• BKA: Telefonsupport ade

    In seinem Volkszählungsurteil erklärte das Bundesverfassungsgericht schon 1983:

    Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden.

    Diese Erwägung ist, was hinter den Auskunftsrechten steht, die seit den Urzeiten des Datenschutzes bestehen (auch wenn viele Unternehmen sie erst mit den verschärften Sanktionen der DSGVO bemerkt haben). Sie sorgte auch dafür, dass mensch von Anfang bei den diversen Polizeien kostenlos Auskunft verlangen konnte über die dort zur eigenen Person gespeicherten Daten. Seit 2003 hat zusätzlich der Auskunftsgenerator bei datenschmutz.de das etwas weniger nervig gemacht.

    Weil ich diesen Dienst betreibe, fragen mich gelegentlich NutzerInnen, was wohl irgendwelche Auskunfte bedeuten, die sie von Behörden bekommen. So auch neulich, als sich jemand wunderte, wie er in die Datei PIAV-WSK komme – „WSK“ steht hier für Waffen- und Sprengstoffkriminalität. Schon der Namen lässt ahnen: das ist keine Datei, in der mensch gerne einen Eintrag hat.

    Die Speicherung war zudem selbst nach Maßstäben deutscher Polizeidatenbanken besonders wenig nachvollziehbar. Aus dem lakonischen „Landfriedensbruch”, das in der Auskunft stand, konnte jedenfalls ich keine WSK-Relevanz erkennen. Und so dachte ich mir, ich frage mal wieder beim BKA nach. Früher stand auf den Auskünften die Durchwahl zum behördlichen Datenschutzbeauftragten des BKA, der die Auskünfte abwickelt[1], und das hat früher manchmal wirklich geholfen.

    Nicht mehr. Auf den Briefen steht inzwischen nur noch die Nummer der BKA-Telefonzentrale. Böses ahnend rief ich neulich dort an und hörte kaum überrascht irgendeine Warteschleife irgendwas aus dem Telefon quaken. Ich fingerte schon nach dem Auflegeknopf, als sich überraschend schnell doch ein Mensch meldete, dazu noch mit ganz unbeamtigen Sound. Jedoch musste ich „Rückfrage zu Auskunftsersuchen“ nicht fertigsprechen, bevor er auch schon sagte (nicht ganz wörtlich): „Das machen die Datenschützer. Wir haben Anweisung, da nicht hinzuverbinden, und die heben auch nicht ab. Schreiben Sie eine Mail.“

    Diese Einstellung des Telefonsupports mag nur ein kleiner Nadelstich gegen das Menschenrecht auf informationelle Selbstbestimmung (also das „mit hinreichender Sicherheit überschauen” des BVerfG) sein. Aber wer hinreichend oft „sagen wir nicht wegen Gefährdung des Bestands des Bundes“ in halb autogenerierten amtlichen Antwort- oder eher Abwimmelmails gelesen hat, wird ahnen, dass der Wegfall von Gesprächsmöglichkeiten ein durchaus erheblicher Verlust ist. Ich jedenfalls werde erstaunt sein über jedes Faktoid, das das BKA per Mail herauslässt.

    PIAV-WSK und der Landfriedensbruch

    Die Speicherung, die ich gerne geklärt gehabt hätte, war übrigens in gewisser Weise ähnlich beunruhigend wie die Einstellung des Telefonsupports.

    Ihre Vorgeschichte war ein Naziaufmarsch irgendwo und eine Gegenkundgebung von ein paar Antifas, die die Polizei zusammengeknüppelt hat. Wie üblich in solchen Fällen, hat die Polizei allen, die sie testierbar verletzt haben könnte, präventiv ein Landfriedensbruch-Verfahren reingewürgt, weil das gegen mögliche Anzeigen der Opfer zusätzlich immunisiert (nicht, dass es das bräuchte; die polizeiliche Straffreiheit ist seit dem verlinkten amnesty-Bericht von 2004 eher schlimmer geworden). Wie zumindest nicht unüblich – so weit funktioniert der Rechtsstaat des Öfteren noch – hat gleich das erste Gericht das Verfahren wegen Bullshittigkeit eingestellt.

    Das sollte für die Polizei Grund sein, den Vorwurf aus ihren Datenbanken zu löschen („regelmäßig“ heißt das in den zahlreichen Urteilen zur Thematik). Ist es aber schon seit jeher (der verlinkte Artikel ist von 2009) nicht, und es finden sich leider zu viele Gerichte, die die speicherwütigen Behörden davonkommen lassen mit: „Klar müsst ihr im Prinzip löschen, aber was ihr hier macht, geht gerade noch so” (mehr zur Logik der Negativprognose). Die Polizei hört das als: „Speichert eingestellte Verfahren nach Lust und Laune“.

    Insofern steht der arme Mensch nun dank LKA Baden-Württemberg als politisch motivierter Krimineller in diversen Datenbanken. Weil fast alle wissen, dass die diversen Staatsschutze Limo-PHWs mit Freude, Fleiß und freier Hand verteilen (übersetzt: Das ist alles Quatsch), ist das zwar ärgerlich, aber vom Schaden her meist noch überschaubar.

    Weniger überschaubar dürfte der mögliche Schaden bei Waffen- und Sprengstoff-Dateien sein, zumal sich das „PIAV” vor dem WSK auf die breit zugreifbare und schwer durchschaubare, wenn auch nicht mehr ganz neue BKA-Superdatenbank bezieht (vgl. Piff, Paff, PIAV von 2017). Während die Einzelregelungen zu PIAV BKA-Geschäftsgeheimnis sind, macht die Auskunft zudem keine verwertbare Angabe zur Frage, wer genau alles die fraglichen Daten sieht und damit vom Waffen- und Sprengstoffverdacht „wissen“ wird.

    Da das BKA die Telefonberatung eingestellt hat, will ich mich mal an einer spekulativen Erklärung der mysteriösen Speicherung versuchen: Im Oktober 2016 hat im beschaulichen Georgsgmünd ein besonders verstrahlter Faschist („Reichsbürger”) einen Polizisten erschossen, der bei der Beschlagnahme seiner – also des Faschisten – Waffen helfen wollte.

    Da es jetzt einer der ihren war – und nicht einer der hunderten anderer Menschen, die FaschistInnen in der BRD in den letzten 30 Jahren umgebracht haben –, ging daraufhin ein Ruck durch die Polizei. Schon nach einigen weiteren, wenn auch weniger tödlichen, Vorfällen dieser Art begann sie, diesem Milleu den Waffenbesitz etwas zu erschweren und ließ sich dafür auch entsprechende Gesetze geben. Disclaimer: Nein, ich glaube nicht, dass das was bringt – aber das ist ein anderes Thema.

    In Zeiten jedoch, in denen die Antisprache vom Extremismus Staatsraison ist, treffen staatliche Maßnahmen „gegen rechts“ natürlich gleich doppelt Linke. Und deshalb vermute ich, dass Menschen mit einem PHW „linksmotivierter Gewalttäter“ (und dafür reichte dem baden-württembergischen LKA schon das eingestellte Polizeischutzverfahren mit Landfriedensbruchgeschmack) ebenfalls keine Waffenscheine mehr bekommen sollen. Sollte es eine nichtleere Schnittmenge von Schützenverein und Antifa geben, dürften bestehende Waffenscheine wohl eingezogen werden.

    Dieser Teil findet ziemlich sicher statt. Spekulativ ist, dass der Mechanismus dazu die PIAV-WSK ist, denn ich habe wie gesagt keine Ahnung von Waffenscheinen und der Art, wie sie vergeben werden. Es ist aber plausibel, dass die Behörden, die sie ausgeben, irgendeine Regelanfrage an die Polizei stellen, und die dann halt Bedenken aus der PIAV-PSK generiert.

    Solange das nur Menschen aus der Schnittmenge von Schützenverein und Antifa trifft, dürfte die Wirkung minimal sein. Aber auch ein Blick in eine trübe Glaskugel reicht mir für die Vorhersage, dass es ein paar Leute ziemlich hart treffen wird, wenn sie plötzlich in den Ruch der Sprengstoffkriminalität kommen. Und wenn es nur ist, dass sie deshalb eine Lehrstelle in einer doofen Behörde verlieren.

    Nachtrag (2023-07-08)

    Wenige Stunden, nachdem ich das geschrieben habe, war ich beim Tag der offenen Tür des Rhein-Neckar-Kreises. Dabei hatte ich Gelegenheit, die Leute, die hier die Waffenscheine ausstellen, nach der PIAV-WSK zu fragen. Die Antwort war nur beschränkt kohärent, aber es klang so, als könnten die Leute dort zwar direkt auf das Bundeszentralregister zugreifen, hätten aber von der PIAV-WSK noch nichts gehört. Das ist zumindest konsistent mit meiner Spekulation.

