großmächtigen Ringen über die Kontrolle der Ukraine sagte –, konnte ich dem zustimmen. Es ist, in meinen Worten, nicht immer einfach, aber immer weise, der autoritären Versuchung zu widerstehen, auch und gerade, wenn mensch wie die Leute aus der Banlieue eigentlich gar nicht die Machtmittel hat, ihr nachzugeben.

    Allein: Manchmal könnte ich doch schwach werden und mich auf eine Erwägung einlassen, wie es so wäre mit einem verhältnismäßigen Einsatz von Gewalt. So etwa gestern, als ich das Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 4.6.2023 hörte. Es erinnerte an eine strenge Regulierung von Hutnadeln im Jahr 1913, in diesem Fall in Seattle. Die Bewegung hatte aber wohl die halbe Welt erfasst:

    In Zürich werden an einem Tag Geldstrafen gegen hundertzehn eigensinnige Hutnadelträgerinnen verhängt, in Sidney gehen sechzig Frauen ins Gefängnis.

    Hutnadeln? Hutnadeln.

    Eine Fayencefigur einer Frau mit Dreispitz und Jagdgewehr

    Lange vor 1913 und den Hutnadeln gab es bewaffnete Frauen, jedenfalls ausweislich dieser Jägerin aus der Frankenthaler Fayenceproduktion des 18. Jahrhunderts, die im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg zu sehen ist.

    Die Geschichte, die die DLF-Autorin Ulrike Rückert erzählt, klingt zunächst nicht unplausibel:

    Mit drakonischen Strafen will die westliche Männerwelt die langen Nadeln unschädlich machen, mit denen die Frauen ihre Wagenradhüte in der Frisur feststecken, die aber auch zur Waffe geworden sind.

    Vor allem dort, wo sich Frauen um 1900 immer mehr auch allein zeigen, auf der Straße, in Geschäften und Fabriken, in Konzerten und bei politischen Versammlungen. Und wo sie Männer erleben, die sich an sie heran machen, Grapscher und Glotzer, die Frauen ohne männliche Begleitung als Freiwild behandeln.

    Fraglos reagieren die Hutnadel-Verordnungen auf einen profunden gesellschaftlichen Wandel, den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum mehr jemand im Blick hatte. Die erste (bürgerliche) Frauenbewegung nämlich, die etwas verkürzend unter dem Schlagwort Suffragetten diskutiert wird und von der vielleicht noch die despektierliche Rede von den „Blaustrümpfen“ in Erinnerung war, schickte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts an, die Lage von Frauen in westlichen Gesellschaften erheblich zu verbessern.

    Dabei ging es beileibe nicht nur ums Wahlrecht („Suffrage”). In Heidelberg etwa betrieb wenig später Camilla Jellinek eine Rechtsschutzpraxis für Frauen, in der es vom damals schon skandalösen 218er bis zu den gleichfalls in unsere Zeit weisenden Lohnfragen um das ganze Spektrum von sexistischer Diskriminierung ging. Gleich in ihrer Neuenheimer Nachbarschaft publizierte Elise Dosenheimer derweil zu Sexualethik, Koedukation und ferministischem Pazifismus.

    Es versteht sich fast von selbst, dass die Herrschaft des Faschismus in weiten Teilen Europas dem allen ein Ende machte, und dass im Rest der Welt Gemetzel und Patriotismus um den zweiten Weltkrieg herum der ersten Frauenbewegung schwer zusetzten. In meinem Geschichtsunterricht, nochmal 40 Jahre später, hatte sie allenfalls mal kurz beim Thema Wahlrecht einen Statistenauftritt. Kein Wort von militanten Protesten oder auch arg danebengegangenen Blockadeaktionen.

    Ich hatte auf diese Weise schon viele Sitzblockaden hinter mir, als ich zum ersten Mal von Emily Wilding Davison hörte. Genau an dem Tag, an dem die Männer im Stadtrat von Seattle Hutnadeln regulierten, versuchte sie, das gruselige Galopprennen in Epsom zur Bühne ihres Protests zu machen. Ausgerechnet das Pferd des Königs hat sie totgetrampelt. Vom Hutnadel-Kampf wiederum habe ich in der Tat zum ersten Mal gestern gehört.

    Vor diesem Hintergrund vermute ich, dass die Hutnadelgesetze weniger ein konkretes Problem mit einer spezifischen Waffe adressierten als vielmehr ein Versuch waren, einen autoritären Hebel gegen die sich viel breiter äußernde Frauenbewegung zu finden. Eine naheliegende Parallele wäre das Geraune von „Clankriminalität“, mit dem Polizeien und Innenministerien zur Zeit einen autoritären Umgang mit dem Alltagsrassismus in der Republik exerzieren. Das schließe ich aus folgender Passage aus der DLF-Sendung, die etwas Atmo von 1913 schafft:

    Ein Mann wird mit vorgehaltenen Hutnadeln ausgeraubt, und in Chicago duellieren sich zwei Frauen auf offener Straße. Um 1910 herrscht Hutnadel-Alarm. Die Zeitungen sind plötzlich voll von Meldungen [über wüste Verletzungen durch Hutnadeln].

    Wahrscheinlich hatten die meisten Berichte dieser Art schon irgendeine Sorte von Verankerung in der Realität, wie ja auch einige der „Clankriminalität“-Schoten nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Aber genauso wie diese riechen jene stark nach Kampagnenjournalismus und -politik, nach einem kraftvollen Aufblasen knallbunter, aber völlig nebensächlicher Randprobleme.

    Ob heute mehr Frauen beim nächtlichen Radeln weniger mulmige Gefühle hätten, wenn damals die Hutnadeln nicht reguliert worden wären? Wahrscheinlich nicht, siehe oben zur autoritären Versuchung. Es könnte aber auch sein, dass der Hutnadel-Kampf doch ein Beispiel liefert, in der Gewalt vielleicht wirklich etwas zum ein wenig Besseren hätte wenden können.

  • Horröses Heidelberg 1: Das Kriegerdenkmal im Hexenturm

    Wer mal in der Heidelberger Altstadt studiert oder gelehrt hat, mag hunderte Male vorbeigelaufen sein am letzten Rest der mittelalterlichen Heidelberger Stadtbefestigung, dem „Hexenturm“, der seit den frühen 1930er Jahren Teil des etwas irreführend immer noch „Neue Universität” genannten Hörsaalkomplexes ist. Ich jedenfalls habe das Ding nie genauer betrachtet. Und ich habe nie das ominöse „1914 1918“ wahrgenommen, das in einer Art Loggia im ersten Stock an die Wand gepinnt ist:

    Ausschnitt aus einen grob gemauerten Turm.  Es öffnet sich eine Art Loggia, an deren weiß verputzer Rückwand die Zahlen 1914 und 1918 rechts und links von einem Kreuz zu erkennen sind.

    Wo diese Zahlen stehen, befindet sich in Deutschland gerne eines der furchtbaren Denkmäler für Soldaten der diversen deutschen Kriege seit 1870; das Kreuz und die zwei Kranzaufhängeringe liefern im vorliegenden Fall weitere Indizien. Im Rahmen einer Hexenturm-Führung anlässlich des Mittelalter-Tags der Uni war ich gestern (leider ohne Kamera) dort oben, und es stellte sich heraus: Ja, das ist Kriegergedenken, und zwar Hardcore.

    Laut Rhein-Neckar-Wiki wurde diese gruselige Stätte ab Herbst 1932 (also beginnend noch vor der Machtübergabe an die NSDAP auf Reichebene[1]) errichtet. Sie zählt bis heute die Angehörigen der Uni Heidelberg auf, die sich im ersten Weltkrieg für Kaiser und Vaterland haben massakrieren lassen – aufgeteilt nach Lehrern (wenige) und Studenten (viele) versteht sich. Darüber hat damals ein Steinmetz in den Sandstein gehämmert: „Deutschland soll leben, und wenn wir sterben müssen”.

    Das steht bis heute da. Angesichts aktueller Ausbrüche von Patriotismus bin ich mir gar nicht so sicher, wie viele Menschen es im Augenblick eigentlich noch abstoßend finden, Nationen – was immer das nun sein mag – über Menschenleben zu stellen.

    Schon deshalb würde ich das Zeug auch nicht wegmeißeln, zumal weil (oder obwohl?) die Gruselstätte, soweit ich weiß, nicht öffentlich zugänglich ist. Eine Einordnung vor Ort, dass der Schöpfer dieser Zeile, Heinrich Lersch, im ersten Weltkrieg ziemlich kaputtging und später trotzdem treu der NSDAP diente, wäre aber eigentlich schon angezeigt. Dazu könnte etwa erwähnt werden, dass es die NSDAP-Funktionäre eilig hatten, Lerschs hohl schepperndes Nationalpathos zu belohnen: Schon im Mai 1933 beriefen sie ihn in die Preußische Akademie der Künste. Er selbst brauchte noch ein wenig für den Beitritt – seine NSDAP-Mitgliedsnummer ist 3701750 (das entspricht einem Beitritt im Jahr 1935).

    Ein teuer Gefolgsmann der faschistischen Regierung von 1933ff war er dennoch von Anfang an, etwa durch Werbung für die Einsetzung von Hitler als Reichspräsident 1934. Vor noch schlimmeren Fehltritten hat ihn vermutlich der erste Weltkrieg bewahrt, denn ohne seine Kriegsschäden hätte ihn eine Lungenentzündung wahrscheinlich nicht schon im Alter von 46 Jahren (im Jahr 1936) umgebracht.

    Zumindest so viel könnte im Hexenturm doch wirklich zu lesen sein, etwa analog zur Tafel, die am Turmeingang den auch nicht sehr geschmackvollen Namen des Bauwerks[2] kommentiert. Oder wir warten ein paar Jahre und widmen in reflektierteren Zeiten das Gruselkabinett zu irgendwas hinreichend Pazifistischem um.

    [1]In Heidelberg regierte bereits seit 1928 Carl Neinhaus; da er am 1.5.1933 völlig entspannt und zwanglos in die NSDAP eintrat und erst die Alliierten seine Herrschaft vorläufig beendeten, ist es nicht sehr weit hergeholt, die Stadtregierung von 1932 bereits unter „faschistisch“ zu rubrizieren. Die Uni war spätestens seit dem Fall Gumbel ohnehin fast flächendeckend stramm rechtsautoritär. Wie weit so eine Qualifizierung auch für Neinhaus' weitere Regierungszeit auf einem CDU-Ticket (1952-1958) zu vertreten ist, mag ich nicht entscheiden.
    [2]Der Name Hexenturm ist übrigens zutiefst neuzeitlich. Kein Zusammenhang mit irgendeiner Sorte klerikal inspirierter Verfolgung ist historisch nachgewiesen, und der Name ist, soweit rekonstruierbar, auch eine Schöpfung des romantisch bewegten 19. Jahrhunderts.
  • Fiese Metriken: Das Beispiel Tarifbindung

    Gerade als Physiker habe ich vor allem Skepsis übrig für Metriken aller Art, fast egal ob Web-Analytik, Human Development Index oder Mensa-Ranking. Ich behaupte nämlich mit einer Familienportion Dünkel, dass es außerhalb meiner Disziplin und ihrer Randbereiche (mit Verlaub: von Astronomie bis Zoologie) meist schon unmöglich ist, interessante Gegenstände – „unserer Anschauung oder unseres Denkens“ – zu finden, die auch nur im Prinzip durch eine oder wenige Zahlen zu charakterisieren wären. Über die Existenz zuverlässiger und ethisch passabler Messverfahren wäre dann noch in einem zweiten Schritt zu reden.

    Etwas weniger fundamental gesprochen: Wenn du genug weißt, um eine Metrik korrekt interpretieren zu können, brauchst du die Metrik nicht mehr.

    Ein, wie ich finde, schlagendes Beispiel dafür findet sich im höchst hörenswerten DLF-Hintergrund Politik vom 30.5.2023, wo berichtet wird, die Tarifbindung[1] liege im Bereich der Sklav^WLeiharbeit bei nachgerade unglaublichen 98%. Ich darf das kurz mit Tabelle 62361-0501 vom Statistischen Bundesamt für 2018 kombinieren:

    Histogramm mit allen möglichen Branchen und ihrer Tarifbindung. Leiharbeit und der öffentliche Dienst sind bei rund 100%, alles andere eher zwischen 5 und 50%, im Mittel bei 25%.

    Die Daten vom statistischen Bundesamt waren etwas sperrig in der Handhabung. Ich habe deshalb ein kleines Python-Skript geschrieben, um diesen Plot zu erzeugen.

    Selbst ich als radikaler Metrikskeptiker hätte, bevor ich die Sendung gehört habe, die Tarifbindung ziemlich blind als einen brauchbaren Indikator für die mittlere Erträglichkeit der Arbeit in einer Branche akzeptiert.

    Aber nein, wer die die DLF-Sendung hört, wird die Einschätzung, dass Leiharbeit trotz aller freundlich aussehenden Metriken eine ganz besonders unerfreuliche Erscheinung des marktradikalen Wirtschaftens[2] darstellt, nicht revidieren müssen. Die hohe Tarifbindung liegt einfach nur daran… ach, hört selbst. Dann wisst ihr genug, um die Metrik richtig zu interpretieren. Und braucht sie, wie versprochen, für eine informierte Beurteilung auch nicht mehr.

    Da der Deutschlandfunk leider nur noch selten Transkripte veröffentlicht (ich vermute den VZBV dahinter) und Lesen schneller ist als Hören, habe ich die Radiosendung mal durch whisper gejagt. Ich behaupte jetzt einfach mal, dass ich für den DLF (und die Leute, die zu faul zum Hören sind) handele, wenn ich ein ungefähres und weitgehend unkorrigiertes Transkript ihrer Sendung hier anhänge. Die Rechte liegen jedenfalls beim DLF bzw. vielleicht bei der Autorin; das folgende Zitat verteile ich nicht unter CC0 (aber es wäre schön, wenn der DLF endlich CC-BY machen würde…).

