• Zum Antikriegstag: Von Aretha Franklin zu antipatriotischen Gedanken

    Ein Gazebo mit einem Transparent dran: „Internationaler Antikriegstag 1. September 2001.  Wir bleiben dabei: Nein zum Krieg“, dahinter eine Fußgängerzonenszene.

    Als PazifistIn kommt mensch aus dem Told-you-so-Sagen gar nicht mehr raus: Kaum zwei Wochen nach der überschaubaren Heidelberger Kundgebung zum Antikriegstag 2001 – heute vor 22 Jahren – erklärten weltweit viele Herrschende den „Krieg gegen den Terror“. Ich denke, niemand wird bestreiten, dass die Welt jetzt viel besser wäre, wenn sie das gelassen hätten.

    Im Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 16. August 2023 erinnerte Andrea Klasen an den zehnten Todestag von Aretha Franklin. Im Beitrag heißt es:

    Aretha Franklins Weg zum Ruhm ist steinig. Sie wird im März 1942 in Memphis, Tennessee, geboren, hinein in ein Elternhaus voller Musik.

    Als Klasen gegen Ende sagte:

    Am sechzehnten August 2018 stirbt die Soul-Diva mit 76 Jahren in ihrer Heimatstadt Detroit.

    habe ich zuerst gedacht: „Holla, aber es hieß doch am Anfang, Franklin sei in Memphis geboren worden? Hat Klasen nicht aufgepasst?“

    Dann aber kam mir, dass der Text vielleicht eine fortschrittlichere Interpretation des ja wahrlich bestenfalls grenzwertigen Begriffs „Heimat“ anwenden wollte, namentlich weniger Blut und Boden, Eltern und Geburtsort, stattdessen mehr „Wo gefällt es dir eigentlich und wo wohnst du?“

    Das wäre ein sehr erheblicher Fortschritt gegenüber der Sorte von Heimat, die beispielsweise im Namen der (zum Glück stark sklerotischen) Verbände der „Heimatvertriebenen“ lauert. Die dort gewählte Interpretation führt(e) zum Glauben, der Geburtsort lege fest, wo allein auf der Welt ein Mensch glücklich werden könnte, weshalb er oder sie auch dringend Anspruch darauf hat, dort Grund besitzen zu können. Für die „Heimatvertriebenen“ kam dazu, dass die Leute, die seit den jeweiligen Befreiungen der diversen „Heimaten“ von der deutschen Herrschaft dort wohnten, ihnen, also den Rückkehrenden, gefälligst hätten weichen sollen.

    Tja: Leider habe ich Klasens Intention wohl überinterpretiert. Auf meine Frage nämlich, was Franklin wohl in die post-autoindustrielle Wüste Detroit gezogen haben könnte, antwortet die Wikipedia, dass bereits ihre Eltern dorthin gezogen waren, und zwar als es noch eine autoindustrielle Wüste war. So lässt sich aus dem Beitrag eher kein entspannteres Konzept von Heimat belegen.

    Aber natürlich auch nicht sein Gegenteil, zumal ein identitätsreduzierter Heimatbegriff keineswegs neu ist: „Ubi bene ibi patria“, meine Heimat ist, wo immer es mir gut geht, war schon im republikanischen Rom eine Parole gegen auch damals grassierendes Blu-Bo-Säbelrasseln. 1848 drehten Marx und Engels die heimatfeindliche Aufklärung etwas weiter, als sie im Kommunistischen Manifest schrieben: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“.

    Nach weiteren 170 Jahren, in denen sich Menschen abgemetzelt haben, weil irgendwelche Grobiane ihnen erzählt haben, sie müssten irgendwelche Heimaten oder Vaterländer „verteidigen” (realistisch: in Schutt und Asche legen), möchte ich zum heutigen Antikriegstag eine Fusion vorschlagen. In Küchenlatein wäre das „ubi patria ibi stupor“, in zeitgenössischem Deutsch Vaterland ist für Deppen.

    Ich habe versucht, diesen entschlossenen FriedensdemonstrantInnen bei der Heidelberger Antikriegstag-Kundgebung 2023 meinen neuen Spruch nahezubringen:

    Ein gutes Dutzend Playmobil-Figuren mit Pace-Fahnen in den Händen.

    Ich hatte keinen Erfolg. Was sind eigentlich die aktuellen PISA-Ergebnisse für Latein? Bestimmt ganz schlimm!

  • Das Verschwinden der Nacht in der Skulpturensammlung

    Eine Sternkarte von Pegasus und Andromeda, in der die Position des Andromeda-Nebels markiert ist.

    Für große Gefühle im September: Verpasst nicht, einen Blick auf den Andromedanebel zu werfen – es ist einfacher, als ihr vielleicht glaubt.

    Die Frankfurter Liebieghaus-Skulpturensammlung (Warnungen: Google Analytics, ohne Javascript kaputt, besonders bizarres Cookiebanner[1]) stellt Skulpturen aller Art aus. In diese Dauerausstellung ist derzeit in ziemlich origineller Weise eine Sonderausstellung mit dem farbigen Namen Maschinenraum der Götter eingeflochten. Diese will die Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft in etlichen Kulturen Eurasiens beleuchten. So kommt es, dass plötzlich Uhrmacherei aus dem goldenen Zeitalter des Islams vor stilistischen Erwägungen zu irgendwelchen christlich-atavistischen Pieta-Figuren diskutiert wird.

    Lobenswert finde ich auch das Bestreben, der irgendwie aus dem Zeitalter des Imperialismus in heutige Laienvorstellungen herübergeschwappten Erzählung entgegenzutreten, dass es Fortschritt grob im perkleischen Athen und bei uns seit der Renaissance gab, während ansonsten wegen römischer Dekadenz, finsterem Mittelalter und Nicht-Europa-Sein nicht viel los war. Allerdings lassen sich die KuratorInnen im antikolonialen Überschwang manchmal zu etwas kurzsichtigen Aussagen hinreißen, etwa, wenn sie über Keilschrifttäfelchen von ca. 2000 vdcE[2], die die Aussage des Satzes des Pythagoras enthalten (dürften) den entscheidenden Beitrag der griechischen Mathematik – die Idee des Beweises – unnötig kleinreden.

    Wenn Gründe wichtiger sind als Fehler

    Manchmal mag es auch nur etwas fachfremdes Sprachstolpern sein, beispielsweise beim an sich hinreißenden Modell des Riesensextanten in Ulug Begs Observatorium (kurz vor 1500 ndcE), wo es klingt, als sei dort die (Rate der) Änderung der Schiefe der Ekliptik bestimmt worden. Was Ulug Beg dazu gedacht hat, weiß ich nicht, aber wirklich bekannt ist die Samarkander Astronomie für die verblüffende Genauigkeit ihrer Bestimmung der Größe selbst. Das ganz zu recht: mit einem Detektor, der nur etwa 2 Bogenminuten auflösen kann (das menschliche Auge) eine Größe auf ein paar Bogensekunden genau zu bestimmen, ist bereits aufregend genug.

    Von solchen Kleinigkeiten hätte ich mich jedoch nicht an die Tastatur rufen lassen. Postwürdig fand ich erst die Beschriftung des Himmelglobus von ʿAbd ar-Raḥmān aṣ-Ṣūfī (im Westen – mir aber bisher auch nicht – eher als Azophi bekannt; wir sind jetzt ca. 950 ndcE), und zwar weniger wegen Fehlern als wegen der Gründe dieser Fehler:

    Ein fotografierter Text, in dem u.a. steht „die sogenannte Große Magellan'sche Wolke [...] und den Andromedanebel auf, zwei Galaxien des südlichen Sternenhimmels“

    Dass der_die KuratorIn den Andromedanebel auf den Südhimmel schiebt, ist ein Alarmzeichen für Menschen wie mich, die den Nachthimmel für ein schützenswertes Gut halten.

    Von einem dunklen Platz aus ist der Andromedanebel nämlich klar am Nordhimmel mit dem bloßen Auge zu sehen. Wer das Ding mal gesehen hat und vielleicht dazu erzählt bekam, dass die Photonen, die das Nebelfleckchen auf die Netzhaut zaubern, gut 2 Millionen Jahre unterwegs waren, dass es damit auch gleich das entfernteste Objekt ist, das Menschen ohne technische Unterstützung sehen können, wird den Andromedanebel, so bin ich überzeugt, nicht mehr vergessen. Wer ihn umgekehrt mit „sogenannt“ qualifiziert auf den Südhimmel packt, hat ihn wahrscheinlich noch nie im Himmelskontext gesehen.

    Das finde ich von der Naturbetrachtung her ebenso schade wie angesichts einer verpassten Chance, eine Kopfzahl auf der kosmischen Entfernungsleiter mitzubekommen: „Die nächste ordentlich große Galaxie ist 2.2 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße weg“.

    Der Lichtverschmutzung ein wenig entkommen

    Aber leider haben wir praktisch unseren gesamten Lebensraum so beleuchtet, dass vermutlich viele Menschen noch nicht mal die Milchstraße mit eigenen Augen gesehen haben, geschweige denn den viel unauffälligeren Andromedanebel. Nennt mich einen Naturwissenschafts-Chauvinisten, aber ich halte das für eine Bildungslücke von nachgerade Homer'schen Ausmaßen.

    Die gute Nachricht ist: schon mit einem winzigen Fernglas ist der Andromeda-Nebel demnächst wieder auch aus etwas dunkleren Stadtstandorten (ein Friedhof müsste reichen) zu sehen, wenn es mal etwas aufklart. Dazu habe ich mit dem großartigen Stellarium die Suchkarte oben gebastelt, die den Anblick Ende September gegen zehn Uhr (Sommerzeit) am Abend wiedergibt, wenn ihr grob nach Osten schaut. Das große Viereck des Pegasus könnt ihr am realen Himmel nicht übersehen, und wenn ihr das habt, ist der sich nach links erstreckende Anhang der Andromeda mit den paar nach oben strebenden Sternen nicht zu verfehlen (die Richtungen beziehen sich auf die Abendsichtbarkeit).

    Peilt mit eurem Fernglas den obersten Stern der aufstrebenden Sternkette an und sucht (bei höheren Vergrößerungen; bei niedriger Vergrößerung habt ihr den Nebel direkt im Blick) dann etwas rum. Der Andromeda-Nebel ist nicht zu übersehen. Wenn euch das noch nicht ergreift, dann macht euch nochmal klar, dass auf eurer Netzhaut gerade Photonen platzen, die das letzte Mal mit Materie interagiert haben, als der Homo Erectus sich gerade irgendwie aus dem Stammgestrüpp des Menschen herauswand.

    Wo ihr dann schon mit einem Fernglas unter dem Herbsthimmel draußen seid, haltet weiter Ausschau nach dem Perseus – das ist ein Sternbild, das ein wenig aussieht wie ein π. Darin befindet sich – leicht durch Absuchen in Streifen findbar – der wunderschöne Doppel-Sternhaufen h und χ Persei, der mit bloßem Auge schon bei nur schwacher Lichtverschmutzung sichtbar (ihr würdet indirekt blicken müssen) ist, im Fernglas aber auch innerorts klasse aussieht. Klar, kein bisschen so bunt wie das, was die Presseabteilungen von NASA und ESA unter die Leute bringen – aber in einer ganz eigenen Art vielleicht noch aufregender.

    Fehlende Daten aus dem Süden?

    Der dunkelheitsvergessene Text der Liebieg-KuratorInnen stand übrigens bei einem schimmernden Himmelsglobus, zu dem es weiter hieß: „Fuat Sezgin und dem Frankfurter Institut für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften ist der Nachbau des Himmelsglobus des ʿAbd ar-Raḥmān al-Ṣūfī gelungen.“ Ich würde auch da leise Zweifel anmelden: Das überlieferte Werk von al-Ṣūfī ist ein Himmelsatlas mit flach projizierten Karten, und eine oberflächliche Recherche hat nichts von einem Globus aus seinem Umfeld erbracht, der hätte „nachgebaut“ werden können. Und wenn er wirklich einen gebaut hat, wäre der fast sicher nicht im „material design“ metallschimmernd gewesen, sondern zeittypisch kunterbunt.

    Aber sei es drum – wirklich spannend im Hinblick auf das, was wir Magellanische Wolken nennen, ist die Südpolkappe, die bei den Liebiegs so aussieht:

    Schimmernder Südpol eines Messing-Himmelsglobus mit eingelegten silberfarbenen Sternen.  Auf ca. 10 Grad um den Südpol herum befinden sich keine Sterne.

    Bemerkenswert dabei finde ich, dass al-Ṣūfī offenbar keine Daten für die südlichsten, sagen wir, zehn Grad des Himmels hatte – denn natürlich gibt es auch in der auf dem Globus leeren Zone Sterne. Um diese beobachten zu können, müsste mensch sich aber etwas südlich vom Äquator befinden, denn es ist selbst bei guten Bedingungen – die in den Tropen fast überall rar sind – sehr schwer, in der Nähe des Horizonts nützliche Sternbeobachtungen anzustellen. Nun ist zur Geschichte des Sansibar-Archipels (auf fast sieben Grad Süd) in der Wikipedia zu lesen:

    Als die ersten Besucher gelten arabische Händler, die im 8. Jahrhundert die Insel bereisten. […] Schon im 10. Jahrhundert hatten Araber Niederlassungen in der Region gegründet, die sich zu blühenden Republiken entwickelten.

    Arabische Reisende waren also zu al-Ṣūfīs Zeiten schon weit genug im Süden gewesen, und da sie Seefahrende waren, konnten sie vermutlich Sterne vermessen. Ich wäre neugierig, ob bekannt ist, warum ihre Erkenntnisse nicht in al-Ṣūfīs Sternkarten eingeflossen sind.

    So eine Frage, das gestehe ich gerne zu, ist vielleicht doch zu nerdig für ein Museum dieser Art. Die bei aller Mäkelei an Details sehr sehenswerte Ausstellung bei den Liebiegs ist noch bis zum 24.1.2024 zu sehen.

    Der unvermeidliche Bahn-Rant

    Abschließend: Wer in Frankfurt wohnt, mag vermuten, dass ich mit dieser Geschichte zu einer Ausstellung, die schon seit März läuft, ausgerechnet jetzt komme, weil ich das Museumsufer-Fest zum Besuch einzeln vielleicht nicht ganz so attraktiver Museen genutzt habe. Das stimmt. Dieses Geständnis gibt mir Anlass zu einem Mikrorant gegen die Bahn: An drei Tagen hintereinander war die jeweils von mir angestrebte Ausgabe des RE 60 von Frankfurt nach Süden durchweg ein schlimmer Schmerz.

    Am Freitag fiel er ganz aus, am Samstag veranstaltete die Bahn neben der quasi obligatorischen Verspätung von 30 Minuten in Weinheim ein munteres Bahnsteighopping in Frankfurt von 11 auf 13 auf 12, am Sonntag schließlich war die davor auf der Strecke fahrende Regionalbahn ausgefallen und deshalb der RE knallvoll.

    Mein Beileid denen, die sich als Beschäftigte in diesem Laden abkämpfen. Ich hätte längst sieben Nervenzusammenbrüche erlitten, wenn ich das alles organisieren müsste – und wäre nach der Reha Vollzeit in den Kampf um eine Rückkehr der BeamtInnenbahn eingestiegen.

    [1]Wo ich schon über Techno-Murks jammere: Dass die Audiokommentare zur Ausstellung weggeschlossen sind in einer „App“, die Rootzugriff für Apple oder Google voraussetzt statt (zumindest auch) über die Webseite zugänglich zu sein: das ist auch doof.
    [2]Vgl. diese Fußnote
  • Wer kennt den s2ram-Killer der BVG?

    Foto: Bushaltestelle mit abfahrendem Bus, im Hintergrund eine querende S-Bahn

    Februar 2019: Damals bin ich BVG-Bus gefahren, ohne dass der Schlaf meines Rechners gestört worden wäre.

    TL;DR: Hat jemand anders auch den Effekt, dass irgendwas in Berlin, vermutlich irgendwas in Bussen oder U-Bahnen, schlafende („Suspend to RAM“, s2ram, ACPI S3) Rechner hart ausschaltet?

    Ich laufe und fahre seit 20 Jahren eigentlich immer mit einem schlafenden Rechner im Rucksack durch die Gegend. Und auch wenn dieser Rechner – seit 10 Jahren ein Lenovo X240 – durchaus etwas lappiger Plastikkram ist, geht das verblüffenderweise auch durchweg gut – wenn ich wieder sitze und tippen will, wacht das Ding zuverlässig auf.

    Bis ich neulich in Berlin war. Über eine Woche hinweg war der Rechner drei Mal beim Auspacken nach Ausflügen hart aus, also nicht mehr im S3-Schlaf, sondern sozusagen S5-aus. Und da die Mühle beim Hochfahren erstmal ihre Dateisystem-Journale durchgegangen ist, hat da auch nichts sanft abgeschaltet: Die Kiste ist einen plötzlichen (wenn auch nur temporären) Tod gestorben.

    Na schön, dachte ich mir, dann ist da wohl durch die Reisestrapazen irgendein Wackelkontakt oder Haarriss auf der Hauptplatine entstanden. Um den Verdacht zu erhärten, habe eifrig geschüttelt, geklopft und gedrückt. Nichts jedoch vermochte den gerechten Schlaf der Maschine zu stören, friedlich heartbeatete die Deckel-LED, immer wachte die Kiste brav wieder auf. Inzwischen bin ich schon fast seit einer Woche wieder daheim, und es gab keine weiteren Fälle von plötzlichem Computertod.

    Wackelkontakt- oder Haarriss-Theorien verlieren so zunehmend an Plausibilität. Was also , wenn die Ausfälle durch irgendwas in Berlin verursacht wurden? Das wären dann sehr wahrscheinlich keine mechanischen Einwirkungen, sondern doch eher elektromagnetische.

    So ganz plausibel scheint mir zwar nicht, dass da irgendwas mit Schmackes induziert und die Kiste mit einer raschen Selbstentleibung aus dem Schlaf heraus reagiert – aber wer weiß, und wer weiß vor allem, was der gruselige Embedded Controller macht, wenn von irgendwo hinreichend viel unerwarteter Strom kommt?

    Leider habe ich keine gute Vermutung, was eine Funkstörung dieser Größenordnung wohl jeweils ausgelöst haben könnte, denn ich habe zu spät angefangen, auf Systematiken zu achten. Am ehesten habe ich Busse oder U-Bahnen – vor allem letztere haben auch kräftige Elektromotoren mit vermutlich sehr ordentlichen Wechselfeldern drumrum – im Verdacht, aber beides bin ich früher auch in BVG-Versionen und auch schon mit der Maschine gefahren, ohne dass etwas Eigenartiges passiert wäre.

    Klar mag ich dabei einfach zufällig hinreichenden Abstand von den Störquellen gehabt haben. Aber wie genau wäre ich jetzt plötzlich gleich drei Mal in kurzer Folge nahe genug gewesen? Ich kann nicht sagen, dass ich diese Erklärung irgendwo in der Nähe des Wortfelds von „befriedigend“ sähe.

    Vielleicht sinds ja auch irgendwelche neuen Edel-E-Autos, die in Berlin rumfahren und in der Heidelberger Gegend (noch) nicht? Oder sind es gar heimliche, aber zahlreiche Anti-Digitalisierungs-AktivistInnen (sie hätten meine Sympathie), die sich was gebastelt haben, um Menschen im ÖPNV durch milde Sabotage mal wieder dazu zu bringen, kurz aufzublicken?

    Wer sowas auch erlebt hat oder gar weiß, was da vorgeht: ich würde sehr gerne von euch hören.

  • Vom „Humboldt Forum“ nach Knossos: Viel Fantasie über Palastruinen

    Trotz meiner Schwierigkeiten beim Ermitteln der Öffnungszeiten war ich neulich im Berliner „Humboldt Forum“ und habe in dessen ethnologischer Ausstellung das hier gesehen:

    Eine seltsam modern anmutende Tragetasche aus einem strohartigen Material.

    Eine geflochtene Tasche von der melanesischen Insel Niu Ailan, „gesammelt“ (so die Beschriftung im Humboldtforum) während der deutschen Marine-Expedition 1907-1909.

    Solche Taschen, oder jedenfalls ziemlich ähnliche, glaube ich aus meiner Kindheit zu kennen, und so fiel mir sofort die Spöttelei ein, die Alex Capus in seiner wunderbaren Dreifachbiographie Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer zu einem verwandten Thema verfasst hat. In dem Buch „restauriert“ Emile Gilliéron Fresken, die Arthur Evans im minoischen Palast von Knossos freilegt. Allerdings fand Evans mit seinen Methoden allenfalls ziemlich bescheidene Stücke der Fresken. Gilliérion jedoch ist ganz Sohn des gleichnamigen Großrestaurators für Schliemann in Troja und arbeitet dementsprechend munter mit einem Jumbopack Kreativität. Bei Capus klingt das so:

    Als er mit seiner Arbeit fertig war, strahlten die Fresken in einer lückenlosen Frische, als hätten die minoischen Frauen gestern erst Modell gestanden; […] zwölf saßen erstaunlicherweise auf einer Art Campingstühlen mit schmalen Metallbeinen, und alle hatten langes, schwarzes Haar, und manche ließ eine kokette Locke in die Stirn fallen. Sie hatten riesige Mandelaugen und sinnliche, grellrot geschminkte Münder, manche trugen absatzlose Turnschuhe, kurze Röcke und halsfreie Blusen, als kämen sie vom Tennisspiel […]

    Einige [Betrachter] waren allerdings auch irritiert, dass die Fresken auf Knossos so modern erschienen und alles Archaische vermissen ließen. »Mais, ce sont des Parisiennes!«, rief der durchreisende Archäologe und Kunsthistoriker Edmond Pottier beim Anblick von Gilliérons Campingstuhl-Schönheiten, und der britische Schriftsteller Evelyn Waugh sagte, er wolle sich ein Urteil über die minoische Kunst nicht anmaßen, da die ausgestellten Fresken höchstens zu einem Zehntel älter als zwanzig Jahre seien; übers Ganze könne man sich jedenfalls des Eindrucks nicht erwehren, dass der Restaurator seine handwerkliche Sorgfaltspflicht aus Begeisterung für Vogue-Titelbilder vernachlässigt habe.