    [1]

    Tatsächlich machen das fast alle Polizeien so: die behördlichen Datenschutzbeauftragten bearbeiten die Anträge. Mich hat das immer etwas irritiert, denn eigentlich sollten diese den Auskunftsprozess beaufsichtigen und begleiten, und das nicht bei sich selbst tun müssen; ich verweise auf Artikel 39 Abs. 1 DSGVO:

    Dem Datenschutzbeauftragten obliegen zumindest folgende Aufgaben:

    1. Unterrichtung und Beratung des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters und der Beschäftigten, die Verarbeitungen durchführen, hinsichtlich ihrer Pflichten nach dieser Verordnung sowie nach sonstigen Datenschutz­ vorschriften der Union bzw. der Mitgliedstaaten;
    2. Überwachung der Einhaltung dieser Verordnung, anderer Datenschutzvorschriften der Union bzw. der Mitgliedstaaten sowie der Strategien des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters für den Schutz personenbezogener Daten einschließlich der Zuweisung von Zuständigkeiten, der Sensibilisierung und Schulung der an den Verarbeitungsvorgängen beteiligten Mitarbeiter und der diesbezüglichen Überprüfungen;
    3. Beratung — auf Anfrage — im Zusammenhang mit der Datenschutz-Folgenabschätzung und Überwachung ihrer Durchführung gemäß Artikel 35;
    4. Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde;
    5. Tätigkeit als Anlaufstelle für die Aufsichtsbehörde in mit der Verarbeitung zusammenhängenden Fragen, einschließlich der vorherigen Konsultation gemäß Artikel 36, und gegebenenfalls Beratung zu allen sonstigen Fragen.

    Bei den Behördenleitungen kommt das aber schon traditionell an als „Na ja, der ganze Hippiequatsch halt“.

  • Wenn Gewalt doch mal hätte helfen können

    Als vor ein paar Tagen der französische Fußballspieler Kylian Mbappé angesichts der jüngsten Riots in Frankreich forderte, die „Zeit der Gewalt muss enden“ – und schon gleich, als Jakob Augstein bereits 2014 etwas Ahnliches zum großmächtigen Ringen über die Kontrolle der Ukraine sagte –, konnte ich dem zustimmen. Es ist, in meinen Worten, nicht immer einfach, aber immer weise, der autoritären Versuchung zu widerstehen, auch und gerade, wenn mensch wie die Leute aus der Banlieue eigentlich gar nicht die Machtmittel hat, ihr nachzugeben.

    Allein: Manchmal könnte ich doch schwach werden und mich auf eine Erwägung einlassen, wie es so wäre mit einem verhältnismäßigen Einsatz von Gewalt. So etwa gestern, als ich das Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 4.6.2023 hörte. Es erinnerte an eine strenge Regulierung von Hutnadeln im Jahr 1913, in diesem Fall in Seattle. Die Bewegung hatte aber wohl die halbe Welt erfasst:

    In Zürich werden an einem Tag Geldstrafen gegen hundertzehn eigensinnige Hutnadelträgerinnen verhängt, in Sidney gehen sechzig Frauen ins Gefängnis.

    Hutnadeln? Hutnadeln.

    Eine Fayencefigur einer Frau mit Dreispitz und Jagdgewehr

    Lange vor 1913 und den Hutnadeln gab es bewaffnete Frauen, jedenfalls ausweislich dieser Jägerin aus der Frankenthaler Fayenceproduktion des 18. Jahrhunderts, die im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg zu sehen ist.

    Die Geschichte, die die DLF-Autorin Ulrike Rückert erzählt, klingt zunächst nicht unplausibel:

    Mit drakonischen Strafen will die westliche Männerwelt die langen Nadeln unschädlich machen, mit denen die Frauen ihre Wagenradhüte in der Frisur feststecken, die aber auch zur Waffe geworden sind.

    Vor allem dort, wo sich Frauen um 1900 immer mehr auch allein zeigen, auf der Straße, in Geschäften und Fabriken, in Konzerten und bei politischen Versammlungen. Und wo sie Männer erleben, die sich an sie heran machen, Grapscher und Glotzer, die Frauen ohne männliche Begleitung als Freiwild behandeln.

    Fraglos reagieren die Hutnadel-Verordnungen auf einen profunden gesellschaftlichen Wandel, den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum mehr jemand im Blick hatte. Die erste (bürgerliche) Frauenbewegung nämlich, die etwas verkürzend unter dem Schlagwort Suffragetten diskutiert wird und von der vielleicht noch die despektierliche Rede von den „Blaustrümpfen“ in Erinnerung war, schickte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts an, die Lage von Frauen in westlichen Gesellschaften erheblich zu verbessern.

    Dabei ging es beileibe nicht nur ums Wahlrecht („Suffrage”). In Heidelberg etwa betrieb wenig später Camilla Jellinek eine Rechtsschutzpraxis für Frauen, in der es vom damals schon skandalösen 218er bis zu den gleichfalls in unsere Zeit weisenden Lohnfragen um das ganze Spektrum von sexistischer Diskriminierung ging. Gleich in ihrer Neuenheimer Nachbarschaft publizierte Elise Dosenheimer derweil zu Sexualethik, Koedukation und ferministischem Pazifismus.

    Es versteht sich fast von selbst, dass die Herrschaft des Faschismus in weiten Teilen Europas dem allen ein Ende machte, und dass im Rest der Welt Gemetzel und Patriotismus um den zweiten Weltkrieg herum der ersten Frauenbewegung schwer zusetzten. In meinem Geschichtsunterricht, nochmal 40 Jahre später, hatte sie allenfalls mal kurz beim Thema Wahlrecht einen Statistenauftritt. Kein Wort von militanten Protesten oder auch arg danebengegangenen Blockadeaktionen.

    Ich hatte auf diese Weise schon viele Sitzblockaden hinter mir, als ich zum ersten Mal von Emily Wilding Davison hörte. Genau an dem Tag, an dem die Männer im Stadtrat von Seattle Hutnadeln regulierten, versuchte sie, das gruselige Galopprennen in Epsom zur Bühne ihres Protests zu machen. Ausgerechnet das Pferd des Königs hat sie totgetrampelt. Vom Hutnadel-Kampf wiederum habe ich in der Tat zum ersten Mal gestern gehört.

    Vor diesem Hintergrund vermute ich, dass die Hutnadelgesetze weniger ein konkretes Problem mit einer spezifischen Waffe adressierten als vielmehr ein Versuch waren, einen autoritären Hebel gegen die sich viel breiter äußernde Frauenbewegung zu finden. Eine naheliegende Parallele wäre das Geraune von „Clankriminalität“, mit dem Polizeien und Innenministerien zur Zeit einen autoritären Umgang mit dem Alltagsrassismus in der Republik exerzieren. Das schließe ich aus folgender Passage aus der DLF-Sendung, die etwas Atmo von 1913 schafft:

    Ein Mann wird mit vorgehaltenen Hutnadeln ausgeraubt, und in Chicago duellieren sich zwei Frauen auf offener Straße. Um 1910 herrscht Hutnadel-Alarm. Die Zeitungen sind plötzlich voll von Meldungen [über wüste Verletzungen durch Hutnadeln].

    Wahrscheinlich hatten die meisten Berichte dieser Art schon irgendeine Sorte von Verankerung in der Realität, wie ja auch einige der „Clankriminalität“-Schoten nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Aber genauso wie diese riechen jene stark nach Kampagnenjournalismus und -politik, nach einem kraftvollen Aufblasen knallbunter, aber völlig nebensächlicher Randprobleme.

    Ob heute mehr Frauen beim nächtlichen Radeln weniger mulmige Gefühle hätten, wenn damals die Hutnadeln nicht reguliert worden wären? Wahrscheinlich nicht, siehe oben zur autoritären Versuchung. Es könnte aber auch sein, dass der Hutnadel-Kampf doch ein Beispiel liefert, in der Gewalt vielleicht wirklich etwas zum ein wenig Besseren hätte wenden können.

  • Horröses Heidelberg 1: Das Kriegerdenkmal im Hexenturm

    Wer mal in der Heidelberger Altstadt studiert oder gelehrt hat, mag hunderte Male vorbeigelaufen sein am letzten Rest der mittelalterlichen Heidelberger Stadtbefestigung, dem „Hexenturm“, der seit den frühen 1930er Jahren Teil des etwas irreführend immer noch „Neue Universität” genannten Hörsaalkomplexes ist. Ich jedenfalls habe das Ding nie genauer betrachtet. Und ich habe nie das ominöse „1914 1918“ wahrgenommen, das in einer Art Loggia im ersten Stock an die Wand gepinnt ist:

    Ausschnitt aus einen grob gemauerten Turm.  Es öffnet sich eine Art Loggia, an deren weiß verputzer Rückwand die Zahlen 1914 und 1918 rechts und links von einem Kreuz zu erkennen sind.

    Wo diese Zahlen stehen, befindet sich in Deutschland gerne eines der furchtbaren Denkmäler für Soldaten der diversen deutschen Kriege seit 1870; das Kreuz und die zwei Kranzaufhängeringe liefern im vorliegenden Fall weitere Indizien. Im Rahmen einer Hexenturm-Führung anlässlich des Mittelalter-Tags der Uni war ich gestern (leider ohne Kamera) dort oben, und es stellte sich heraus: Ja, das ist Kriegergedenken, und zwar Hardcore.