    Deutschlandfunk Hintergrund: „Gleiche Arbeit, weniger Lohn – Das System Leiharbeit vor Gericht“

    von Ann-Kathrin Jeske

    Ich habe damit angefangen Ende 2015, ich war die meiste Zeit in Logistik betrieben, in der Lagerwirtschaft, damals ein völlig neues Fach für mich.

    Thomas B. erinnert sich daran, wie sie anfing, seine Zeit als Leiharbeiter. Er praktikisten, das, was Kunden online bestellten, sortierte er in einem Lager in Pakete, machte die Waren für den Transport fertig, die am Ende bunt aufgereit in den regalen großer Kaufhäuser standen.

    Und es waren alles Angelehrte Tätigkeit nicht vermeistens als Hilfe eingesetzt und damit in der untersten Entgeltgruppe.

    B. erzählt, dass während er auf einer Parkbank in Köln sitzt. Thomas B. ist allerdings nicht sein echter Name, er muss aufpassen, welche Informationen er über sich preisgibt. Denn B. ist aktuell auf Jobsuche, mit Anfang sechzig ohnehin nicht so leicht und das, was er über seine Zeit als Leiharbeiter erzählt, könnte bei Arbeitgebern schlecht ankommen.

    Anfangs fand es ganz interessant, ständig neue Sachen kennenzulernen, aber irgendwann stresst es einen Schuhen, dass man sich ständig ein neues Umfeld gewinnen muss und vor allem merkt man halt immer wieder, ich verdiene deutlich weniger als die Stammkollegen.

    Insgesamt fünf und einhalb Jahre arbeitete Thomas B. als Leiharbeiter, davon gibt es in Deutschland derzeit mehr als achthunderttausend. Je länger er das machte, desto mehr störte ihn eine Sache, obwohl er Hand in Hand mit der Stammbelekschaft arbeitete und die gleiche Arbeit machte, landete auf seinem Konto am Ende des Monats weniger Geld.

    Ein Problem, das sich in Zahlen fassen lässt, neunzehn Prozent weniger als die Stammbelekschaft, bekommen Leihbeschäftigte laut der Bundesagentur für Arbeit in der Regel für die gleiche Arbeit. Bei Thomas B. waren es mal zwei- bis drei Euro die Stunde weniger, in dem Metallbetrieb, für den er zum Schluss arbeitete, ging er mit zehn Euro pro Stunde nach Hause, die Stammbeschäftigten mit sechzehn. Diesen Lohnunterschied klagt er nun vor dem Arbeitsgericht in Köln ein.

    Das wollte ich mir nicht gefallen lassen, obwohl ich einfach gedacht habe, das ist ungerechtes Stinkt, und Vorteil von den Leiharbeitern hat der Einsatzbetrieb, der die Leute schnell wieder loswerden kann, der die als Rückmittel einsetzen kann, den Vorteil hat die Leihfirma, die daran verdient und der einzige, der in dem Spiel verliert, ist der Leiharbeiter. Und der muss auch zu den Gewinnern gehören.

    So kann man auch ein Richtungsweisen des Urteil des Europäischen Gerichtshofs zusammenfassen, zumindest zu den Verlierern sollen Leiharbeiter nicht mehr gehören. Werden Leiharbeiter im Vergleich zur Stammbelekschaft schlechter bezahlt, müssen sie dafür einen gleichwertigen Ausgleich bekommen, etwa durch deutlich mehr Urlaub oder Ähnliches.

    Dem Urteil liegt ein ganz ähnlicher Fall wie der von Thomas B. Eine Leiharbeiterin aus Bayern hatte sich bis zum Bundesarbeitsgericht hochgeklagt. Sie prangerte an, dass sie, als Leiharbeiterin nur gut neun Euro die Stunde verdient habe, während ihre stammbeschäftigten Kolleginnen und Kollegen mehr als dreizehn Euro fünfzig bekommen hätten.

    Und das, obwohl eine EU-Richtlinie den Grundsatz Equipay in der Leiharbeit schon lange vorschreibt, also gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Doch die entsprechende EU-Richtlinie bietet den Mitgliedstaaten ein Schlupfloch, das man sich in Deutschland zu Nutze macht.

    Ist der schlechtere Lohn in einem Tarifvertrag geregelt, darf in der Leiharbeit doch schlechter bezahlt werden als in den Stammbetrieben. So einfach geht das nicht mehr, urteilte im Dezember zw.z.z. der EUGH.

    Der EUGH hat gesagt, die Leiharbeitsrichtlinie lässt es zwar zu, dass man durch Tarifvertrag, besondere Regelung schafft, es muss aber der sogenannte Gesamtschutz des Leiharbeitnehmers erhalten bleiben und diesen Gesamtschutz haben sie in der Weise definiert, dass sie gesagt haben, es muss, wenn man vom Lohn nach unten abweicht, auf der anderen Seite eine Kompensation geben, zum Beispiel längeren Urlaub oder ähnliches.

    Also das Schutzniveau muss gleichwertig sein und das ist etwas Neues.

    Wolfgang Deupler ist emeritierter Professor für Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht der Universität Bremen. Gesamtschutz, das heißt für den EUGH, wenn Leihbeschäftigte schlechter bezahlt werden als Stammbeschäftigte, müssen sie dafür einen wesentlichen Ausgleich bekommen, da genügt nicht ein Werbe geschenktes Leiharbeitsunternehmens wie der Generalanwalt des EUGH anmerkt.

    Sondern für deutlich weniger Lohn muss es beispielsweise deutlich mehr Urlaub geben. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in der Sache nicht das letzte Wort. Das liegt an der Arbeitsteilung der Gerichte. Der EUGH ist für die Auslegung des EU-Rechts zuständig, was genau die Entscheidung aber für das deutsche Rechtssystem bedeutet, muss das Bundesarbeitsgericht entscheiden, das den Fall nun wieder auf dem Tisch hat.

    Ich kann mir das eigentlich nicht anders vorstellen, als dass das Bundesarbeitsgericht sagen wird, Tarifverträge ohne Kompensation können den Equal Pay-Grundsatz nicht verdrängen, also gilt der gesetzliche Grundsatz von Equal Pay. Und das ist eine Aussage, die muss eigentlich in dieser Deutlichkeit kommen, dann können sich ja andere Leute darauf berufen und dann kann man daraus konsequenzen sie.

    Für den Fall der Leiharbeiterin aus Bayern würde das bedeuten, wenn sie beweisen kann, dass sie tatsächlich rund drei Euro fünfzig die Stunde weniger verdient hat, müsste das Leiharbeitsunternehmen ihr den Unterschied zahlen, denn im Tarifvertrag der Fürsigalt war ein Ausgleich für den schlechteren Lohn nicht vorgesehen.

    Genauso ist es auch beim ehemaligen Leiharbeiter Thomas B. Auch sein Fall ist bis zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ausgesetzt. Nicht nur Leihbeschäftigte, auch Gewerkschaften, Leiharbeitsunternehmen und die Bundespolitik schauen deshalb nun nach Erfurt zum Bundesarbeitsgericht, weil es die weitreichende Grundsatzfrage gleicher Lohn für gleicher Arbeit geht.

    Egal wie das Bundesarbeitsgericht entscheidet, es dürfte eine Entscheidung darüber werden, ob das System der Zweiklassenbezahlung von Leiharbeitern und Stammbeschäftigten ein Ende findet oder weitergeht. Mehr als achthunderttausend Beschäftigte arbeiten in Deutschland in der Leiharbeit.

    In wohl keinem anderen Bereich ist die Tarifbindung so hoch, nämlich achtundneunzig Prozent. Das klingt gut, aber wie gesagt, erst die Tarifverträge ermöglichen die schlechtere Bezahlung, sie sind das Schlupfloch der europäischen Richtlinie, das in Deutschland genutzt wird.

    Diese Tarifverträge könnten neu verhandelt werden müssen, wenn das Bundesarbeitsgericht die Rechte von Leiharbeitern stärken sollte. Beim Interessenverband der deutschen Zeitarbeitsunternehmen EGZ mag man sich dieses Szenario noch nicht ausmalen und schätzt auch die juristische Ausgangslage anders ein.

    Unseresachtens war das deutsche Recht den Gesamtschutz der Zeitarbeitskräfte, wir bieten gute Arbeitsbedingungen in unseren Tarifverträgen, wir haben jetzt im Januar noch einmal ein Tarifabschluss gemacht mit Lohnsteigerung von bis zu dreizehn Prozent in einer Laufzeit von einem Jahr, also da müssen wir uns nicht verstecken, wenn man das vergleicht mit den Abschlüssen in anderen Branchen.

    So Martin Dreyer vom Arbeitgeberverband EGZ, er argumentiert, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter in Deutschland gleich doppelt geschützt seien. Erstens durch die Tarifverträge und zweitens durch das sogenannte Arbeitnehmer-Überlassungsgesetz, das Gesetz also, das in Deutschland die EU-Richtlinie zur Leiharbeit umsetzt. Darin steht, wenn ein leihbeschäftigter Unbefristet angestellt ist, muss das Leiharbeitsunternehmen ihn auch in der Zeit zwischen zwei Einsätzen bezahlen.

    Ein Einsatz bei einem Einsatzunternehmen ist zu Ende gegangen, man hat keinen unmittelbaren Anschluss-Einsatz und dann ist der Mitarbeiter im Gründe genommen, er kann zu Hause sein, er muss nicht arbeiten und …

  • Unerwartete Konsequenzen am Klo

    Ich bin ein großer Fan von Geschichten, in denen Leute etwas tun, das über ein paar verwinkelte Ecken noch was ganz anderes bewirkt, das zumindest nicht offensichtlich erwartbar ist, so etwa wie bei den Akazien, die verkümmerten, weil sie mit Elektrozäunen vor Elefanten geschützt wurden.

    Ganz erheblich profaner ist die Geschichte rund um die Handtuchspender bei uns am Institut. Bis April diesen Jahres hatten wir dazu Geräte, die mit einem recht raffinierten Mechanismus sehr lange waschbare Stofftücher abrollten. Das war einerseits prima, weil die Hände so wirklich trocken wurden und nicht viel Papier nach einfachem Gebrauch weggeworfen wurde. Andererseits wurde jedes Handtuch-Äquivalent effektiv nur ein Mal benutzt, so dass die Rollen häufig gewechselt werden mussten. Mit Logistik, Waschen und Trocknen wird die Ökobilanz der Stofftücher vermutlich nicht nennenswert besser gewesen sein als die der üblicheren Papierhandtücher.

    Um die Ökobilanz am CO₂-Fußabdruck einzuordnen: Händetrocknen ist eines der Paradebeispiele von Mike Berners-Lee[1] für Handlungsweisen, die viele Menschen für wichtig halten, die aber für ihren tatsächlichen Fußabdruck fast keine Rolle spielen. Für ein Mal Händetrocknen schätzt er je nach Methode:

    3 g CO2e Dyson Airblade [obwohl so eine Airblade eher zu den Geräten gehören wird, bei denen der Herstellungsaufwand relativ zum Energieverbrauch während des Betriebs verschwindet, hätte ich gerade bei der Hi-Tech-Lösung gerne was zu vergegenständlichten Emissionen gelesen]

    10 g CO2e one paper towel

    20 g CO2e standard electric drier

    Wenn ich im Jahr 600 Mal meine Hände im Institut abtrockne (also rund drei Mal pro Arbeitstag), ist das so oder so schlimmstenfalls das Äquivalent von einem Kilo Käse (das Berners-Lee auf 12 kg CO₂e schätzt). Mit der Kopfzahl der BRD-Emission (2/3 Gt/a) ist zum Vergleich der mittlere Footprint pro Einwohner auf etwas wie 8000 kg abzuschätzen. Die Handtücher sind also für Normalos weit unterhalb von einem Promille, und selbst Ökos müssten sich hier im Land schon ganz schön bösen chronischen Durchfall zuziehen, um mit betrieblichem Händetrocknen auch nur auf ein halbes Promille ihres Fußabdrucks zu kommen.

    Wie auch immer: die schönen Stoffhandtuchspender sind inzwischen verschwunden, vielleicht aus Kostengründen, vielleicht, weil der Lieferant sie nicht mehr anbietet, vielleicht wirklich, weil sie alles in allem eher beim Fußabdruck von Berner-Lees „standard electric dryer“ rausgekommen sind. Stattdessen hat die Uni ziemlich flächendeckend das hier beschafft:

    Ein Papierhandttuchspender mit einer aufgeklebten zweisprachigen Nachricht: „Wegen Verstopfungsgefahr: Nur Toilettenpapier KEIN Handtuchpapier und ähnliches herunterspülen! Danke!

    Neue Handtuchspender an der Uni Heidelberg mit liebevollem Denglisch. Ich weiß nicht, wer es geschrieben hat, aber „constipation“ (Verstopfung im Darm, statt clogging) und „Wash down“ (ein Getränk kippen, statt flush) riecht durchaus nach subtilem Insider-Humor mit Fäkalhintergrund. Ich vermute Kommunikationsguerilla.

    Wie der aufgeklebte Zettel schon vermuten lässt, hatte der ökologisch vielleicht zweitrangige Schritt ernsthafte und jedenfalls von mir unerwartete Konsequenzen an anderer Stelle: Keinen Monat nach der Abschaffung der Stoffrollen drückte es übelriechendes Abwasser aus der Toilette im Erdgeschoss, und für 24 Stunden musste, wer musste oder Teewasser wollte, ins Nebengebäude gehen.

    Diagnose: heruntergespülte Papierhandtücher hatten das Abwasserrohr komplett dicht gemacht. Mit den alten Stoffhandtüchern wäre das nicht passiert. Also: Es ist nicht passiert.