    Wenn nun die „Marineexpedition“ von 1907 auf die damals Neumecklenburg genannte Insel so modern aussehende Taschen von vermutlich von Jugendstil oder gar Moderne unkontaminierten Menschen zurückgebracht hat: Vielleicht lag ja Capus' „Fälscher“ Gilliéron mit seinen „Campingstuhl-Schönheiten“ auch nicht so völlig falsch, um so weniger, als gerade mal fünfzehnhundert Jahre später die Römer ja wirklich Campingstühle hatten?

    Preußische Kolonie: eine tragische Frace

    Vergleichbar neu war mir die preußische Kolonialgeschichte, auf die auf der völlig unpraktisch – kein Mensch kann aus der Nähe 30 Meter Animation überblicken, zumal ArchivarInnenhände ständig Kram rein- und rausschieben – breiten Videowand zur Geschichte von Schloss und Palast kurz vorkommt:

    Screenshot mit Siegel und zweisprachigem Text: „Friedrich Wilhelm gründet die Kolonie Großfriedrichsburg und steigt in den Menschenhandel ein, 1682-1712.

    Die Reaktionäre, die für den Neuaufbau des Preußenschlosses gesorgt haben, werden die Verbindung ihrer geliebten Hohenzollern mit Menschenhandel nicht gerne sehen, denke ich. Aber wahrscheinlich ist ihnen die ganze Kolonialepisode in ihrer hölzernen Murksigkeit so oder unangenehm.

    Das Diktum von Marx, in der Geschichte geschehe gerne alles zwei Mal, erst als Tragödie und danach als Farce, gilt hier eher umgekehrt: Mit all den Massakern und rassistischen Exzessen darf die „große“ deutsche Kolonialzeit zwischen 1880 und 1918^H4 zweifellos als Tragödie gelten. Ohne das Leid, das preußische Söldner, Militärs, Händler und Klientenregimes 1682-1712 anrichteten, kleinreden zu wollen: So, wie das ablief, war der erste Kolonialversuch im Vergleich eher eine ziemlich schräge, nicht immer geschmackssichere Komödie.

    Ich darf die entsprechende Geschichte in der Wikipedia vielleicht kurz interpretierend zusammenfassen: In einem seiner zahlreichen Kriege (in dem Fall gegen seinen schwedischen Kollegen) hat der Kurfürst Friedrich Wilhelm von der Humboldtforum-Videowand offenbar eher zufällig einen niederländischen Freibeuter namens Benjamin Raule engagiert. Der hatte überraschenderweise durchschlagenden Erfolg, so dass der Kurfürst plötzlich 21 ehemals schwedische Schiffe in der Hand hatte. Da es die schon mal gab, war es offenbar für Raule nicht schwer, den Kurfürsten zu beschwatzen, ihn mit der Errichtung einer Kolonie in Westafrika zu beauftragen.

    So richtig glatt ging das nicht, schon weil die richtigen Niederländer eines der Schiffe gleich mal wegen Schmuggels beschlagnahmten, aber am Schluss gab es eine Art Einigung mit lokalen Potentaten im heutigen West-Ghana und ab 1683 tatsächlich einen schlimm malariaverseuchten brandenburgischen Stützpunkt in Afrika. Den Namen hätte Monty Python nicht besser wählen können: Groß Friedrichsburg.

    Das „Fort“ entwickelte sich tatsächlich zu einem mäßig erfolgreichen Marktplatz für Waffen und versklavte Menschen, aber so richtig hob das Geschäft doch nie ab. Nach dem Tod des thalassophilen Kurfürsten Friedrich Wilhelm ließ das Interesse aus Berlin stark nach, und so haben sich die Leute in Westafrika allmählich internationaler orientiert. Schließlich hatte 1717 und 1720 der König Friedrich Wilhelm I (wenn ich richtig gezählt habe: ein Enkel des gleichnamigen Kurfürsten) den ganzen Mist in zwei Verträgen an die Niederländisch-Westindische Compagnie verkloppt.

    Blöd nur, dass Eigentum immer eine Frage von Gewalt ist, und die hatten die Preußen nach all den Jahren nicht mehr in Groß Friedrichsburg. Stattdessen hatte sich dort der westafrikanische Händler Nana Konneh („Jan Conny“ für die Deutschen; ob und wie er sich selbst geschrieben hat, ist heute unbekannt) selbst als Statthalter eingesetzt und hatte hinreichende Gewaltmittel, um der niederländischen Firma die Tür (bzw. das offene Meer) zeigen zu können. Ob er sich gegenüber den nach westlichen Rechtsstandards neuen Eigentümern der Festung wirklich als Statthalter Preußens ausgegeben hat, ist historisch zumindest sehr umstritten. Gesichert ist aber, dass die Niederländisch-Westindische Compagnie erst sieben Jahre nach dem ersten Kaufvertrag in die Festung einziehen konnte.

    Alles falsch

    Neben Ethnologie und Geschichte des Hauses gibts noch etliche andere Ausstellungen im Humboldtforum. Schade fand ich dabei, dass ich nur sehr magere Spuren des Palasts der Republik gefunden habe, den die Reaktion ja dringend durch ihr Schloss ersetzen musste, genauer:

    • Ein kleines Wändchen mit runterskalierten Plakaten und schwer fremdbeschämenden Videos von entsetzlich piefigen DDR-Veranstaltungen (gleich neben dem Haupteingang, sehr lohnend)
    • die gläserne Urne, in der die Volkskammerabgeordneten den Beitritt der DDR „zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ abgestimmt haben (in der Skulpturensammlung, eher mäßig lohnend)
    • ein, zwei Vitrinchen mit wechselnden Memorabilia ehemaliger Beschäftigter (an offenbar zufälligen Stellen)
    • ein, zwei im Bauschutt gefundene Alltagsgegenstände der ganz frühen DDR-Jahre (z.B. ein Alumesser) im ansonsten sehr aufschlussreichen Schlosskeller.

    Hätten die nicht wenigstens, sagen wir, das Treppenhaus im Stil des Palastes der Republik gestalten können? Es könnten ja auch asbestfreie Nachbildungen sein. Der ganze Barockkitsch, der jetzt da steht, ist – vom durchaus sehenswerten Kellergeschoss abgesehen – ebenfalls zu fast 100% Fake^Wnachgebildet.

    Immerhin geben sie das offen zu. Das hier ist im aktuellen Foyer, und per Tafel gestehen die KuratorInnen offen ein, dass nur das etwas dunklere Material vom Gruselschloss preußisch-deutscher Machtentfaltung übrig geblieben ist.

    In Weiß gehaltenes Barockportal mit vielen Simsen, Säulen und zwei trompetenden Engeln.  Ein kleines Stück ist Dunkelgrau.

    Wenn ihr mich fragt: Ich würde der DDR-Regierung von 1950 nicht laut vorwerfen wollen, das Ding weggesprengt zu haben. Sehr wohl ist ihr allerdings vorzuwerfen, die Stelle als Platz für grässliche Aufmärsche und Paraden planiert gelassen zu haben statt sie, wie in einem kurzen Augenblick des Lichts um 2010 herum, zu einer hübschen Wiese zu machen.

    Was genau finden eigentlich Grobiane daran, ihre Untertanen als hirnlose, ferngesteuerte Masse auflaufen zu lassen?

  • Escher in der ODEG: Ein Bahnfenster mit merkwürdiger Parkettierung

    Spätestens seit M.C. Escher[1] ist Parkettierung, die überlappungsfreie Füllung der Ebene mit mehr oder minder interessanten Teilfächen, nicht nur unter MathematikerInnen Kult. Sie gehört, im Zweifel via Douglas Hofstadters immer noch lesenswerten Gödel Escher Bach, auch zu den Klassikern der HackerInnenkultur. So hat sie sogar eine Rolle in Neal Stephensons (in der ersten zwei Dritteln wirklich sehr lesenswerten) Buch Anathem, das, in meiner Interpretation, eine Welt beschreibt, in der die Pythagoräer gewonnen haben und deshalb die technische Ziviliation schon zweitausend Jahre früher begonnen hat.

    Lasst mich eine Szene aus dem Buch zitieren, in der sich zwei Angehörige der aus diesen Urzeiten nachgebliebenen pythagoräischen Orden wie folgt unterhalten:

    „Seine Berufung waren die Fliesen,“ sagte Lio. „Er hat die prächtige Verfliesung der Neuen Waschstube gefertigt.“

    „Den Geometriekram,“ sagte ich.

    „Ja. Aber es scheint, dass das eher eine Art Vorwand war. In Wahrheit hat er wohl ein uraltes Geometrieproblem verfolgt, das Teglon. Es ist ein Parkettierungsproblem, und es geht bis auf den Tempel von Orithena zurück.“

    „Ist das nicht der Kram, der Leute verrückt macht?“ fragte ich.

    (Meine Übersetzung; der letzte Satz mag wieder eine Referenz auf Gödel Escher Bach sein: vgl. Gödels Krankheit).

    An diese Geschichte musste ich denken, als ich neulich in einem ODEG-Zug („RE 1“ ist dessen Berliner Name; allerdings heißen dort erstaunlich viele Linien mit erstaunlich vielen Anfangs- und Endpunkten so) im abendlichen Gegenlicht an oder in den Fenstern über dem oberen Stockwerk der Doppelstockwagen ein schwaches Muster sah:

    Zarte, wabenähnlich angeordnete orangefarbene Linien vor einem verwaschenen Hintergrund.

    Zunächst dachte ich, das sei eine einfach irgendein zufälliges Muster, mit dem die Hersteller die Splitterschutz-Folie im Verbundglas verstärkt hat, oder vielleicht gar ein Artefakt des Produktionsverfahrens. Wer genau hinsieht, wird jedoch finden, dass die Striche in Wirklichkeit aus parallelen Unter-Strichen bestehen (schaut in der Näher der Fokalebene), was mich etwas ins Zweifeln gebracht hat. An den Zusammenhang mit Splitterschutz glaube ich jedoch immer noch, trotz der Versuchung, an Strom oder Sensor zu denken; mein zweiter Erklärungs-Kandidat wäre Scheibenheizung gewesen, aber welchen Sinn sollte so etwas in einem Passagierwaggon haben?

    Zufällig oder produktionsbedingt ist das Muster aber überhaupt nicht. Live ist das durch hinreichend flaches Ansehen schnell zu erkennen, sobald mensch eine richtige Achse wählt. Für hier habe ich das mal etwas entzerrt und horizontal und vertikal zwei Geschwisterzellen markiert:

    Das Wabenmuster von eben, nur mit weniger perspektivischer Verzerrung und mit blau und orange markierten Polygonen, die sich jeweils untereinander ähneln.  Die blauen Zellen trennt ein Gitterplatz, die orangefarbenen zwei.

    Mensch muss also zwei Zellen horizontal oder drei Zellen vertikal weitergehen, damit das Gitter wieder in sich übergeht. Dass so eine relativ kurze Periode ein auf den ersten Blick jedenfalls für mich so chaotisches Bild hergibt, hätte ich schon mal nicht gedacht.

    Eingestanden: Wahnsinnig wie bei Stephenson wird mensch davon nicht. Aber es hat mich immerhin dazu gebracht, nochmal nachzulesen, was Penrose-Kacheln sind (sind die hier nicht) und danach die vielen hübschen Bilder im allgemeinen Parkettierungs-Artikel der Wikipedia zu betrachten. Mensch muss schon ziemlich weit scrollen, bis die hier vorliegende Klasse kurz angerissen wird: Parkettierungen mit sonstigen unregelmäßigen Polygonen ist im Augenblick so in etwa 63% runter.

    Das OBEG-Muster besteht aus unregelmäßigen Sechsecken, was die Wikipedia derzeit noch nicht diskutiert. Sie erwähnt immerhin, dass derzeit nur 15 kachelbare konvexe Fünfecke bekannt sind. Da mensch mit Sechsecken platonisch (also: regelmäßige Kacheln und alle Kacheln gleich groß) parkettieren kann, würde ich raten, dass es demgegegenüber bei Sechsecken beliebig viele Parkettierungen gibt; an sich sollte es ja kein Problem sein, jede Ecke ein wenig oder auch ein wenig mehr zu ziehen, wenns nicht drauf ankommt, dass alle Sechsecke gleich sind.

    Was dann auf die Frage führt: Hatten die Leute, die dieses Glas gemacht haben, starke Gründe, die Ecken gerade so zu ziehen, wie sie es gemacht haben? Und damit gleich auf die nächste Frage: Warum haben sie nicht überhaupt einfach regelmäßige Sechsecke („Wabenmuster“) genommen? Dazu wäre meine Vermutung, dass mit dem gewählten Muster nur viel schwächere Vorzugsachsen existieren, von denen es bei einem Wabenmuster ja mindestens 12 sehr deutliche gibt.

    Dass Vorzugsachsen bei einem Splitterschutz eher unwillkommen sind, scheint mir plausibel. Aber ich habe keine wirkliche Ahnung, und weder Wikipedia noch Duckduckgo haben mir unter Schlagwörtern wie Verbundglas und Wabe oder Hexagon halbwegs flott irgendwas Vielversprechendes geliefert.

    Wer etwas weiß: ich freue mich über Einsichten per Mail.

    [1]Escher ist erst 1972 gestorben, weshalb das Urheberrecht sein Werk noch lange aus Plätzen wie der Wikipedia heraushalten wird. Glaubt eigentlich irgendwer, Escher hätte eines seiner Bilder nicht gemacht, wenn es jetzt in der Wikipedia wäre? Aber egal: Bis irgendwer den Kram wegklagt, könnt ihr Escher-Werke auf einer Beispiel-Aufgabenstellung von der TU Darmstadt anschauen.
  • Humboldtforum: Neue Maßstäbe beim „Besuchserlebnis“

    Ich weiß, ich sollte nicht, aber jetzt bin ich schon mal neugierig auf die Kompromisse, die die Reaktion bei ihrem Neubau des Berliner Schlosses hat schließen müssen. Und so wollte ich auf der Webseite des Humboldt-Forums (da versagt die Crapicty-Metrik derzeit: sie ist nur 3.6) nachsehen, wann das Ding wohl offen hat.

    Ohne Javascript ist im luakit das hier zu sehen:

    Screenshot: kleine Titelzeile, dann Schwarz

    Eine Suche nach „Öffnung“ sorgt für dieses Bild:

    Screenshot: Weißer Hintergrund, davor „Öffnung“ als Such-Match.

    Ja, das ist weißer Text auf weißem Grund. Wer den Mauszeiger geschickt schiebt, wird enthüllen, dass dort „Nach der Natur/Eröffnungsausstellung des Humboldt Labors [sic!]“ steht.

    Beim Weiterscrollen kommen ein paar hüpfende Punkte, wo mensch noch am ehesten Öffnungszeiten erwarten würde, und dann am Fuß der Seite zum Hohn:

    Screenshot: halbformatiertes Cookiebanner mit „um ihnen das bestmögliche Besuchserlebnis zu bieten“

    Liebe Humboldtforum-Leute: Ich will kein Besuchserlebnis, ich will wissen, wann ihr aufhabt. Um rauszukriegen, wie ihr mir das ermöglicht, braucht ihr kein Tracking, ihr müsst eure Webseite nur mal kurz mit netsurf probieren. Genau genommen habt ihr mit öffentlicher Förderung auch keine Dark Patterns (das schwarz unterlegte „ALLE AUSWÄHLEN“) nötig, und eigentlich ohnehin keine Übergriffe auf die Privatsphäre eurer NutzerInnen.

    Aber ach ja, kaputte Webseiten sind leider ziemlich normal (und als solche leider auch nicht postwürdig). Deshalb war ich von vorneherein nicht mit netsurf unterwegs. Ich hatte einen ganz ordinären Webkit-Browser, und weil ich ja normalerweise friedlich bin, habe ich halt in Gott*es Namen Javascript eingeschaltet. Als das Rendering auch dann noch scheinbar hängen blieb, habe ich selbst local storage nachgelegt.

    Hat alles nichts gebraucht, außer… der Webkit hat spontan 100% CPU gezogen. Ich habe ein wenig versucht, dem nachzugehen, bis unerwartet nach rund zwei Minuten wirklich ein modales Cookiebanner hochpoppte. Der Fairness halber: dann konnte wirklich die Öffnungszeiten sehen (10:30 bis 18:30).

    Haben die Webseiten-Leute des Humboldt-Forums ihre Tracking-Erkenntnisse vielleicht wirklich zur Optimierung des „Besuchserlebnisses“ verwendet? Als Erlebnis nämlich darf der Besuch der Humboldt-Webseite wirklich zählen.

  • OpenSSL, Syslog, and Unexpected Consequences of Usrmerge: Upgrading to bookworm

    A few weeks after the release of Debian bookworm, I have recently dist-upgraded my main, ah well, workstation, too. As mentioned in my bullseye upgrade post, that box's file system is ancient, and the machine does many things in perhaps unusual ways, which includes still booting with sysvinit rather than systemd for quite a few reasons. Hence, it always brings up the some interesting upgrade probl^H^H^H^H^Hchallenges. While for bullseye, the main… um… challenge for me was the migration to python3, this time the big theme was dropped crypto engines.

    Rsyslogd, wmnet

    Much more harmless than those, but immediately visible after the upgrade, was that my syslog display remained empty. The direct reason was that the rsyslog daemon was not running. The reason for that, in turn, was that there was not even a init script for it in /etc/init.d, let alone rc.d links to it. But the rsyslogd package was installed. What would the purpose be of installing a daemon package without an init script?

    The Debian bug tracker had something like an answer: the maintainer took it out, presumably to shed files they considered cruft in the age of systemd. Although I have to concur with Naranyan's remark in the bug report that rsyslog will typically be in place exactly when systemd (with its own log daemon) is not, at least that bug (#1037039) offers the (simple) fix: Install the orphan-sysvinit-scripts package.

    Something a bit harder to explain is that the nice wmnet applet for monitoring transfers on network interfaces came up blank after the upgrade. This is fixed by passing a -n option to it, which tells it to draw into a normal window rather than something suitable for the Windowmaker dock. Wmnet (as perhaps other Windowmaker applets, too) tries to guess where to draw based on some divination. Perhaps my window manager sawfish started to pretend it's Windowmaker in bookworm? Or indicated to wmnet in some other way it was living in a Windowmaker dock? Hm: Given that the last changelog entry on sawfish itself is from 2014 (which I consider a sign of quality), that seems unlikely, but then I can't bring myself to investigate more closely.

    The usr Merge and Bashism in the Woodwork

    Although I had merged the root and usr file systems on that box last time I migrated to a new machine, I had postponed doing the usrmerge thing (i.e., making the content of /bin and /usr/bin identical) on the box until the last possible moment – that is, the bookworm installation – because I had a hunch some hack I may have made 20 years ago would blow up spectacularly.

    None did. Except… it turned out I had linked /bin/sh to /bin/bash for some long-forgotten and presumably silly reason; if you had asked me before the upgrade, I'd have confidently claimed that of course all my little glue scripts are executed by Debian's parsimonious dash rather than the relatively lavish bash. Turns out: they weren't.

    With the installation of the usrmerge package during the bookworm dist-upgrade that is over. /bin/sh is now dash as I had expected it to be all the time. I have to admit I am a bit disappointed that I do not notice any difference in system snappiness at all.

    But I did notice that plenty of my scripts were now failing because they contained a bashism: Comparison for string equality in POSIX-compliant [ ... ] constructs is not the C-like == but the SQL-like = even though bash accepts both. I don't know when I forgot this (or, for that matter, whether I ever knew it), but a dozen or so of my (often rather deeply embedded) shell scripts started to fail with messages like:

    script name: 22: [: tonline: unexpected operator
    

    So, repeat after me: In shell scripts, compare strings with = and numbers with -eq. And I have to admit that this experience made me a bit more sympathetic to the zero shell paradigm behind systemd. But for the record: I still think the advantages of having hooks for shell scripts almost everywhere overall outweigh these little annoyances.

    The OpenSSL Upgrade

    With the bookworm upgrade, a fair number of hashes and ciphers were declared “legacy” in openssl, which means that in the default configuration, it will reject them. That had a few rather disruptive consequences: For one, I needed to update a few snake-oil certificates I had generated for playing with https on my box.

    Also, fetchmail failed for a POP server I had configured with a message like:

    fetchmail: <hostname> SSL connection failed.
    fetchmail: socket error while fetching from <whatever>
    

    I was puzzled for a while until I realised that the recipe said:

    with proto TLS1
    

    That was probably valuable in, like, 2004, to suppress ancient (relatively) easily breakable SSL versions, but by now it didn't let fetchmail negotiate crypto that was still allowed by openssl. Removing the proto TLS1 fixed that problem.

    The most unnerving breakage, however, was that my preferred disk crypto, encfs (cf. this advocacy in German), broke for some volumes I had created more than a decade ago: they failed to mount because openssl now refuses (I think) the blowfish cipher. I fiddled around a bit with re-enabling legacy algorithms as per Debian bug 1014193 but quickly lost my patience with the slightly flamboyant semantics of openssl.cnf. To my surprise, downgrading to encfs_1.9.5-1+b2_i386.deb from bullseye (by briefly re-adding the sources.list lines) let me mount the old volumes again. I then simply created new encfs volumes and rsync -av-ed from the old decrypted volume into the new decrypted volume. Finally, after unmounting everything encfs, I overwrote the old encrypted volumes with the new encrypted volumes and upgraded back to bookworm encfs.