    Laut Rhein-Neckar-Wiki wurde diese gruselige Stätte ab Herbst 1932 (also beginnend noch vor der Machtübergabe an die NSDAP auf Reichebene[1]) errichtet. Sie zählt bis heute die Angehörigen der Uni Heidelberg auf, die sich im ersten Weltkrieg für Kaiser und Vaterland haben massakrieren lassen – aufgeteilt nach Lehrern (wenige) und Studenten (viele) versteht sich. Darüber hat damals ein Steinmetz in den Sandstein gehämmert: „Deutschland soll leben, und wenn wir sterben müssen”.

    Das steht bis heute da. Angesichts aktueller Ausbrüche von Patriotismus bin ich mir gar nicht so sicher, wie viele Menschen es im Augenblick eigentlich noch abstoßend finden, Nationen – was immer das nun sein mag – über Menschenleben zu stellen.

    Schon deshalb würde ich das Zeug auch nicht wegmeißeln, zumal weil (oder obwohl?) die Gruselstätte, soweit ich weiß, nicht öffentlich zugänglich ist. Eine Einordnung vor Ort, dass der Schöpfer dieser Zeile, Heinrich Lersch, im ersten Weltkrieg ziemlich kaputtging und später trotzdem treu der NSDAP diente, wäre aber eigentlich schon angezeigt. Dazu könnte etwa erwähnt werden, dass es die NSDAP-Funktionäre eilig hatten, Lerschs hohl schepperndes Nationalpathos zu belohnen: Schon im Mai 1933 beriefen sie ihn in die Preußische Akademie der Künste. Er selbst brauchte noch ein wenig für den Beitritt – seine NSDAP-Mitgliedsnummer ist 3701750 (das entspricht einem Beitritt im Jahr 1935).

    Ein teuer Gefolgsmann der faschistischen Regierung von 1933ff war er dennoch von Anfang an, etwa durch Werbung für die Einsetzung von Hitler als Reichspräsident 1934. Vor noch schlimmeren Fehltritten hat ihn vermutlich der erste Weltkrieg bewahrt, denn ohne seine Kriegsschäden hätte ihn eine Lungenentzündung wahrscheinlich nicht schon im Alter von 46 Jahren (im Jahr 1936) umgebracht.

    Zumindest so viel könnte im Hexenturm doch wirklich zu lesen sein, etwa analog zur Tafel, die am Turmeingang den auch nicht sehr geschmackvollen Namen des Bauwerks[2] kommentiert. Oder wir warten ein paar Jahre und widmen in reflektierteren Zeiten das Gruselkabinett zu irgendwas hinreichend Pazifistischem um.

    [1]In Heidelberg regierte bereits seit 1928 Carl Neinhaus; da er am 1.5.1933 völlig entspannt und zwanglos in die NSDAP eintrat und erst die Alliierten seine Herrschaft vorläufig beendeten, ist es nicht sehr weit hergeholt, die Stadtregierung von 1932 bereits unter „faschistisch“ zu rubrizieren. Die Uni war spätestens seit dem Fall Gumbel ohnehin fast flächendeckend stramm rechtsautoritär. Wie weit so eine Qualifizierung auch für Neinhaus' weitere Regierungszeit auf einem CDU-Ticket (1952-1958) zu vertreten ist, mag ich nicht entscheiden.
    [2]Der Name Hexenturm ist übrigens zutiefst neuzeitlich. Kein Zusammenhang mit irgendeiner Sorte klerikal inspirierter Verfolgung ist historisch nachgewiesen, und der Name ist, soweit rekonstruierbar, auch eine Schöpfung des romantisch bewegten 19. Jahrhunderts.
  • Fiese Metriken: Das Beispiel Tarifbindung

    Gerade als Physiker habe ich vor allem Skepsis übrig für Metriken aller Art, fast egal ob Web-Analytik, Human Development Index oder Mensa-Ranking. Ich behaupte nämlich mit einer Familienportion Dünkel, dass es außerhalb meiner Disziplin und ihrer Randbereiche (mit Verlaub: von Astronomie bis Zoologie) meist schon unmöglich ist, interessante Gegenstände – „unserer Anschauung oder unseres Denkens“ – zu finden, die auch nur im Prinzip durch eine oder wenige Zahlen zu charakterisieren wären. Über die Existenz zuverlässiger und ethisch passabler Messverfahren wäre dann noch in einem zweiten Schritt zu reden.

    Etwas weniger fundamental gesprochen: Wenn du genug weißt, um eine Metrik korrekt interpretieren zu können, brauchst du die Metrik nicht mehr.

    Ein, wie ich finde, schlagendes Beispiel dafür findet sich im höchst hörenswerten DLF-Hintergrund Politik vom 30.5.2023, wo berichtet wird, die Tarifbindung[1] liege im Bereich der Sklav^WLeiharbeit bei nachgerade unglaublichen 98%. Ich darf das kurz mit Tabelle 62361-0501 vom Statistischen Bundesamt für 2018 kombinieren:

    Histogramm mit allen möglichen Branchen und ihrer Tarifbindung. Leiharbeit und der öffentliche Dienst sind bei rund 100%, alles andere eher zwischen 5 und 50%, im Mittel bei 25%.

    Die Daten vom statistischen Bundesamt waren etwas sperrig in der Handhabung. Ich habe deshalb ein kleines Python-Skript geschrieben, um diesen Plot zu erzeugen.

    Selbst ich als radikaler Metrikskeptiker hätte, bevor ich die Sendung gehört habe, die Tarifbindung ziemlich blind als einen brauchbaren Indikator für die mittlere Erträglichkeit der Arbeit in einer Branche akzeptiert.

    Aber nein, wer die die DLF-Sendung hört, wird die Einschätzung, dass Leiharbeit trotz aller freundlich aussehenden Metriken eine ganz besonders unerfreuliche Erscheinung des marktradikalen Wirtschaftens[2] darstellt, nicht revidieren müssen. Die hohe Tarifbindung liegt einfach nur daran… ach, hört selbst. Dann wisst ihr genug, um die Metrik richtig zu interpretieren. Und braucht sie, wie versprochen, für eine informierte Beurteilung auch nicht mehr.

    Da der Deutschlandfunk leider nur noch selten Transkripte veröffentlicht (ich vermute den VZBV dahinter) und Lesen schneller ist als Hören, habe ich die Radiosendung mal durch whisper gejagt. Ich behaupte jetzt einfach mal, dass ich für den DLF (und die Leute, die zu faul zum Hören sind) handele, wenn ich ein ungefähres und weitgehend unkorrigiertes Transkript ihrer Sendung hier anhänge. Die Rechte liegen jedenfalls beim DLF bzw. vielleicht bei der Autorin; das folgende Zitat verteile ich nicht unter CC0 (aber es wäre schön, wenn der DLF endlich CC-BY machen würde…).

    Deutschlandfunk Hintergrund: „Gleiche Arbeit, weniger Lohn – Das System Leiharbeit vor Gericht“

    von Ann-Kathrin Jeske

    Ich habe damit angefangen Ende 2015, ich war die meiste Zeit in Logistik betrieben, in der Lagerwirtschaft, damals ein völlig neues Fach für mich.

    Thomas B. erinnert sich daran, wie sie anfing, seine Zeit als Leiharbeiter. Er praktikisten, das, was Kunden online bestellten, sortierte er in einem Lager in Pakete, machte die Waren für den Transport fertig, die am Ende bunt aufgereit in den regalen großer Kaufhäuser standen.

    Und es waren alles Angelehrte Tätigkeit nicht vermeistens als Hilfe eingesetzt und damit in der untersten Entgeltgruppe.

    B. erzählt, dass während er auf einer Parkbank in Köln sitzt. Thomas B. ist allerdings nicht sein echter Name, er muss aufpassen, welche Informationen er über sich preisgibt. Denn B. ist aktuell auf Jobsuche, mit Anfang sechzig ohnehin nicht so leicht und das, was er über seine Zeit als Leiharbeiter erzählt, könnte bei Arbeitgebern schlecht ankommen.

    Anfangs fand es ganz interessant, ständig neue Sachen kennenzulernen, aber irgendwann stresst es einen Schuhen, dass man sich ständig ein neues Umfeld gewinnen muss und vor allem merkt man halt immer wieder, ich verdiene deutlich weniger als die Stammkollegen.

    Insgesamt fünf und einhalb Jahre arbeitete Thomas B. als Leiharbeiter, davon gibt es in Deutschland derzeit mehr als achthunderttausend. Je länger er das machte, desto mehr störte ihn eine Sache, obwohl er Hand in Hand mit der Stammbelekschaft arbeitete und die gleiche Arbeit machte, landete auf seinem Konto am Ende des Monats weniger Geld.

    Ein Problem, das sich in Zahlen fassen lässt, neunzehn Prozent weniger als die Stammbelekschaft, bekommen Leihbeschäftigte laut der Bundesagentur für Arbeit in der Regel für die gleiche Arbeit. Bei Thomas B. waren es mal zwei- bis drei Euro die Stunde weniger, in dem Metallbetrieb, für den er zum Schluss arbeitete, ging er mit zehn Euro pro Stunde nach Hause, die Stammbeschäftigten mit sechzehn. Diesen Lohnunterschied klagt er nun vor dem Arbeitsgericht in Köln ein.