    Ich habe übrigens auch eine Konsequenz gezogen, selbst wenn mein CO₂-Fußabdruck leider so oder so praktisch unbeeinflusst ist. Dafür liefert meine Konsequenz jede Menge Hitchhiker-Bonuspunkte. Ich habe nämlich ein privates Handtuch ins Büro gehängt, das ich nun viele Male verwende und dazu jeweils zum Klo trage („every day is Towel Day“). Weil ich das Handtuch schon hatte, trockne ich meine Hände damit fast CO₂-frei.

    Nur: wo soll in einem Büro ein Haken zum Aufhängen von Handtüchern herkommen? Nun, ich hatte irgendwann während einer schrecklich langweiligen Telecon eine alte Festplatte aus der SATA-Ära zerlegt. Schmeißt die Dinger auf keinen Fall weg, bevor ihr die Magnete der Schrittmotoren erbeutet habt, denn die sind großartig. Zum Beispiel können sie zusammen mit einer Büroklammer und einem Heizkörper einen prima Handtuchhaken machen, der mir bereits seit zwei Monaten taugt:

    Foto des im Fließtext beschriebenen Murkses.
    [1]Berners-Lee, M. (2011): How Bad Are Bananas, Vancouver: Greystone, ISBN 978-1-55365-832-0
  • Friedensforschung als Beruf

    Zu den verheerenderen Publikationen des 20. Jahrhunderts gehört Max Webers Politik als Beruf. Das Werk inspriert bis jetzt all die Rädchen vor allem deutscher Machtapparate – und nochmal ganz besonders die, die am Anfang ihrer Karriere mal menschenfreundlichere Positionen eingenommen haben –, allen möglichen fiesen Quatsch zu rechtfertigen durch „Verantwortungsethik“, während sie Kritik ihrer ehemaligen MitstreiterInnen als (sc. verantwortungslose) „Gesinnungsethik“ abschmettern können, ohne sich mit Argumenten herummühen zu müssen.

    Vor diesem Hintergrund scheinen die laut taz-Autor Pascal Beuker „führenden deutschen Friedensforschungsinstitute“[1] auch eher auf Beruf und weniger auf Forschung setzen. Beuker berichtete nämlich im Artikel Langer Abnutzungskrieg (taz vom 12.6.; in der Papierausgabe war glaube ich keine Helden-Illustration dabei):

    Zum einen müsse die Ukraine militärisch, ökonomisch und politisch weiter nach Kräften unterstützt werden. Das werde wohl „auf sehr lange Zeit“ notwendig sein, „vermutlich sogar über Jahrzehnte“, sagte [die Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung] Deitelhoff. […]

    „Die sich [aus einer einseitigen Einstellung des Gemetzels] ergebende militärische Niederlage der Ukraine würde voraussichtlich deren Zerschlagung nach sich ziehen, einhergehend mit einer Besatzungspraxis von Folter, Verschleppung, sexueller Gewalt und gezielten Tötungen, die wir bereits jetzt in den von Russland besetzten Gebieten beobachten“, sagte Deitelhoff.

    Gut: „Friedens- und Konfliktforschung“ ist im Profibereich („als Beruf“) eher ein Chiffre für „geopolitische Beratung von Außen- und Militärministerium“ (oder, mit etwas mehr Klartext: „Tipps fürs Fertigmachen der Feinde“), so dass ich mich über diese friedenspolitische Bankrotterklärung nicht wirklich gewundert habe. Vielleicht ist der LeserInnenbriefredaktion der taz diese kleine Unehrlichkeit aufgefallen, denn sie hat den folgenden Leserbrief nicht publiziert.

    Aber weil ich nicht oft genug auf die offensichtlichen Parallelen zwischen der derzeitigen Öffentlichkeit und der im ersten Weltkrieg hinweisen kann, kommt er dann hier:

    Liebe Redaktion,

    Wenn einem Forschungsinstitut zur Konfliktbewältigung nur Krieg „über Jahrzehnte“ einfällt, wird es wohl kein Friedensforschungsinstitut sein, schon gar kein „führendes“, wie Pascal Beuker meint. Und tatsächlich: Selbst wer (soweit es mich betrifft irrigerweise) meint, ein guter Krieg sei einem schlechten Frieden vorzuziehen, sollte jedenfalls nicht mit den Durchhalteparolen von Verdun kommen. Auch damals hieß es unter großzügiger Nutzung rassistischer Stereotype (die Kolonialtruppen!), „die Franzosen“ würden, wenn „wir“ nicht mehr schießen würden, vergewaltigend und mordend durch die Lande ziehen. Faktencheck bei der Ruhrbesetzung 1923-1925: Nichts davon. Die französische Besatzung war besser als das Wüten der deutschen Wehrmacht im Ruhrgebiet im Gefolge des Kapp-Putsches 1920, und besser als die Heimatfront während des ersten Weltkriegs sowieso.

    -- Anselm Flügel

    Nachtrag (2023-07-01)

    Zum Thema Phantasmen im Hinblick auf Kolonialtruppen bin ich jüngst bei einer Museumspass-Tour nach Mainz im dortigen Naturkundemuseum auf folgendes Zitat des immer noch von vielen als Lichtfigur der Weimarer Republik verehrten ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) gestoßen:

    Foto eines weißen Textes auf schwarzem Grund: „Die Verwendung farbiger Truppen niederster Kultur als Aufseher über eine Bevölkerung von der hohen geistigen und wirtschaftlichen Bedeutung der Rheinländer [ist] eine herausfordernde Verletzung der Gesetze europäischer Zivilisation“ (Friedrich Ebert, 13.2.1923)

    Aber nun gut: Das ist der Ebert, der sich mit den protofaschistischen Freikorps verbündete gegen SpartakistInnen, die Müncher Räterepublik oder die im Leserbrief erwähnten ArbeiterInnen an der Ruhr. Ein weiteres Beispiel dafür, dass es wirklich keine Inflation braucht, um das Ende der Weimarer Republik zu erklären.

    Und wo ich schon in die Geschichte blicke: In gewisser Weise noch mehr Parallelen bestehen zum Krimkrieg der 1850er Jahre, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Ort des Gemetzels oder die erstmalige breite Anwendung jeweils neuer Techniken in der Berichterstattung. Das ist mir neulich aufgefallen, als ich im schönen Geschichtswerk „The Age of Capital 1848-1875“ des 2012 verstorbenen britischen Großhistorikers Eric Hobsbawm folgende Passagen las:

    Im Zeitalter der Revolutionen [laut Hobsbawm 1789-1848; das ist auch der Titel des Vorgängerbuchs], oder jedenfalls nach der Niederwerfung Napoleons […] waren die Regierungen der Großmächte extrem darauf bedacht, größere Konflikte untereinander zu vermeiden. Ihre Erfahrungen schienen nahezulegen, dass größere Kriege und Revolutionen gerne miteinander einhergehen. […] Nach der Niederwerfung Napolons 1815 hatten die Großmächte für über dreißig Jahre ihre Waffen nicht gegeneinander eingesetzt und ihre Militäroperationen [sic!] beschränkt auf die Unterdrückung von nationalem oder internationalem Umstürzlertum, auf diverse lokale Unruheherde und auf die Expansion in zurückgebliebene Teile der Welt.

    [Hobsbawm erzählt im Folgenden von weniger besorgten europäischen Regierungen, die, nach dem harmlosen Ausfizzeln der 1848er-Revolutionen entspannter im Hinblick auf aufmüpfige Untertanen, sich wieder mehr ums gegenseitige Abjagen von Filetstückchen kümmerten.]

    Das erste größere Ergebnis dieser Störung war der Krimkrieg (1854–1856). Von allen Kriegen der Zeit zwischen 1815 und 1914 kam dieser einem allgemeinen europäischen Krieg am nächsten. Die Ausgangssituation war in keiner Weise neu oder unerwartet. Dennoch entwickelte sich eine große, bemerkenswert inkomptetent geführte, internationale Schlächterei zwischen Russland auf der einen und Großbritannien, Frankreich und der Türkei auf der anderen Seite. Es wird geschätzt, dass dieser Krieg über 600'000 Männern das Leben kostete, fast eine halbe Million davon durch Krankheit. Dabei handelte es sich um 22% der britischen, 30% der französischen und ungefähr die Hälfte der russischen Truppen.

    Leider kann ich nicht sagen: „Ein Glück, dass wir heute kompetente Friedensforschung haben, die herausgefunden hat, wie weise StaatslenkerInnen so einen Unsinn verhindern können“.

    [1]Wobei ich persönlich finde, dass sich schon disqualifiziert hat, wer in der BRD über Friedensforschung redet und das nicht relativ zur Tübinger Informationsstelle Militarisierung einordnet.
  • Von Tullymonstren und den Geschwistern der Wirbeltiere

    Als in den Meldungen der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell am 17.4. ab Minute 3:02 vom „Tullymonster“ (zoologisch Tullimonstrum gregarium, was auch nicht so viel schmeichelhafter klingt) die Rede war, wurde ich schon deshalb neugierig, weil ich wissen wollte, ob das arme Tier wohl die Bezeichnung „Monster“ verdient.

    Nachdem ich den zugehörigen Wikipdia-Artikel überflogen und die dort gezeigte Lebendrekonstruktion mit einer Art Augenstange[1] und einem Rüssel mit einer stilettbesetzen Spitze betrachtet hatte, fand ich die Bezeichnung zumindest naheliegend, um so mehr als die Viecher nur mal kurz im Oberkarbon (also vor ca. 300 Megajahren) und damit näher an der nachgerade außerirdischen Ediacara-Fauna als an uns lebten. Vermutlich gibt es nicht mal mehr Nachkommen, die die Monster-Rede beleidigen könnte. Trotzdem will ich hier lieber von Tullytier sprechen, vor allem zu meiner eigenen Tippfreude.

    Drei Grafiken des gleichen Fossils: ein Farbfoto mit etwas erkennbaren Strukturen, eine Höhenkarte aus einem 3D-Scan, bunt aber für Laien unzugänglich, sowie eine Skizze mit einer Erklärung der erkennbaren features.

    Um eine Vorstellung zu bekommen, warum sich ernsthafte Menschen über Jahrzehnte hinweg streiten können, ob die Tullytiere Rückgrat hatten oder nicht, lohnt sich ein Blick auf die Abbildung 1 im Mikami-Paper; oben ein Farbfoto eines vermutlich recht gut erhaltenen Tieres, darunter ein 3D-Scan, auf dem ich noch weniger erkenne (Rechte: Wiley).

    Aus Sicht der Biologie sind die Tiere jedenfalls monströs, weil niemand so recht weiß, was sie sind, auch wenn in Nature schon 2016 überoptimistisch verkündet wurde: „Scientists Finally Know What Kind of Monster a Tully Monster Was“. Die Ansage war, es sei ein Wirbeltier gewesen, fast schon ein modernes. Eingestanden: die Leute haben damals methodisch schweres Geschütz aufgefahren, etwa Augenuntersuchungen mit Röntgen-Spektroskopie, und zwar mit extrateuerem Synchrotron-Röntgen. Wer Anträge für Zeit an so teuren Geräten durchbringt, mag durchaus Grund zu Selbstvertrauen haben (Beweis durch Förderung: „How could three different funding agencies be wrong?“).

    3D-Scans aus der Lagerstätte

    Nature hin, Edel-Röntgen her: Dem Schluss von 2016 widerspricht – wie im DLF berichtet – mit einiger Zuversicht Tomoyuki Mikami vom Japanischen Nationalmuseum für Natur und Wissenschaft, der mitsamt Kollegen von verschiedenen japanischen Geo- und Bio-Instituten das Paper „Three-dimensional anatomy of the Tully monster casts doubt on its presumed vertebrate affinities“ im Wiley-Blatt Paleontology untergebracht hat (doi:10.1111/pala.12646; die DOI-Ankunftsseite (um mal was für „landing page“ vorzuschlagen) ist leider eine schlimme Javascript-Hölle, was es um so trauriger macht, dass es das Paper noch nicht zu libgen geschafft hat).

    Hauptsächliche Datenbasis der Untersuchungen waren 3D-Scans von 153 Tullytier-Fossilien und 75 anderen Fossilien aus der einzigen Tullytier-Fundstelle, der „Lagerstätte“ (ein süßer wissenschaftlicher Teutonizismus) Mazon Creek ein Stück südwestlich von Chicago. Insgesamt sind in dem Schiefer dort deutlich über 1000 Tullytiere gefunden worden. Dazu kommen noch ein ganzer Haufen weiterer Tiere, die jetzt nicht unmittelbar ins Wortfeld „Versteinerung“ gehören: 42% der tierischen Mazon Creek-Fossilien sind Quallen.

    Die Scans sollen eine Auflösung von beachtlichen 150 μm haben (in unseren furchtbaren Computereinheiten rund 180 dpi). Ich wollte wissen, wie viele Gitterpunkte bei so einem Scan rauskommen werden. Grob ist das die Oberfläche des Fossils geteilt durch die Größe eines Pixels, also für ein grob kugeliges Gebilde von rund 2r = 30  cm Größe (jaja: das ist auch keine schmeichelhafte Beschreibung eines Tullytiers) 4πr2 ⁄ ρ2. Mit der Auflösung ρ = 1.5 × 10 − 4  m liefert das etwas wie 12 Millionen Mesh-Punkte. Danke, liebe GamerInnen, dass ihr die Entwicklung von Systemen finanziert habt, die sowas in annehmbarer Zeit visualisieren.

    Obendrauf haben Mikami et al für einen Rüssel mit „Stiletten“ – von „Zähnen“ reden sie lieber nicht, weil das sehr nach Kiefern und damit nach Wirbeltieren klingt – vornedrin ein hochauflösendes CT (10 μm) gewonnen, um dieses mundähnliche Ding mit unstrittigen Kiefern vergleichen zu können. Ich spoilere: die Autoren finden, dass das schon von der Form her (wiederum haben sie mit 3D-Visualisierung operiert, um das zu belegen) was ganz anderes ist als jedenfalls die Kreatinraspeln, die Schecken haben, so dass sie diese Verwandtschaft für die Tullytiere ausschließen.