    Since I can't explain why downgrading encfs would have fixed the problem as I've analysed it and hence suspect that a part of my analysis (and fix) is wrong, I'd strongly recommend to run:

    encfsctl info <encrypted volume>
    

    on each encfs directory you have before the upgrade. If it says something like:

    Filesystem cipher: "ssl/blowfish", version 2:1:1 (using 3:0:2)
    

    or even just:

    Version 5 configuration; created by EncFS 1.2.5 (revision 20040813)
    

    (where I have not researched the version where encfs defaults became acceptable for bookworm openssl; 1.9 is ok, at any rate), copy over the decrypted content into a newly created encfs container; it's quick and easy.

    Relatedly, bookworm ssh also disallows a few crypto methods now deemed insecure by default, in particular SHA-1 hashes for host keys. Now, I have to connect to a few hosts I cannot upgrade (either because I'm not root or because they are stuck on some ancient kernel because of proprietary kernel components). For these, when trying to connect I now get messages like this:

    Unable to negotiate with 192.168.20.21 port 22: no matching host key type found. Their offer: ssh-rsa,ssh-dss
    

    You could reasonably argue I should discard boxes of that type. On the other hand, nobody will spend 50'000 Euro to eavesdrop on my communications with these machines[1] – that's the current estimate for producing a hash collision for an ssh host key, which this is about. Hence, I'm happy to risk man-in-the-middle attacks for these machines.

    To deal with such situations, openssh lets you selectively re-allow SHA-1 hashes on RSA host keys. Helpfully, /usr/share/doc/openssh-client/NEWS.Debian.gz gives a recipe to save those hosts; put host stanzas like:

    Host ancient-and-unupdatable.some.domain
      HostKeyAlgorithms=+ssh-rsa
      PubkeyAcceptedKeyTypes +ssh-rsa
    

    into ~/.ssh/config (and do read ssh_config (5) if you are not sure what I'm talking about, regardless of whether or not you have this particular problem). Incidentally, just to save that one machine where you forgot to update your ancient DSA public key, you can for a brief moment change the second line to:

    PubkeyAcceptedKeyTypes +ssh-rsa,ssh-dsa
    

    If you don't have an RSA key yet, create one (ssh-genkey -t rsa) – RSA keys work even on the most venerable openssh installations that don't yet know about the cool ed25519 keys. Connect to the server, install the RSA public key, and re-remove the ssh-dsa part in the config again.

    Kudos to the openssh maintainers for keeping compatibility even in crypto over more than 20 years. And shame on many others – including me – who don't manage to do that even in non-crypto software.

    Terrible Font Rendering in Swing

    One of the more unexpected breakages after the upgrade was that some Java Swing (a once-popular GUI toolkit) applications suddenly had terribly jagged fonts, such as my beloved TOPCAT:

    Part of a screenshot of a menu with horribly jaggy letters

    I cannot exactly say why this looks so terrible[2]. Perhaps in the age of 300 dpi displays font hinting – which is supposed to avoid overly jagged pixelisation when rendering vector fonts at low resolutions – has become out of fashion, perhaps OpenJDK now …

  • Zu schön, um echt zu sein, Teil 3: Die „Reichsburg“ Cochem

    Anlässlich in Speyer ausgestellter Kronen habe ich im März die These gewagt: „Wenn es ganz besonders echt aussieht, ist es wahrscheinlich ein Fake“. Im April fand ich bei der Dürkheimer Hardenburg weitere Belege für diese, nun, ich gehe gleich zu „Einsicht“ über. Mir scheint, speziell bei Burgen gilt meine, ach ja: „Regel“ ganz besonders, nicht zuletzt, weil ich gestern die „Reichsburg Cochem“ (vorsorglich: das ist ein kurzes o im Ortsnamen) aus der Nähe sah. Gerade in den Nebeln vom Moseltal sieht die stark nach Avalon aus:

    Eine Burg mit vielen Türmchen auf einem mit Wein und Gestrüpp bewachsenen Hügeln vor im Hintergrund blasseren Hügeln.

    Tatsächlich war an der Stelle einst durchaus eine echte Burg, von der aus diverse Grobiane Zölle auf der unter dem Gebäude dahinfließenden Mosel erpresst haben. Aber von dieser Burg ist nach dem pfälzischen Erbfolgekrieg – dem auch das Heidelberger Schloss viel von seiner Romantik verdankt – nicht viel übrig geblieben. Französisches Militär pustete das Ding im Jahr 1698 bis auf zwei Turmreste weg.

    Ich denke, auf diesem Berg wäre heute von unten nichts mehr zu sehen, wenn nicht ein durch Eisenhandel reich gewordener hugenottischer Preuße namens Louis Fréderic Jacques Ravené – heute in Cochem durch Straßen- und Hotelnamen innbrünstig verehrt – das Areal 1868 gekauft hätte, um dort kräftig Burgenromantik zu betreiben.

    Ich glaube, er hat noch nicht, wie etwa zur gleichen Zeit Ludwig II in Neuschwanstein, fleißig mit Beton bauen lassen – aber auch ohne ganz moderne Baustoffe ist die dekorative Türmchenorgie in etwa so echt wie die Krone von Rudolf IV von Österreich.

    Vielleicht darf mensch das trotzdem hübsch finden. Aber dazu vergisst mensch besser, das dieses Sentiment vom Justizminister der NS-Regierung geteilt wurde, der in dem Gebäude 1943 eine Art, hust, Führungsakademie für seinen Apparat faschistischer Volks- und anderer Richter betreiben ließ. Was in den verbleibenden zwei Jahren seiner Amtszeit darin „gelehrt“ worden sein mag, wird wohl bitter genug gewesen sein, um den süßen Mittelalterkitsch ein wenig zu vergällen.

  • Warum CRISPR im Elfenbeinturm bleiben sollte: Entholzte Pappeln

    Zur Frage technischer Lösungen sozialer Probleme – sagen wir: Klimawandel –, die mich neulich bewegt hat, ist mir gestern noch eine bemerkenswerte Ergänzung untergekommen, und zwar in den Deutschlandfunk-Wissenschaftsmeldungen vom 14.7. Darin hieß es:

    Mit Hilfe der Gen-Schere CRISPR sollen Bäume nachhaltiger werden.

    Ein Forschungsteam der North Carolina State University hat Gen-Scheren eingesetzt, um einen Baum mit möglichst idealen [!] Holzeigenschaften [!] zu entwickeln [!].

    Die Holzfasern der genomeditierten Pappeln sollen sich besonders gut für die Verarbeitung eignen, zum Beispiel in der Papierindustrie oder sogar für Windeln. Dabei entsteht möglichst ebenmäßiges Material mit einem geringen Anteil an Lignin, einem besonders harten holzigen Bestandteil von Bäumen. Laut der Publikation im Fachmagazin Science könnten durch den Einsatz der genmodifizierten Holzfasern die Emissionen in der Holzverarbeitung deutlich gesenkt werden.

    Ich finde, diese Meldung illustriert ganz gut, warum Hoffnungen auf „Innovationen“ zur Erreichung von mehr „Nachhaltigkeit“ so lange Illusionen sind, wie wir nicht von der Marktwirtschafts- und Wachstumslogik loskommen: Die „Nachhaltigkeit“ von der die Redaktion hier redet, besteht nur in einer weiteren Intensivierung unserer Dienstbarmachung der Natur, mithin also in weiteren Schritten auf dem Weg ins Blutbad (ich übertreibe vermutlich nicht).

    Und dabei habe ich noch nicht die Geschacksfrage erwogen, wie freundlich es eigentlich ist, irgendwelche Organismen so herzurichten, dass sie besser zu unseren industriellen Prozessen passen, Organismen zumal, die uns über Jahrhunderte unsere Wege beschattet und Tempolimits erzwungen haben:

    Eine Pappelallee mit breiter Auto- und akzeptabler Fahrradspur, im Vordergrund ein dickes Schild mit Geschwindigkeitsbegrenzung 70.

    Die Pappelallee auf dem Damm, der die Bodenseeinsel Reichenau mit dem Festland verbindet, im Juli 2019 bereits mit einem akzeptablen Fahrradweg.

    Statt also einfach viel weniger Papier zu produzieren und nachzudenken, wie wir von der ganzen unerfreulichen Einwegwindelei runterkommen, ohne dass das in zu viel Arbeit ausartet, machen wir lieber weiter wie bisher. Was kann schon schiefgehen, wenn wir riesige Plantagen ligninarmer Gummipappeln im Land verteilen, damit wir weiter Papier verschwenden und unsere Babys in Plastik verpacken können? Ich erwähne kurz: Bäume machen das Lignin (wörtlich übersetzt ja in etwa „Holzstoff“) ja nicht aus Spaß, sondern weil sie Struktur brauchen, um in die Höhe zu kommen.

    Die Schote liefert auch ein gutes Argument gegen die Normalisierung von CRISPR-modifizierten Organismen in der Agrarindustrie, die in diesen Kreisen immer weniger verschämt gefordert wird. Es mag ja gerne sein, dass ein ganzer Satz Risiken wegfällt, wenn mensch nicht mehr wie bei der „alten“ Gentechnik dringend Antibiotika-Resistenzgene zur zielgerichteten DNA-Manipulation braucht. Das fundamentale Problem aber bleibt: CRISPR gibt Bayer und Co längere Hebel, und die setzen die natürlich nicht ein, um die Welternährung zu retten – das ist ohnehin Quatsch, weil diese eine Frage von Verteilung, „Biosprit“ und vielleicht noch unserem Fleischkonsum ist und Technologie in allen diesen Punkten überhaupt nicht hilft. Sowieso nicht werden sie Pflanzen herstellen, die die BäuerInnen im globalen Süden besser durch Trockenzeiten bringen werden, Pflanzen gar, die diese selbst nachziehen und weiterentwickeln können („aber… aber… denkt doch an das geistige Eigentum!“).

    Nein. Sie werden den langen Hebel nutzen für Quatsch wie Pappeln, schneller einfacher zu gewinnendes Papier liefern – und das ist noch ein guter Fall im Vergleich zu Round up-Ready-Pflanzen (die höhere Glyphosat-Dosen aushalten) oder Arctic Apples (deren einziger Zweck zu sein scheint, dass Supermärkte ein paar mehr arme Schweine zum Apfelschnippeln hernehmen können, um nachher lecker-weiß leuchtende Apfelschnitzen teurer verkaufen zu können).

    Wie der industrielle Einsatz von CRISPR zu beurteilen wäre, wenn die dadurch verfolgten Zwecke ökologisch oder wenigstens sozial akzeptabel wären, kann dabei dahingestellt bleiben. Solange die Technologieentwicklung im Allgemeinen durch Erwägungen von „Märkten“ getrieben wird, ist es für uns alle besser, wenn allzu mächtige Technologien scharf reguliert sind. Und das gilt schon drei mal für Kram mit einem so langen Hebel wie CRISPR.

    Schließlich: Wenn ihr in die Meldungen reinhört, lasst sie doch noch laufen bis zu diesem genderpolitischen Offenbarungseid:

    Laut der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA ist fast die Hälfte aller Schwangerschaften in den USA ungewollt.

    Das passiert, wenn du ChristInnen deine Lehrpläne gestalten lässt – und es ist weiterer Hinweis darauf, dass reproduktive Selbstbestimmung ein zentraler Baustein einer menschenwürdigen Gegenwart und Zukunft ist.

  • Technoseum: Innovationen für den Umweltschutz von 1910

    Verschiedene kleine Geräte mit Walzen und Kurbeln in einer Vitrine arrangiert.

    Ratet, was das ist. Dann lest weiter.

    Erfreulicherweise verschafft mir mein Museumspass auch im Landesmuseum für Arbeit und Technik in Mannheim – Verzeihung, „Technoseum”, inzwischen – freien Eintritt.

    Da. Ich habe gleich damit aufgemacht: ich konnte das leicht bräsige „Arbeit und Technik“ gut leiden, schon, weil es den historischen Kompromiss der späten 1970er Jahre atmet. Ich stelle mir immer vor, dass Alt-Ministerpräsident Späth damals eine Art Propagandaabteilung für seine Daimler-Bosch-Spätzlesconnection bauen wollte, im seinerzeit noch viel gewerkschaftsgeprägteren Mannheim dabei aber viele Zugeständnisse machen musste. Wie viel Realität auch immer in dieser Fantasie stecken mag: mensch kann noch heute die Internationale hören im Museum, bekommt Einblick in die Elendsviertel der Gründerzeit und findet zwischen all den Wunderwerken dann und wann auch Einsprengsel von Technikfolgenabschätzung.

    Vor diesem Hintergrund war ich bei meinem Museumspass-Besuch neulich hocherfreut, dass ein paar der bunten „Zeitreise“-Klötze weiter an die Gründerjahre des Landesmuseums erinnern. Auf ihnen leitet immer noch ein Botschafter der späten achtziger Jahre in herzigen Videos in noch fernere Zeiten:

    Vier Klötze in kräftigen Farben, Sitzklötze in Blau, ein Monitorklotz in rot.  Auf dem Monitor eine Anzeige „Zeitreisen/Bitte nähertreten“.

    Museumspädagogik der späten 1980er: Ich oute mich hier als Fan.

    Ihr habt geraten, was am Anfang des Texts zu sehen ist?

    Aber eigentlich will ich ja verraten, was die Dinger im Foto oben sind. Nämlich: Das sind verschiedene Maschinen, die erlaubten, Wechselklingen für Nassrasierer zu schärfen und so deren Lebensdauer zu vervielfachen. Das war erkennbar ein nenenswerter Markt, so zwischen 1900 und 1920.

    Ich fand das bemerkenswert, weil zwar Rasierausrüstung aktuell vermutlich bei fast niemandem nennenswert ökologischen Fußabdruck ausmacht, das aber nur daran liegt, dass wir ansonsten so viel Dreck machen. All die Sprays, Geräte, Wässerchen und Einweg-Klingenhalter, die die breite Mehrheit der Menschen beiderlei Geschlechts mittlerweile auf die Entfernung von Haaren verwendet, dürfte schon einige zehn Kilo CO₂-Äquivalent im Jahr ausmachen[1] – pro Nase. Das wäre vermutlich schon im Prozentbereich des gesamten Fußabdrucks eines Menschen von 1910 gewesen, wenn es sich nicht gerade um Fürstinnen oder Soldaten handelte.

    So gesehen betrachtet ihr oben eine der berühmten technischen Lösungen, die uns bei der Bewältungung der Klimakrise helfen sollen, nur, dass die Rede von der Innovation bei Kram aus dem Kaiserreich wirklich nicht mehr passt [Pflichtmitteilung: Ich bleibe überzeugt, dass es für die Klimakrise keine technische Lösung gibt; sie ist ein fundamental wirtschaftliches, also soziales Problem und braucht daher auch soziale Lösungen; im vorliegenden Fall schlage ich Großentspannung in Sachen Körperbehaarung vor.]

    Ich hoffe, mit diesen Blech- und Messingwundern aus der ausgehenden Gaslichtzeit alle Steampunk-Fans des Internets hierher gelockt zu haben. Herzlich willkommen, und wo ihr schon da seid, habe ich ein weiteres Schmankerl aus dem Landesmuseum für euch:

    Ein in Kiloampere geeichter Strommesser und ein Voltmeter, rund, auf Marmorgrund, darüber en Blechschind in Sans-Serif: Turbodynamo II.

    „Turbodynamo II“ klingt wie albernes Technobabble aus Star Trek, ist aber echt. Wenn ich das Arrangement richtig interpretiere, gehörte das gute Stück zum Kleinkraftwerk, das die Waggonfabrik Fuchs – in einem Produkt der Firma könnt ihr im Technoseum Dampfzug fahren – Ende des 19. Jahrhunderts in Heidelberg hat errichten lassen. Die dazugehörige Dampfmaschine wird im Landesmuseum normalerweise ein paar Mal am Tag in Aktion vorgeführt, wenn auch mit anderswo erzeugtem Dampf, so dass niemand Kohle schaufeln muss. Dennoch: Steampunks, kommt nach Mannheim.

    Ein letztes Exponat habe ich noch zu bieten, und zwar eins aus der aktuellen Sonderausstellung zur Geschichte des Rundfunks:

    Auf eine Holzplatte montierte elektrische Bauteile, vor diesen ein großer Drehregler.

    Das ist ein frühes Radio (ein Audion), das eine unbekannte Person im Deutschland der 1920er Jahre gebaut hat.

    Aus diesem Exponat habe ich Hoffnung geschöpft, denn es stellt sich heraus, dass in dieser Zeit der Selbstbau von Radios bei Strafe verboten war; der Grund war wahrscheinlich ein wenig, dass die Erhebung der Rundfunkgebühr durch die Kontrolle des Gerätehandels erleichtert werden sollte.

    Doch versichert die Ausstellung, die Regierung habe sich vielmehr um ausländische Spione besorgt, die durch Radiobasteln leichter mit ihren Auftraggebern hätten kommunizieren können. Die Sorge war auch ganz sicher berechtigt. Der Irrsinn aber, dass eine Obrigkeit aus Angst um ihre Herrschaft ihren Untertanen das Basteln verbietet, der hatte hier keinen Bestand, zumal größere Teile der Bevölkerung eben doch Radios bastelten.

    Der derzeit als Einbahnstraße erscheinende Weg zu immer mehr „Sicherheitsgesetzen“ ist nicht unumkehrbar, schon gar nicht, wenn hinreichend viele Menschen die unerfreulichen Vorstellungen der Obrigkeit von „Sicherheit“ nicht teilen.

    An der Stelle muss ich meine Prinzipien der Trennung von Arbeit und Blog verletzen und eine Anekdote aus den späten neunziger Jahren erzählen. Ich habe damals am ADS gearbeitet, einer großen Datenbank mit fast allem, was in der Astronomie jemals wissenschaftlich publiziert wurde. Weil damals die Leitungen über den Atlantik insgesamt in etwa die Kapazität eines heutigen Haushaltsanschlusses hatten, unterhielten wir Spiegel in etlichen Ländern, darunter auch in Frankreich.

    Die französische Regierung jedoch – ich kratze die Kurve zurück zum Thema – hatte damals ihrer Bevölkerung nennenswerte Kryptographie verboten (kein Witz!), und so durfte das Institut, das den Spiegel betrieb, auch keinen sshd laufen lassen (ich erfinde das nicht). Und deshalb hatten wir für den französischen Spiegel extra irgendeinen haarsträubenden Hack, um trotzdem irgendwie rsyncen zu können. Auch dieser Unsinn ist ein paar Jahre später – längst hatte natürlich praktisch jedeR Netzwerkende in Frankreich ssh, und überall unterstützten auch Browser in Frankreich https – stillschweigend zu Grabe getragen worden.

    Erstaunlicherweise hat das Staatswesen die nicht mehr durch Kryptoverbote gehemmten Umtriebe der Spione seitdem überlebt – und wenn die Freie Kryptographie der Gesellschaft überhaupt einen Schaden zugefügt hat, war der jedenfalls ungleich kleiner als, ich sag mal, die Verheerungen durch Sarkozy, Hollande oder gar Macron.

    Ihr seht: Obrigkeitlicher Zugriff auf die Technologiewahl ihrer Untertanen ist kein Privileg von Kaisern oder mit Freikorps paktierenden Reichspräsidenten. Das machen auch ganz regulär unsere – <hust> demokratisch legitimierten – Regierungen. Aber Menschen, die in Zeiten von Chatkontrolle und Hackertoolparagraphen leben, erzähle ich damit wohl nichts Neues.

    [1]In dem hier schon öfter zitierten Standardwerk „How Bad Are Bananas“ schätzt Mike Berners-Lee (inflationsbereinigt) 500 g CO₂-Äquivalent pro für Supermarkt-Essen oder ein Auto ausgegebenem Dollar – übrigens gegenüber 6 kg, wenn ihr für den Dollar US-amerikanisches Benzin zu 2010er Preisen gekauft habt. Ganz grob dürftet ihr also auch für einen für plausible Konsumgüter ausgegeben Euro innerhalb eines Faktors drei ein halbes Kilo CO₂ rechnen müssen. Wer dann 100 Euro fürs Enthaaren (ist das realistisch? Ich mach dabei ja nicht mit…) ausgibt, darf dafür zwischen dreißig Kilo und dreihundert Kilo CO₂e veranschlagen (um in die Nähe der höheren Schätzung zu kommen, müsstet ihr jedoch ganz schön viele Schaumdosen mit interessanten Treibmitteln kaufen).
  • Fixing “libqca-ossl is missing”

    In all honesty, I don't expect many people who might profit from this post will ever see the message below. But since common web searches don't yield anything for it (yet), I figure I should at least document it can happen. I also want to praise kwallet's author(s) because whatever went wrong yielded what turned out to be a rather useful error message rather than a spectacular crash:

    createDLGroup failed: maybe libqca-ossl is missing
    

    Here's what lead up to it: in Debian bookworm, my old Mastodon client tootle started crashing when viewing images. Its development has moved to a new client called Tuba, and even though that is not packaged yet I figured I might as well move on now rather than fiddle with tootle. Tuba, however, needs a password manager more sophisticated than the PGP-encrypted text file I use otherwise. So I bit the bullet and installed kwalletmanager; among the various password managers, it seemed to have the most reasonable dependencies.