    Das wollte ich mir nicht gefallen lassen, obwohl ich einfach gedacht habe, das ist ungerechtes Stinkt, und Vorteil von den Leiharbeitern hat der Einsatzbetrieb, der die Leute schnell wieder loswerden kann, der die als Rückmittel einsetzen kann, den Vorteil hat die Leihfirma, die daran verdient und der einzige, der in dem Spiel verliert, ist der Leiharbeiter. Und der muss auch zu den Gewinnern gehören.

    So kann man auch ein Richtungsweisen des Urteil des Europäischen Gerichtshofs zusammenfassen, zumindest zu den Verlierern sollen Leiharbeiter nicht mehr gehören. Werden Leiharbeiter im Vergleich zur Stammbelekschaft schlechter bezahlt, müssen sie dafür einen gleichwertigen Ausgleich bekommen, etwa durch deutlich mehr Urlaub oder Ähnliches.

    Dem Urteil liegt ein ganz ähnlicher Fall wie der von Thomas B. Eine Leiharbeiterin aus Bayern hatte sich bis zum Bundesarbeitsgericht hochgeklagt. Sie prangerte an, dass sie, als Leiharbeiterin nur gut neun Euro die Stunde verdient habe, während ihre stammbeschäftigten Kolleginnen und Kollegen mehr als dreizehn Euro fünfzig bekommen hätten.

    Und das, obwohl eine EU-Richtlinie den Grundsatz Equipay in der Leiharbeit schon lange vorschreibt, also gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Doch die entsprechende EU-Richtlinie bietet den Mitgliedstaaten ein Schlupfloch, das man sich in Deutschland zu Nutze macht.

    Ist der schlechtere Lohn in einem Tarifvertrag geregelt, darf in der Leiharbeit doch schlechter bezahlt werden als in den Stammbetrieben. So einfach geht das nicht mehr, urteilte im Dezember zw.z.z. der EUGH.

    Der EUGH hat gesagt, die Leiharbeitsrichtlinie lässt es zwar zu, dass man durch Tarifvertrag, besondere Regelung schafft, es muss aber der sogenannte Gesamtschutz des Leiharbeitnehmers erhalten bleiben und diesen Gesamtschutz haben sie in der Weise definiert, dass sie gesagt haben, es muss, wenn man vom Lohn nach unten abweicht, auf der anderen Seite eine Kompensation geben, zum Beispiel längeren Urlaub oder ähnliches.

    Also das Schutzniveau muss gleichwertig sein und das ist etwas Neues.

    Wolfgang Deupler ist emeritierter Professor für Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht der Universität Bremen. Gesamtschutz, das heißt für den EUGH, wenn Leihbeschäftigte schlechter bezahlt werden als Stammbeschäftigte, müssen sie dafür einen wesentlichen Ausgleich bekommen, da genügt nicht ein Werbe geschenktes Leiharbeitsunternehmens wie der Generalanwalt des EUGH anmerkt.

    Sondern für deutlich weniger Lohn muss es beispielsweise deutlich mehr Urlaub geben. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in der Sache nicht das letzte Wort. Das liegt an der Arbeitsteilung der Gerichte. Der EUGH ist für die Auslegung des EU-Rechts zuständig, was genau die Entscheidung aber für das deutsche Rechtssystem bedeutet, muss das Bundesarbeitsgericht entscheiden, das den Fall nun wieder auf dem Tisch hat.

    Ich kann mir das eigentlich nicht anders vorstellen, als dass das Bundesarbeitsgericht sagen wird, Tarifverträge ohne Kompensation können den Equal Pay-Grundsatz nicht verdrängen, also gilt der gesetzliche Grundsatz von Equal Pay. Und das ist eine Aussage, die muss eigentlich in dieser Deutlichkeit kommen, dann können sich ja andere Leute darauf berufen und dann kann man daraus konsequenzen sie.

    Für den Fall der Leiharbeiterin aus Bayern würde das bedeuten, wenn sie beweisen kann, dass sie tatsächlich rund drei Euro fünfzig die Stunde weniger verdient hat, müsste das Leiharbeitsunternehmen ihr den Unterschied zahlen, denn im Tarifvertrag der Fürsigalt war ein Ausgleich für den schlechteren Lohn nicht vorgesehen.

    Genauso ist es auch beim ehemaligen Leiharbeiter Thomas B. Auch sein Fall ist bis zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ausgesetzt. Nicht nur Leihbeschäftigte, auch Gewerkschaften, Leiharbeitsunternehmen und die Bundespolitik schauen deshalb nun nach Erfurt zum Bundesarbeitsgericht, weil es die weitreichende Grundsatzfrage gleicher Lohn für gleicher Arbeit geht.

    Egal wie das Bundesarbeitsgericht entscheidet, es dürfte eine Entscheidung darüber werden, ob das System der Zweiklassenbezahlung von Leiharbeitern und Stammbeschäftigten ein Ende findet oder weitergeht. Mehr als achthunderttausend Beschäftigte arbeiten in Deutschland in der Leiharbeit.

    In wohl keinem anderen Bereich ist die Tarifbindung so hoch, nämlich achtundneunzig Prozent. Das klingt gut, aber wie gesagt, erst die Tarifverträge ermöglichen die schlechtere Bezahlung, sie sind das Schlupfloch der europäischen Richtlinie, das in Deutschland genutzt wird.

    Diese Tarifverträge könnten neu verhandelt werden müssen, wenn das Bundesarbeitsgericht die Rechte von Leiharbeitern stärken sollte. Beim Interessenverband der deutschen Zeitarbeitsunternehmen EGZ mag man sich dieses Szenario noch nicht ausmalen und schätzt auch die juristische Ausgangslage anders ein.

    Unseresachtens war das deutsche Recht den Gesamtschutz der Zeitarbeitskräfte, wir bieten gute Arbeitsbedingungen in unseren Tarifverträgen, wir haben jetzt im Januar noch einmal ein Tarifabschluss gemacht mit Lohnsteigerung von bis zu dreizehn Prozent in einer Laufzeit von einem Jahr, also da müssen wir uns nicht verstecken, wenn man das vergleicht mit den Abschlüssen in anderen Branchen.

    So Martin Dreyer vom Arbeitgeberverband EGZ, er argumentiert, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter in Deutschland gleich doppelt geschützt seien. Erstens durch die Tarifverträge und zweitens durch das sogenannte Arbeitnehmer-Überlassungsgesetz, das Gesetz also, das in Deutschland die EU-Richtlinie zur Leiharbeit umsetzt. Darin steht, wenn ein leihbeschäftigter Unbefristet angestellt ist, muss das Leiharbeitsunternehmen ihn auch in der Zeit zwischen zwei Einsätzen bezahlen.

    Ein Einsatz bei einem Einsatzunternehmen ist zu Ende gegangen, man hat keinen unmittelbaren Anschluss-Einsatz und dann ist der Mitarbeiter im Gründe genommen, er kann zu Hause sein, er muss nicht arbeiten und …

  • Unerwartete Konsequenzen am Klo

    Ich bin ein großer Fan von Geschichten, in denen Leute etwas tun, das über ein paar verwinkelte Ecken noch was ganz anderes bewirkt, das zumindest nicht offensichtlich erwartbar ist, so etwa wie bei den Akazien, die verkümmerten, weil sie mit Elektrozäunen vor Elefanten geschützt wurden.

    Ganz erheblich profaner ist die Geschichte rund um die Handtuchspender bei uns am Institut. Bis April diesen Jahres hatten wir dazu Geräte, die mit einem recht raffinierten Mechanismus sehr lange waschbare Stofftücher abrollten. Das war einerseits prima, weil die Hände so wirklich trocken wurden und nicht viel Papier nach einfachem Gebrauch weggeworfen wurde. Andererseits wurde jedes Handtuch-Äquivalent effektiv nur ein Mal benutzt, so dass die Rollen häufig gewechselt werden mussten. Mit Logistik, Waschen und Trocknen wird die Ökobilanz der Stofftücher vermutlich nicht nennenswert besser gewesen sein als die der üblicheren Papierhandtücher.

    Um die Ökobilanz am CO₂-Fußabdruck einzuordnen: Händetrocknen ist eines der Paradebeispiele von Mike Berners-Lee[1] für Handlungsweisen, die viele Menschen für wichtig halten, die aber für ihren tatsächlichen Fußabdruck fast keine Rolle spielen. Für ein Mal Händetrocknen schätzt er je nach Methode:

    3 g CO2e Dyson Airblade [obwohl so eine Airblade eher zu den Geräten gehören wird, bei denen der Herstellungsaufwand relativ zum Energieverbrauch während des Betriebs verschwindet, hätte ich gerade bei der Hi-Tech-Lösung gerne was zu vergegenständlichten Emissionen gelesen]

    10 g CO2e one paper towel

    20 g CO2e standard electric drier

    Wenn ich im Jahr 600 Mal meine Hände im Institut abtrockne (also rund drei Mal pro Arbeitstag), ist das so oder so schlimmstenfalls das Äquivalent von einem Kilo Käse (das Berners-Lee auf 12 kg CO₂e schätzt). Mit der Kopfzahl der BRD-Emission (2/3 Gt/a) ist zum Vergleich der mittlere Footprint pro Einwohner auf etwas wie 8000 kg abzuschätzen. Die Handtücher sind also für Normalos weit unterhalb von einem Promille, und selbst Ökos müssten sich hier im Land schon ganz schön bösen chronischen Durchfall zuziehen, um mit betrieblichem Händetrocknen auch nur auf ein halbes Promille ihres Fußabdrucks zu kommen.