    Was versteinert wie? Hauptachsen!

    Der methodische Teil des Papers geht vor allem bei so marginalen Spuren zentralen Frage nach, welche Strukturen sich in dem Schiefer wie gut erhalten, und versuchen, dem eine etwas quantitativere Basis zu geben. Dabei – und sie glauben, damit paläontologisches Neuland zu betreten – schreiben sie eine Matrix mit neun möglicherweise erhaltenen Körperteilen (die Augenstange, die Schwanzflosse, der Halbmond im Kopfbereich usf) auf der einen Achse und ihre 153 Proben auf der anderen. Wo sie so ein Körperteil sehen, steht in der Matrix eine Eins, wo nicht, eine Null, wo das Fossil gar nicht so weit geht, eine Fehlmarkierung. Über diese Matrix nun lassen die Autoren eine Hauptkomponentenanalyse laufen.

    Das ist ein relativ cleveres Verfahren aus der linearen Algebra, das die Matrix als Körper in einem 153- (das ist die Zahl der Proben) -dimensionalen Raum auffasst und dann möglichst viele Dimensionen so zusammenzwingt, dass maximal viel Volumen übrig bleibt. Die (bei vielen Problemen nachweislich gute) Vorstellung ist, dass mensch die „wesentlichen“ Eigenschaften, die in 153 Dimensionen nie erkennbar sind, in zwei oder drei Dimensionen sehen kann und in den zusammengequetschen Dimensionen vielleicht eher so Rauschen war. Im vorliegenden Paper lassen Mikami et al zwei Dimensionen übrig und haben also ein neue Matrix, in der jedem Körperteil zwei Zahlen zugeordnet sind.

    Per Draufgucken sind diese Zahlen zwar nicht unbedingt leicht zu interpretieren. Es ist aber glaubhaft (wenn auch nicht offensichtlich), dass Körperteile, deren zwei Zahlen nahe beieinander liegen, auch ziemlich ähnlich versteinern. Deshalb gibt es Abbildung 3 der Studie:

    Plot mit Caption; die Punkte im Plot sind mit Abkürzungen von Körperteilen versehen; ein wirklich auffälliges Muster ist nicht zu erkennen.

    Rechte: Wiley

    „Taphonomically“ in der Caption bedeutet „was das Versteinern angeht“. Wirklich sehr auffällige Strukturen sind in der Grafik kaum zu erkennen, und aus meiner Sicht ist auch die Einsicht, dass die Schwanzflosse und das Rechteck hinter den Augen ziemlich ähnlich versteinern, weder sonderlich aufschlussreich noch arg naheliegend.

    Vielleicht doch lieber qualitativ arbeiten

    Leider wird die eben formulierte Erwartung, dass ähnlich versteinernde Körperteile in so einem Graphen an ähnlichen Stellen liegen sollten, sofort unvernünftig, wenn andere Organe bei anderen Tieren dazukommen, denn es ist vermutlich fast unmöglich, die auf diese Weise eingeführten „verschiedenen“ Dimensionen so zusammenzuquetschen, dass die sich ergebenden gequetschten Dimensionen in einen gemeinsamen Plot gemalt werden können.

    So taugt die Methode also wahrscheinlich nicht wirklich, um etwa zu argumentieren: „Eine ordentliche Wirbelsäule liegt bei (20,-15), das axial band beim Tullytier aber bei (10,23), und drum hat das Tullytier keine Wirbelsäule.“ Die Autoren sagen (glaube ich) nirgends, dass sie das vorhatten, und sie zeigen auch nirgends entsprechende Plots von anderen Spezies. Aber ich hätte probiert, irgendwas zu basteln, damit ich sowas machen kann. Ich wäre (wie vielleicht die Autoren) ziemlich sicher gescheitert.

    Dennoch überzeugt mich am Paper, dass sie 75 weitere Fossilien anderer Spezies aus der Fundstätte gescannt haben, und zwar insbesondere bekannte Wirbeltiere. Auf diese Weise können sie dann eben qualitativ argumentieren, beispielweise, dass eine rechteckige Struktur hinter den Augen wohl eher nicht ein Hirnlappen sein wird, da sich dieser ja dann auch bei den bona fide-Wirbeltieren hätte erhalten müssen – was nicht der Fall ist.

    Ein ähnliches Vergleichs-Argument funktioniert für Kiemen:

    However, we found no evidence for gill pouches or other pharyngeal arch-associated structures in our comprehensive 3D dataset. Branchial structures are otherwise clearly preserved in specimens of the stem lampreys [Neunaugen] Mayomyzon and Pipiscius, from Mazon Creek, which is incompatible with the mode of preservation in Tullimonstrum.

    Die Erhaltung der Segmentierung des Körpers vergleichen die Autoren mit Gliederfüßern und finden, dass deren Chitin-Exoskelette schärfer und weniger plattgedrückt erhalten sind. Das Tullytier wird also auch nichts in der weiteren Umgebung von Insekten gewesen sein.

    Kurz nach der Erfindung der Knochen: Schädellose und Manteltiere

    An dieser Stelle habe mich mich begeistert in die Taxonomie ein wenig oberhalb der Wirbeltiere gestürzt: Dort sind die Chordatiere. Wikipedialogisch finde ich es bemerkenswert, dass irgendwer ein ganzes Kapitel zur internationalen Begriffsgeschichte in diesen Artikel geschrieben hat und damit fast ein Drittel seiner Gesamtlänge bestreitet.

    Vermutlich ist so eine textkritische Herangehensweise in diesem Geschäft kein Fehler, worauf auch Mikami et al am Ende ihrer Arbeit hinweisen:

    Die einzigartige Morphologie von Tullimonstrum ist kaum vergleichbar mit der irgendeines anderen bekannten Tieres und ruft uns so ins Bewusstsein, dass in der Erdgeschichte viele weitere interessante Tiere existiert haben, die nicht als Fossilien erhalten sind, die jedoch für ein Verständnis der vollen Evolutionsgeschichte der Metazoa [ich musste auch nachsehen: das sind die vielzelligen Tiere] unverzichtbar sind.

    Chordatiere haben jedenfalls bereits einen Haufen der Dinge, die wir für Tiere ziemlich normal finden (Herz, irgendwas wie einen Darm) und haben angefangen, eine Struktur auszubilden, die ich als Laie auch für eine Wirbelsäule halten könnte, die aber bei den Geschwisterstämmen der Wirbeltiere anders rausgekommen sind.

    Diese Geschwister sind einerseits die extragruselig benannten Schädellosen (deren überlebende Vertreter normale Menschen wohl für Fische halten würden) und andererseits die Manteltiere, die aus meiner Sicht erheblich bizarrer sind, schon, weil sie in ihrem Körper Zelluose verbauen, also …

  • Unglückliche UI: Wenn Haken unausweichlich sind

    Derzeit finden bei uns an der Uni Gremienwahlen statt. Dabei wird (u.a.) der ein wenig den Reichsständen ähnliche Senat gewählt, ein Gremium, das (spätestens) seit dem unglücklichen Hochschulurteil des BVerfG aus dem Jahr 1973 („Wissenschaftsfreiheit ist, wenn die Profenmehrheit immer garantiert ist“) eine ziemlich fragwürdige Veranstalung ist. Effektiv bedeutungslos wurde er in Baden-Württemberg zudem im LHG von 2003, als im Namen der „unternehmerischen Hochschule” (aus der glücklicherweise nichts wurde) praktisch alle wesentlichen Entscheidungen im Rektorat („Vorstand“ würde das Gesetz gerne dazu sagen) konzentriert wurden.

    Beste Bedingungen also für eine Online-Wahl – wenn wirklich wer gegen den neuen Wahlmodus klagen sollte, taugt als Gegenargument, es gehe ja eh um nichts. Als guter Demokrat habe ich natürlich dennoch meine Stimme abgegeben. Dabei stellte sich rasch heraus, dass die Uni ein Rundum-Sorglos-Paket bei polyas gebucht hat, einem Laden also, der gegen Bezahlung allerlei Online-Wahlen für allerlei KundInnen abwickelt. In deren Marketing klingt das so:

    • Einfaches Wahlmanagement
    • Höchste Sicherheit und Datenschutz
    • Rechtsverbindliche Wahlergebnisse per Klick

    Dem mag so sein.

    Allerdings ist das polyas-System augenscheinlich nicht allzu flexibel. Offenbar nämlich ist hart kodiert, dass WählerInnen irgendeine Einwilligung erteilen müssen, bevor sie ihre Stimme abgeben können. Wer immer das für die Uni Heidelberg angepasst hat, fand aber nichts, für das er/sie nach einer Einwilligung hätte fragen können.

    Das Ergebnis ist leider ein Text, der selbst in Zeiten von Cookie-Bannern alles eher tut als eine Einwilligung erheischen:

    Screenshot eines stark gestylten HTML-Formulars: Eine Quadrat vor einem Text „Herzlich Willkommen zur Gremienwahl“, ein grüner Weiter-Button.

    Ein Quadrat vor einer Willkommensnachricht und ein grüner Weiter-Knopf – nun, ich habe die wenig informative Nachricht überlesen und auf den grünen Knopf gedrückt. Ihr ahnt es: ohne Erfolg.

    Da die polyas-Leute leider die Knöpfe und Checkboxen wie wild stylen (statt sie einfach zu zu lassen, wie der/die NutzerIn das vielleicht global konfiguriert hat), ist die pragmatische Panne, eine Einwilligungsbedingung durch eine Null-Nachricht zu ersetzen, beonders störend. Es ist eben nicht offensichtlich, dass mensch in irgendein gammliges Quadrat klicken soll, damit ein grüner (!) Knopf mit der Aufschrift „Weiter zur Stimmabgabe“ auch wirklich funktioniert.

    Doch tatsächlich, wenn ich in das Quadrat klicke, kommt ein Häkchen da rein und der Weiter-Knopf wird auch faktisch bedienbar:

    Wie eben, nur ist in dem Quadrat jetzt ein Haken und der Weiter-Button ist etwas grüner.

    Beachtet die dezente Änderung im Grün des Weiter-Knopfes: ja, das ist der Unterschied zwischen einem deaktivierten und einem klickbaren Knopf. Warum können diese Leute nicht einfach hinnehmen, wie ich meine Knöpfe im System gestylt habe? Grumpf.

    Darf ich ein elftes Gebot vorschlagen? Es wäre: die Größe von Widgets dürft ihr ändern, Farben, Relief und Interaktions-Effekte nicht.

    Aber klar, noch besser wär es in diesem speziellen Fall, wenn die (zumindest hier) dämliche Einwilligung in der Software von polyas wegkonfigurierbar wäre.

  • Taming an LTE card in Linux

    When I wrote my request for help on how to do voice calls with a PCI-attached cellular modem I realised that writing a bit about how I'm dealing with the IP part of that thing might perhaps be mildly entertaining to some subset of the computer-literate public. After all, we are dealing with rather serious privacy issues here. So, let's start with these:

    Controlling registration

    Just like almost any other piece of mobile phone tech, an LTE card with a SIM inserted will by default try to register with the network operator's infrastructure when it is switched on (or resumed, more likely, in the case of a notebook part). If this is successful, it will create a data point in the logs there, which in turn will be stored for a few days or, depending on the human rights situation in the current jurisdiction (as in: is telecom data retention in effect?), for up to two years. This record links you with a time (at which you used your computer) and a location (at which you presumably were at that point). That's fairly sensitive data by any measure.

    So: You don't want to create these records unless you really want network. But how do you avoid registration? There are various possible ways, but I found the simplest and probably most robust one is to use Linux's rfkill framework, which is in effect a refined version of airline mode. To make that convenient, I am defining two aliases:

    alias fon="sudo rfkill unblock wwan"
    alias keinfon="sudo rfkill block wwan"
    

    (“keinfon“ is “no phone“ in German); put these into your .bashrc or perhaps into .aliases if your .bashrc includes that file.

    Since I consider rfkill relatively a relatively unlikely target for privilege escalation, I have added , NOPASSWD: usr/sbin/rfkill to my system user's line in /etc/sudoers.d, but that's of course optional.

    With that, when I want to use internet over LTE, I type fon, wait a few seconds for the registration to happen and then bring up the interface. When done, I bring down the interface and say keinfon. It would probably be more polite to the service operators if I de-registered from the infrastructure before that, but for all I can see only marginally so; they'll notice you're gone at the next PLU. I don't think there are major privacy implications either way.

    It might be wiser to do the block/unblock routine in pre-up and post-down scripts in /etc/network/interfaces, but since registration is slow and I rather regularly find myself reconnecting while on the cell network, I'd consider that over-automation. And, of course, I still hope that one day I can do GSM voice calls over the interface, in which case the card shouldn't be blocked just because nobody is using it for an internet connection.

    Phone Status

    In case I forget the keinfon, I want to be warned about my gear leaking all the data to o2 (my network operator). I hence wrote a shell script display-phone-status.sh like this:

    #!/bin/sh
    if /usr/sbin/rfkill list | grep -A3 "Wireless WAN" | grep 'blocked: yes' > /dev/null; then
      echo "WWAN blocked."
    else
      /usr/games/xcowsay -t 10 -f "Steve Italic 42" --at 0,520 --image ~/misc/my-icons/telephone.xpm 'Ich petze gerade!'
    fi
    

    The notification you'll want to change, for instance because you won't have the nice icon and may not find the font appropriate. The German in there means ”I'm squealing on you.“. Here's how this works out:

    Screenshot: an old-style telephone with a baloon saying „Ich petze gerade“

    I execute that at every wakeup, which is a bit tricky because xcowsay needs to know the display. If you still run pm-utils and are curious how I'm doing that, poke me and I'll write a post.