    With that, Tuba can do the oauth dance it needs to be able to communicate with the server. But when it tries to save the oauth token it gets from the Mastodon instance, I got the error message above. Tuba can still talk to the the server, but once the session is over, the oauth token is lost, and the next time I start Tuba, I have to do the oauth dance again.

    Fixing the error seemed simple enough:

    $ apt-file search libqca-ossl
    libqca-qt5-2-plugins: /usr/lib/i386-linux-gnu/qca-qt5/crypto/libqca-ossl.so
    $ sudo apt install libqca-qt5-2-plugins
    

    – as I said: kwallet's is a damn good error message. Except the apt install has not fixed the problem (which is why I bother to write this post). That's because kwalletmanager starts a daemon, and that daemon is not restarted just because the plugins are installed.

    Interestingly, just killing that daemon didn't seem to fix the problem; instead, I had to hit “Close“ in kwalletmanager explicitly and then kill the daemon (as in killall kwalletd):

    Screenshot: kdewallet with a close button and two (irrelevant) tabs.

    I give you that last part sounds extremely unlikely, and it's possible that I fouled something up the first time I (thought I) killed kwalletd. But if you don't want to do research of your own: Just hit Close and relax.

    You could also reasonably ask: Just what is this “ossl” thing? Well… I have to admit that password wallets rank far down in my list of interesting software categories, and hence I just gave up that research once nothing useful came back when I asked Wikipedia about OSSL.

  • Die Heilige Ursula, ein großes Gemetzel und das Musée de l'Œuvre Notre-Dame in Straßburg

    Als ich neulich mit meinem Museumspass in Straßburg war (zuvor: zum Musée Historique) habe ich mir auch im Musée de l'Œuvre Notre-Dame allerlei Sehenswertes rund um das Straßburger Münster zu Gemüte geführt. In Analogie zum Speyrer Domschatz und zur entsprechenden Einrichtung in Basel erlaube ich mir, das Haus für diesen Post „Münsterschatz“ zu nennen, weil ich zu faul bin, dem Œ eine angemessen beqeueme Tastenkombination zu geben.

    Ich will vorneweg den meist tatsächlich sinnvollen Technik-Einsatz in diesem Museum loben: VR-Brillen, die schwindelerregende Blicke in den Turm erlauben, AR-Tablets, die einen Eindruck von der ursprünglich bunten Erscheinung einiger Statuen geben, kleine 3D-Monitore mit Hologrammen rekonstruierter Kunstwerke und – ganz Messing und Glas – ein Teleskop mit Blick aufs echte Münster.

    Besser erzählen lassen sich aber andere Geschichten, so etwa die der heiligen Ursula und ihrer 11'000 „Jungfrauen“, die, so jedenfalls eine Fassung der Legende, beim Versuch, die auf Köln anstürmenden Hunnen zu befrieden im 4. Jahrhundert den Märtyrertod gefunden haben sollen. Im Münsterschatz sieht das in Mittelalter-typisch fragwürdiger Perspektive so aus:

    Bild in mittelalterlichem Stil: Männer tragen ziemlich steif liegende, jeweils mit einer Speer- oder Pfeilspitze durchbohrte Frauen weg.  Alle Frauen haben einen Heiligenschein.

    Natürlich ist die morbide Prämisse von massenhaftem Opfertod unerfreulich, und ich habe zumindest starke Zweifel, ob die Schlachtfelder im vierten (oder fünfzehnten) Jahrhundert tatsächlich nur oder auch nur wesentlich von Männern aufgeräumt wurden.

    Andererseits stellt das Bild eine theologische und keine historische Szene dar, und so ist vorliegend die Frage viel spannender, ob Heiligenscheine wirklich nach dem Tod weiterschimmern, ob diese also an den Körper oder nicht doch eher die „Seele“ – wir befinden uns ja tief in nichtmaterialistischem Terrain – gebunden sind. Wer dazu Lehrmeinungen kennt, möge sie einsenden.

    Der kommerzielle Wert eskalierender Opferzahlen

    In Wirklichkeit hat mich das Bild aber aus einem ganz anderen Grund hingerissen. Es hat mich nämlich daran erinnert, dass die auch nach Maßstäben von frommen Legenden exorbitante Märtyerinnenzahl bei der Ursulageschichte plausiblerweise einen profund materiellen Hintergrund hat.

    Jetzt gerade erklärt die Wikipedia dazu:

    Die Zahl 11.000 geht möglicherweise auf einen Lesefehler zurück. In den frühen Quellen ist gelegentlich von nur elf Jungfrauen die Rede. Deshalb wurde vermutet, dass die Angabe „XI.M.V.“ statt als „11 martyres virgines“ fälschlich als „11 milia virgines“ gelesen wurde. Allerdings berichtet Wandalbert von Prüm bereits 848 über Tausende (millia) von getöteten Heiligen.

    Ich möchte eine andere Version der Geschichte anbieten, die ich vor Jahren in einem längst vergessenen Köln-Reiseführer gelesen habe und die zu gut ist, um nicht erzählt zu werden, auch wenn sie aus Gründen bis dahin unzureichender wirtschaftlicher Erholung ziemlich klar nicht vor Wandalberts Berichten aus dem Jahr 848 stattgefunden haben kann – aber wer weiß schon, ob wir heute wirklich lesen, was Wandalbert geschrieben hat?

    Wichtig dabei ist, dass St. Ursula in Köln etwas außerhalb der römischen Stadt CCAA[1] liegt, deren Nordmauer sich weiter südlich etwa beim heutigen Dom befand. Gleich um die Ecke der Kirche verläuft die heutige Straße Eigelstein, die auf der Trasse der Römerstraße von der CCAA Richtung der Colonia Ulpia Traiana (also, Stadt-Land-Fluss-SpielerInnen aufgepasst: Xanten) verläuft. Menschen mit Römerfimmel mögen ahnen, was jetzt kommt, denn entlang ihrer Ausfallstraßen haben die Römer ihre Toten[2] begraben. Tatsächlich war der eponymische Eigelstein ein bis in die Neuzeit auffälliges römisches Monumentalgrab. Der Boden unter St. Ursula ist also voll von römischen Knochen.

    Soweit die Fakten. Die Geschichte des Reiseführers war nun, dass die Originallegende der Ursula elf Gefährtinnen mitgab – die Wikipedia erwähnt ja auch diese Möglichkeit. Irgendwann hätten dann geschäftstüchtige ReliquienherstellerInnen versucht, die Knochen der zwölf Frauen bei St. Ursula zu finden, was ihnen dank der römischen Bestattungspraktiken leicht gelang.

    Nachdem das Geschäft mit den mutmaßlichen Überresten der Heiligen gut ging, gruben die Leute weiter. Da die CCAA eine große Stadt war, hatte es auch viele Tote gegeben und mithin auch viel Leichenbrand oder – aus der vergleichsweise kurzen christlichen Zeit der CCAA, als die Brandbestattungen außer Mode kamen – auch komplette Skelette. So fanden sich in der Umgebung von St. Ursula zu viele Knochen für zwölf Menschen, so viele gar, dass es ein Jammer gewesen wäre, das Geschäft aufzugeben. Und so sorgten die ReliquienherstellerInnen kurzerhand dafür, dass die Zahl der Jungfrauen in der offiziellen Legende verzehnfacht wurde.

    Das Spiel der Expansion der Metzelerzählung wiederholte sich, während das Geschäft exponentiell wuchs, bis es irgendwem bei 11'000 heiligen Märtyrerinnen offenbar zu dumm wurde oder der Preis für Duodezreliquien unter die Profitabilitätsschwelle gefallen war. Am Schluss jedenfalls landeten wirklich absurde Mengen menschlicher Überreste in der „goldenen Kammer“ von St. Ursula, in der die Wände mit Schädeln und Knochen tapeziert sind:

    Aus allerlei verschiedenen wohl meist menschlichen Knochen gestaltete Muster an einer Wand; ein paar Kunstköpfe stehen auf einem Fries.

    Eine Wand der goldenen Kammer von St. Ursula in Köln; CC-BY-SA 3.0 Hans Peter Schäfer

    Zumindest als ich vor ein paar Jahren mal in Köln war, war die leicht gruselige Installation noch öffentlich zugänglich. Für Menschen, die sich gerne von der katholischen Kirche entfremden wollen, ist das ein lohnender Besuch. Ob hingegen die Geschichte vom Großmassaker wirklich einen ökonomischen Hintergrund hat: Wer weiß?

    Wo Wikipedia-AutorInnen fehlgehen

    Widersprechen möchte ich – auch wenn es weit vom Münsterschatz wegfürt – der Passage

    Eine weitere Grabung [nach noch mehr Reliquien von Ursula und ihrer Schar] wurde zwischen 1155 und 1164 durch die Deutzer Benediktiner im Auftrag von Erzbischof Arnold II. durchgeführt. Dabei fanden sich neben Frauen natürlich auch Männer und Kinder-Gebeine.

    aus dem aktuellen Wikipedia-Artikel zur heiligen Ursula. Ich würde noch zugestehen, dass Knochen von Kindern mit den Mitteln des zwölften Jahrhunderts von denen Erwachsener unterscheidbar waren. Eine Geschlechtsbestimmung hingegen war aussichtslos. Die klappt notorisch nicht mal mit Methoden modernerer Archäologie, wie sich regelmäßig zeigt, wenn irgendwo genetische Analysen einziehen – und selbst dann bleibt es schwierig, wie etwa die Debatte um den_die „Krieger(in) von Birka“ zeigt (vgl. z.B. doi:10.1002/ajpa.23308).

    Es bleibt, aus einem Beitrag über ein spanisches Kupferzeit-Grab in DLF-Forschung aktuell vom 7. Juli diesen Jahres zu zitieren, in dem Christiane Westerhaus lapidar feststellt:

    Zu oft projizierten Forscher ihr eigenes Rollenbild auf die Wissenschaft.

    Da das für mittelalterliche Benediktinermönche sicher nochmal verschärft gilt, wäre ich versucht, die Stelle in der Wikipedia zu

    Etliche der dabei auftauchenden Knochen klassifizierten die Mönche auch als die Überreste von Männern.

    zu korrigieren. Mal sehen, ob ich dieses Fass aufmachen möchte.

    Hunde am Münster

    Der Straßburger Münsterschatz hat nicht nur meine Erinnerung an die wilde Ursula-Geschichte aus Köln aufgefrischt, sondern auch den etwas piefigen Goethe- bzw. Dumont-Claim „Man sieht nur, was man weiß“ dick unterstrichen. Ich war nämlich ziemlich überrascht, als im Museum immer wieder Hunde-Plastiken zu sehen waren, darunter einige, denen ich durchaus ein gewisses Viralitätspotenzial zusprechen würde:

    Eine Sandsteinfigur eines Hundes mit Schlappohren und extrem großen Augen.

    Der Begleittext erläutert, dass diese Figuren viele der zahlreichen Dachspitzen des in glorioser Zuckerbäckergotik erbauten Münsters zieren. Das war mir nie vorher aufgefallen, auch nicht, als ich vor Jahren mal hochgestiegen bin.

    Als ich aber wieder vor der Tür des Münsterschatzes und mithin vor dem Münster selbst stand, fiel mir sofort das hier ins Auge:

    Eine Sandsteinfigur eines Hundes auf einer Turmspitze vor dem Hintergrund einer gotischen Fassade.

    – und gleich danach bemerkte ich viele weitere Hunde oder hundeartige Wesen auf allen möglichen Spitzen. Wo sie mir mal aufgefallen waren, konnte ich nicht mehr verstehen, wie mir diese Merkwürdigkeit vorher hatte entgehen können. Gruselige Wasserspeier, klar, das ist ja praktisch die Definition von Gotik – wer guckt da noch hin? Aber Hunde auf allen Türmen? Wer hat sich das ausgedacht? Und warum?

    Was nicht mehr im Münsterschatz ist

    Gerade im Vergleich mit dem Domschatz in Speyer fällt auf, dass im Straßburger Münsterschatz praktisch nichts Goldenes ausgestellt wird. Es gibt demgegenüber haufenweise Steine, ein wenig Plunder aus verarbeitetem Elfenbein und noch ein paar Objekte, bei denen sich viele wünschen werden, sie hätten sie nicht gesehen. Ich führe mal dieses, nun, „Objekt“ aus dem Besitz eines der Fürstbischöfe als Beispiel an:

    Eine Plastik eines silberfarbenen Stiefels mit einer Spore und einem relativ hohen Absatz

    Der Grund für die Abwesenheit allzu prunkvoller Albernheiten ist einfach: in Straßburg hatten die Leute 1789ff eine zünftige Revolution – ich hatte dazu ja neulich schon philosophiert. Bei der Gelegenheit haben die dritten und vierten Stände dem fürstbischoflichen Hof einen Besuch abgestattet und den Kram, der wertvoll oder nützlich erschien, rausgetragen und vergesellschaftet.

    Besonders beeindruckend fand ich, dass sie die Bücher aus dem Palais Rohan, dem Amtssitz des Fürstbischofs, in die bürgerliche Stadtbücherei integriert haben. Schade allein, dass sie dort verbrannt sind, wenn ich mich recht entsinne, aufgrund des Wütens der deutschen Truppen von 1870 (auch dazu vgl. neulich) – aber das ist den RevolutionärInnen nun wirklich nicht vorzuwerfen.

    Wer mehr über diese Geschichte wissen will, sollte ins Straßburger Kunstgewerbemuseum (Musée des Arts décoratifs) gehen, in dem der Raum der damals sozialisierten Bibliothek heute (für 7.50 oder halt einen Museumspass) zugänglich ist Vielleicht habe ich dazu demnächst noch etwas mehr zu sagen.

    [1]Also Colonia Claudia Ara Agrippinensium, der volle Name des antiken Kölns. Der war schon deren Bewohnern zu lang, weshalb die Abkürzung CCAA tatsächlich auf etlichen Weihesteinen und Bauinschriften überliefert ist.
    [2]Respektive das, was von ihnen, also den Toten, nach der in heidnischen Zeiten obligatorischen Brandbestattung übrig geblieben ist.
  • Musée Historique de Strasbourg: „Von der Pfaffen Grittigkeit“

    Sandsteintafel mit Frakturschrift vor schwarzem Hintergrund; Text: Gottes Barmherzigkeit ⋅ Der Pfaffen Grittigkeit ⋅ Und der Bauern Bosheit ⋅ Durchgründt niemand bei meinem Eid

    Aus dem Musée Historique de Strasbourg: Diese Tafel war seit 1418 am Weißturmtor von Straßburg angebracht. Je nun: was wollte uns der Autor damit sagen?

    Dank meines Museumspasses hat es mich neulich in das Musée Historique de Strasbourg verschlagen, und neben vielem anderen mehr oder minder wildem Kram ist dort die oben gezeigte Steinplatte ausgestellt. Mit etwas Mühe lässt sich die Frakturschrift auch von modernen Menschen entziffern als:

    Gottes Barmherzigkeit ⋅
    Der Pfaffen Grittigkeit ⋅
    Und der Bauern Bosheit ⋅
    Durchgründt niemand bei meinem Eid

    Ich habe kein Wort verstanden, und leider erklärt auch die Beschreibung des Exponats nicht, was dieser Spruch den durch das Tor tretenden Menschen wohl hat mitteilen wollen. Bei mir fing es ja schon bei „Grittigkeit“ an. Was ist das wohl?

    Duckduckgo führt (neben – leider! – haufenweise falsch Positiven wie Wörterbucheinträgen zu „Griffigkeit“) immerhin auf das Lemma „grittig“ im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm. Dort werden als Bedeutungen „zänkisch“ und „habgierig“ angeboten, letzteres mit einem Beleg „das die pfaffen ungerecht werent mit hoffart, mit grittikeit und unkúscheit“. Das wirds also sein: die Habgier der Pfaffen.

    Aber was ist jetzt das „durchgründt“? Auch hier helfen die Grimms, die das zu „völlig ergründen […] bis auf den grund durchdringen“ auflösen. Damit wäre die letzte Zeile in modernem Deutsch etwas wie „Wallah, das versteht keine Sau“; ein unmittelbarer Zusammenhang mit irgendwelchen konkreten Bürgereiden (sowas gab es natürlich auch in Straßburg, und auch dort war zeitweise heftig umkämpft, ob „Pfaffen“ oder auch Adlige ihn leisten müssten) scheint mir nicht plausibel.

    Nicht nur Lexik

    Nach Beilegung der lexikalischen Schwierigkeiten verstand ich aber immer noch nicht, warum wer so einen Spruch über dem Stadttor angebracht haben könnte. Ich hatte jedoch zwischendurch auch Google nach der Grittigkeit befragt, und dort kamen einige Matches in deren gescannten Büchern. Oh, was für eine Schande, dass all unsere öffentlichen Bibliotheken nicht ein vergleichbares Scan-Programm haben auflegen können, dessen Früchte ordentlich public domain wären und nicht hinter der Verwertungsmaschinerie von Google lägen!

    Aber noch leben wir in einer anderen Welt, und so habe ich die Zähne gefletscht und meine DNS-Blockade für googleusercontent.com überschrieben[1]. So kam ich an ein PDF der „Neuen Vaterländischen Geschichte der Stadt Straßburg“ von Johannes Friese[2] aus dem Jahr 1792 – sie erschien also, da Straßburg damals schon zu Frankreich gehörte, mitten in der Revolution oder „im vierten Jahr der Freiheit“, wie es auf dem Titelblatt heißt.

    In dem Werk findet sich das Grittigkeits-Verslein auf PDF-Seite 374[3], interessanterweise aber gleich mit „ergründet“ statt „durchgründet”. Da die Platte damals wohl noch am Tor gehangen haben wird: Hat Frieses Erinnerung auf dem Weg vom Turm zur Schreibstube schon eine Modernisierung der Sprache vorgenommen? Oder war die Änderung Absicht? Hing gar eine andere Tafel am Turm?

    Wie auch immer – das Buch stellt die Platte in folgenden Kontext:

    Die Stiftsherren bey St. Thomas hatten den Zehnten im Königshofer Bann. Nun war es zwar kein Recht, aber doch eine alte Gewohnheit, daß man den Bauern in der Aerndte eine gemeine Zeche von Brod und Wein reichte; dieses wollten aber die gestitlichen Herren diesmal nicht thun, obgleich die Aerndte sehr ergiebig war. Die Bosheit der Bauern, durch den Geiz der Priester gereizt, verursachte darauf, daß der Zehnte, der noch auf dem Felde lag, durch böse Buben verbrannt wurde. Diese Geschichte soll Anlaß gegeben haben, daß der Stein am Weissenthurnthor [sic!] mit der bekannten Inschrift gesetzt wurde.

    Dann wäre „Bosheit“ also wohl eher als „Wut“ zu aktualisieren, und das Ganze wäre ein Kopfschütteln über die Sinnlosigkeit sowohl des klerikalen Übergriffs wie auch der vielleicht etwas sehr schlechtgelaunten bäuerlichen Reaktion auf ihn.

    Vaterland?

    Das „Vaterland“ im Titel des des Friese-Buchs ist übrigens auch nicht ganz leicht zu interpretieren, denn wie gesagt: „Vaterland“ war in Straßburg 1792 bereits seit rund hundert Jahren – wenn überhaupt etwas – Frankreich, nachdem Louis XIV 1681 die türkische Belagerung von Wien zur eigenen („l'état c'est moi”) Arrondierung genutzt hatte. Was Friese tatsächlich unter „Vaterland“ verstanden hat, habe ich nicht zu „durchgründen“ versucht. Dass er auf Deutsch veröffentlicht hat, ist jedenfalls kein klares Signal, denn das wurde zu seiner Zeit erst langsam unüblich im französischen Straßburg. Davon kann mensch sich im Musée Historique verschiedentlich überzeugen. So wird beispielsweise eine Polizeiverordnung von 1708 ausgestellt, die – sehr passend! – auf Deutsch überflüssiges Essen und Trinken verbot.

    Aus Frieses Zeit kommt dieses Exponat, das das gewaltsame Ende von Robespierre am 28. Juli 1794 den BürgerInnen von Straßburg bekannt machte:

    Papier mit einer Guillotine-Zeichnung in der Mitte und darum in an Fraktur angelehnter Handschrift: „Roberts Piere ist nun tod/schönck den frieden uns O Gott/dieses winscht die ganze welt [...]

    Spätestens zu diesem Zeitpunkt jedoch war Deutsch massiv auf dem Rückzug aus Straßburg, und zwar – gewiss neben Aufwallungen von Nationalismus und Zorn über von deutschsprachigen Potentaten nach Frankreich getragenem Krieg – wohl aus einem recht nachvollziehbaren Grund: Das Regierungssystem in Frankreich war trotz Durchknallereien wie im Fall Robespierre einfach viel überzeugender als irgendwas, das aus Wien, Berlin oder meinethalben auch Baden-Baden, Durlach oder Mannheim hätte kommen können, und so orientierten sich immer weitere Teile der Bevölkerung eben an Paris.

    Insbesondere gehörte dazu auch das metrische System, das aus meiner Sicht alleine hinreichend Grund gewesen wäre, mit Haut und Haaren Richtung Paris zu blicken. Im Musée Historique sind dazu zeitgenössische Maße für Volumen zu bewundern:

    Drei Kannen aus Blech in einer Vitrine arrangiert.

    Die auch darüber hinaus deutlich erkennbar zunehmende Gallisierung der Straßburger Bevölkerung in dieser Zeit illustriert, finde ich, ganz gut, wie patriotisch-verdreht (oder, wie ich neulich fand, bizarr) die Rede von „Befreiungskriegen“ für die Feldzüge der deutschen Reaktion von 1812 bis 1815 war und ist.