    Wie auch immer: die schönen Stoffhandtuchspender sind inzwischen verschwunden, vielleicht aus Kostengründen, vielleicht, weil der Lieferant sie nicht mehr anbietet, vielleicht wirklich, weil sie alles in allem eher beim Fußabdruck von Berner-Lees „standard electric dryer“ rausgekommen sind. Stattdessen hat die Uni ziemlich flächendeckend das hier beschafft:

    Ein Papierhandttuchspender mit einer aufgeklebten zweisprachigen Nachricht: „Wegen Verstopfungsgefahr: Nur Toilettenpapier KEIN Handtuchpapier und ähnliches herunterspülen! Danke!

    Neue Handtuchspender an der Uni Heidelberg mit liebevollem Denglisch. Ich weiß nicht, wer es geschrieben hat, aber „constipation“ (Verstopfung im Darm, statt clogging) und „Wash down“ (ein Getränk kippen, statt flush) riecht durchaus nach subtilem Insider-Humor mit Fäkalhintergrund. Ich vermute Kommunikationsguerilla.

    Wie der aufgeklebte Zettel schon vermuten lässt, hatte der ökologisch vielleicht zweitrangige Schritt ernsthafte und jedenfalls von mir unerwartete Konsequenzen an anderer Stelle: Keinen Monat nach der Abschaffung der Stoffrollen drückte es übelriechendes Abwasser aus der Toilette im Erdgeschoss, und für 24 Stunden musste, wer musste oder Teewasser wollte, ins Nebengebäude gehen.

    Diagnose: heruntergespülte Papierhandtücher hatten das Abwasserrohr komplett dicht gemacht. Mit den alten Stoffhandtüchern wäre das nicht passiert. Also: Es ist nicht passiert.

    Ich habe übrigens auch eine Konsequenz gezogen, selbst wenn mein CO₂-Fußabdruck leider so oder so praktisch unbeeinflusst ist. Dafür liefert meine Konsequenz jede Menge Hitchhiker-Bonuspunkte. Ich habe nämlich ein privates Handtuch ins Büro gehängt, das ich nun viele Male verwende und dazu jeweils zum Klo trage („every day is Towel Day“). Weil ich das Handtuch schon hatte, trockne ich meine Hände damit fast CO₂-frei.

    Nur: wo soll in einem Büro ein Haken zum Aufhängen von Handtüchern herkommen? Nun, ich hatte irgendwann während einer schrecklich langweiligen Telecon eine alte Festplatte aus der SATA-Ära zerlegt. Schmeißt die Dinger auf keinen Fall weg, bevor ihr die Magnete der Schrittmotoren erbeutet habt, denn die sind großartig. Zum Beispiel können sie zusammen mit einer Büroklammer und einem Heizkörper einen prima Handtuchhaken machen, der mir bereits seit zwei Monaten taugt:

    Foto des im Fließtext beschriebenen Murkses.
    [1]Berners-Lee, M. (2011): How Bad Are Bananas, Vancouver: Greystone, ISBN 978-1-55365-832-0
  • Friedensforschung als Beruf

    Zu den verheerenderen Publikationen des 20. Jahrhunderts gehört Max Webers Politik als Beruf. Das Werk inspriert bis jetzt all die Rädchen vor allem deutscher Machtapparate – und nochmal ganz besonders die, die am Anfang ihrer Karriere mal menschenfreundlichere Positionen eingenommen haben –, allen möglichen fiesen Quatsch zu rechtfertigen durch „Verantwortungsethik“, während sie Kritik ihrer ehemaligen MitstreiterInnen als (sc. verantwortungslose) „Gesinnungsethik“ abschmettern können, ohne sich mit Argumenten herummühen zu müssen.

    Vor diesem Hintergrund scheinen die laut taz-Autor Pascal Beuker „führenden deutschen Friedensforschungsinstitute“[1] auch eher auf Beruf und weniger auf Forschung setzen. Beuker berichtete nämlich im Artikel Langer Abnutzungskrieg (taz vom 12.6.; in der Papierausgabe war glaube ich keine Helden-Illustration dabei):

    Zum einen müsse die Ukraine militärisch, ökonomisch und politisch weiter nach Kräften unterstützt werden. Das werde wohl „auf sehr lange Zeit“ notwendig sein, „vermutlich sogar über Jahrzehnte“, sagte [die Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung] Deitelhoff. […]

    „Die sich [aus einer einseitigen Einstellung des Gemetzels] ergebende militärische Niederlage der Ukraine würde voraussichtlich deren Zerschlagung nach sich ziehen, einhergehend mit einer Besatzungspraxis von Folter, Verschleppung, sexueller Gewalt und gezielten Tötungen, die wir bereits jetzt in den von Russland besetzten Gebieten beobachten“, sagte Deitelhoff.

    Gut: „Friedens- und Konfliktforschung“ ist im Profibereich („als Beruf“) eher ein Chiffre für „geopolitische Beratung von Außen- und Militärministerium“ (oder, mit etwas mehr Klartext: „Tipps fürs Fertigmachen der Feinde“), so dass ich mich über diese friedenspolitische Bankrotterklärung nicht wirklich gewundert habe. Vielleicht ist der LeserInnenbriefredaktion der taz diese kleine Unehrlichkeit aufgefallen, denn sie hat den folgenden Leserbrief nicht publiziert.

    Aber weil ich nicht oft genug auf die offensichtlichen Parallelen zwischen der derzeitigen Öffentlichkeit und der im ersten Weltkrieg hinweisen kann, kommt er dann hier:

    Liebe Redaktion,

    Wenn einem Forschungsinstitut zur Konfliktbewältigung nur Krieg „über Jahrzehnte“ einfällt, wird es wohl kein Friedensforschungsinstitut sein, schon gar kein „führendes“, wie Pascal Beuker meint. Und tatsächlich: Selbst wer (soweit es mich betrifft irrigerweise) meint, ein guter Krieg sei einem schlechten Frieden vorzuziehen, sollte jedenfalls nicht mit den Durchhalteparolen von Verdun kommen. Auch damals hieß es unter großzügiger Nutzung rassistischer Stereotype (die Kolonialtruppen!), „die Franzosen“ würden, wenn „wir“ nicht mehr schießen würden, vergewaltigend und mordend durch die Lande ziehen. Faktencheck bei der Ruhrbesetzung 1923-1925: Nichts davon. Die französische Besatzung war besser als das Wüten der deutschen Wehrmacht im Ruhrgebiet im Gefolge des Kapp-Putsches 1920, und besser als die Heimatfront während des ersten Weltkriegs sowieso.

    -- Anselm Flügel

    Nachtrag (2023-07-01)

    Zum Thema Phantasmen im Hinblick auf Kolonialtruppen bin ich jüngst bei einer Museumspass-Tour nach Mainz im dortigen Naturkundemuseum auf folgendes Zitat des immer noch von vielen als Lichtfigur der Weimarer Republik verehrten ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) gestoßen:

    Foto eines weißen Textes auf schwarzem Grund: „Die Verwendung farbiger Truppen niederster Kultur als Aufseher über eine Bevölkerung von der hohen geistigen und wirtschaftlichen Bedeutung der Rheinländer [ist] eine herausfordernde Verletzung der Gesetze europäischer Zivilisation“ (Friedrich Ebert, 13.2.1923)

    Aber nun gut: Das ist der Ebert, der sich mit den protofaschistischen Freikorps verbündete gegen SpartakistInnen, die Müncher Räterepublik oder die im Leserbrief erwähnten ArbeiterInnen an der Ruhr. Ein weiteres Beispiel dafür, dass es wirklich keine Inflation braucht, um das Ende der Weimarer Republik zu erklären.

    Und wo ich schon in die Geschichte blicke: In gewisser Weise noch mehr Parallelen bestehen zum Krimkrieg der 1850er Jahre, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Ort des Gemetzels oder die erstmalige breite Anwendung jeweils neuer Techniken in der Berichterstattung. Das ist mir neulich aufgefallen, als ich im schönen Geschichtswerk „The Age of Capital 1848-1875“ des 2012 verstorbenen britischen Großhistorikers Eric Hobsbawm folgende Passagen las:

    Im Zeitalter der Revolutionen [laut Hobsbawm 1789-1848; das ist auch der Titel des Vorgängerbuchs], oder jedenfalls nach der Niederwerfung Napoleons […] waren die Regierungen der Großmächte extrem darauf bedacht, größere Konflikte untereinander zu vermeiden. Ihre Erfahrungen schienen nahezulegen, dass größere Kriege und Revolutionen gerne miteinander einhergehen. […] Nach der Niederwerfung Napolons 1815 hatten die Großmächte für über dreißig Jahre ihre Waffen nicht gegeneinander eingesetzt und ihre Militäroperationen [sic!] beschränkt auf die Unterdrückung von nationalem oder internationalem Umstürzlertum, auf diverse lokale Unruheherde und auf die Expansion in zurückgebliebene Teile der Welt.