    Connection

    Mainly because tooling for MBIM and other more direct access methods felt fairly painful last time I looked, I am still connecting through PPP, even though that's extremely silly over an IP medium like LTE. Part of the reason I'm writing this post is because duckduckgo currently returns nothing useful if you look for “o2 connection string“ or something like that. I tried yesterday because surprisingly while the internet connection worked over GSM, when connected over LTE (see below on how I'm controlling that), executing the good old:

    AT+CGDCONT=1, "IPV4V6", "internet"
    

    would get me an ERROR. That command – basically specifying the protocol requested and the name of an „access point“ (and no, I have never even tried to figure out what role that „access point“ might have had even in GSM) – admittedly seems particularly silly in LTE, where you essentially have an internet connection right from the start. I'm pretty sure it didn't use to hurt LTE connections three years ago, though. Now it does, and so that's my chat script for o2 (put it into /etc/ppp/chat-o2 with the peer definition below):

    IMEOUT 5
    ECHO ON
    ABORT 'BUSY'
    ABORT 'ERROR'
    ABORT 'NO ANSWER'
    ABORT 'NO CARRIER'
    ABORT 'NO DIALTONE'
    ABORT 'RINGING\r\n\r\nRINGING'
    '' "ATZ"
    OK 'ATQ0 V1 E1 S0=0 &C1 &D2 +FCLASS=0'
    OK "\d\dATD*99#"
    CONNECT ""
    

    You can probably do without almost all of this and just run ATD*99# if you're stingy; but over the past 15 years of using cellular modems in one way or another, each piece of configuration was useful at one time. I'm not claiming they are now.

    Similarly, my /etc/ppp/peers/o2 configuration file might contain a bit of cruft:

    /dev/ttyACM0
    115200
    debug
    noauth
    usepeerdns
    ipcp-accept-remote
    ipcp-accept-local
    remotename any
    user thing
    local
    nocrtscts
    defaultroute
    noipdefault
    connect "/usr/sbin/chat -v -f /etc/ppp/chat-o2"
    
    lcp-echo-interval 300
    lcp-echo-failure 10
    

    I'd expect the liberal LCP configuration at the bottom of the file is still very beneficial in the o2 network.

    To manage the network, I use normal Debian ifupdown with this stanza in /etc/network/interfaces:

    iface o2 inet ppp
      provider o2
    

    To bring up the interface, I have an icon on my desktop that executes sudo ifup o2.

    Monitoring

    To see what's going through a network connection, I have a script monitor in /etc/network/if-up.d; this is unconditionally executed once an interface comes up. A case statement brings up wmnet instances with parameters somewhat adapted to the respective interfaces:

    #!/bin/sh
    case $IFACE in
    wlan* )
      su - anselm -c 'DISPLAY=:0 nohup wmwave -r 200' > /dev/null 2>&1 &
      su - anselm -c "DISPLAY=:0 nohup wmnet -l -x 1000000 -d 200000 -r green -t red -W $IFACE" > /dev/null 2>&1 &
      ;;
    ppp*)
      su - anselm -c "DISPLAY=:0 nohup wmnet -l -x 1000000 -d 200000 -r green -t red -W $IFACE" > /dev/null 2>&1 &
      ;;
    o2 | n900)
      su - anselm -c "DISPLAY=:0 nohup wmnet -l -x 1000000 -d 200000 -r green -t red -W ppp0" > /dev/null 2>&1 &
      ;;
    esac
    

    The complicated su logic is necessary because again, the little window maker dockapps need access to the X display.

    That whole part is a bit weak, not only because of the hard-coded user name and DISPLAY (these are fairly safe bets for a personal computer) and because it relies some configuration of your window manager to place the dockapps at predictable positions.

    More importantly, ifupdown executes the script too early: To ifupdown, the interface is up when the pppd is up. But it is only then that pppd starts to negotiate, and these negotiations fail quite easily (e.g., when you're in a dead zone, and there are plenty of those with o2). If that happens, you have an essentially dead wmnet on the desktop. I clean up rather unspecifically in /etc/network/if-down.d/monitor:

    #!/bin/sh
    case $IFACE in
    wlan* )
      killall wmwave
      killall wmnet
      ;;
    ppp*|o2|n900)
      killall wmnet
      ;;
    esac
    exit 0
    

    The implicit assumption here that the computer will only have one wireless network connection at a time.

    Modem Configuration

    I used to have to do a bit of modem configuration in the olden days. It's rarer these days, but I thought I might as well publish the source of a program, I wrote back then to encapsulate that configuration. I still find it is useful now and then to choose between the access methods LTE (fast, but perhaps smaller cells hence less stable) and GSM (slow, but perhaps more robust with larger cells and better coverage), which this script can do if your card supports the AT+XACT command. While I would guess that includes many Sierra modems, I have no idea how many that may be. Anyway, here's how that ought to look like (and perhaps the most relevant piece of information is the <home>, which means there's an infrastructure connection – as opposed to, for instance, <offline>):

    $ modemconfig.py -a LTE
    Modem is >home<
    Using LTE
    Running on band BAND_LTE_1
    

    If you think you might find this kind of thing useful: It's on https://codeberg.org/AnselmF/sierra-config, and it's trivial to install.

  • Help wanted: PCM telephony on a Sierra EM7345

    For fairly silly reasons I would like to do voice calls using a Sierra Wireless EM7345 4G LTE wireless modem built into a Lenovo Thinkpad X240. However, I am stuck between a lack of documentation and the horrors of proprietary firmware blobs to the extent that I am even unsure whether that's possible without reprogramming the whole device. If you can help me, I'd appreciate any sort of hand-holding. If you think you know someone who might be able to help me, I'd appreciate if you pointed them to this post.

    The analog stuff

    What works nicely is calling voice numbers. After a minicom -D /dev/ttyACM0, I can do:

    AT DT 062210000000
    NO CARRIER
    AT DT 062210000000;
    OK
    
    NO CARRIER
    

    The first command is attempting a data connection that fails because it's a real telephone at the other end. The semicolon in the second command says “do voice“. It actually makes the remote phone ring a few seconds after the modem said OK. I can pick up the call on that remote phone, too, but fairly unsurprisingly there is just silence at the computer and, and whatever I say at either end goes nowhere. The eventual NO CARRIER is when I hang up the phone.

    The other way round works as well: seeing the good old RING and typing ATA like in the good old days warmed my heart. Hanging up with an ATH was fun, too. But when no sound is being transported through the Sierra card, these games quickly become boring.

    As usual for entities like Sierra, they don't give their documentation to just anyone (as in „me”). I still happen to have a PDF titled „MP 700 Series GPS Rugged Wireless Modem AT Command Reference”, which pertains to some different but reasonably similar device. There, it says:

    If your account allows for it, you can attach a headset to your modem and use it as a mobile phone. You require a 4-wire headset with a 2.5 mm connector, to use your modem as a phone. (This plugs into the Audio connector on the back of the modem. You may need an extension cable if the modem is installed in the trunk. Contact your service provider to determine what extension cables are supported.)

    Well… The small EM 7345 certainly does not have a 2.5 mm connector. There aren't even soldering pads visible without peeling off stickers:

    Photo of the interior of a computer with some small extension cards.  One of them has a big sticker on it saying it's a Sierra device.

    The Sierra modem as fitted into a Lenovo X240: Certainly no 2.5 mm connectors visible.

    There is also no trace of the Sierra card in the ALSA mixer, and neither is there an ALSA card they could have put in as a USB audio device. Hence, at this point I believe getting out some sort of analog-ish audio is unrealistic.

    Go digital

    However, what if I could pull PCM bytes or perhaps GSM-encoded audio from the device in some way? A thread in the Sierra forum seems to indicate it could work but then trails off into mumbling about firmware versions. Some further mindless typing into search engines suggested to me that the a “version 6“ of the firmware should be able to do PCM voice (in some way not discussed in useful detail). Version 6 sounds a bit menacing to me in that my device says:

    at+GMR
    V1.1,00
    

    I faintly remember having once tried to update the firmware and eventually giving up after some quality time with WINE. On that background, skipping five major versions sounds particularly daring („the Evel Knievel upgrade: what could possibly go wrong except 40 to 50 broken bones“). But then Sierra's support page doesn't even acknowledge the 7345's existence any more.

    While Sierra itself does not give its documentation to the unwashed masses, on some more or less shady page I found documentation on the AT commands of one of its the successors, the EM7355. That appears to have a lot of PCM-related commands. In particular:

    Note: To enable audio on an audio-capable device, use the “ISVOICEN” customization for AT!CUSTOM (see page 32 for details).

    Regrettably, on my box:

    AT !CUSTOM ISVOICEEN=1
    ERROR
    

    Actually, it would seem that none of the various Sierra-proprietary AT commands starting with a bang are present in my firmware.

    That's where I stand. Does anyone have deeper insights into whether I could have GSM voice calls on that board without reverse-engineering the whole firmware?

    A tale of two cards

    In case you are wondering why I would even want to do GSM telephony with my computer… Well, I have a 4.99 Euro/month 1 GB+telephony flatrate with Winsim (turn off Javascript to avoid their broken cookie banner). While I can recommend Winsim for a telephone support far better than you'd expect for that price (of course: the network coverage isn't great, it's just a Telefonica reseller, and forget about using the e-mail support), they'll charge you another five Euro or so monthly for a second SIM card in that plan, whereas you can get a SIM card for free if you get a second pre-payed contract.

    I'm not sure what reasoning is behind two contracts with two cards being cheaper than one contract with two cards, but then telephony prices stopped making any sense a long time ago.

    Since my phone can only do UMTS and GSM (i.e., only GSM these days in Germany) and I have the LTE modem inside the computer anyway, I recently transferred the SIM with the flatrate into the LTE modem so my garden office has a faster internet connection than when I'm using the phone as a modem. Consequenly, I now have another (pre-paid) card in the phone. The net effect is that I could do telephone calls for free on the computer if I could just figure out the audio part – whereas naive VoIP doesn't really work in much of the network because of packet loss, latencies, low bandwitdth and so on – and I pay 9 ct per minute for GSM telephony on the phone.

    I give you that's probably not a sufficient reason to sink hours of research into the stupid Sierra card. But I'd also have the BIGGEST PHONE ON THE WHOLE TRAIN if I just could pull it off!

    Nachtrag (2023-06-21)

    Well, on the “new firmware“ part, I found https://lists.freedesktop.org/archives/libqmi-devel/2018-August/002951.html. And oh my, of course Intel don't publish the sources to their firmware flash thingy. That's extremely bad for me because they don't bother to build i386 binaries and now I have to dual-arch in half a linux system:

    ldd /opt/intel/platformflashtoollite/bin/platformflashtoollite
            linux-vdso.so.1 (0x00007ffcf43ed000)
            libdldrapi.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libdldrapi.so (0x00007f61d4000000)
            libCore.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libCore.so (0x00007f61d3c00000)
            libNetwork.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libNetwork.so (0x00007f61d3800000)
            libDeviceManager.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libDeviceManager.so (0x00007f61d3400000)
            libLogger.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libLogger.so (0x00007f61d3000000)
            libJson.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libJson.so (0x00007f61d2c00000)
            libDldrManager.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libDldrManager.so (0x00007f61d2800000)
            libUtilityWidgets.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libUtilityWidgets.so (0x00007f61d2400000)
            libQt5Xml.so.5 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libQt5Xml.so.5 (0x00007f61d2000000)
            libQt5Widgets.so.5 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libQt5Widgets.so.5 (0x00007f61d1600000)
            libQt5Gui.so.5 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libQt5Gui.so.5 (0x00007f61d0c00000)
            libQt5Network.so.5 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libQt5Network.so.5 (0x00007f61d0800000)
            libQt5Script.so.5 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libQt5Script.so.5 (0x00007f61d0200000)
            libxfstk-dldr-api.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libxfstk-dldr-api.so (0x00007f61cfe00000)
            libPlatformUtils.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libPlatformUtils.so (0x00007f61cfa00000)
            libQt5Core.so.5 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libQt5Core.so.5 (0x00007f61cf200000)
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            libgcc_s.so.1 => /lib/x86_64-linux-gnu/libgcc_s.so.1 (0x00007f61d4530000)
            libc.so.6 => /lib/x86_64-linux-gnu/libc.so.6 (0x00007f61d322c000)
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            librt.so.1 => /lib/x86_64-linux-gnu/librt.so.1 (0x00007f61d4502000)
            libdl.so.2 => /lib/x86_64-linux-gnu/libdl.so.2 (0x00007f61d44fc000)
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            libUSBScan.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libUSBScan.so (0x00007f61cee00000)
            libgobject-2.0.so.0 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libgobject-2.0.so.0 (0x00007f61d44a0000)
            libgthread-2.0.so.0 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libgthread-2.0.so.0 (0x00007f61d449b000)
            libglib-2.0.so.0 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libglib-2.0.so.0 (0x00007f61d3ad1000)
            libXext.so.6 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libXext.so.6 (0x00007f61d4486000)
            libX11.so.6 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libX11.so.6 (0x00007f61d36bd000)
            libGL.so.1 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libGL.so.1 (0x00007f61d3e35000)
            libusb-0.1.so.4 => /lib/x86_64-linux-gnu/libusb-0.1.so.4 (0x00007f61cea00000)
            libboost_program_options.so.1.46.1 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libboost_program_options.so.1.46.1 (0x00007f61ce600000)
            libicui18n.so.54 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libicui18n.so.54 (0x00007f61ce000000)
            libicuuc.so.54 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libicuuc.so.54 (0x00007f61cdc00000)
            libicudata.so.54 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libicudata.so.54 (0x00007f61cc000000)
            libudev.so.0 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libudev.so.0 (0x00007f61d447d000)
            libffi.so.7 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libffi.so.7 (0x00007f61d4471000)
            libpcre.so.3 …
  • Ach Bahn, Teil 13: Besser wirds am XX.XX.XXXX

    Die Bahn behauptet ja gerne, all die indiskreten „Analytik“-Skripte, die sie über ihre Webseite ausliefert, dienten irgendwie dazu, die „User Experience“ zu verbessern. Wenn das so ist, so hoffe ich, dass ihnen ihre Analytik-Dienstleister Hinweise zur profunden Nutzlosigkeit von Meldungen dieser Art geben:

    Screenshot der Bahnseite mit einer Meldung „Zum XX.XX.XXX werden die technischen Systeme von bahn.de umgestellt [...] Mehr Informationen finden Sie unter d2.