    Die Katastrophe von 1870

    Dementsprechend wenig angetan dürfte die lokale Bevölkerung auch über den Einfall deutscher Truppen 1870 gewesen sein, selbst wenn dieser keine so furchtbar schlimme Katastrophe für Straßburg gewesen wäre wie er es in Wirklichkeit war.

    Hier muss ich wieder meinen Geschichtsunterricht anklagen. Die Geschichte, die dort vom 1870/71-Krieg erzählt wurde, war in etwa: Bismarck, der alte Fuchs, hat mit der Emser Depesche die Franzosen dazu gebracht, „uns“ anzugreifen, so dass sich alle hinter Preußen versammelten und es tolle Einheit gab – ach, wie sich irrationale Reflexe doch bis heute gehalten haben –, und dann gab es ein wenig Geballer, das „wir“ grandios gewonnen haben, weil „unsere“ Gewehre beim Schießen keinen Qualm mehr gemacht haben, und dann war Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles, hurra.

    Das war natürlich Quatsch, und zwar schon lange, bevor die unrühmliche Rolle der Deutschen beim Dahinmetzeln der KommunardInnen nicht erwähnt wurde. Der Krieg damals war mies und blutig, ganz vornedran in Straßburg. Im Musée Historique ist dazu das hier zu sehen:

    Ein Bild, auf dem ein Mann durch eine zerstörte Stadt geht, vor einem großen Foto-Hintergrund mit einer zerstörten Stadt.

    Das Bild zeigt den Straßburger Bürgermeister Küss bei der Besichtigung der Schäden durch deutsche Artillerie (gemalt 1873 von Jules-Theophile Schuler nach seiner Erinnerung; Küss floh nach der Machtübernahme durch die Deutschen). Dahinter ist ein Foto der Zerstörungen in Straßburg nach der deutschen Belagerung von 1870 gelegt. Das Museum ordnet diese Belagerung als das „blutigste und opferreichste Ereignis der Stadtgeschichte“ ein, nach dem „ein Drittel der Stadt in Schutt und Asche“ gelegen sei.

    Das Bild des Gentleman-Krieges, das in bayrischen Gymnasien der 1980er Jahre gezeichnet wurde, passt da jedenfalls mal gar nicht. Was sagt eigentlich der moderne deutsche Geschichtsunterricht?

    Zu allem entschlossene Wissenschftler

    Was es 1871 noch nicht gab: empfindliche Seismographen. Das war bei den alliierten Bomben im zweiten Weltkrieg anders. Eine Aufzeichnung eines solchen Angriffs findet sich (zum Glück, denn das Seismologische Muesum in Straßburg ist leider auf unbestimmte Zeit geschlossen) im Musée Historique:

    Viele weiße hoizontale Striche auf schwarzem Grund mit gelegentlichen größeren Wellen.  Ungefähr in der Mitte des Bildes ein Gekrakel als Kreissegment, an dem die weißen Striche aufhören, um im unteren Drittel wieder anzufangen.

    Auf dem Seismogramm verläuft die Zeit schnell von links nach rechts und langsam von oben nach unten. Als größere Zitterer zu erkennen sind einige Bombeneinschläge in größerer Entfernung. Schließlich explodiert etwas in ziemlicher Nachbarschaft: Das ist der große Krakel links der Mitte, nach dem das Seismogramm erstmal aufhört, vermutlich, weil die Kratzspitze abgefallen oder abgebrochen ist. Ich habe keinen sicheren Zeitmaßstab und kann daher nicht sicher sagen, wie lang der Ausfall gedauert haben wird. Angesichts der Länge der Erschütterungen durch die Bomben (Größenordnung Sekunden) sind das aber allenfalls Stunden. Irgendein entschlossener Wissenschaftler hat demnach das Gerät vermutlich recht unmittelbar nach dem Ende des Luftalarms in Ordnung gebracht.

    Schade, dass dieser Held der Wissenschaft einer von der „Reichsuniversität“ Straßburg war. Denn der Laden war speziell während der deutschen Besatzung in den 1940ern eine fürchterliche Hochburg schlimmer Reaktionäre und Faschisten, wovon im Musée Historique nur ein wenig berichtet wird. Das Übrige erzählt das (aus den Zeiten der ersten deutschen Besatzung stammende) Hauptgebäude der Uni –

    Panorama eines hässlichen Gründerzeit-Klotzes

    – und die Ausstellung im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, wo die Herren Wissenschaftler aus Straßburg (und auch aus Heidelberg; es war ja das Stammlager für das Lagersystem hier in der Region) eifrig experimentierten.

    Aber davon ein andermal mehr.

    [1]

    Wenn ihr meine dnsmasq-Zeilen verwendet: Zumindest zur Zeit könnt ihr gezielt die Bücher freigeben durch:

    address=/books.googleusercontent.com/172.217.16.193
    

    – dnsmasq merkt, dass die Adresse spezieller ist als das allgemeine:

    address=/googleusercontent.com/127.0.0.1
    
    [2]Soweit ich erkennen kann, verbietet Google nicht die Weiterverbreitung; aber ich nehme das PDF dennoch aus dem allgemeinen CC0 auf diesen Seiten heraus.
    [3]Das ist S. 33 von Band Zwei des Werkes. Ich vermute mal, dass das ursprünglich wirklich zwei Bücher waren, die aber die Bibliothek der University of Wisconsin – von der Google hat das Original bekommen – oder …
  • Antisprache: Arbeitsplätze

    Unter all den eigenartigen Ritualen des politischen Diskurses verwundert mich so ziemlich am meisten, dass „gefährdet Arbeitsplätze“ fast universell als Argument gegen eine Maßnahme, als ultimativer Warnruf gilt. Lasst mich einige der befremdlicheren Zitate den DLF-Presseschauen des vergangenen Jahres anführen:

    …ganze Branchen wegen ihres hohen Gasverbrauchs in Existenznot, tausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.

    —Rheinische Post (2022-10-11)

    In diesem Sinne ist es ein Ansporn, schnell gute, neue Produkte zu entwickeln, die den großen Teil der Arbeitsplätze sichern.

    —Badische Zeitung (2023-02-15)

    Die Politik muss aufpassen, dass sie nicht deutsche Arbeitsplätze opfert…

    —Reutlinger General-Anzeiger (2023-02-15)

    …wie einst bei der Solarbranche der Ausverkauf der deutschen Wärmepumpenindustrie bevorsteht und Arbeitsplätze sowie hoch spezialisiertes Wissen abwandern.

    —Rhein-Zeitung (2023-04-27)

    Was da in einen negativen Kontext gestellt wird, ist nüchtern betrachtet: Leute müssten weniger arbeiten, und das meist ohne erkennbar negative Folgen. Ist das nicht ganz offensichtlich eine gute Sache?

    Es schimpfen doch fast alle Menschen mehr oder weniger deutlich über ihre Lohnarbeit, oder? Obendrauf habe ich schon zu oft gehört, Leute würden ja den Rest der Welt schon gerne vor ihrem Auto verschonen, aber die Lohnarbeit zwinge sie, sich jeden Morgen in ihren Blechkäfig zu setzen. Und das muss dringend geschützt und gehegt werden?

    Obendrauf gibts allerlei Wunder, die Arbeit sparen: Staubsaug- und Rasenmähroboter, Lieferdienste und vielleicht irgendwelche Apps. Die wiederum gelten als „Innovation“ und damit irgendwie gut (mehr Antisprache dahingestellt). Wie geht es zusammen, dass einerseits Leute weniger arbeiten möchten, andererseits aber Möglichkeiten, wie sie weniger arbeiten könnten, an Bedrohlichkeit über dem Weltuntergang stehen („Klimaschutz darf keine Arbeitsplätze kosten”, „Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie“)?

    Ein Minimum an Lohnarbeit

    Die Antwort: Gar nicht. „Arbeitsplatz“ ist ein klassischer Fall von Antisprache, also Wörtern und Phrasen, die Information nicht übertragen, sondern annihilieren. Der Antisprache von den Arbeitsplätzen gelingt es, die Information zu annihilieren, dass wir längst die Technologie und wahrscheinlich auch die soziale Reife hätten, um allen Menschen mit einem Minimum an Lohnarbeit[1] ein ökologisch vertretbares Leben ohne Existenzsorgen zu ermöglichen. Dass der Lebensunterhalt an „Arbeitsplätze“ gebunden ist, ist mithin eine überflüssige, grausame und gefährliche Konvention, die durch ehrlichere Wortwahl sichtbar gemacht werden könnte.

    Ein „Minimum an Lohnarbeit“ hat übrigens fast nichts mit der drei- oder vier-Tage-Woche zu tun, die die taz gestern mal wieder erwähnt hat, denn diese bleibt dem alten Mechanismus des Kapitalismus verhaftet. Dabei werden Waren produziert oder Dienstleistungen erbracht, weil manche Leute („Unternehmer“) reich werden wollen und nicht etwa, weil Menschen sie brauchen und das Zeug nicht allzu schädlich ist. So kommt es, dass wir schockierende Mengen von Arbeitskraft und Natur verschwenden auf jedenfalls gesamtgesellschaftlich schädliche Dinge wie Autos, andere Waffen, Einfamilienhäuser, fast fashion, Zwangsbeflimmerung und das rasende Umherdüsen in überengen fliegenden Röhren.

    Es ist die Konvention, Menschen durch Drohung mit dem Entzug ihres Lebensunterhalts[2] dazu zu zwingen, all den unsinnigen Krempel herzustellen, die auch dafür sorgt, dass „wir“ uns eine überflüssige Lohnarbeit nach der anderen einfallen lassen. Meist sind das „Dienstleistungen“ (auch so ein schlimmes Wort), was dann immerhin manchmal nicht ganz so schädlich ist wie der ganze überflüssige Quatsch (Autobahnen, Konferenzzentren, Ultra-HD-Glotzen) auf der Produktionsseite[3].

    Ein eher harmloser Nebeneffekt des Ganzen beschäftigte übrigens Casper Dohmen und Hans-Günther Kellner im Deutschlandfunk-Hintergrund vom 23.6., der sich ebenfalls an weniger Arbeit trotz Kapitalismus abarbeitete:

    In den neunziger Jahren betrug die Produktivitätssteigerung in Deutschland im Schnitt noch mehr als zwei Prozent jährlich, seitdem weniger als ein Prozent. Die Entwicklung ist typisch für hoch entwickelte Industriestaaten. Das liegt daran, dass es schon länger keine wesentlichen Innovationen gab, mit denen sich die Produktivität erhöhen ließe.

    Schon die Antisprache von den „Innovationen“ lässt ahnen, dass das in der ganz falschen Richtung sucht – auch wenn das Rationalisierungspotenzial durch Rechner im Bürobereich tatsächlich drastisch überschätzt ist (Bob Solow: „You can see computers everywhere except in the productivity statistics“).

    Aber den eigentlich notwendigen Kram kriegen wir mit wirklich beeindruckend wenig menschlichem Aufwand und also atemberaubender Produktivität hergestellt. Letztes Wochenende etwa hat ein Mensch das Getreidefeld neben meinem Gärtchen (grob „ein Morgen“ oder ein halber Hektar) in der Zeit abgeerntet, in der ich fünf Codezeilen geschrieben habe. Natürlich muss mensch noch die Arbeitszeit dazurechnen, die im Mähdrescher und dessen Sprit steckt, aber auch die wird sich, auf die Flächen umgelegt, die mit der Maschine bearbeitet werden, zwanglos in Minuten messen lassen.

    Nein, der Grund für die mehr oder minder stagnierende Produktivität der Gesamtgesellschaft (kurzerhand definiert als Bruttoinlandsprodukt pro Arbeitsstunde) ist die Ausweitung des Niedriglohn-Sektors, sind Jobs wie Lieferdienste, „Juicer“ (dass Menschen für sowas Lebenszeit opfern müssen, beschämt mich zutiefst), Wachdienste, also das gesamte Jobwunder im Gefolge von Hartz IV: Wer für eine Handvoll Euro viele Stunden arbeiten muss, senkt natürlich den Durchschnitt von BIP/Zeit, und wenn das erschreckend viele sind, wird das auch nicht mehr von den paar Leuten mit Salären im 104 Euro/Stunde-Bereich ausgeglichen[4]. So erklärt sich übrigens das „neunziger Jahre“ versus „seitdem“ aus dem DLF-Beitrag ganz natürlich: Die Schröder-Regierung hat die Hartzerei zwischen 2002 und 2005 eingephast.

    Es sind also gerade all die „Innovationen“ vom Schlage zu juicender Elektroroller, die die Produktivität drücken. Natürlich wird das nichts mit BIP/Arbeitsstunde, wenn ein wesentlicher Teil der Menschen in privatwirtschaftlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stecken, für die jetzt wirklich niemand viel Geld bezahlen will.

    In Klarsprache übersetzt

    Wozu also führen wir die Tragikomödie mit dem Lohnarbeitszwang auf? Sachlich, damit sich ein paar Grobiane gut fühlen, weil das Bruttoinlandsprodukt ihres Landes steigt, und ein paar andere, weil ihr Kontostand wieder ein paar Milliarden ihrer bevorzugten Währung mehr zeigt.

    Letzteres ist wiederum besonders verdreht, denn so viel Geld könnten diese Leute nie für tatsächliche Waren ausgeben, schon, weil es gar nicht so viel zu kaufen gibt außerhalb von mondbepreisten Kunstwerken, Aktien und Immobilien, deren Kosten in überhaupt keinem Verhältnis mehr stehen zur in ihnen vergegenständlichten Arbeit.

    Die Antisprache von den Arbeitsplätzen wirft in Summe einen dicken Nebel rund um etwas, das schlicht ein hässliches Erbe der trüben Verangenheit ist. Wie so oft bei Antisprache lichtet sich der Nebel um groteske Sachverhalte schon, wenn mensch einfach die Antisprache ersetzt durch Wörter mit der jeweils zutreffenden Bedeutung. Ich habe das mal mit ein paar der Presseschau-Texte gemacht:

    In diesem Sinne ist es ein Ansporn, schnell gute, neue Produkte zu entwickeln, die viel Arbeit machen.

    —nicht Badische Zeitung (2023-02-15)

    …wie einst bei der Solarbranche der Ausverkauf der deutschen Wärmepumpenindustrie bevorsteht und sich danach andere Menschen als wir plagen müssen sowie hoch spezialisiertes Wissen abwandert.

    —nicht Rhein-Zeitung (2023-04-27)

    Die beiden Zitate könnt ihr im Original oben nachlesen. Vergleicht mal. Und dann ratet, wie die folgenden Zitate wohl wirklich ausgesehen haben werden:

    Kein Wunder, dass die Bevölkerung allmählich Existenzängste bekommt, wenn Heizen unbezahlbar zu werden droht und sie dann auch noch frei bekommen könnten.

    —nicht Dithmarscher Landeszeitung (2022-09-02)

    Entscheidend ist, alles zu tun, dass alle arbeitsfähigen Menschen auch arbeiten müssen und es sich lohnt zu arbeiten.

    —nicht Mediengruppe Bayern (2022-11-23)

    Vielleicht bietet der jetzige Kahlschlag [bei Karstadt], der erneut Tausende Mitarbeiter von stupider Arbeit an der Kasse und im Lager erlöst und daher äußerst bitter ist, die Chance auf ein Gesundschrumpfen.

    —nicht Badische Zeitung (2023-03-14)

    Menschlich ist es verständlich, dass auch Politiker eine möglichst angenehme Atmosphäre schätzen, wenn sie sich schon plagen müssen.

    —nicht Schwäbische Zeitung (2023-05-04)

    Nur, falls sich wer schlimm ärgert über diese Klarstellungen: Ja, mir ist klar, dass es unter den Bedingungen des Lohnarbeitszwangs jedenfalls sozial und möglicherweise auch materiell wirklich bitter ist, gefeuert zu werden.

    Aber es hilft ja nichts: wir müssen uns so oder so um den Übergang in eine Gesellschaft kümmern, die maximale Existenzsicherheit mit minimaler Belastung für Menschen (also vor allem: Arbeit) und Umwelt (also vor allem: Dreck) zusammenbringt, und das bei maximaler Partizipation bei der Aushandlung dessen, was „Existenz” eigentlich bedeutet. Das Gerede von Arbeitsplätzen steht dem klar im Weg, schon, weil es den Betroffenen Willen und Möglichkeit raubt, zu diesem Übergang beizutragen.

    Unterdessen verspreche ich, gelegentlich Constanze Kurz' Beitrag zu dieser Debatte zu lesen. Dass der jetzt auch schon zehn Jahre alt ist und die Presseschau immer noch voll ist mit Arbeitsplatzprosa, illustriert mal wieder, dass mensch bei der Verbesserung der Gesellschaft langen Atem braucht.

    [1]Gleich vorneweg: In vernünftigen Szenarien ist „Lohnarbeit“ kein sehr nützlicher Begriff. Die bessere Rede von „gesellschaftlich notwendiger Arbeit“ würde aber sicher auch Kram umfassen, der im Augenblick massiv nicht durch Lohnarbeit abgedeckt wird, ganz vorneweg Reproduktion oder etwas moderner Care-Arbeit. Insofern ist die Schätzung der Fünf-Stunden-Woche (die im aktuell lohnarbeitigen Sektor über die Lebenszeit integriert und für eine global vertretbare Produktion wohl schon realistisch wäre) so irreführend, dass ich sie im Haupttext nicht erwähne.
    [2]Ich kann nicht anders: Auch das ist ein Beispiel dafür, wie unsere Vorfahren einer autoritären Versuchung nachgegeben haben: Statt Menschen zu überzeugen, dass eine Arbeit gemacht werden soll oder muss, haben sie diese durch Drohung mit Hunger oder Erfrieren zur Arbeit gezwungen. Einfach, aber mit schlimmen Konsequenzen, wie wir nicht nur auf unseren Straßen sehen.
    [3]Es gibt aber auch Beispiele für extrem schädliche Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Beispielsweise hat die Finanzbranche ganz verheerende reale Auswirkungen (ein hübsches Stück Mainstream-Literatur dazu ist “Eine Billion Dollar“ von Andreas Eschbach …
  • Deutscher Wetterdienst: Nachricht schlecht, Technik gut

    Die schlechte Nachricht zuerst:

    Europakarte mit Regenmengen für Juni 2023, braun ist zu trocken, und u.a. im Oberrheingraben und im türkisch-syrischen Erdbebengebiet ist es ziemlich braun.

    Rechte: DWD (vgl. Text)

    Ja, es ist trocken hier im Oberrheingraben, und noch mehr ausgerechnet im türkisch-syrischen Erdbebengebiet. Aber nein, für einen einzelnen Monat ist das einfach nur die übliche Gemeinheit der Natur und kein Signal des Klimawandels. Aber von denen haben auch wirklich genug andere.

    Ich verblogge das hier jedoch aus einem ganz anderen Grund: Ich will dem Deutschen Wetterdienst ein großes Lob aussprechen, denn der Dienst, der diese Bilder macht, funktioniert einwandfrei[1] ohne Javascript: Schnell, unproblematisch, mit verschwindender CPU-Belastung am Client, geht auch im netsurf, insgesamt weniger Daten übertragen als andere für ihr doofes Javascript-Framework brauchen.

    So sollte das Netz sein. Genau so. Und so könnte es auch sein, ohne dass es irgendwem außer der Belästigungs-„Industrie” weh täte. Danke, DWD!

    Und ihr anderen mit euren Krapizität-300-Webseiten, bei denen ohne Javascript local storage noch nicht mal statischer Text kommt: Schämt euch.

    [1]Na gut, fast einwandfrei: Die Auswahl der anderen Parameter haben sie im Augenblick ohne Javascript vermurkst.
  • Ehre, Sieg und Carl Diem: Auf dem falschen Fuß erwischt

    Am Samstag hat Rainer Brandes in den DLF-Informationen am Morgen Daniel Möllenbeck[1] zur Frage der Bundesjugendspiele interviewt. Das Gespräch bot viele Belege für meine Behauptung, Sport sei rechts, etwa, wenn Möllenbeck diesem den Begriff „Spaß an Bewegung“ gegenüberstellt (ca. 2:35), oder wenn Brandes gleich danach von „verweichlicht“ redet und Möllenbeck das offensichtlich als Vorwurf auffasst.

    Aber das ist nicht der Grund, warum ich diesen Post schreibe. Nein, der Grund ist ein ganz eigenartiger Live-Moment. In der Regel wird ja bei einem Interview vorher vereinbart, was so an Fragen kommt, natürlich mit dem Verständnis, dass das Gespräch auch mal einige Schlenker nehmen kann. Im Pressebereich ist es vor allem die Sorge vor solchen Schlenkern, die zu im Nachhinein „autorisierten“ Plastikinterviews führt. Insofern großes Lob an den DLF und die dort Interviewten, dass die Gespräche zum Großteil live geführt werden. Presseerklärungen gibt es schon genug.

    Beim Möllenbeck-Interview von gestern gab es nun einen ziemlich großen und sprechenden Schlenker, und ich frage mich, ob Brandes ihn nicht angekündigt oder Möllenbeck bei der Vorbesprechung geschlafen hat. Unabhängig von der Genese halte ich den Austausch für eine wunderbare Illustration des Werts live gesendeter Gespräche, und ich will hier explizit nicht Möllenbeck anpissen, der, für einen Sportfunktionär jedenfalls, eigentlich ganz nett wirkt.