    [Hobsbawm erzählt im Folgenden von weniger besorgten europäischen Regierungen, die, nach dem harmlosen Ausfizzeln der 1848er-Revolutionen entspannter im Hinblick auf aufmüpfige Untertanen, sich wieder mehr ums gegenseitige Abjagen von Filetstückchen kümmerten.]

    Das erste größere Ergebnis dieser Störung war der Krimkrieg (1854–1856). Von allen Kriegen der Zeit zwischen 1815 und 1914 kam dieser einem allgemeinen europäischen Krieg am nächsten. Die Ausgangssituation war in keiner Weise neu oder unerwartet. Dennoch entwickelte sich eine große, bemerkenswert inkomptetent geführte, internationale Schlächterei zwischen Russland auf der einen und Großbritannien, Frankreich und der Türkei auf der anderen Seite. Es wird geschätzt, dass dieser Krieg über 600'000 Männern das Leben kostete, fast eine halbe Million davon durch Krankheit. Dabei handelte es sich um 22% der britischen, 30% der französischen und ungefähr die Hälfte der russischen Truppen.

    Leider kann ich nicht sagen: „Ein Glück, dass wir heute kompetente Friedensforschung haben, die herausgefunden hat, wie weise StaatslenkerInnen so einen Unsinn verhindern können“.

    [1]Wobei ich persönlich finde, dass sich schon disqualifiziert hat, wer in der BRD über Friedensforschung redet und das nicht relativ zur Tübinger Informationsstelle Militarisierung einordnet.
  • Von Tullymonstren und den Geschwistern der Wirbeltiere

    Als in den Meldungen der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell am 17.4. ab Minute 3:02 vom „Tullymonster“ (zoologisch Tullimonstrum gregarium, was auch nicht so viel schmeichelhafter klingt) die Rede war, wurde ich schon deshalb neugierig, weil ich wissen wollte, ob das arme Tier wohl die Bezeichnung „Monster“ verdient.

    Nachdem ich den zugehörigen Wikipdia-Artikel überflogen und die dort gezeigte Lebendrekonstruktion mit einer Art Augenstange[1] und einem Rüssel mit einer stilettbesetzen Spitze betrachtet hatte, fand ich die Bezeichnung zumindest naheliegend, um so mehr als die Viecher nur mal kurz im Oberkarbon (also vor ca. 300 Megajahren) und damit näher an der nachgerade außerirdischen Ediacara-Fauna als an uns lebten. Vermutlich gibt es nicht mal mehr Nachkommen, die die Monster-Rede beleidigen könnte. Trotzdem will ich hier lieber von Tullytier sprechen, vor allem zu meiner eigenen Tippfreude.

    Drei Grafiken des gleichen Fossils: ein Farbfoto mit etwas erkennbaren Strukturen, eine Höhenkarte aus einem 3D-Scan, bunt aber für Laien unzugänglich, sowie eine Skizze mit einer Erklärung der erkennbaren features.

    Um eine Vorstellung zu bekommen, warum sich ernsthafte Menschen über Jahrzehnte hinweg streiten können, ob die Tullytiere Rückgrat hatten oder nicht, lohnt sich ein Blick auf die Abbildung 1 im Mikami-Paper; oben ein Farbfoto eines vermutlich recht gut erhaltenen Tieres, darunter ein 3D-Scan, auf dem ich noch weniger erkenne (Rechte: Wiley).

    Aus Sicht der Biologie sind die Tiere jedenfalls monströs, weil niemand so recht weiß, was sie sind, auch wenn in Nature schon 2016 überoptimistisch verkündet wurde: „Scientists Finally Know What Kind of Monster a Tully Monster Was“. Die Ansage war, es sei ein Wirbeltier gewesen, fast schon ein modernes. Eingestanden: die Leute haben damals methodisch schweres Geschütz aufgefahren, etwa Augenuntersuchungen mit Röntgen-Spektroskopie, und zwar mit extrateuerem Synchrotron-Röntgen. Wer Anträge für Zeit an so teuren Geräten durchbringt, mag durchaus Grund zu Selbstvertrauen haben (Beweis durch Förderung: „How could three different funding agencies be wrong?“).

    3D-Scans aus der Lagerstätte

    Nature hin, Edel-Röntgen her: Dem Schluss von 2016 widerspricht – wie im DLF berichtet – mit einiger Zuversicht Tomoyuki Mikami vom Japanischen Nationalmuseum für Natur und Wissenschaft, der mitsamt Kollegen von verschiedenen japanischen Geo- und Bio-Instituten das Paper „Three-dimensional anatomy of the Tully monster casts doubt on its presumed vertebrate affinities“ im Wiley-Blatt Paleontology untergebracht hat (doi:10.1111/pala.12646; die DOI-Ankunftsseite (um mal was für „landing page“ vorzuschlagen) ist leider eine schlimme Javascript-Hölle, was es um so trauriger macht, dass es das Paper noch nicht zu libgen geschafft hat).

    Hauptsächliche Datenbasis der Untersuchungen waren 3D-Scans von 153 Tullytier-Fossilien und 75 anderen Fossilien aus der einzigen Tullytier-Fundstelle, der „Lagerstätte“ (ein süßer wissenschaftlicher Teutonizismus) Mazon Creek ein Stück südwestlich von Chicago. Insgesamt sind in dem Schiefer dort deutlich über 1000 Tullytiere gefunden worden. Dazu kommen noch ein ganzer Haufen weiterer Tiere, die jetzt nicht unmittelbar ins Wortfeld „Versteinerung“ gehören: 42% der tierischen Mazon Creek-Fossilien sind Quallen.

    Die Scans sollen eine Auflösung von beachtlichen 150 μm haben (in unseren furchtbaren Computereinheiten rund 180 dpi). Ich wollte wissen, wie viele Gitterpunkte bei so einem Scan rauskommen werden. Grob ist das die Oberfläche des Fossils geteilt durch die Größe eines Pixels, also für ein grob kugeliges Gebilde von rund 2r = 30  cm Größe (jaja: das ist auch keine schmeichelhafte Beschreibung eines Tullytiers) 4πr2 ⁄ ρ2. Mit der Auflösung ρ = 1.5 × 10 − 4  m liefert das etwas wie 12 Millionen Mesh-Punkte. Danke, liebe GamerInnen, dass ihr die Entwicklung von Systemen finanziert habt, die sowas in annehmbarer Zeit visualisieren.

    Obendrauf haben Mikami et al für einen Rüssel mit „Stiletten“ – von „Zähnen“ reden sie lieber nicht, weil das sehr nach Kiefern und damit nach Wirbeltieren klingt – vornedrin ein hochauflösendes CT (10 μm) gewonnen, um dieses mundähnliche Ding mit unstrittigen Kiefern vergleichen zu können. Ich spoilere: die Autoren finden, dass das schon von der Form her (wiederum haben sie mit 3D-Visualisierung operiert, um das zu belegen) was ganz anderes ist als jedenfalls die Kreatinraspeln, die Schecken haben, so dass sie diese Verwandtschaft für die Tullytiere ausschließen.

    Was versteinert wie? Hauptachsen!

    Der methodische Teil des Papers geht vor allem bei so marginalen Spuren zentralen Frage nach, welche Strukturen sich in dem Schiefer wie gut erhalten, und versuchen, dem eine etwas quantitativere Basis zu geben. Dabei – und sie glauben, damit paläontologisches Neuland zu betreten – schreiben sie eine Matrix mit neun möglicherweise erhaltenen Körperteilen (die Augenstange, die Schwanzflosse, der Halbmond im Kopfbereich usf) auf der einen Achse und ihre 153 Proben auf der anderen. Wo sie so ein Körperteil sehen, steht in der Matrix eine Eins, wo nicht, eine Null, wo das Fossil gar nicht so weit geht, eine Fehlmarkierung. Über diese Matrix nun lassen die Autoren eine Hauptkomponentenanalyse laufen.

    Das ist ein relativ cleveres Verfahren aus der linearen Algebra, das die Matrix als Körper in einem 153- (das ist die Zahl der Proben) -dimensionalen Raum auffasst und dann möglichst viele Dimensionen so zusammenzwingt, dass maximal viel Volumen übrig bleibt. Die (bei vielen Problemen nachweislich gute) Vorstellung ist, dass mensch die „wesentlichen“ Eigenschaften, die in 153 Dimensionen nie erkennbar sind, in zwei oder drei Dimensionen sehen kann und in den zusammengequetschen Dimensionen vielleicht eher so Rauschen war. Im vorliegenden Paper lassen Mikami et al zwei Dimensionen übrig und haben also ein neue Matrix, in der jedem Körperteil zwei Zahlen zugeordnet sind.

    Per Draufgucken sind diese Zahlen zwar nicht unbedingt leicht zu interpretieren. Es ist aber glaubhaft (wenn auch nicht offensichtlich), dass Körperteile, deren zwei Zahlen nahe beieinander liegen, auch ziemlich ähnlich versteinern. Deshalb gibt es Abbildung 3 der Studie:

    Plot mit Caption; die Punkte im Plot sind mit Abkürzungen von Körperteilen versehen; ein wirklich auffälliges Muster ist nicht zu erkennen.