    Aber nennt mich konservativ: Ich sehe dem angekündigen XX.XX.XXXX mit wenig Freude entgegen, denn trotz aller Analytik ist die Bahn-Webseite über die Jahre für mich immer schlechter bedienbar geworden. Während die ersten Formulare schnell luden, praktisch ohne Belastung für heutige CPUs renderten und mit Browser-Hausmitteln tastaturbedienbar waren, ist die heutige Javascript-Wüste in jeder Hinsicht lästig. Das einzige Feature jedoch, das mir schon in den ganz alten Bahnseiten fehlte, fehlt immer noch: Wenn sie schon wissen, wer ich bin und dass ich eine Bahncard 50 habe, dann könnten sie doch voreinstellen, dass ich auch Bahncard 50-Fahrkarten kaufen will.

    Nach etwas Kontemplation habe ich übrigens verstanden, dass ich das „d2“ in der Meldung oben ignorieren muss und kann, wohingegen das Ding mit dem Pfeil davor zwar völlig aus dem Layout fällt, aber den Satz im Absatz darüber komplettiert und mithin der Link sein wird, unter dem es „mehr Informationen“ geben soll. Also klickte ich auf die „Zukunft der Bahn“ und war nach dem oben Gesagten nur sehr mäßig enttäuscht, als ich Folgendes zu sehen bekam:

    Screenshot: „Sie haben in Ihrem Browser JavaScript deaktiviert, dies wird jedoch von unserer Anwendung benötigt.“

    Liebe Bahn: Ich will keine „Anwendung“. Ich will ein Formular, über das ich Fahrplanauskünfte bekomme und vielleicht noch Fahrkarten kaufen kann. Ja, das geht ohne Javascript, und eine öffentliche Infrastruktur – um einen Gegenbegriff zum „modernen Dienstleistungsunternehmen“ einzuführen – sollte das auch dann möglich machen, wenn sie gegenwärtig in eine etwas ungeeignete Rechtsform gezwungen ist.

  • Bruchsal zwischen Mandolinen und Soldaten

    Foto von ca. 20 Lederbändern mit aufgepressten Metallplättchen über Klaviersaiten mit einem Holzbügel mit der Aufschrift „Mandoline auf die Zapfen Z setzen”.

    Ein Detail eines automatischen Klaviers („Pianova“ von den Leipziger Musikwerken Paul Lochmann GmbH), ca. 1910. Was es mit diesen Lederstreifen auf sich hat, erzähle ich ziemlich gegen Ende dieses Posts.

    Unter den Einrichtungen, die beim Oberrhein-Musesumpass mitmachen, finden sich einige Burgen (z.B.) und Schlösser (nochmal z.B.). An Fronleichnam verschlug es mich in dieser Angelegenheit in die Residenz der Fürstbischöfe von Speyer in Bruchsal.

    Dafür, dass das Bistum Speyer eine recht überschaubare Herrschaft war, ist der Palast, den der Potentat Damian von Schönborn-Buchheim seinen Untertanen in den 1720er Jahren abgepresst hat, beeindruckend groß und großzügig. Noch überraschender angesichts des Duodezbauherren ist, dass beim Bau die Stars der damaligen Prunkbauten-Szene – etwa Balthasar Neuman oder Cosmas und Damian Asam – am Start waren.

    Der Fairness halber will ich einräumen, dass sich Schönborn-Buchheim ein Schloss ersetzen ließ, das Soldaten in einem Krieg kaputtgehauen hatten, mit dem er nichts zu tun hatte, und dass er selbst sich mit Kriegen und anderem Gemetzel vorbildlich zurückgehalten hat.

    Insofern darf mensch das völlig übertrieben große Treppenhaus und die Prunkhallen mit ihren nicht immer ganz geschmackssicheren und schon wegen ganzer Bände heidnischer Mythen entschieden unfrommen Deckenmalereien ohne viel schlechtes Gewissen goutieren, um so mehr, als die aktuellen Decken ohnehin aus der Nachkriegszeit stammen. Alliierte Bomber haben das Schloss nämlich bei Angriffen auf die in Bruchsal stationierten deutschen Zweite-Weltkrieger noch im März 1945 getroffen, woraufhin es ausgebrannt ist.

    Foto einer großen runden Mauer mit Durchblick auf ein hohes Deckenfresko

    Das Treppenhaus im Schloss von Bruchsal ist eigentlich klar überdimensioniert für das kleine Reich seiner Besitzer.

    Soldaten gehen und kommen

    Das mutmaßliche Ziel der Alliierten gehört zur bösen Geschichte Bruchsals: Seit den Zeiten des Fürstbischofs hatte das Städtchen eine Kaserne. 1922 befreiten die Demilitarisierungsregeln des Versailler Vertrags die BürgerInnen von den Soldaten, 1945 nochmal der Zusammenbruch der faschistischen Herrschaft. In beiden Fällen kamen die Soldaten leider bald wieder.

    Da die Bundeswehr Anfang der 1990er Jahre ein vorerst letztes Mal verschwunden ist („Friedensdividende“), ist Bruchsal zur Zeit wieder militärisch unbelastet. Die zurückbleibende Kaserne – ich kann der Abschweifung nicht widerstehen – nutzte die Landesregierung von Baden-Württemberg für ein besonders verdrehtes Experiment im Rahmen ihrer Privatisierungsstrategie für Hochschulen (vgl. neulich zu Bologna): Die International University in Germany, in die die öffentliche Hand mehrfach ein paar Millionen Euro versenkte, bevor der Laden erwartungsgemäß Pleite ging. Ich weiß nicht, was jetzt in der Kaserne ist; hoffentlich kommen die Soldaten nicht schon wieder zurück. Ganz sicher wäre selbst ein weiteres Experiment mit einer Privatuniversität weniger grässlich – und erheblich billiger sowieso.

    Die Guillotine von Plötzensee

    Aber zurück zum Schloss: Neben den Prunkräumen befindet sich dort heute das Stadtmuseum, das etwa die recht interessante Geschichte des Bruchsaler Knastes beleuchtet (bemerkenswerterweise ohne Erwähnung des dort bis vor 15 Jahren einsitzenden Promis Christian Klar). Insbesondere war mir ganz neu, dass der Scharfrichter des NS-Volksgerichtshofs im Strafgefängnis Plötzensee seinen Opfern mit der badischen Guillotine von Bruchsal die Köpfe abschlug – angesichts der eigentlich liberalen Tradition des Landes Baden hat diese Geschichte, finde ich, eine gewisse Ironie.

    Liberale Tradition? Ja, eine weitere Geschichte aus dem Stadtmuseum handelt vom Revolutionsjahr 1848, als Bruchsal schon einmal ohne langfristigen Erfolg die Soldaten abgeschüttelt hatte: Damals nämlich waren die Dragoner ausgerückt, um den Hecker-Aufstand niederzuschlagen. Als sie damit fertig und also zurück in Bruchsal waren, nahmen viele der für eine Weile freiheitlich gesinnten BürgerInnen gegen sie eine „drohende Haltung ein“. Der Museumstext weiter: „Schließlich musste das Militär nach Mannheim verlegt werden, um die Ruhe in Bruchsal nicht weiter zu gefährden.”

    Aber wie gesagt: Trotz dieses vorübergehend vorbildlichen BürgerInnensinns waren waren die Dragoner wenig später wieder da. In der Realität gewinnen halt doch meistens die Bösen.

    Musikautomaten

    Aber ich will die Realität nicht schelten, denn es gibt auch immer wieder bezaubernde Wunderdinge. Besonders viele davon sind im Musikautomaten-Museum versammelt, das ebenfalls mit dem Schloss-Ticket besichtigt werden kann (ihr solltet mindestens zwei Stunden dafür einplanen). Dort hatte ich die Einsicht, dass es neben der Analog-Schallplatte („Schellack“) rund um 1900 herum eine ernstzunehmende digitale Konkurrenz durch Lochplatten gab:

    Eine Metallplatte mit eingestanzen Löchern entlang von konzentrischen Spuren in einem Abspielmechanismus mit hölzernem Kasten.

    In diesen Platten sind Impulse kodiert, die Stimmzungen oder Pfeifen ansteuerten; jede Spur entsprach einem Ton, so dass der Zauber schon nach einer Umdrehung etwas repititiv wurde – aber sie drehten natürlich auch viel langsamer als die 45 Umdrehungen pro Minute zeitgenössischer Schallplatten, und ihre Klangqualität war um Längen besser. Das Bruchsaler Muserum hat zahlreiche Mechanismen, die Platten dieser Art mit verschiedenen Techniken abspielten.

    Mir ist beim Blick auf die Dinger durch den Kopf gegangen, dass ein wesentliches Problem der Technologie gegenüber der Schellackplatte neben der eher kurzen Spieldauer fehlende Standards gewesen sein dürften, also etwa: Wie groß soll die Platte sein? Wie schnell soll sie gedreht werden? Welche Zähnung hat die Antriebsspur? Welche Spur macht welchen Ton? Beim Schellack konnte recht bald jede Platte auf jedem Gerät gespielt werden, hier ziemlich sicher nicht.

    Putziges Implementationsdetail zur letzten Frage: Weil Basslinien in normalen Stücken deutlich langsamer sind als Läufe im Sopran, entsprechen innere (also kürzere) Spuren bei den Geräten fast immer tieferen Tönen.

    Was mich allerdings am meisten hingerissen hat: Der Hack vom Aufmacherfoto, nämlich auf Lederbänder gepresste Blechlein. Diese Teile haben einem mechanischen Klavier wirklich so eine Art Mandolinenklang (also: etwas schnarrend) beigebracht, und zwar indem der Holzbügel, der im oberen Teil des Fotos erkennbar ist, die Lederbänder auf die Saiten gedrückt hat, vielleicht ein wenig wie bei einem Dämpfer. Erstaunlicherweise haben dann die mitschwingenden Blechlein wirklich den Toncharakter erheblich verändert. Ob ich den neuen Klang ohne Vorsagen „Mandoline“ genannt hätte, lasse ich mal offen.

    Ein Rat noch: Nehmt euch Gehörschutz mit. Etliche der Maschinen waren für Jahrmärkte und laute Kneipen gedacht und von der Lautstärke her entsprechend ausgelegt.

  • Alles kaputt first, Bedenken second

    Nachdem die Bahn sich weigert, Menschen, die auf ihren Computern selbst root sein wollen, 49-Euro-Tickets zu geben, versuche ich gerade, das Ding vom lokalen Nahverkehrsunternehmen VRN zu kaufen, denn die geben Plastikkarten aus (Lob immerhin dafür). Und weil ich gerade wirklich die Nase voll habe von vermurksten Webseiten (vgl. unten), wollte ich mir das Ding einfach in der „Mobilitätszentrale“ in Heidelberg kaufen. Aber keine Chance:

    Ein Aushang des VRN: das Mobilitätszentrum ist bis auf weiteres am Mittwoch zu, weil die Leute mit 49-Euro-Ticket-Bürokratie beschäftigt sind.

    Mit anderen Worten: Aufgrund des „muss aber digital sein“-Irrsinns, den Bundesverkehrsminister Wissing dem 49-Euro-Ticket verordnet hat, gibts keine Mobilität… szentrale. Ja klasse!

    Mensch vergleiche das insbesondere mit dem entspannten Ablauf beim 9-Euro-Ticket vor einem Jahr. Die Tickets kamen spontan, ohne Abo und ganz normal aus Papier aus dem Automaten, keine Mobilitätszentren mussten schließen, und es gab auch sonst keine nennenswerte Beeinträchtigung der Kundendienste (soweit sie nicht eh schon kaputt waren). Ist es eigentlich schon nachgewiesener böser Wille, wenn Wissing statt eines einfachen und bewährten Verfahrens etwas erzwingt, das rechts und links explodiert?

    Links und rechts? Na klar. Ich versuche seit einer Woche, mir das Juni-Ticket aus der murksigen Bahn-App zu holen und habe dazu mindestens sieben Captchas gelöst, nur im dann immer das hier zu kriegen:

    Foto eines Mobiltelefonbildschirms mit der Meldung 503 Service Unavailable von der Webseite accounts.bahn.de

    Wie oft muss ich das probieren, um bei einem eventuellen Schwarzfahrverfahren keinen Ärger zu bekommen?

    Fast schon überflüssig zu erwähnen, dass vom Bahn-Abo-Support seit letztem Freitag kein Signal kam zu einschlägigen Fehlerberichten außer einer Eingangsbestätigung.

    Nachdem das „Mobilitätszentrum“ zu hatte, habe ich es übrigens doch mit der VRN-Webseite probiert, mit dem erwartbaren Ergebnis. Das Javascript auf https://abo.rnv-online.de/abo/new.aspx landet auf einem luakit mit einem:

    TypeError: $('.nyroModal_2').nyroModal is not a function. (In '$('.nyroModal_2').nyroModal()', '$('.nyroModal_2').nyroModal' is undefined)
    

    in new.aspx (ASP! Für Menschen unter 45: Das sind Active Server Pages, irgendein unsäglicher Microsoft-Scheiß, den ich für längst jenseits von smells funny gehalten habe), Zeile 327 hart, woraufhin die Dialoge nicht mehr gehen (und der blöde Spinner permanent oben auf der Seite steht).