    Wer das im Kontext hören will, sollte bei 5:45 anfangen. Ich steige im Audio hier gleich beim Schulterwurf ein (ab 6:30):

    Transkript: Brandes: Aber viele hängen sich ja auch allein an der Bezeichnung dieser Urkunden auf, also da ist eben Ehre und Sieger steckt da mit drin, das erinnert viele doch noch sehr an die Zeit des Erfinders der Jugendspiele, an Carl Diem, der eben auch im Nationalsozialismus eine unrühmliche Rolle gespielt hat. Wäre es da nicht Zeit, sich da auch sprachlich von zu distanzieren? Möllenbeck: (seufzt) Hwo, kann man drüber nachdenken, sicherlich, em, aber das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Also das ist jetzt vom… Haben wir noch nicht diskutiert im Verband, ob das, ob das notwendig ist, sicherlich, öh, das zu tun, das ist sicherlich Sache der KMK oder der äh (Brandes versucht die Situation zu retten)

    Wenn die Frage nicht abgesprochen war, dann darf es wohl schon als etwas, haha, unsportlich gelten, einen heutigen Sportfunktionär mit dem Kaiserreich-und-Danach-Kollegen Carl Diem zu konfrontieren. Das schwierige Verhältnis der hiesigen Sportorga zu ihrem Doyen mag ein von der Deutschen Sporthochschule angestrengtes Gerichtsverfahren dokumentieren: der Laden wollte Diems Namen dringend in seiner Adresse behalten, als die Stadt Köln ihre Straßennamen entnazifiziert hat.

    Wer solche KollegInnen hat, hat sich vermutlich schon mit „kann man drüber nachdenken“ in den Ruch des – von sowas wird leider nicht nur in diesen Kreisen immer noch geredet – Verrats gebracht. Was immer jedoch „Verrat“ sein mag, jedenfalls im vorliegenden Fall ist er eine prima Sache.

    Insofern: Sympathie für Daniel Möllenbeck und alle, die sich trotz des Risikos erhellender Blicke hinter die Kulissen live interviewen lassen. Wie viel besser ist dieses Stück Audio als das, was wir bei einem „autorisierten“ Interview („Der DSLV steht zu seiner historischen Verantwortung und wird zeitnah und in aller Ruhe beraten, wie eine zukunftsfeste Lösung unter Beteiligung aller Stakeholder aussehen kann“) gelesen hätten?

    [1]Der Mann ist Vizepräsident eines Ladens namens „Deutscher Sportlehrerververband“, der entgegen meiner Erwartung keine Untergruppierung des Beamtenbundes ist, aber dank einer (technisch) furchtbaren Webseite (ja, ohne Javascript ist das ein Totalschaden) und der Verwicklung in die „Führungsakademie des DOSB“ dennoch bei mir keine Sympathiepunkte sammelt.
  • BKA: Telefonsupport ade

    In seinem Volkszählungsurteil erklärte das Bundesverfassungsgericht schon 1983:

    Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden.

    Diese Erwägung ist, was hinter den Auskunftsrechten steht, die seit den Urzeiten des Datenschutzes bestehen (auch wenn viele Unternehmen sie erst mit den verschärften Sanktionen der DSGVO bemerkt haben). Sie sorgte auch dafür, dass mensch von Anfang bei den diversen Polizeien kostenlos Auskunft verlangen konnte über die dort zur eigenen Person gespeicherten Daten. Seit 2003 hat zusätzlich der Auskunftsgenerator bei datenschmutz.de das etwas weniger nervig gemacht.

    Weil ich diesen Dienst betreibe, fragen mich gelegentlich NutzerInnen, was wohl irgendwelche Auskunfte bedeuten, die sie von Behörden bekommen. So auch neulich, als sich jemand wunderte, wie er in die Datei PIAV-WSK komme – „WSK“ steht hier für Waffen- und Sprengstoffkriminalität. Schon der Namen lässt ahnen: das ist keine Datei, in der mensch gerne einen Eintrag hat.

    Die Speicherung war zudem selbst nach Maßstäben deutscher Polizeidatenbanken besonders wenig nachvollziehbar. Aus dem lakonischen „Landfriedensbruch”, das in der Auskunft stand, konnte jedenfalls ich keine WSK-Relevanz erkennen. Und so dachte ich mir, ich frage mal wieder beim BKA nach. Früher stand auf den Auskünften die Durchwahl zum behördlichen Datenschutzbeauftragten des BKA, der die Auskünfte abwickelt[1], und das hat früher manchmal wirklich geholfen.

    Nicht mehr. Auf den Briefen steht inzwischen nur noch die Nummer der BKA-Telefonzentrale. Böses ahnend rief ich neulich dort an und hörte kaum überrascht irgendeine Warteschleife irgendwas aus dem Telefon quaken. Ich fingerte schon nach dem Auflegeknopf, als sich überraschend schnell doch ein Mensch meldete, dazu noch mit ganz unbeamtigen Sound. Jedoch musste ich „Rückfrage zu Auskunftsersuchen“ nicht fertigsprechen, bevor er auch schon sagte (nicht ganz wörtlich): „Das machen die Datenschützer. Wir haben Anweisung, da nicht hinzuverbinden, und die heben auch nicht ab. Schreiben Sie eine Mail.“

    Diese Einstellung des Telefonsupports mag nur ein kleiner Nadelstich gegen das Menschenrecht auf informationelle Selbstbestimmung (also das „mit hinreichender Sicherheit überschauen” des BVerfG) sein. Aber wer hinreichend oft „sagen wir nicht wegen Gefährdung des Bestands des Bundes“ in halb autogenerierten amtlichen Antwort- oder eher Abwimmelmails gelesen hat, wird ahnen, dass der Wegfall von Gesprächsmöglichkeiten ein durchaus erheblicher Verlust ist. Ich jedenfalls werde erstaunt sein über jedes Faktoid, das das BKA per Mail herauslässt.

    PIAV-WSK und der Landfriedensbruch

    Die Speicherung, die ich gerne geklärt gehabt hätte, war übrigens in gewisser Weise ähnlich beunruhigend wie die Einstellung des Telefonsupports.

    Ihre Vorgeschichte war ein Naziaufmarsch irgendwo und eine Gegenkundgebung von ein paar Antifas, die die Polizei zusammengeknüppelt hat. Wie üblich in solchen Fällen, hat die Polizei allen, die sie testierbar verletzt haben könnte, präventiv ein Landfriedensbruch-Verfahren reingewürgt, weil das gegen mögliche Anzeigen der Opfer zusätzlich immunisiert (nicht, dass es das bräuchte; die polizeiliche Straffreiheit ist seit dem verlinkten amnesty-Bericht von 2004 eher schlimmer geworden). Wie zumindest nicht unüblich – so weit funktioniert der Rechtsstaat des Öfteren noch – hat gleich das erste Gericht das Verfahren wegen Bullshittigkeit eingestellt.

    Das sollte für die Polizei Grund sein, den Vorwurf aus ihren Datenbanken zu löschen („regelmäßig“ heißt das in den zahlreichen Urteilen zur Thematik). Ist es aber schon seit jeher (der verlinkte Artikel ist von 2009) nicht, und es finden sich leider zu viele Gerichte, die die speicherwütigen Behörden davonkommen lassen mit: „Klar müsst ihr im Prinzip löschen, aber was ihr hier macht, geht gerade noch so” (mehr zur Logik der Negativprognose). Die Polizei hört das als: „Speichert eingestellte Verfahren nach Lust und Laune“.

    Insofern steht der arme Mensch nun dank LKA Baden-Württemberg als politisch motivierter Krimineller in diversen Datenbanken. Weil fast alle wissen, dass die diversen Staatsschutze Limo-PHWs mit Freude, Fleiß und freier Hand verteilen (übersetzt: Das ist alles Quatsch), ist das zwar ärgerlich, aber vom Schaden her meist noch überschaubar.

    Weniger überschaubar dürfte der mögliche Schaden bei Waffen- und Sprengstoff-Dateien sein, zumal sich das „PIAV” vor dem WSK auf die breit zugreifbare und schwer durchschaubare, wenn auch nicht mehr ganz neue BKA-Superdatenbank bezieht (vgl. Piff, Paff, PIAV von 2017). Während die Einzelregelungen zu PIAV BKA-Geschäftsgeheimnis sind, macht die Auskunft zudem keine verwertbare Angabe zur Frage, wer genau alles die fraglichen Daten sieht und damit vom Waffen- und Sprengstoffverdacht „wissen“ wird.

    Da das BKA die Telefonberatung eingestellt hat, will ich mich mal an einer spekulativen Erklärung der mysteriösen Speicherung versuchen: Im Oktober 2016 hat im beschaulichen Georgsgmünd ein besonders verstrahlter Faschist („Reichsbürger”) einen Polizisten erschossen, der bei der Beschlagnahme seiner – also des Faschisten – Waffen helfen wollte.

    Da es jetzt einer der ihren war – und nicht einer der hunderten anderer Menschen, die FaschistInnen in der BRD in den letzten 30 Jahren umgebracht haben –, ging daraufhin ein Ruck durch die Polizei. Schon nach einigen weiteren, wenn auch weniger tödlichen, Vorfällen dieser Art begann sie, diesem Milleu den Waffenbesitz etwas zu erschweren und ließ sich dafür auch entsprechende Gesetze geben. Disclaimer: Nein, ich glaube nicht, dass das was bringt – aber das ist ein anderes Thema.

    In Zeiten jedoch, in denen die Antisprache vom Extremismus Staatsraison ist, treffen staatliche Maßnahmen „gegen rechts“ natürlich gleich doppelt Linke. Und deshalb vermute ich, dass Menschen mit einem PHW „linksmotivierter Gewalttäter“ (und dafür reichte dem baden-württembergischen LKA schon das eingestellte Polizeischutzverfahren mit Landfriedensbruchgeschmack) ebenfalls keine Waffenscheine mehr bekommen sollen. Sollte es eine nichtleere Schnittmenge von Schützenverein und Antifa geben, dürften bestehende Waffenscheine wohl eingezogen werden.

    Dieser Teil findet ziemlich sicher statt. Spekulativ ist, dass der Mechanismus dazu die PIAV-WSK ist, denn ich habe wie gesagt keine Ahnung von Waffenscheinen und der Art, wie sie vergeben werden. Es ist aber plausibel, dass die Behörden, die sie ausgeben, irgendeine Regelanfrage an die Polizei stellen, und die dann halt Bedenken aus der PIAV-PSK generiert.

    Solange das nur Menschen aus der Schnittmenge von Schützenverein und Antifa trifft, dürfte die Wirkung minimal sein. Aber auch ein Blick in eine trübe Glaskugel reicht mir für die Vorhersage, dass es ein paar Leute ziemlich hart treffen wird, wenn sie plötzlich in den Ruch der Sprengstoffkriminalität kommen. Und wenn es nur ist, dass sie deshalb eine Lehrstelle in einer doofen Behörde verlieren.

    Nachtrag (2023-07-08)

    Wenige Stunden, nachdem ich das geschrieben habe, war ich beim Tag der offenen Tür des Rhein-Neckar-Kreises. Dabei hatte ich Gelegenheit, die Leute, die hier die Waffenscheine ausstellen, nach der PIAV-WSK zu fragen. Die Antwort war nur beschränkt kohärent, aber es klang so, als könnten die Leute dort zwar direkt auf das Bundeszentralregister zugreifen, hätten aber von der PIAV-WSK noch nichts gehört. Das ist zumindest konsistent mit meiner Spekulation.

    [1]

    Tatsächlich machen das fast alle Polizeien so: die behördlichen Datenschutzbeauftragten bearbeiten die Anträge. Mich hat das immer etwas irritiert, denn eigentlich sollten diese den Auskunftsprozess beaufsichtigen und begleiten, und das nicht bei sich selbst tun müssen; ich verweise auf Artikel 39 Abs. 1 DSGVO:

    Dem Datenschutzbeauftragten obliegen zumindest folgende Aufgaben:

    1. Unterrichtung und Beratung des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters und der Beschäftigten, die Verarbeitungen durchführen, hinsichtlich ihrer Pflichten nach dieser Verordnung sowie nach sonstigen Datenschutz­ vorschriften der Union bzw. der Mitgliedstaaten;
    2. Überwachung der Einhaltung dieser Verordnung, anderer Datenschutzvorschriften der Union bzw. der Mitgliedstaaten sowie der Strategien des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters für den Schutz personenbezogener Daten einschließlich der Zuweisung von Zuständigkeiten, der Sensibilisierung und Schulung der an den Verarbeitungsvorgängen beteiligten Mitarbeiter und der diesbezüglichen Überprüfungen;
    3. Beratung — auf Anfrage — im Zusammenhang mit der Datenschutz-Folgenabschätzung und Überwachung ihrer Durchführung gemäß Artikel 35;
    4. Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde;
    5. Tätigkeit als Anlaufstelle für die Aufsichtsbehörde in mit der Verarbeitung zusammenhängenden Fragen, einschließlich der vorherigen Konsultation gemäß Artikel 36, und gegebenenfalls Beratung zu allen sonstigen Fragen.

    Bei den Behördenleitungen kommt das aber schon traditionell an als „Na ja, der ganze Hippiequatsch halt“.

  • Wenn Gewalt doch mal hätte helfen können

    Als vor ein paar Tagen der französische Fußballspieler Kylian Mbappé angesichts der jüngsten Riots in Frankreich forderte, die „Zeit der Gewalt muss enden“ – und schon gleich, als Jakob Augstein bereits 2014 etwas Ahnliches zum großmächtigen Ringen über die Kontrolle der Ukraine sagte –, konnte ich dem zustimmen. Es ist, in meinen Worten, nicht immer einfach, aber immer weise, der autoritären Versuchung zu widerstehen, auch und gerade, wenn mensch wie die Leute aus der Banlieue eigentlich gar nicht die Machtmittel hat, ihr nachzugeben.

    Allein: Manchmal könnte ich doch schwach werden und mich auf eine Erwägung einlassen, wie es so wäre mit einem verhältnismäßigen Einsatz von Gewalt. So etwa gestern, als ich das Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 4.6.2023 hörte. Es erinnerte an eine strenge Regulierung von Hutnadeln im Jahr 1913, in diesem Fall in Seattle. Die Bewegung hatte aber wohl die halbe Welt erfasst:

    In Zürich werden an einem Tag Geldstrafen gegen hundertzehn eigensinnige Hutnadelträgerinnen verhängt, in Sidney gehen sechzig Frauen ins Gefängnis.

    Hutnadeln? Hutnadeln.

    Eine Fayencefigur einer Frau mit Dreispitz und Jagdgewehr

    Lange vor 1913 und den Hutnadeln gab es bewaffnete Frauen, jedenfalls ausweislich dieser Jägerin aus der Frankenthaler Fayenceproduktion des 18. Jahrhunderts, die im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg zu sehen ist.

    Die Geschichte, die die DLF-Autorin Ulrike Rückert erzählt, klingt zunächst nicht unplausibel:

    Mit drakonischen Strafen will die westliche Männerwelt die langen Nadeln unschädlich machen, mit denen die Frauen ihre Wagenradhüte in der Frisur feststecken, die aber auch zur Waffe geworden sind.

    Vor allem dort, wo sich Frauen um 1900 immer mehr auch allein zeigen, auf der Straße, in Geschäften und Fabriken, in Konzerten und bei politischen Versammlungen. Und wo sie Männer erleben, die sich an sie heran machen, Grapscher und Glotzer, die Frauen ohne männliche Begleitung als Freiwild behandeln.

    Fraglos reagieren die Hutnadel-Verordnungen auf einen profunden gesellschaftlichen Wandel, den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum mehr jemand im Blick hatte. Die erste (bürgerliche) Frauenbewegung nämlich, die etwas verkürzend unter dem Schlagwort Suffragetten diskutiert wird und von der vielleicht noch die despektierliche Rede von den „Blaustrümpfen“ in Erinnerung war, schickte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts an, die Lage von Frauen in westlichen Gesellschaften erheblich zu verbessern.

    Dabei ging es beileibe nicht nur ums Wahlrecht („Suffrage”). In Heidelberg etwa betrieb wenig später Camilla Jellinek eine Rechtsschutzpraxis für Frauen, in der es vom damals schon skandalösen 218er bis zu den gleichfalls in unsere Zeit weisenden Lohnfragen um das ganze Spektrum von sexistischer Diskriminierung ging. Gleich in ihrer Neuenheimer Nachbarschaft publizierte Elise Dosenheimer derweil zu Sexualethik, Koedukation und ferministischem Pazifismus.

    Es versteht sich fast von selbst, dass die Herrschaft des Faschismus in weiten Teilen Europas dem allen ein Ende machte, und dass im Rest der Welt Gemetzel und Patriotismus um den zweiten Weltkrieg herum der ersten Frauenbewegung schwer zusetzten. In meinem Geschichtsunterricht, nochmal 40 Jahre später, hatte sie allenfalls mal kurz beim Thema Wahlrecht einen Statistenauftritt. Kein Wort von militanten Protesten oder auch arg danebengegangenen Blockadeaktionen.

    Ich hatte auf diese Weise schon viele Sitzblockaden hinter mir, als ich zum ersten Mal von Emily Wilding Davison hörte. Genau an dem Tag, an dem die Männer im Stadtrat von Seattle Hutnadeln regulierten, versuchte sie, das gruselige Galopprennen in Epsom zur Bühne ihres Protests zu machen. Ausgerechnet das Pferd des Königs hat sie totgetrampelt. Vom Hutnadel-Kampf wiederum habe ich in der Tat zum ersten Mal gestern gehört.

    Vor diesem Hintergrund vermute ich, dass die Hutnadelgesetze weniger ein konkretes Problem mit einer spezifischen Waffe adressierten als vielmehr ein Versuch waren, einen autoritären Hebel gegen die sich viel breiter äußernde Frauenbewegung zu finden. Eine naheliegende Parallele wäre das Geraune von „Clankriminalität“, mit dem Polizeien und Innenministerien zur Zeit einen autoritären Umgang mit dem Alltagsrassismus in der Republik exerzieren. Das schließe ich aus folgender Passage aus der DLF-Sendung, die etwas Atmo von 1913 schafft:

    Ein Mann wird mit vorgehaltenen Hutnadeln ausgeraubt, und in Chicago duellieren sich zwei Frauen auf offener Straße. Um 1910 herrscht Hutnadel-Alarm. Die Zeitungen sind plötzlich voll von Meldungen [über wüste Verletzungen durch Hutnadeln].

    Wahrscheinlich hatten die meisten Berichte dieser Art schon irgendeine Sorte von Verankerung in der Realität, wie ja auch einige der „Clankriminalität“-Schoten nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Aber genauso wie diese riechen jene stark nach Kampagnenjournalismus und -politik, nach einem kraftvollen Aufblasen knallbunter, aber völlig nebensächlicher Randprobleme.

    Ob heute mehr Frauen beim nächtlichen Radeln weniger mulmige Gefühle hätten, wenn damals die Hutnadeln nicht reguliert worden wären? Wahrscheinlich nicht, siehe oben zur autoritären Versuchung. Es könnte aber auch sein, dass der Hutnadel-Kampf doch ein Beispiel liefert, in der Gewalt vielleicht wirklich etwas zum ein wenig Besseren hätte wenden können.

  • Horröses Heidelberg 1: Das Kriegerdenkmal im Hexenturm

    Wer mal in der Heidelberger Altstadt studiert oder gelehrt hat, mag hunderte Male vorbeigelaufen sein am letzten Rest der mittelalterlichen Heidelberger Stadtbefestigung, dem „Hexenturm“, der seit den frühen 1930er Jahren Teil des etwas irreführend immer noch „Neue Universität” genannten Hörsaalkomplexes ist. Ich jedenfalls habe das Ding nie genauer betrachtet. Und ich habe nie das ominöse „1914 1918“ wahrgenommen, das in einer Art Loggia im ersten Stock an die Wand gepinnt ist:

    Ausschnitt aus einen grob gemauerten Turm.  Es öffnet sich eine Art Loggia, an deren weiß verputzer Rückwand die Zahlen 1914 und 1918 rechts und links von einem Kreuz zu erkennen sind.

    Wo diese Zahlen stehen, befindet sich in Deutschland gerne eines der furchtbaren Denkmäler für Soldaten der diversen deutschen Kriege seit 1870; das Kreuz und die zwei Kranzaufhängeringe liefern im vorliegenden Fall weitere Indizien. Im Rahmen einer Hexenturm-Führung anlässlich des Mittelalter-Tags der Uni war ich gestern (leider ohne Kamera) dort oben, und es stellte sich heraus: Ja, das ist Kriegergedenken, und zwar Hardcore.

    Laut Rhein-Neckar-Wiki wurde diese gruselige Stätte ab Herbst 1932 (also beginnend noch vor der Machtübergabe an die NSDAP auf Reichebene[1]) errichtet. Sie zählt bis heute die Angehörigen der Uni Heidelberg auf, die sich im ersten Weltkrieg für Kaiser und Vaterland haben massakrieren lassen – aufgeteilt nach Lehrern (wenige) und Studenten (viele) versteht sich. Darüber hat damals ein Steinmetz in den Sandstein gehämmert: „Deutschland soll leben, und wenn wir sterben müssen”.

    Das steht bis heute da. Angesichts aktueller Ausbrüche von Patriotismus bin ich mir gar nicht so sicher, wie viele Menschen es im Augenblick eigentlich noch abstoßend finden, Nationen – was immer das nun sein mag – über Menschenleben zu stellen.

    Schon deshalb würde ich das Zeug auch nicht wegmeißeln, zumal weil (oder obwohl?) die Gruselstätte, soweit ich weiß, nicht öffentlich zugänglich ist. Eine Einordnung vor Ort, dass der Schöpfer dieser Zeile, Heinrich Lersch, im ersten Weltkrieg ziemlich kaputtging und später trotzdem treu der NSDAP diente, wäre aber eigentlich schon angezeigt. Dazu könnte etwa erwähnt werden, dass es die NSDAP-Funktionäre eilig hatten, Lerschs hohl schepperndes Nationalpathos zu belohnen: Schon im Mai 1933 beriefen sie ihn in die Preußische Akademie der Künste. Er selbst brauchte noch ein wenig für den Beitritt – seine NSDAP-Mitgliedsnummer ist 3701750 (das entspricht einem Beitritt im Jahr 1935).