    Rechte: Wiley

    „Taphonomically“ in der Caption bedeutet „was das Versteinern angeht“. Wirklich sehr auffällige Strukturen sind in der Grafik kaum zu erkennen, und aus meiner Sicht ist auch die Einsicht, dass die Schwanzflosse und das Rechteck hinter den Augen ziemlich ähnlich versteinern, weder sonderlich aufschlussreich noch arg naheliegend.

    Vielleicht doch lieber qualitativ arbeiten

    Leider wird die eben formulierte Erwartung, dass ähnlich versteinernde Körperteile in so einem Graphen an ähnlichen Stellen liegen sollten, sofort unvernünftig, wenn andere Organe bei anderen Tieren dazukommen, denn es ist vermutlich fast unmöglich, die auf diese Weise eingeführten „verschiedenen“ Dimensionen so zusammenzuquetschen, dass die sich ergebenden gequetschten Dimensionen in einen gemeinsamen Plot gemalt werden können.

    So taugt die Methode also wahrscheinlich nicht wirklich, um etwa zu argumentieren: „Eine ordentliche Wirbelsäule liegt bei (20,-15), das axial band beim Tullytier aber bei (10,23), und drum hat das Tullytier keine Wirbelsäule.“ Die Autoren sagen (glaube ich) nirgends, dass sie das vorhatten, und sie zeigen auch nirgends entsprechende Plots von anderen Spezies. Aber ich hätte probiert, irgendwas zu basteln, damit ich sowas machen kann. Ich wäre (wie vielleicht die Autoren) ziemlich sicher gescheitert.

    Dennoch überzeugt mich am Paper, dass sie 75 weitere Fossilien anderer Spezies aus der Fundstätte gescannt haben, und zwar insbesondere bekannte Wirbeltiere. Auf diese Weise können sie dann eben qualitativ argumentieren, beispielweise, dass eine rechteckige Struktur hinter den Augen wohl eher nicht ein Hirnlappen sein wird, da sich dieser ja dann auch bei den bona fide-Wirbeltieren hätte erhalten müssen – was nicht der Fall ist.

    Ein ähnliches Vergleichs-Argument funktioniert für Kiemen:

    However, we found no evidence for gill pouches or other pharyngeal arch-associated structures in our comprehensive 3D dataset. Branchial structures are otherwise clearly preserved in specimens of the stem lampreys [Neunaugen] Mayomyzon and Pipiscius, from Mazon Creek, which is incompatible with the mode of preservation in Tullimonstrum.

    Die Erhaltung der Segmentierung des Körpers vergleichen die Autoren mit Gliederfüßern und finden, dass deren Chitin-Exoskelette schärfer und weniger plattgedrückt erhalten sind. Das Tullytier wird also auch nichts in der weiteren Umgebung von Insekten gewesen sein.

    Kurz nach der Erfindung der Knochen: Schädellose und Manteltiere

    An dieser Stelle habe mich mich begeistert in die Taxonomie ein wenig oberhalb der Wirbeltiere gestürzt: Dort sind die Chordatiere. Wikipedialogisch finde ich es bemerkenswert, dass irgendwer ein ganzes Kapitel zur internationalen Begriffsgeschichte in diesen Artikel geschrieben hat und damit fast ein Drittel seiner Gesamtlänge bestreitet.

    Vermutlich ist so eine textkritische Herangehensweise in diesem Geschäft kein Fehler, worauf auch Mikami et al am Ende ihrer Arbeit hinweisen:

    Die einzigartige Morphologie von Tullimonstrum ist kaum vergleichbar mit der irgendeines anderen bekannten Tieres und ruft uns so ins Bewusstsein, dass in der Erdgeschichte viele weitere interessante Tiere existiert haben, die nicht als Fossilien erhalten sind, die jedoch für ein Verständnis der vollen Evolutionsgeschichte der Metazoa [ich musste auch nachsehen: das sind die vielzelligen Tiere] unverzichtbar sind.

    Chordatiere haben jedenfalls bereits einen Haufen der Dinge, die wir für Tiere ziemlich normal finden (Herz, irgendwas wie einen Darm) und haben angefangen, eine Struktur auszubilden, die ich als Laie auch für eine Wirbelsäule halten könnte, die aber bei den Geschwisterstämmen der Wirbeltiere anders rausgekommen sind.

    Diese Geschwister sind einerseits die extragruselig benannten Schädellosen (deren überlebende Vertreter normale Menschen wohl für Fische halten würden) und andererseits die Manteltiere, die aus meiner Sicht erheblich bizarrer sind, schon, weil sie in ihrem Körper Zelluose verbauen, also …

  • Unglückliche UI: Wenn Haken unausweichlich sind

    Derzeit finden bei uns an der Uni Gremienwahlen statt. Dabei wird (u.a.) der ein wenig den Reichsständen ähnliche Senat gewählt, ein Gremium, das (spätestens) seit dem unglücklichen Hochschulurteil des BVerfG aus dem Jahr 1973 („Wissenschaftsfreiheit ist, wenn die Profenmehrheit immer garantiert ist“) eine ziemlich fragwürdige Veranstalung ist. Effektiv bedeutungslos wurde er in Baden-Württemberg zudem im LHG von 2003, als im Namen der „unternehmerischen Hochschule” (aus der glücklicherweise nichts wurde) praktisch alle wesentlichen Entscheidungen im Rektorat („Vorstand“ würde das Gesetz gerne dazu sagen) konzentriert wurden.

    Beste Bedingungen also für eine Online-Wahl – wenn wirklich wer gegen den neuen Wahlmodus klagen sollte, taugt als Gegenargument, es gehe ja eh um nichts. Als guter Demokrat habe ich natürlich dennoch meine Stimme abgegeben. Dabei stellte sich rasch heraus, dass die Uni ein Rundum-Sorglos-Paket bei polyas gebucht hat, einem Laden also, der gegen Bezahlung allerlei Online-Wahlen für allerlei KundInnen abwickelt. In deren Marketing klingt das so:

    • Einfaches Wahlmanagement
    • Höchste Sicherheit und Datenschutz
    • Rechtsverbindliche Wahlergebnisse per Klick

    Dem mag so sein.

    Allerdings ist das polyas-System augenscheinlich nicht allzu flexibel. Offenbar nämlich ist hart kodiert, dass WählerInnen irgendeine Einwilligung erteilen müssen, bevor sie ihre Stimme abgeben können. Wer immer das für die Uni Heidelberg angepasst hat, fand aber nichts, für das er/sie nach einer Einwilligung hätte fragen können.

    Das Ergebnis ist leider ein Text, der selbst in Zeiten von Cookie-Bannern alles eher tut als eine Einwilligung erheischen:

    Screenshot eines stark gestylten HTML-Formulars: Eine Quadrat vor einem Text „Herzlich Willkommen zur Gremienwahl“, ein grüner Weiter-Button.

    Ein Quadrat vor einer Willkommensnachricht und ein grüner Weiter-Knopf – nun, ich habe die wenig informative Nachricht überlesen und auf den grünen Knopf gedrückt. Ihr ahnt es: ohne Erfolg.

    Da die polyas-Leute leider die Knöpfe und Checkboxen wie wild stylen (statt sie einfach zu zu lassen, wie der/die NutzerIn das vielleicht global konfiguriert hat), ist die pragmatische Panne, eine Einwilligungsbedingung durch eine Null-Nachricht zu ersetzen, beonders störend. Es ist eben nicht offensichtlich, dass mensch in irgendein gammliges Quadrat klicken soll, damit ein grüner (!) Knopf mit der Aufschrift „Weiter zur Stimmabgabe“ auch wirklich funktioniert.

    Doch tatsächlich, wenn ich in das Quadrat klicke, kommt ein Häkchen da rein und der Weiter-Knopf wird auch faktisch bedienbar:

    Wie eben, nur ist in dem Quadrat jetzt ein Haken und der Weiter-Button ist etwas grüner.

    Beachtet die dezente Änderung im Grün des Weiter-Knopfes: ja, das ist der Unterschied zwischen einem deaktivierten und einem klickbaren Knopf. Warum können diese Leute nicht einfach hinnehmen, wie ich meine Knöpfe im System gestylt habe? Grumpf.

    Darf ich ein elftes Gebot vorschlagen? Es wäre: die Größe von Widgets dürft ihr ändern, Farben, Relief und Interaktions-Effekte nicht.

    Aber klar, noch besser wär es in diesem speziellen Fall, wenn die (zumindest hier) dämliche Einwilligung in der Software von polyas wegkonfigurierbar wäre.

  • Taming an LTE card in Linux

    When I wrote my request for help on how to do voice calls with a PCI-attached cellular modem I realised that writing a bit about how I'm dealing with the IP part of that thing might perhaps be mildly entertaining to some subset of the computer-literate public. After all, we are dealing with rather serious privacy issues here. So, let's start with these:

    Controlling registration

    Just like almost any other piece of mobile phone tech, an LTE card with a SIM inserted will by default try to register with the network operator's infrastructure when it is switched on (or resumed, more likely, in the case of a notebook part). If this is successful, it will create a data point in the logs there, which in turn will be stored for a few days or, depending on the human rights situation in the current jurisdiction (as in: is telecom data retention in effect?), for up to two years. This record links you with a time (at which you used your computer) and a location (at which you presumably were at that point). That's fairly sensitive data by any measure.