    Mit einem Firefox kommt mensch immerhin weiter, auch wenn das immer noch eine ziemliche Klickerei ist und ich beim ersten Versuch nach all den Einwilligungen magisch wieder neu anfangen musste.

    Sollte wer das lesen, der/die bei der letzten Wahl FDP gewählt („Rasende Porno-Kiffer“, wie fefe so schön gesagt hat) hat: Ohne euch hätten wir immerhin den Wissing nicht, der auch nach Maßstäben von MinisterInnen besonders destruktiv agiert. Schämt euch! Für den ganzen 49-Euro-Scheiß habe ich was gut bei euch.

    Nachtrag (2023-06-07)

    Am Nachmittag habe ich, geduldig wie ich bin, das mit dem Juniticket von der Bahn nochmal probiert. Und siehe da, ich bin an der Authentifizierung vorbeigekommen (ich musste wieder „Planeten“ antatschen).

    Aber was soll ich sagen? Es geht immer noch nicht. Die Meldung, die der „Navigator“ jetzt ausspuckt, ist auch kein Stück besser als das gewohnte 503 von accounts.bahn.de. Wenn ich der Anweisung „Swipe down to Refresh“ folge, bekomme ich nämlich:

    Foto eines Bildschirms mit einem modalen Dialog: „The order could not be found.  Please ensure that you have centered all of the information correctly“

    Was denn für eine „order“? Ich habe keine eingegeben. Ich habe nur runtergeswipt. Welche Information also sollte ich bitte „correctly“ eingeben? Vielleicht anmutiger swipen? Und ja, die Authentifikation scheint ok; jedenfalls zeigt mir das Ding meine Bahncard, wenn ich den entsprechenden Menüpunkt antatsche.

    Was für ein Murks! Funktioniert das überhaupt für irgendwen? Und hat irgendwer auch nur irgendwas vom Abo-Support der Bahn bekommen, das nicht nur die Eingangsbestätigung ist?

    Nach-Nachtrag: Ah. Per Hand hinzufügen (mit dem eigenartigen +-Knopf, der Abo-Nummer und dem Nachnamen) geht. Ha! Was kann da schon schiefgehen?

  • Skandalöse Plotholes: Loriot vs. Scrabble

    Wenn ich gerne mal eine Partie Scrabble spiele, mag das durchaus an Loriots Film Ödipussi aus dem Jahr 1988 liegen. Darin versucht eine ältere Dame („Tante Mechthild“) zunächst, mit dem Wort „Hundnase“ durchzukommen:

    Ein Scrabble-Brett mit einigen gelegten Wörtern, eine Hand vollendet gerade „Hundnase“

    Rechte: Warner Home Video (nehme ich an)

    Das führt natürlich zu einer der großartigen Debatten, ob es nun ein Wort gebe oder nicht und ob es von den jeweiligen Hausregeln her zulässig sei. Die Spielrunde zwingt Mechthild mit strengen Blicken und Kommentaren, das Wort zurückzunehmen. Sie darf es aber – das ist auch schon eine liberale Regelabweichung – nochmal probieren. Auf diese Weise entsteht der Klassiker „Schwanzhund“:

    Das gleiche Scrabble-Brett wie eben, nur vollendet die Hand jetzt „Schwanzhund“

    Rechte: Warner Home Video (nehme ich an)

    Ich weiß gar nicht, wie mir das bisher entgehen konnte, aber: Das ist sehr wahrscheinlich ein Plothole, ein Fehler im Drehbuch. „Schwanz“ sind ja sieben Buchstaben, also alle, die mensch beim Scrabble auf der Hand hat. Wie aber hat sie dann vorher „Nase“, also mit einem E, legen können?

    Es gibt eigentlich nur zwei Erklärungen[1]: Entweder ist Tante Mechthild tüddelig und hat versehentlich acht Steine auf der Hand gehabt (aber hätten ihre strengen MitspielerInnen sie das machen lassen?). Oder sie hat geschickt betrogen und das E gegen einen der Schwanz-Buchstaben ausgetauscht.

    Es mag schon sein, dass in diesem Twist eine subtile Botschaft von Loriot liegt, zumal Mechthilds Behauptung, das seien 57 Punkte, so auch nicht stimmt. Zwar ist richtig, dass mit den Buchstabenwerten des Filmspiels, dem Doppelwert des W und dem dreifachen Wortwert unter dem S 3 × 19 = 57 Punkte rauskommen, aber Mechthild bekommt eigentlich noch den Bonus fürs Ablegen aller Buchstaben und kommt also auf 107 Punkte – es sei denn, sie hat wirklich ein E behalten, weil sie acht Buchstaben auf der Hand hatte (vgl. oben).

    Aber dann passen die Buchstabenwerte nicht zu modernem Scrabble; jedenfalls in den (laut Wikipedia seit 1987) aktuellen deutschen Scrabble-Spielen gibt das C vier Punkte und das W drei Punkte. Ob das in alten Scrabbles anders war? Vielleicht gab es da auch noch keinen 50-Punkte-Bonus? Das gefilmte Spiel ist jedenfalls kein englisches Spiel (in dem die Buchstabenwerte natürlich ganz anders sind), erstens wegen der (deutschen) Beschriftung der Multiplikatorfelder, zweitens, weil es einen Ö-Stein gibt.

    Fragen über Fragen. Wer zur Aufklärung beitragen kann: gerne. Und guckt gar nicht erst: Bei IMDB ist das (noch) nicht kommentiert.

    [1]Dass die beiden Versuche in einem Zug passierten ist klar, weil sich am restlichen Brett nichts änderte. Theoretisch, das sei eingestanden, wäre denkbar, dass sie ihre Buchstaben in ihrem nächsten Zug ausgetauscht hat und ansonsten alle SpielerInnen über zwei Runden nur gepasst oder selbst ausgetauscht haben, aber das hat es wohl in der gesamten Geschichte des Scrabblespielens noch nicht gegeben.
  • Bologna: Die universell gescheiterte Verschwörung

    Foto eines Plakats mit dem Claim: „Tschüss Notengrenze Hallo Master!  Bei den meisten Masterstudiengängen an der Hochschule Coburg gibt es keine Notengrenze mehr!”

    Dieses Plakat ist mir am 2. April in Fürth aufgefallen, und es ist eine schöne Illustration der Tatsache, dass der Bologna-Prozess sogar für die Ministerien komplett in die Hose gegangen ist.

    Meine längere Diatribe über Verschwörungstheorien neulich war inspiriert von dem Plakat auf dem Eingangsbild zu diesem Post, denn es illustriert eine von vielen Weisen, in denen der Bologna-Prozess – Arbeitsdefinition: ungefähre Verfünffachung der Prüfungslast an Hochschulen, mehr dazu gleich – krachend gescheitert ist. In diesem Scheitern ist er wiederum eine besonders schlagende Illustrationen für meine Behauptung gegen Ende des Verschwörungsposts: Verschwörungen – im Sinne von „verabredete Differenzen zwischen öffentlichen und privaten Äußerungen“ – sind zwar tatsächlich allgegenwärtig im politischen Prozess. Paranoid und unzutreffend ist aber die Annahme, diese Verschwörungen würden auch funktionieren, den Verschworenen also die Vorteile bringen, die sie sich erwartet haben.

    Beim Bologna-Prozess und seinen Vorläufern war ich als kleines Rädchen live dabei und hatte sogar eine eigene kleine Seiten-Verschwörung am Laufen: Ich habe nämlich bei der Einführung eines der ersten Bachelor-Studiengänge an der Uni hier mitgewirkt und habe allerlei positive Äußerungen zu Bologna durch meine Mitverschworenen wider besseren Wissens nicht korrigiert. Weil: wir wollten Studis eine Gelegenheit geben, ohne Latinum einen Abschluss zu bekommen, was mit dem alten Magister aussichtslos, mit dem neuen Bachelor jedoch leicht schien. Zu meiner Verteidigung: Ich bin nie so tief gesunken, dass ich den Bologna-Quatsch selbst gelobt hätte.

    Die große Bolognaverschwörung

    Das, was später „Bologna-Prozess“ genannt wurde, muss irgendwann Anfang der 1990er in Gütersloh seinen Ausgangspunkt genommen haben. Eingestandenermaßen war ich da nicht dabei. Ich habe aber genug der sonstigen erzreaktionären („neoliberalen“) Diskurse, die damals in den Mainstream drängten, mitbekommen, um mit großer Zuversicht behaupten zu können, dass sich die in der ostwestfälischen Provinz residierenden Bertelsmann-Manager ungefähr zu dieser Zeit Geschichten dieser Art erzählten:

    Der Bildungsmarkt ist tausend Milliarden Dollar im Jahr [inzwischen viel mehr] schwer. Als moderner Medien- und Dienstleistungskonzern müssen wir einen größeren Anteil davon erobern. Schulbücher sind lukrativ, aber guckt nach Harvard. 25'000 Dollar [inzwischen viel mehr] für ein paar Kurse und Gelegenheiten zum Netzwerken! Zwei Mal im Jahr! Das ist Geschäft![1]

    Der sehnsüchtige Blick nach Harvard war damals eher noch üblicher als er es heute ist. Und so haben sich die Bertelsmänner ans Werk gemacht und überlegt, was es für die Eroberung des Bildungsmarktes wohl bräuchte. Ich paraphrasiere weiter:

    Was die deutschen Universitäten machen, verhindert alle sinnvollen Business-Modelle: Erstmal verschenken sie den Kram, sogar ihre Abschlüsse und Zertifikate! Und dann macht jede ein bisschen andere Kurse mit jeweils ein bisschen anderen Kriterien. Dafür Produkte [dass dieses Wort auf Briefzustellung oder Investment-Glücksspiele oder Vorlesungen anwendbar wurde, ist auch der damaligen Zeit zu… na ja: verdanken] zu entwickeln, ist ökonomisch nicht darstellbar [na gut: das Geschwätz von „darstellbar“ ging glaube ich erst etwas später los].

    Für Bertelsmanns künftiges Geschäft mit „Courseware“ war es also erstens wichtig, das „Produkt“ Studium kostenpflichtig zu machen, zweitens, das „Produkt“ Vorlesungsschein (heutzutage: ECTS-Punkte) zu standardisieren und zu kommodifizieren (meint: zu einer massenproduzierbaren, marktfähigen Ware zu machen). So klar sagten sie das natürlich nicht öffentlich. Zu sehr verbrämten sie es aber auch nicht, was die GEW in einem post-mortem von 2014 schön herausgearbeitet hat:

    Denn [ungefähr im Jahr 2000] forderte Müller-Böling [ein Bertelsmann, vgl. in einem Moment] von der Hochschule als „Dienstleistungsunternehmen“ eben dies: Dienstleistungen in Forschung und Lehre zu produzieren, diese in „Konkurrenz zu anderen Hochschulen“ anzubieten, „auf die Anforderungen des ‚Marktes‘“ möglichst rasch zu reagieren, wobei der Staat sich in diesen Markt nicht einmischen dürfe (so viel zum neoliberalen Theorierahmen des Modells), Leistungen werden aufgrund von Input-Output-Rechnungen beurteilt usw.

    „Marktentwicklung“ umschreibt ganz ausgezeichnet die Mission des Zentrums für Hochschulentwicklung (CHE), das Bertelsmann 1994 aus der Taufe hob. Mit dem Urheber des Zitats im GEW-Zitat, Detlef Müller-Böling, (dessen private Seite mit einer Crapicity von 161 ordentlich vorlegt) fanden sie auch gleich einen hyperaktiven Chef, der die Klaviatur der Medien – egal ob von Bertelsmann selbst (z.B. RTL und Gruner & Jahr) oder von der Konkurrenz – meisterhaft spielte.

    Dass die Bertelsmänner ihren Bildungs-„Thinktank“ ausgerechnet einem Diplom-Kaufmann unterstellten, ist aus verschwörungstheoretischer Warte bemerkenswert ehrlich.

    Wer war mit dabei? Die HRK!

    Mit von der Partie beim CHE war die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), was nicht nur rückblickend als suizidal auf Lemmingniveau zu werten ist. Das schon, weil die Rankings, die das CHE wenig später rauszupumpen begann, die RektorInnen unter heftigen Druck setzten, dem jeweils neuesten Bullshit (häufig geliefert vom CHE selbst) hinterherzurennen.

    Rankings oder nicht: Die verheerenden Auswirkungen des vom CHE geschaffenen „Wettbewerbs“ hätten die (damals fast ausschließlich) Herren Rektoren auch so unschwer vorhersehen können, denn in jedem Wettbewerb zwischen N KonkurrentInnen gibt es (maximal) eineN GewinnerIn – und mithin N − 1 VerliererInnen.

    Zumindest die Figuren jedoch, die die HRK damals dominierten, glaubten, genau sie würden gewinnen, oder (bei realistischer veranlagten Charakteren) es würde wenigstens so viele Titel zu gewinnen geben, dass einer davon schon für sie abfallen würde. Ich glaube, sie glaubten das, weil sie sich eingeredet hatten, sie würden auch mindestens Harvard, wenn sie nur erst Studiengebühren nehmen und gemäß ihrer brillianten „Strategien“ ausgeben könnten. Ein Vertreter der Spezies Rektor, der sich sehr erkennbar mit solchen Gedanken trug, war der Heidelberger Amtsträger Peter Ulmer (zuvor Juraprof), gegen dessen Gebührenpläne schon 1993 zu protestieren war.

    Mit der Gründung des CHE ein paar Jahre später wuchs sich dann der vorher nur sehr allmählich anschwellende Bocksgesang um „Langzeitstudis“ zum ohrenbetäubenden Getöse aus. Er heulte über Menschen, die mehrere Fächer hintereinander studierten – zumeist nur gelegentlich mit Abschlüssen – oder im dreißigsten Fachsemester noch darüber nachdachten, ob sie sich allmählich zur Prüfung anmelden sollten.