    Ein teuer Gefolgsmann der faschistischen Regierung von 1933ff war er dennoch von Anfang an, etwa durch Werbung für die Einsetzung von Hitler als Reichspräsident 1934. Vor noch schlimmeren Fehltritten hat ihn vermutlich der erste Weltkrieg bewahrt, denn ohne seine Kriegsschäden hätte ihn eine Lungenentzündung wahrscheinlich nicht schon im Alter von 46 Jahren (im Jahr 1936) umgebracht.

    Zumindest so viel könnte im Hexenturm doch wirklich zu lesen sein, etwa analog zur Tafel, die am Turmeingang den auch nicht sehr geschmackvollen Namen des Bauwerks[2] kommentiert. Oder wir warten ein paar Jahre und widmen in reflektierteren Zeiten das Gruselkabinett zu irgendwas hinreichend Pazifistischem um.

    [1]In Heidelberg regierte bereits seit 1928 Carl Neinhaus; da er am 1.5.1933 völlig entspannt und zwanglos in die NSDAP eintrat und erst die Alliierten seine Herrschaft vorläufig beendeten, ist es nicht sehr weit hergeholt, die Stadtregierung von 1932 bereits unter „faschistisch“ zu rubrizieren. Die Uni war spätestens seit dem Fall Gumbel ohnehin fast flächendeckend stramm rechtsautoritär. Wie weit so eine Qualifizierung auch für Neinhaus' weitere Regierungszeit auf einem CDU-Ticket (1952-1958) zu vertreten ist, mag ich nicht entscheiden.
    [2]Der Name Hexenturm ist übrigens zutiefst neuzeitlich. Kein Zusammenhang mit irgendeiner Sorte klerikal inspirierter Verfolgung ist historisch nachgewiesen, und der Name ist, soweit rekonstruierbar, auch eine Schöpfung des romantisch bewegten 19. Jahrhunderts.
  • Fiese Metriken: Das Beispiel Tarifbindung

    Gerade als Physiker habe ich vor allem Skepsis übrig für Metriken aller Art, fast egal ob Web-Analytik, Human Development Index oder Mensa-Ranking. Ich behaupte nämlich mit einer Familienportion Dünkel, dass es außerhalb meiner Disziplin und ihrer Randbereiche (mit Verlaub: von Astronomie bis Zoologie) meist schon unmöglich ist, interessante Gegenstände – „unserer Anschauung oder unseres Denkens“ – zu finden, die auch nur im Prinzip durch eine oder wenige Zahlen zu charakterisieren wären. Über die Existenz zuverlässiger und ethisch passabler Messverfahren wäre dann noch in einem zweiten Schritt zu reden.

    Etwas weniger fundamental gesprochen: Wenn du genug weißt, um eine Metrik korrekt interpretieren zu können, brauchst du die Metrik nicht mehr.

    Ein, wie ich finde, schlagendes Beispiel dafür findet sich im höchst hörenswerten DLF-Hintergrund Politik vom 30.5.2023, wo berichtet wird, die Tarifbindung[1] liege im Bereich der Sklav^WLeiharbeit bei nachgerade unglaublichen 98%. Ich darf das kurz mit Tabelle 62361-0501 vom Statistischen Bundesamt für 2018 kombinieren:

    Histogramm mit allen möglichen Branchen und ihrer Tarifbindung. Leiharbeit und der öffentliche Dienst sind bei rund 100%, alles andere eher zwischen 5 und 50%, im Mittel bei 25%.

    Die Daten vom statistischen Bundesamt waren etwas sperrig in der Handhabung. Ich habe deshalb ein kleines Python-Skript geschrieben, um diesen Plot zu erzeugen.

    Selbst ich als radikaler Metrikskeptiker hätte, bevor ich die Sendung gehört habe, die Tarifbindung ziemlich blind als einen brauchbaren Indikator für die mittlere Erträglichkeit der Arbeit in einer Branche akzeptiert.

    Aber nein, wer die die DLF-Sendung hört, wird die Einschätzung, dass Leiharbeit trotz aller freundlich aussehenden Metriken eine ganz besonders unerfreuliche Erscheinung des marktradikalen Wirtschaftens[2] darstellt, nicht revidieren müssen. Die hohe Tarifbindung liegt einfach nur daran… ach, hört selbst. Dann wisst ihr genug, um die Metrik richtig zu interpretieren. Und braucht sie, wie versprochen, für eine informierte Beurteilung auch nicht mehr.

    Da der Deutschlandfunk leider nur noch selten Transkripte veröffentlicht (ich vermute den VZBV dahinter) und Lesen schneller ist als Hören, habe ich die Radiosendung mal durch whisper gejagt. Ich behaupte jetzt einfach mal, dass ich für den DLF (und die Leute, die zu faul zum Hören sind) handele, wenn ich ein ungefähres und weitgehend unkorrigiertes Transkript ihrer Sendung hier anhänge. Die Rechte liegen jedenfalls beim DLF bzw. vielleicht bei der Autorin; das folgende Zitat verteile ich nicht unter CC0 (aber es wäre schön, wenn der DLF endlich CC-BY machen würde…).

    Deutschlandfunk Hintergrund: „Gleiche Arbeit, weniger Lohn – Das System Leiharbeit vor Gericht“

    von Ann-Kathrin Jeske

    Ich habe damit angefangen Ende 2015, ich war die meiste Zeit in Logistik betrieben, in der Lagerwirtschaft, damals ein völlig neues Fach für mich.

    Thomas B. erinnert sich daran, wie sie anfing, seine Zeit als Leiharbeiter. Er praktikisten, das, was Kunden online bestellten, sortierte er in einem Lager in Pakete, machte die Waren für den Transport fertig, die am Ende bunt aufgereit in den regalen großer Kaufhäuser standen.

    Und es waren alles Angelehrte Tätigkeit nicht vermeistens als Hilfe eingesetzt und damit in der untersten Entgeltgruppe.

    B. erzählt, dass während er auf einer Parkbank in Köln sitzt. Thomas B. ist allerdings nicht sein echter Name, er muss aufpassen, welche Informationen er über sich preisgibt. Denn B. ist aktuell auf Jobsuche, mit Anfang sechzig ohnehin nicht so leicht und das, was er über seine Zeit als Leiharbeiter erzählt, könnte bei Arbeitgebern schlecht ankommen.

    Anfangs fand es ganz interessant, ständig neue Sachen kennenzulernen, aber irgendwann stresst es einen Schuhen, dass man sich ständig ein neues Umfeld gewinnen muss und vor allem merkt man halt immer wieder, ich verdiene deutlich weniger als die Stammkollegen.

    Insgesamt fünf und einhalb Jahre arbeitete Thomas B. als Leiharbeiter, davon gibt es in Deutschland derzeit mehr als achthunderttausend. Je länger er das machte, desto mehr störte ihn eine Sache, obwohl er Hand in Hand mit der Stammbelekschaft arbeitete und die gleiche Arbeit machte, landete auf seinem Konto am Ende des Monats weniger Geld.

    Ein Problem, das sich in Zahlen fassen lässt, neunzehn Prozent weniger als die Stammbelekschaft, bekommen Leihbeschäftigte laut der Bundesagentur für Arbeit in der Regel für die gleiche Arbeit. Bei Thomas B. waren es mal zwei- bis drei Euro die Stunde weniger, in dem Metallbetrieb, für den er zum Schluss arbeitete, ging er mit zehn Euro pro Stunde nach Hause, die Stammbeschäftigten mit sechzehn. Diesen Lohnunterschied klagt er nun vor dem Arbeitsgericht in Köln ein.

    Das wollte ich mir nicht gefallen lassen, obwohl ich einfach gedacht habe, das ist ungerechtes Stinkt, und Vorteil von den Leiharbeitern hat der Einsatzbetrieb, der die Leute schnell wieder loswerden kann, der die als Rückmittel einsetzen kann, den Vorteil hat die Leihfirma, die daran verdient und der einzige, der in dem Spiel verliert, ist der Leiharbeiter. Und der muss auch zu den Gewinnern gehören.

    So kann man auch ein Richtungsweisen des Urteil des Europäischen Gerichtshofs zusammenfassen, zumindest zu den Verlierern sollen Leiharbeiter nicht mehr gehören. Werden Leiharbeiter im Vergleich zur Stammbelekschaft schlechter bezahlt, müssen sie dafür einen gleichwertigen Ausgleich bekommen, etwa durch deutlich mehr Urlaub oder Ähnliches.

    Dem Urteil liegt ein ganz ähnlicher Fall wie der von Thomas B. Eine Leiharbeiterin aus Bayern hatte sich bis zum Bundesarbeitsgericht hochgeklagt. Sie prangerte an, dass sie, als Leiharbeiterin nur gut neun Euro die Stunde verdient habe, während ihre stammbeschäftigten Kolleginnen und Kollegen mehr als dreizehn Euro fünfzig bekommen hätten.

    Und das, obwohl eine EU-Richtlinie den Grundsatz Equipay in der Leiharbeit schon lange vorschreibt, also gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Doch die entsprechende EU-Richtlinie bietet den Mitgliedstaaten ein Schlupfloch, das man sich in Deutschland zu Nutze macht.

    Ist der schlechtere Lohn in einem Tarifvertrag geregelt, darf in der Leiharbeit doch schlechter bezahlt werden als in den Stammbetrieben. So einfach geht das nicht mehr, urteilte im Dezember zw.z.z. der EUGH.

    Der EUGH hat gesagt, die Leiharbeitsrichtlinie lässt es zwar zu, dass man durch Tarifvertrag, besondere Regelung schafft, es muss aber der sogenannte Gesamtschutz des Leiharbeitnehmers erhalten bleiben und diesen Gesamtschutz haben sie in der Weise definiert, dass sie gesagt haben, es muss, wenn man vom Lohn nach unten abweicht, auf der anderen Seite eine Kompensation geben, zum Beispiel längeren Urlaub oder ähnliches.

    Also das Schutzniveau muss gleichwertig sein und das ist etwas Neues.

    Wolfgang Deupler ist emeritierter Professor für Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht der Universität Bremen. Gesamtschutz, das heißt für den EUGH, wenn Leihbeschäftigte schlechter bezahlt werden als Stammbeschäftigte, müssen sie dafür einen wesentlichen Ausgleich bekommen, da genügt nicht ein Werbe geschenktes Leiharbeitsunternehmens wie der Generalanwalt des EUGH anmerkt.

    Sondern für deutlich weniger Lohn muss es beispielsweise deutlich mehr Urlaub geben. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in der Sache nicht das letzte Wort. Das liegt an der Arbeitsteilung der Gerichte. Der EUGH ist für die Auslegung des EU-Rechts zuständig, was genau die Entscheidung aber für das deutsche Rechtssystem bedeutet, muss das Bundesarbeitsgericht entscheiden, das den Fall nun wieder auf dem Tisch hat.

    Ich kann mir das eigentlich nicht anders vorstellen, als dass das Bundesarbeitsgericht sagen wird, Tarifverträge ohne Kompensation können den Equal Pay-Grundsatz nicht verdrängen, also gilt der gesetzliche Grundsatz von Equal Pay. Und das ist eine Aussage, die muss eigentlich in dieser Deutlichkeit kommen, dann können sich ja andere Leute darauf berufen und dann kann man daraus konsequenzen sie.

    Für den Fall der Leiharbeiterin aus Bayern würde das bedeuten, wenn sie beweisen kann, dass sie tatsächlich rund drei Euro fünfzig die Stunde weniger verdient hat, müsste das Leiharbeitsunternehmen ihr den Unterschied zahlen, denn im Tarifvertrag der Fürsigalt war ein Ausgleich für den schlechteren Lohn nicht vorgesehen.

    Genauso ist es auch beim ehemaligen Leiharbeiter Thomas B. Auch sein Fall ist bis zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ausgesetzt. Nicht nur Leihbeschäftigte, auch Gewerkschaften, Leiharbeitsunternehmen und die Bundespolitik schauen deshalb nun nach Erfurt zum Bundesarbeitsgericht, weil es die weitreichende Grundsatzfrage gleicher Lohn für gleicher Arbeit geht.

    Egal wie das Bundesarbeitsgericht entscheidet, es dürfte eine Entscheidung darüber werden, ob das System der Zweiklassenbezahlung von Leiharbeitern und Stammbeschäftigten ein Ende findet oder weitergeht. Mehr als achthunderttausend Beschäftigte arbeiten in Deutschland in der Leiharbeit.

    In wohl keinem anderen Bereich ist die Tarifbindung so hoch, nämlich achtundneunzig Prozent. Das klingt gut, aber wie gesagt, erst die Tarifverträge ermöglichen die schlechtere Bezahlung, sie sind das Schlupfloch der europäischen Richtlinie, das in Deutschland genutzt wird.

    Diese Tarifverträge könnten neu verhandelt werden müssen, wenn das Bundesarbeitsgericht die Rechte von Leiharbeitern stärken sollte. Beim Interessenverband der deutschen Zeitarbeitsunternehmen EGZ mag man sich dieses Szenario noch nicht ausmalen und schätzt auch die juristische Ausgangslage anders ein.

    Unseresachtens war das deutsche Recht den Gesamtschutz der Zeitarbeitskräfte, wir bieten gute Arbeitsbedingungen in unseren Tarifverträgen, wir haben jetzt im Januar noch einmal ein Tarifabschluss gemacht mit Lohnsteigerung von bis zu dreizehn Prozent in einer Laufzeit von einem Jahr, also da müssen wir uns nicht verstecken, wenn man das vergleicht mit den Abschlüssen in anderen Branchen.

    So Martin Dreyer vom Arbeitgeberverband EGZ, er argumentiert, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter in Deutschland gleich doppelt geschützt seien. Erstens durch die Tarifverträge und zweitens durch das sogenannte Arbeitnehmer-Überlassungsgesetz, das Gesetz also, das in Deutschland die EU-Richtlinie zur Leiharbeit umsetzt. Darin steht, wenn ein leihbeschäftigter Unbefristet angestellt ist, muss das Leiharbeitsunternehmen ihn auch in der Zeit zwischen zwei Einsätzen bezahlen.

    Ein Einsatz bei einem Einsatzunternehmen ist zu Ende gegangen, man hat keinen unmittelbaren Anschluss-Einsatz und dann ist der Mitarbeiter im Gründe genommen, er kann zu Hause sein, er muss nicht arbeiten und …

  • Unerwartete Konsequenzen am Klo

    Ich bin ein großer Fan von Geschichten, in denen Leute etwas tun, das über ein paar verwinkelte Ecken noch was ganz anderes bewirkt, das zumindest nicht offensichtlich erwartbar ist, so etwa wie bei den Akazien, die verkümmerten, weil sie mit Elektrozäunen vor Elefanten geschützt wurden.

    Ganz erheblich profaner ist die Geschichte rund um die Handtuchspender bei uns am Institut. Bis April diesen Jahres hatten wir dazu Geräte, die mit einem recht raffinierten Mechanismus sehr lange waschbare Stofftücher abrollten. Das war einerseits prima, weil die Hände so wirklich trocken wurden und nicht viel Papier nach einfachem Gebrauch weggeworfen wurde. Andererseits wurde jedes Handtuch-Äquivalent effektiv nur ein Mal benutzt, so dass die Rollen häufig gewechselt werden mussten. Mit Logistik, Waschen und Trocknen wird die Ökobilanz der Stofftücher vermutlich nicht nennenswert besser gewesen sein als die der üblicheren Papierhandtücher.

    Um die Ökobilanz am CO₂-Fußabdruck einzuordnen: Händetrocknen ist eines der Paradebeispiele von Mike Berners-Lee[1] für Handlungsweisen, die viele Menschen für wichtig halten, die aber für ihren tatsächlichen Fußabdruck fast keine Rolle spielen. Für ein Mal Händetrocknen schätzt er je nach Methode:

    3 g CO2e Dyson Airblade [obwohl so eine Airblade eher zu den Geräten gehören wird, bei denen der Herstellungsaufwand relativ zum Energieverbrauch während des Betriebs verschwindet, hätte ich gerade bei der Hi-Tech-Lösung gerne was zu vergegenständlichten Emissionen gelesen]

    10 g CO2e one paper towel

    20 g CO2e standard electric drier

    Wenn ich im Jahr 600 Mal meine Hände im Institut abtrockne (also rund drei Mal pro Arbeitstag), ist das so oder so schlimmstenfalls das Äquivalent von einem Kilo Käse (das Berners-Lee auf 12 kg CO₂e schätzt). Mit der Kopfzahl der BRD-Emission (2/3 Gt/a) ist zum Vergleich der mittlere Footprint pro Einwohner auf etwas wie 8000 kg abzuschätzen. Die Handtücher sind also für Normalos weit unterhalb von einem Promille, und selbst Ökos müssten sich hier im Land schon ganz schön bösen chronischen Durchfall zuziehen, um mit betrieblichem Händetrocknen auch nur auf ein halbes Promille ihres Fußabdrucks zu kommen.

    Wie auch immer: die schönen Stoffhandtuchspender sind inzwischen verschwunden, vielleicht aus Kostengründen, vielleicht, weil der Lieferant sie nicht mehr anbietet, vielleicht wirklich, weil sie alles in allem eher beim Fußabdruck von Berner-Lees „standard electric dryer“ rausgekommen sind. Stattdessen hat die Uni ziemlich flächendeckend das hier beschafft:

    Ein Papierhandttuchspender mit einer aufgeklebten zweisprachigen Nachricht: „Wegen Verstopfungsgefahr: Nur Toilettenpapier KEIN Handtuchpapier und ähnliches herunterspülen! Danke!

    Neue Handtuchspender an der Uni Heidelberg mit liebevollem Denglisch. Ich weiß nicht, wer es geschrieben hat, aber „constipation“ (Verstopfung im Darm, statt clogging) und „Wash down“ (ein Getränk kippen, statt flush) riecht durchaus nach subtilem Insider-Humor mit Fäkalhintergrund. Ich vermute Kommunikationsguerilla.

    Wie der aufgeklebte Zettel schon vermuten lässt, hatte der ökologisch vielleicht zweitrangige Schritt ernsthafte und jedenfalls von mir unerwartete Konsequenzen an anderer Stelle: Keinen Monat nach der Abschaffung der Stoffrollen drückte es übelriechendes Abwasser aus der Toilette im Erdgeschoss, und für 24 Stunden musste, wer musste oder Teewasser wollte, ins Nebengebäude gehen.

    Diagnose: heruntergespülte Papierhandtücher hatten das Abwasserrohr komplett dicht gemacht. Mit den alten Stoffhandtüchern wäre das nicht passiert. Also: Es ist nicht passiert.

    Ich habe übrigens auch eine Konsequenz gezogen, selbst wenn mein CO₂-Fußabdruck leider so oder so praktisch unbeeinflusst ist. Dafür liefert meine Konsequenz jede Menge Hitchhiker-Bonuspunkte. Ich habe nämlich ein privates Handtuch ins Büro gehängt, das ich nun viele Male verwende und dazu jeweils zum Klo trage („every day is Towel Day“). Weil ich das Handtuch schon hatte, trockne ich meine Hände damit fast CO₂-frei.

    Nur: wo soll in einem Büro ein Haken zum Aufhängen von Handtüchern herkommen? Nun, ich hatte irgendwann während einer schrecklich langweiligen Telecon eine alte Festplatte aus der SATA-Ära zerlegt. Schmeißt die Dinger auf keinen Fall weg, bevor ihr die Magnete der Schrittmotoren erbeutet habt, denn die sind großartig. Zum Beispiel können sie zusammen mit einer Büroklammer und einem Heizkörper einen prima Handtuchhaken machen, der mir bereits seit zwei Monaten taugt:

    Foto des im Fließtext beschriebenen Murkses.
    [1]Berners-Lee, M. (2011): How Bad Are Bananas, Vancouver: Greystone, ISBN 978-1-55365-832-0
  • Friedensforschung als Beruf

    Zu den verheerenderen Publikationen des 20. Jahrhunderts gehört Max Webers Politik als Beruf. Das Werk inspriert bis jetzt all die Rädchen vor allem deutscher Machtapparate – und nochmal ganz besonders die, die am Anfang ihrer Karriere mal menschenfreundlichere Positionen eingenommen haben –, allen möglichen fiesen Quatsch zu rechtfertigen durch „Verantwortungsethik“, während sie Kritik ihrer ehemaligen MitstreiterInnen als (sc. verantwortungslose) „Gesinnungsethik“ abschmettern können, ohne sich mit Argumenten herummühen zu müssen.

    Vor diesem Hintergrund scheinen die laut taz-Autor Pascal Beuker „führenden deutschen Friedensforschungsinstitute“[1] auch eher auf Beruf und weniger auf Forschung setzen. Beuker berichtete nämlich im Artikel Langer Abnutzungskrieg (taz vom 12.6.; in der Papierausgabe war glaube ich keine Helden-Illustration dabei):

    Zum einen müsse die Ukraine militärisch, ökonomisch und politisch weiter nach Kräften unterstützt werden. Das werde wohl „auf sehr lange Zeit“ notwendig sein, „vermutlich sogar über Jahrzehnte“, sagte [die Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung] Deitelhoff. […]

    „Die sich [aus einer einseitigen Einstellung des Gemetzels] ergebende militärische Niederlage der Ukraine würde voraussichtlich deren Zerschlagung nach sich ziehen, einhergehend mit einer Besatzungspraxis von Folter, Verschleppung, sexueller Gewalt und gezielten Tötungen, die wir bereits jetzt in den von Russland besetzten Gebieten beobachten“, sagte Deitelhoff.