    So unsinnig das Getöse war – die „Langzeitstudis“ haben damals niemandem weh getan, und jene von ihnen, die sich irgendwie in die heutige Zeit rübergetrickst haben, tun es immer noch nicht –, es sorgte für haufenweise Akzeptanz für das, was einige Jahre später in Baden-Württemberg Trotha-Tausi hieß, nämlich Strafgebühren von zunächst 1000 Mark, später dann 500 Euro im Semester für Studis ab dem vierzehnten Fach- oder auch mal Hochschulsemester.

    Damit konnten der damalige baden-württembergische Wissenschaftsminister Klaus Trotha (blaublütig und CDU) und sein das Ganze parallel betreibender niedersächsischer Kollege Thomas Oppermann (SPD) einen Einstieg in die Studiengebühren (ihre erinnert euch: Voraussetzung von Teil eins der Bertelmann-Verschwörung) hinbekommen, zumal nennenswerte Teile der Studischaft den Unsinn von den die Unis schädigenden Langzeitstudis selbst zu glauben glaubten.

    Obendrauf gewann die Erzählung von den die Unis im Umkehrschluss „verbessernden“ Studiengebühren spätestens nach dem furchtbaren Ende des 97/98er-Streiks, dessen Agenda rasch vom CHE-Sprachrohr Zeit diktiert wurde, erschreckende Popularität in einer ganzen Generation von Studis. Es dauerte mindestens bis zum Bildungsstreik 2009, bis sich dieses Gift so halbwegs aus den Studihirnen rausgewaschen hatte.

    Eine Versammlung in Bologna

    Dass die Studiengebühren, statt allmählich auf harvardeske Höhen zu steigen, wieder sterben würden, war ziemlich sicher jenseits der Vorstellungswelt der Bertelsmänner, die sich auf der Zielgeraden zur Erschließung des Bildungsmarkts (ihr erinnert euch: Eine Billion Dollar!) wähnten. So begannen sie munter mit dem zweiten Teil ihres Programms: der Kommodifizierung von Hochschulbildung, also der möglichst einheitlichen Strukturierung von Studiengängen in separat handelbare Pakete („Module”).

    Der CHE-Chefideologe Müller-Böling war sich völlig bewusst, dass er mit seinem Gesamtprogramm gegen die Interessen aller Beteiligten handelte:

    Im CHE standen dreißig Leute 36 000 Professoren und zwei Millionen Studenten an achtzig bis hundert Universitäten und rund 260 Fachhochschulen gegenüber, außerdem 16 Landesministerien mit jeweils 300 Mitarbeitern

    – nun, dreißig Leute sowie das Kapital, die Pressemacht und die Netzwerke von Bertelsmann, wenn mensch ganz ehrlich ist; dass sich gerade die willfährigsten Claqueure der Reichen und Mächtigen damals so ein offensichtlich quatschiges Rebellenimage ankleben wollten, fasziniert mich bis heute.

    Angesichts des hinter ihm stehenden ganz großen Bruders Bertelsmann jedenfalls ist Müller-Bölings Jubel von „Ich habe nie gedacht, dass man mit dreißig Leuten Dinge direkt durchsetzen kann” schon zu relativieren. Dennoch ist ihm zu bescheinigen, dass sein Laden die klassische Machttaktik des divide et impera schon sehr geschickt eingesetzt hat. Das allerdings – verschiedenen Gruppen verschiedene Dinge zu versprechen und sie so am Aufbau einer gemeinsamen Gegenwehr zu hindern – hat am Schluss das ganze Projekt ruiniert. Womit ich endlich zum Kern der Verschwörungsgeschichte komme.

    Nachdem nämlich das CHE das Bologna-Programm schon zwei Jahre vor der Erklärung formuliert hatte, haben sie sich zunächst keine Mühe mit Parlamenten oder ProfessorInnen gemacht, sondern sind gleich zu den BildungsministerInnen gegangen. Wie genau es dazu kam, dass diese am 19. Juni 1999 im Rahmen eines Treffens von RektorInnen sich für wichtig haltender europäischer Universitäten in Bologna versammelt waren, weiß ich nicht. Tatsache ist: Sie unterschrieben dort eine allenfalls notdürftig getarnte Fassung des Bertelsmann-Programms (also: Studiengänge sollen aus frei handelbaren Modulen aufgebaut werden).

    Ein Raum mit unfassbar dichten Wandmalerreien, davor moderne Bestuhlung.

    Eine der zwei Aulae Magnae im Archiginnasio in Bologna. Ich glaube, dass in dieser wirren Kulisse die MinisterInnen die Bertelsmann'sche Erklärung unterschrieben haben.

    Dieses Papier geisterte in den folgenden Jahren als Bologna-Erklärung durch die Hochschullandschaft, ganz besonders durch die deutsche, die sich in der Folge von 68 im Vergleich zu vielen anderen recht liberal und wenig gängelig zeigte und deshalb aus Bertelsmann-Sicht besonders viel „Reformbedarf“ hatte.

    Zu vielen zu viel versprochen

    Dass die BildungsministerInnen-Versammlung, die die Forderung damals abgenickt hat, keinerlei politische Funktion hatte – einen „Rat der für Hochschulen zuständigen MinisterInnen“ auf EU-Ebene gab es damals nicht –, war …

  • Eine Xerox 860 in Basel

    Wer einen Blick auf die Verteilung der Teilnehmenden am Museumspass wirft, kann Basel (mit derzeit 67 Einrichtungen in der Region) nicht übersehen: Die Konzentration von Museen und ähnlichem rund um das Rheinknie ist beeindruckend. Deshalb habe ich letzte Woche ein paar Tage dort verbracht und allerlei gesehen, gelernt beziehungsweise bewundert. Und weil eh schon viele von Tinguely reden, möchte ich drei andere Museen hervorheben.

    Erstens will ich für die wunderbare Basler Papiermühle (jaja, die Webseite ist mit Crapicity 33.3 etwas lästig) Werbung machen, in der BesucherInnen Papier schöpfen, Antiqua mit Metall- oder Vogelfedern schreiben und sehen können, wie haarig es war, mit Schreibmaschinen fehlerfreie Texte zu Papier zu bringen.

    Mit besonderer Hingabe habe ich als großer Fan von TeX das Stockwerk mit den Satzmaschinen erkundet. Da steht zum Beispiel noch eine funktionsfähige Linotype, also eine Maschine, in der mit flüssigen Bleilegierungen hantiert wurde, um mehr oder minder automatisch Druckzeilen zu setzen. Welch ein Wunder der Technik!

    Ein komplizierter Mechanismus mit Tastatur und einem stolzen Typenschild „Linotype“ am ca. zwei Meter hohen Gehäuse.

    Mit solchen Höllenmaschinen wurden noch in den 1970er Jahren Zeitungen und Bücher gesetzt. Weil ein Tippfehler dabei zumindest das Neugießen einer ganzen Zeile nach sich zog – an einen automatischen Umbruch eines möglicherweise folgenden Restabsatzes war gar nicht zu denken – waren SetzerInnen wichtige Menschen, und ihre Gewerkschaften hatten erhebliche Macht.

    Dann jedoch kamen allmählich ordentliche Rechner in die Setzereien. Die Papiermühle entstand aus kommerziellen Unternehmen, die die Entwicklung von Unix, troff und TeX in den 1970er Jahren noch verschlafen haben. Daher findet sich dort nur die professionelle Konkurrenz, etwa in Form dieser erstaunlichen Maschine von 1980:

    Ein schreibtischhoher Rechner neben einem Schreibtisch mit einem Hochkant-Monitor und einer großen gelben Tastatur.

    Es handelt sich um eine Xerox 860, eine für „Textverarbeitung“ geschaffene Maschine mit Schwarz-auf-Weiß-Display (ich vermute allerdings, dass es furchtbar geflimmert hat) und, wie ich in Basel zum ersten Mal gesehen habe, sogar einem Touchpad (ganz rechts in der Tastatur). 1980!

    Ich hätte gerne gesehen, was das Touchpad wohl gesteuert hat, aber leider war ich zu feige, das Museumspersonal um eine Demonstration zu bitten. Wahrscheinlich ist das Teil aber tatsächlich nicht mehr lauffähig, und zwar weil die Software schon von Diskette kam, wenn auch von den riesigen Floppies der ersten Generation mit einem Durchmesser von acht Zoll (das ist so in etwa A4-Breite). Ich wäre überhaupt nicht überrascht, wenn alle Floppies dieser Art inzwischen komplett durch wären – und wenn sie es nicht sind, würde ich erwarten, dass die Antriebsriemen der gigantischen Laufwerke inzwischen so ausgeleiert sind, dass auch von guten Floppies nichts mehr zu lesen wäre.

    Aber wer weiß? Wenn ich nochmal in der Papiermühle bin, muss ich einfach mal fragen – allein der Headload[1] von Laufwerken in der Größe wird mir wahrscheinlich das Herz wärmen, denn als ich in den späten 1980er Jahren Zivildienst im Krankenhaus leistete, gab es die Achtzöller auch noch im Siemens-CT des Hauses (während der Rest der Welt bereits die auf sie folgenden 5 ¼-Zöller zugunsten der 3 ½-Zöller, die noch heute viele „Speichern“-Icons zieren, beerdigt hatte). Es wäre jedenfalls schon schön, die markerschütternden Headloads nochmal zu hören.

    Ansonsten illustriert die Papiermühle immer wieder überdeutlich, wie mühsam und arbeitsintensiv jeder Schritt der Produktion von Druckmaterial – Papierherstellung, Satz, Vervielfältigung, Binden – noch vor fünfzig Jahren war. Wie eigentlich immer, wenn ich irgendwo sehe, wie viel wir automatisiert haben (oder automatisieren könnten), frage ich mich ernsthaft, wie es sein kann, dass wir ganz wie zu Zeiten unserer Großeltern immer noch 40 Stunden die Woche (oder mehr) lohnarbeiten. Wieso genau lassen wir uns mit all den dämlichen „Dienstleistungen“, Wettbewerben, Geschäftsführungen und Sicherheitsjobs beschäftigungstherapieren, statt endlich mal die Produktivitätsfortschritte in frei und sinnvoll verwendbare Zeit zu übersetzen?

    Beispiele für das, was Menschen mit frei verwendbarer Zeit anfangen könnten, sind sehr schön versammelt im zweiten Baseler, nun ja, Museum, das ich hier erwähnen möchte: Den Spielzeug Welten. Jaklar, das Leerzeichen ist doof, und ich gebe offen zu, dass ich angesichts des des prätentiösen Namens vielleicht eher mit einem Abriss über das Spiel in der Kultur gerechnet hätte, mit Halma, Spielkarten (zu denen es übrigens in der Papiermühle einiges gab), Modelleisenbahnen oder (jetzt wieder aktuell) Spielzeugpanzern.

    Das sind die „Spielzeug Welten“ nicht. Stattdessen sind fast ausschließlich Unmengen von Teddybären und Puppenstuben zu sehen und, zwischen herzig und verschroben, haufenweise Puppendioramen, die ganz klar niemals für Kinder gedacht waren. Leider ist das alles nicht so überwältigend gut kuratiert (meint: beschriftet). Selbst mit Infos aus bereitstehenden Computern wird der Kontext nicht immer ganz klar, was ich besonders traurig fand bei den aus meiner Sicht bizarrsten Exponaten: Einer Puppenstuben-Kapelle mit Kruzifix, Priester und allen Schikanen (welche blasphemischen Spiele hätten damit stattfinden sollen?) sowie einer Folterkammer als Puppenstube:

    In Bauntönen gehaltenes Modell einer Folterkammer mit Streckbank, eiserner Jungfrau, Pranger usf.

    Hier hätte mich sehr interessiert, wer dieses Ding wann wo und für wen gemacht hat.

    Ein lobendes Wort will ich noch zu einem dritten Baseler Museum loswerden: Im Naturhistorischen Museum gibt es neben vielen sorgfältig arrangierten Tierpräparaten vier besonders wunderbare Exponate, die den Fortgang der wissenschaftlichen Vorstellungen der Gestalt von Iguanodonen nachzeichneten. Zwischen den ersten Versuchen von Mantell im frühen 19. Jahrhundert (inklusive dem Daumenknochen als Nashorn) und den heutigen Zweibein-Läufern bestehen beeindruckend wenig Parallelen.

    Vielleicht wäre noch ein Hauch mehr Text zur Frage, warum sich die Vorstellungen so geändert haben, hilfreich gewesen, aber als Illustration des Wissenschaftsprozesses ist sowas einfach großartig. Leider spiegelte das Glas, hinter dem die Modelle standen, ziemlich schlimm; aber diese schnelle Montage mag dennoch einen Eindruck geben von der Evolution der Iguanodon-Vorstellungen (von links oben nach rechts unten):

    Vier Dinosauriermodelle von etwas Leguanähnlichem mit Einhorn über eine Eidechse mit breitem Schädel über ein Kängurudings bis zu einer vegetarischen Variante von T. Rex.
    [1]Für die, die nur noch kleine oder gar keine Floppies mehr kennen: die Schreib-Lese-Köpfe dieser Laufwerke saßen auf einer Art Hebel-Konstruktion, auf der auch der Schrittmotor montiert war, der sie über die Spuren bewegte. Beim Zugriff auf Daten klackte die ganze Moped mit einem ziemlich satten Sound gegen einen Anschlag, was als Headload bezeichnet wurde. Das Booten eines Rechners von Floppy erzeugte so einen für Betriebssystem und Version charakteristischen Schlagzeug-Track; bis heute habe ich CP/M-86 auf dem Siemens PC 16/10 im Ohr…

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