    Gut: „Friedens- und Konfliktforschung“ ist im Profibereich („als Beruf“) eher ein Chiffre für „geopolitische Beratung von Außen- und Militärministerium“ (oder, mit etwas mehr Klartext: „Tipps fürs Fertigmachen der Feinde“), so dass ich mich über diese friedenspolitische Bankrotterklärung nicht wirklich gewundert habe. Vielleicht ist der LeserInnenbriefredaktion der taz diese kleine Unehrlichkeit aufgefallen, denn sie hat den folgenden Leserbrief nicht publiziert.

    Aber weil ich nicht oft genug auf die offensichtlichen Parallelen zwischen der derzeitigen Öffentlichkeit und der im ersten Weltkrieg hinweisen kann, kommt er dann hier:

    Liebe Redaktion,

    Wenn einem Forschungsinstitut zur Konfliktbewältigung nur Krieg „über Jahrzehnte“ einfällt, wird es wohl kein Friedensforschungsinstitut sein, schon gar kein „führendes“, wie Pascal Beuker meint. Und tatsächlich: Selbst wer (soweit es mich betrifft irrigerweise) meint, ein guter Krieg sei einem schlechten Frieden vorzuziehen, sollte jedenfalls nicht mit den Durchhalteparolen von Verdun kommen. Auch damals hieß es unter großzügiger Nutzung rassistischer Stereotype (die Kolonialtruppen!), „die Franzosen“ würden, wenn „wir“ nicht mehr schießen würden, vergewaltigend und mordend durch die Lande ziehen. Faktencheck bei der Ruhrbesetzung 1923-1925: Nichts davon. Die französische Besatzung war besser als das Wüten der deutschen Wehrmacht im Ruhrgebiet im Gefolge des Kapp-Putsches 1920, und besser als die Heimatfront während des ersten Weltkriegs sowieso.

    -- Anselm Flügel

    Nachtrag (2023-07-01)

    Zum Thema Phantasmen im Hinblick auf Kolonialtruppen bin ich jüngst bei einer Museumspass-Tour nach Mainz im dortigen Naturkundemuseum auf folgendes Zitat des immer noch von vielen als Lichtfigur der Weimarer Republik verehrten ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) gestoßen:

    Foto eines weißen Textes auf schwarzem Grund: „Die Verwendung farbiger Truppen niederster Kultur als Aufseher über eine Bevölkerung von der hohen geistigen und wirtschaftlichen Bedeutung der Rheinländer [ist] eine herausfordernde Verletzung der Gesetze europäischer Zivilisation“ (Friedrich Ebert, 13.2.1923)

    Aber nun gut: Das ist der Ebert, der sich mit den protofaschistischen Freikorps verbündete gegen SpartakistInnen, die Müncher Räterepublik oder die im Leserbrief erwähnten ArbeiterInnen an der Ruhr. Ein weiteres Beispiel dafür, dass es wirklich keine Inflation braucht, um das Ende der Weimarer Republik zu erklären.

    Und wo ich schon in die Geschichte blicke: In gewisser Weise noch mehr Parallelen bestehen zum Krimkrieg der 1850er Jahre, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Ort des Gemetzels oder die erstmalige breite Anwendung jeweils neuer Techniken in der Berichterstattung. Das ist mir neulich aufgefallen, als ich im schönen Geschichtswerk „The Age of Capital 1848-1875“ des 2012 verstorbenen britischen Großhistorikers Eric Hobsbawm folgende Passagen las:

    Im Zeitalter der Revolutionen [laut Hobsbawm 1789-1848; das ist auch der Titel des Vorgängerbuchs], oder jedenfalls nach der Niederwerfung Napoleons […] waren die Regierungen der Großmächte extrem darauf bedacht, größere Konflikte untereinander zu vermeiden. Ihre Erfahrungen schienen nahezulegen, dass größere Kriege und Revolutionen gerne miteinander einhergehen. […] Nach der Niederwerfung Napolons 1815 hatten die Großmächte für über dreißig Jahre ihre Waffen nicht gegeneinander eingesetzt und ihre Militäroperationen [sic!] beschränkt auf die Unterdrückung von nationalem oder internationalem Umstürzlertum, auf diverse lokale Unruheherde und auf die Expansion in zurückgebliebene Teile der Welt.

    [Hobsbawm erzählt im Folgenden von weniger besorgten europäischen Regierungen, die, nach dem harmlosen Ausfizzeln der 1848er-Revolutionen entspannter im Hinblick auf aufmüpfige Untertanen, sich wieder mehr ums gegenseitige Abjagen von Filetstückchen kümmerten.]

    Das erste größere Ergebnis dieser Störung war der Krimkrieg (1854–1856). Von allen Kriegen der Zeit zwischen 1815 und 1914 kam dieser einem allgemeinen europäischen Krieg am nächsten. Die Ausgangssituation war in keiner Weise neu oder unerwartet. Dennoch entwickelte sich eine große, bemerkenswert inkomptetent geführte, internationale Schlächterei zwischen Russland auf der einen und Großbritannien, Frankreich und der Türkei auf der anderen Seite. Es wird geschätzt, dass dieser Krieg über 600'000 Männern das Leben kostete, fast eine halbe Million davon durch Krankheit. Dabei handelte es sich um 22% der britischen, 30% der französischen und ungefähr die Hälfte der russischen Truppen.

    Leider kann ich nicht sagen: „Ein Glück, dass wir heute kompetente Friedensforschung haben, die herausgefunden hat, wie weise StaatslenkerInnen so einen Unsinn verhindern können“.

    [1]Wobei ich persönlich finde, dass sich schon disqualifiziert hat, wer in der BRD über Friedensforschung redet und das nicht relativ zur Tübinger Informationsstelle Militarisierung einordnet.
  • Von Tullymonstren und den Geschwistern der Wirbeltiere

    Als in den Meldungen der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell am 17.4. ab Minute 3:02 vom „Tullymonster“ (zoologisch Tullimonstrum gregarium, was auch nicht so viel schmeichelhafter klingt) die Rede war, wurde ich schon deshalb neugierig, weil ich wissen wollte, ob das arme Tier wohl die Bezeichnung „Monster“ verdient.

    Nachdem ich den zugehörigen Wikipdia-Artikel überflogen und die dort gezeigte Lebendrekonstruktion mit einer Art Augenstange[1] und einem Rüssel mit einer stilettbesetzen Spitze betrachtet hatte, fand ich die Bezeichnung zumindest naheliegend, um so mehr als die Viecher nur mal kurz im Oberkarbon (also vor ca. 300 Megajahren) und damit näher an der nachgerade außerirdischen Ediacara-Fauna als an uns lebten. Vermutlich gibt es nicht mal mehr Nachkommen, die die Monster-Rede beleidigen könnte. Trotzdem will ich hier lieber von Tullytier sprechen, vor allem zu meiner eigenen Tippfreude.

    Drei Grafiken des gleichen Fossils: ein Farbfoto mit etwas erkennbaren Strukturen, eine Höhenkarte aus einem 3D-Scan, bunt aber für Laien unzugänglich, sowie eine Skizze mit einer Erklärung der erkennbaren features.

    Um eine Vorstellung zu bekommen, warum sich ernsthafte Menschen über Jahrzehnte hinweg streiten können, ob die Tullytiere Rückgrat hatten oder nicht, lohnt sich ein Blick auf die Abbildung 1 im Mikami-Paper; oben ein Farbfoto eines vermutlich recht gut erhaltenen Tieres, darunter ein 3D-Scan, auf dem ich noch weniger erkenne (Rechte: Wiley).

    Aus Sicht der Biologie sind die Tiere jedenfalls monströs, weil niemand so recht weiß, was sie sind, auch wenn in Nature schon 2016 überoptimistisch verkündet wurde: „Scientists Finally Know What Kind of Monster a Tully Monster Was“. Die Ansage war, es sei ein Wirbeltier gewesen, fast schon ein modernes. Eingestanden: die Leute haben damals methodisch schweres Geschütz aufgefahren, etwa Augenuntersuchungen mit Röntgen-Spektroskopie, und zwar mit extrateuerem Synchrotron-Röntgen. Wer Anträge für Zeit an so teuren Geräten durchbringt, mag durchaus Grund zu Selbstvertrauen haben (Beweis durch Förderung: „How could three different funding agencies be wrong?“).

    3D-Scans aus der Lagerstätte

    Nature hin, Edel-Röntgen her: Dem Schluss von 2016 widerspricht – wie im DLF berichtet – mit einiger Zuversicht Tomoyuki Mikami vom Japanischen Nationalmuseum für Natur und Wissenschaft, der mitsamt Kollegen von verschiedenen japanischen Geo- und Bio-Instituten das Paper „Three-dimensional anatomy of the Tully monster casts doubt on its presumed vertebrate affinities“ im Wiley-Blatt Paleontology untergebracht hat (doi:10.1111/pala.12646; die DOI-Ankunftsseite (um mal was für „landing page“ vorzuschlagen) ist leider eine schlimme Javascript-Hölle, was es um so trauriger macht, dass es das Paper noch nicht zu libgen geschafft hat).

    Hauptsächliche Datenbasis der Untersuchungen waren 3D-Scans von 153 Tullytier-Fossilien und 75 anderen Fossilien aus der einzigen Tullytier-Fundstelle, der „Lagerstätte“ (ein süßer wissenschaftlicher Teutonizismus) Mazon Creek ein Stück südwestlich von Chicago. Insgesamt sind in dem Schiefer dort deutlich über 1000 Tullytiere gefunden worden. Dazu kommen noch ein ganzer Haufen weiterer Tiere, die jetzt nicht unmittelbar ins Wortfeld „Versteinerung“ gehören: 42% der tierischen Mazon Creek-Fossilien sind Quallen.

    Die Scans sollen eine Auflösung von beachtlichen 150 μm haben (in unseren furchtbaren Computereinheiten rund 180 dpi). Ich wollte wissen, wie viele Gitterpunkte bei so einem Scan rauskommen werden. Grob ist das die Oberfläche des Fossils geteilt durch die Größe eines Pixels, also für ein grob kugeliges Gebilde von rund 2r = 30  cm Größe (jaja: das ist auch keine schmeichelhafte Beschreibung eines Tullytiers) 4πr2 ⁄ ρ2. Mit der Auflösung ρ = 1.5 × 10 − 4  m liefert das etwas wie 12 Millionen Mesh-Punkte. Danke, liebe GamerInnen, dass ihr die Entwicklung von Systemen finanziert habt, die sowas in annehmbarer Zeit visualisieren.

    Obendrauf haben Mikami et al für einen Rüssel mit „Stiletten“ – von „Zähnen“ reden sie lieber nicht, weil das sehr nach Kiefern und damit nach Wirbeltieren klingt – vornedrin ein hochauflösendes CT (10 μm) gewonnen, um dieses mundähnliche Ding mit unstrittigen Kiefern vergleichen zu können. Ich spoilere: die Autoren finden, dass das schon von der Form her (wiederum haben sie mit 3D-Visualisierung operiert, um das zu belegen) was ganz anderes ist als jedenfalls die Kreatinraspeln, die Schecken haben, so dass sie diese Verwandtschaft für die Tullytiere ausschließen.

    Was versteinert wie? Hauptachsen!

    Der methodische Teil des Papers geht vor allem bei so marginalen Spuren zentralen Frage nach, welche Strukturen sich in dem Schiefer wie gut erhalten, und versuchen, dem eine etwas quantitativere Basis zu geben. Dabei – und sie glauben, damit paläontologisches Neuland zu betreten – schreiben sie eine Matrix mit neun möglicherweise erhaltenen Körperteilen (die Augenstange, die Schwanzflosse, der Halbmond im Kopfbereich usf) auf der einen Achse und ihre 153 Proben auf der anderen. Wo sie so ein Körperteil sehen, steht in der Matrix eine Eins, wo nicht, eine Null, wo das Fossil gar nicht so weit geht, eine Fehlmarkierung. Über diese Matrix nun lassen die Autoren eine Hauptkomponentenanalyse laufen.

    Das ist ein relativ cleveres Verfahren aus der linearen Algebra, das die Matrix als Körper in einem 153- (das ist die Zahl der Proben) -dimensionalen Raum auffasst und dann möglichst viele Dimensionen so zusammenzwingt, dass maximal viel Volumen übrig bleibt. Die (bei vielen Problemen nachweislich gute) Vorstellung ist, dass mensch die „wesentlichen“ Eigenschaften, die in 153 Dimensionen nie erkennbar sind, in zwei oder drei Dimensionen sehen kann und in den zusammengequetschen Dimensionen vielleicht eher so Rauschen war. Im vorliegenden Paper lassen Mikami et al zwei Dimensionen übrig und haben also ein neue Matrix, in der jedem Körperteil zwei Zahlen zugeordnet sind.

    Per Draufgucken sind diese Zahlen zwar nicht unbedingt leicht zu interpretieren. Es ist aber glaubhaft (wenn auch nicht offensichtlich), dass Körperteile, deren zwei Zahlen nahe beieinander liegen, auch ziemlich ähnlich versteinern. Deshalb gibt es Abbildung 3 der Studie:

    Plot mit Caption; die Punkte im Plot sind mit Abkürzungen von Körperteilen versehen; ein wirklich auffälliges Muster ist nicht zu erkennen.

    Rechte: Wiley

    „Taphonomically“ in der Caption bedeutet „was das Versteinern angeht“. Wirklich sehr auffällige Strukturen sind in der Grafik kaum zu erkennen, und aus meiner Sicht ist auch die Einsicht, dass die Schwanzflosse und das Rechteck hinter den Augen ziemlich ähnlich versteinern, weder sonderlich aufschlussreich noch arg naheliegend.

    Vielleicht doch lieber qualitativ arbeiten

    Leider wird die eben formulierte Erwartung, dass ähnlich versteinernde Körperteile in so einem Graphen an ähnlichen Stellen liegen sollten, sofort unvernünftig, wenn andere Organe bei anderen Tieren dazukommen, denn es ist vermutlich fast unmöglich, die auf diese Weise eingeführten „verschiedenen“ Dimensionen so zusammenzuquetschen, dass die sich ergebenden gequetschten Dimensionen in einen gemeinsamen Plot gemalt werden können.

    So taugt die Methode also wahrscheinlich nicht wirklich, um etwa zu argumentieren: „Eine ordentliche Wirbelsäule liegt bei (20,-15), das axial band beim Tullytier aber bei (10,23), und drum hat das Tullytier keine Wirbelsäule.“ Die Autoren sagen (glaube ich) nirgends, dass sie das vorhatten, und sie zeigen auch nirgends entsprechende Plots von anderen Spezies. Aber ich hätte probiert, irgendwas zu basteln, damit ich sowas machen kann. Ich wäre (wie vielleicht die Autoren) ziemlich sicher gescheitert.

    Dennoch überzeugt mich am Paper, dass sie 75 weitere Fossilien anderer Spezies aus der Fundstätte gescannt haben, und zwar insbesondere bekannte Wirbeltiere. Auf diese Weise können sie dann eben qualitativ argumentieren, beispielweise, dass eine rechteckige Struktur hinter den Augen wohl eher nicht ein Hirnlappen sein wird, da sich dieser ja dann auch bei den bona fide-Wirbeltieren hätte erhalten müssen – was nicht der Fall ist.

    Ein ähnliches Vergleichs-Argument funktioniert für Kiemen:

    However, we found no evidence for gill pouches or other pharyngeal arch-associated structures in our comprehensive 3D dataset. Branchial structures are otherwise clearly preserved in specimens of the stem lampreys [Neunaugen] Mayomyzon and Pipiscius, from Mazon Creek, which is incompatible with the mode of preservation in Tullimonstrum.

    Die Erhaltung der Segmentierung des Körpers vergleichen die Autoren mit Gliederfüßern und finden, dass deren Chitin-Exoskelette schärfer und weniger plattgedrückt erhalten sind. Das Tullytier wird also auch nichts in der weiteren Umgebung von Insekten gewesen sein.

    Kurz nach der Erfindung der Knochen: Schädellose und Manteltiere

    An dieser Stelle habe mich mich begeistert in die Taxonomie ein wenig oberhalb der Wirbeltiere gestürzt: Dort sind die Chordatiere. Wikipedialogisch finde ich es bemerkenswert, dass irgendwer ein ganzes Kapitel zur internationalen Begriffsgeschichte in diesen Artikel geschrieben hat und damit fast ein Drittel seiner Gesamtlänge bestreitet.

    Vermutlich ist so eine textkritische Herangehensweise in diesem Geschäft kein Fehler, worauf auch Mikami et al am Ende ihrer Arbeit hinweisen:

    Die einzigartige Morphologie von Tullimonstrum ist kaum vergleichbar mit der irgendeines anderen bekannten Tieres und ruft uns so ins Bewusstsein, dass in der Erdgeschichte viele weitere interessante Tiere existiert haben, die nicht als Fossilien erhalten sind, die jedoch für ein Verständnis der vollen Evolutionsgeschichte der Metazoa [ich musste auch nachsehen: das sind die vielzelligen Tiere] unverzichtbar sind.

    Chordatiere haben jedenfalls bereits einen Haufen der Dinge, die wir für Tiere ziemlich normal finden (Herz, irgendwas wie einen Darm) und haben angefangen, eine Struktur auszubilden, die ich als Laie auch für eine Wirbelsäule halten könnte, die aber bei den Geschwisterstämmen der Wirbeltiere anders rausgekommen sind.

    Diese Geschwister sind einerseits die extragruselig benannten Schädellosen (deren überlebende Vertreter normale Menschen wohl für Fische halten würden) und andererseits die Manteltiere, die aus meiner Sicht erheblich bizarrer sind, schon, weil sie in ihrem Körper Zelluose verbauen, also …

  • Unglückliche UI: Wenn Haken unausweichlich sind

    Derzeit finden bei uns an der Uni Gremienwahlen statt. Dabei wird (u.a.) der ein wenig den Reichsständen ähnliche Senat gewählt, ein Gremium, das (spätestens) seit dem unglücklichen Hochschulurteil des BVerfG aus dem Jahr 1973 („Wissenschaftsfreiheit ist, wenn die Profenmehrheit immer garantiert ist“) eine ziemlich fragwürdige Veranstalung ist. Effektiv bedeutungslos wurde er in Baden-Württemberg zudem im LHG von 2003, als im Namen der „unternehmerischen Hochschule” (aus der glücklicherweise nichts wurde) praktisch alle wesentlichen Entscheidungen im Rektorat („Vorstand“ würde das Gesetz gerne dazu sagen) konzentriert wurden.

    Beste Bedingungen also für eine Online-Wahl – wenn wirklich wer gegen den neuen Wahlmodus klagen sollte, taugt als Gegenargument, es gehe ja eh um nichts. Als guter Demokrat habe ich natürlich dennoch meine Stimme abgegeben. Dabei stellte sich rasch heraus, dass die Uni ein Rundum-Sorglos-Paket bei polyas gebucht hat, einem Laden also, der gegen Bezahlung allerlei Online-Wahlen für allerlei KundInnen abwickelt. In deren Marketing klingt das so:

    • Einfaches Wahlmanagement
    • Höchste Sicherheit und Datenschutz
    • Rechtsverbindliche Wahlergebnisse per Klick

    Dem mag so sein.

    Allerdings ist das polyas-System augenscheinlich nicht allzu flexibel. Offenbar nämlich ist hart kodiert, dass WählerInnen irgendeine Einwilligung erteilen müssen, bevor sie ihre Stimme abgeben können. Wer immer das für die Uni Heidelberg angepasst hat, fand aber nichts, für das er/sie nach einer Einwilligung hätte fragen können.

    Das Ergebnis ist leider ein Text, der selbst in Zeiten von Cookie-Bannern alles eher tut als eine Einwilligung erheischen:

    Screenshot eines stark gestylten HTML-Formulars: Eine Quadrat vor einem Text „Herzlich Willkommen zur Gremienwahl“, ein grüner Weiter-Button.

    Ein Quadrat vor einer Willkommensnachricht und ein grüner Weiter-Knopf – nun, ich habe die wenig informative Nachricht überlesen und auf den grünen Knopf gedrückt. Ihr ahnt es: ohne Erfolg.

    Da die polyas-Leute leider die Knöpfe und Checkboxen wie wild stylen (statt sie einfach zu zu lassen, wie der/die NutzerIn das vielleicht global konfiguriert hat), ist die pragmatische Panne, eine Einwilligungsbedingung durch eine Null-Nachricht zu ersetzen, beonders störend. Es ist eben nicht offensichtlich, dass mensch in irgendein gammliges Quadrat klicken soll, damit ein grüner (!) Knopf mit der Aufschrift „Weiter zur Stimmabgabe“ auch wirklich funktioniert.

    Doch tatsächlich, wenn ich in das Quadrat klicke, kommt ein Häkchen da rein und der Weiter-Knopf wird auch faktisch bedienbar:

    Wie eben, nur ist in dem Quadrat jetzt ein Haken und der Weiter-Button ist etwas grüner.

    Beachtet die dezente Änderung im Grün des Weiter-Knopfes: ja, das ist der Unterschied zwischen einem deaktivierten und einem klickbaren Knopf. Warum können diese Leute nicht einfach hinnehmen, wie ich meine Knöpfe im System gestylt habe? Grumpf.

    Darf ich ein elftes Gebot vorschlagen? Es wäre: die Größe von Widgets dürft ihr ändern, Farben, Relief und Interaktions-Effekte nicht.

    Aber klar, noch besser wär es in diesem speziellen Fall, wenn die (zumindest hier) dämliche Einwilligung in der Software von polyas wegkonfigurierbar wäre.

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