    So: You don't want to create these records unless you really want network. But how do you avoid registration? There are various possible ways, but I found the simplest and probably most robust one is to use Linux's rfkill framework, which is in effect a refined version of airline mode. To make that convenient, I am defining two aliases:

    alias fon="sudo rfkill unblock wwan"
    alias keinfon="sudo rfkill block wwan"
    

    (“keinfon“ is “no phone“ in German); put these into your .bashrc or perhaps into .aliases if your .bashrc includes that file.

    Since I consider rfkill relatively a relatively unlikely target for privilege escalation, I have added , NOPASSWD: usr/sbin/rfkill to my system user's line in /etc/sudoers.d, but that's of course optional.

    With that, when I want to use internet over LTE, I type fon, wait a few seconds for the registration to happen and then bring up the interface. When done, I bring down the interface and say keinfon. It would probably be more polite to the service operators if I de-registered from the infrastructure before that, but for all I can see only marginally so; they'll notice you're gone at the next PLU. I don't think there are major privacy implications either way.

    It might be wiser to do the block/unblock routine in pre-up and post-down scripts in /etc/network/interfaces, but since registration is slow and I rather regularly find myself reconnecting while on the cell network, I'd consider that over-automation. And, of course, I still hope that one day I can do GSM voice calls over the interface, in which case the card shouldn't be blocked just because nobody is using it for an internet connection.

    Phone Status

    In case I forget the keinfon, I want to be warned about my gear leaking all the data to o2 (my network operator). I hence wrote a shell script display-phone-status.sh like this:

    #!/bin/sh
    if /usr/sbin/rfkill list | grep -A3 "Wireless WAN" | grep 'blocked: yes' > /dev/null; then
      echo "WWAN blocked."
    else
      /usr/games/xcowsay -t 10 -f "Steve Italic 42" --at 0,520 --image ~/misc/my-icons/telephone.xpm 'Ich petze gerade!'
    fi
    

    The notification you'll want to change, for instance because you won't have the nice icon and may not find the font appropriate. The German in there means ”I'm squealing on you.“. Here's how this works out:

    Screenshot: an old-style telephone with a baloon saying „Ich petze gerade“

    I execute that at every wakeup, which is a bit tricky because xcowsay needs to know the display. If you still run pm-utils and are curious how I'm doing that, poke me and I'll write a post.

    Connection

    Mainly because tooling for MBIM and other more direct access methods felt fairly painful last time I looked, I am still connecting through PPP, even though that's extremely silly over an IP medium like LTE. Part of the reason I'm writing this post is because duckduckgo currently returns nothing useful if you look for “o2 connection string“ or something like that. I tried yesterday because surprisingly while the internet connection worked over GSM, when connected over LTE (see below on how I'm controlling that), executing the good old:

    AT+CGDCONT=1, "IPV4V6", "internet"
    

    would get me an ERROR. That command – basically specifying the protocol requested and the name of an „access point“ (and no, I have never even tried to figure out what role that „access point“ might have had even in GSM) – admittedly seems particularly silly in LTE, where you essentially have an internet connection right from the start. I'm pretty sure it didn't use to hurt LTE connections three years ago, though. Now it does, and so that's my chat script for o2 (put it into /etc/ppp/chat-o2 with the peer definition below):

    IMEOUT 5
    ECHO ON
    ABORT 'BUSY'
    ABORT 'ERROR'
    ABORT 'NO ANSWER'
    ABORT 'NO CARRIER'
    ABORT 'NO DIALTONE'
    ABORT 'RINGING\r\n\r\nRINGING'
    '' "ATZ"
    OK 'ATQ0 V1 E1 S0=0 &C1 &D2 +FCLASS=0'
    OK "\d\dATD*99#"
    CONNECT ""
    

    You can probably do without almost all of this and just run ATD*99# if you're stingy; but over the past 15 years of using cellular modems in one way or another, each piece of configuration was useful at one time. I'm not claiming they are now.

    Similarly, my /etc/ppp/peers/o2 configuration file might contain a bit of cruft:

    /dev/ttyACM0
    115200
    debug
    noauth
    usepeerdns
    ipcp-accept-remote
    ipcp-accept-local
    remotename any
    user thing
    local
    nocrtscts
    defaultroute
    noipdefault
    connect "/usr/sbin/chat -v -f /etc/ppp/chat-o2"
    
    lcp-echo-interval 300
    lcp-echo-failure 10
    

    I'd expect the liberal LCP configuration at the bottom of the file is still very beneficial in the o2 network.

    To manage the network, I use normal Debian ifupdown with this stanza in /etc/network/interfaces:

    iface o2 inet ppp
      provider o2
    

    To bring up the interface, I have an icon on my desktop that executes sudo ifup o2.

    Monitoring

    To see what's going through a network connection, I have a script monitor in /etc/network/if-up.d; this is unconditionally executed once an interface comes up. A case statement brings up wmnet instances with parameters somewhat adapted to the respective interfaces:

    #!/bin/sh
    case $IFACE in
    wlan* )
      su - anselm -c 'DISPLAY=:0 nohup wmwave -r 200' > /dev/null 2>&1 &
      su - anselm -c "DISPLAY=:0 nohup wmnet -l -x 1000000 -d 200000 -r green -t red -W $IFACE" > /dev/null 2>&1 &
      ;;
    ppp*)
      su - anselm -c "DISPLAY=:0 nohup wmnet -l -x 1000000 -d 200000 -r green -t red -W $IFACE" > /dev/null 2>&1 &
      ;;
    o2 | n900)
      su - anselm -c "DISPLAY=:0 nohup wmnet -l -x 1000000 -d 200000 -r green -t red -W ppp0" > /dev/null 2>&1 &
      ;;
    esac
    

    The complicated su logic is necessary because again, the little window maker dockapps need access to the X display.

    That whole part is a bit weak, not only because of the hard-coded user name and DISPLAY (these are fairly safe bets for a personal computer) and because it relies some configuration of your window manager to place the dockapps at predictable positions.

    More importantly, ifupdown executes the script too early: To ifupdown, the interface is up when the pppd is up. But it is only then that pppd starts to negotiate, and these negotiations fail quite easily (e.g., when you're in a dead zone, and there are plenty of those with o2). If that happens, you have an essentially dead wmnet on the desktop. I clean up rather unspecifically in /etc/network/if-down.d/monitor:

    #!/bin/sh
    case $IFACE in
    wlan* )
      killall wmwave
      killall wmnet
      ;;
    ppp*|o2|n900)
      killall wmnet
      ;;
    esac
    exit 0
    

    The implicit assumption here that the computer will only have one wireless network connection at a time.

    Modem Configuration

    I used to have to do a bit of modem configuration in the olden days. It's rarer these days, but I thought I might as well publish the source of a program, I wrote back then to encapsulate that configuration. I still find it is useful now and then to choose between the access methods LTE (fast, but perhaps smaller cells hence less stable) and GSM (slow, but perhaps more robust with larger cells and better coverage), which this script can do if your card supports the AT+XACT command. While I would guess that includes many Sierra modems, I have no idea how many that may be. Anyway, here's how that ought to look like (and perhaps the most relevant piece of information is the <home>, which means there's an infrastructure connection – as opposed to, for instance, <offline>):

    $ modemconfig.py -a LTE
    Modem is >home<
    Using LTE
    Running on band BAND_LTE_1
    

    If you think you might find this kind of thing useful: It's on https://codeberg.org/AnselmF/sierra-config, and it's trivial to install.

  • Help wanted: PCM telephony on a Sierra EM7345

    For fairly silly reasons I would like to do voice calls using a Sierra Wireless EM7345 4G LTE wireless modem built into a Lenovo Thinkpad X240. However, I am stuck between a lack of documentation and the horrors of proprietary firmware blobs to the extent that I am even unsure whether that's possible without reprogramming the whole device. If you can help me, I'd appreciate any sort of hand-holding. If you think you know someone who might be able to help me, I'd appreciate if you pointed them to this post.

    The analog stuff

    What works nicely is calling voice numbers. After a minicom -D /dev/ttyACM0, I can do:

    AT DT 062210000000
    NO CARRIER
    AT DT 062210000000;
    OK
    
    NO CARRIER
    

    The first command is attempting a data connection that fails because it's a real telephone at the other end. The semicolon in the second command says “do voice“. It actually makes the remote phone ring a few seconds after the modem said OK. I can pick up the call on that remote phone, too, but fairly unsurprisingly there is just silence at the computer and, and whatever I say at either end goes nowhere. The eventual NO CARRIER is when I hang up the phone.

    The other way round works as well: seeing the good old RING and typing ATA like in the good old days warmed my heart. Hanging up with an ATH was fun, too. But when no sound is being transported through the Sierra card, these games quickly become boring.

    As usual for entities like Sierra, they don't give their documentation to just anyone (as in „me”). I still happen to have a PDF titled „MP 700 Series GPS Rugged Wireless Modem AT Command Reference”, which pertains to some different but reasonably similar device. There, it says:

    If your account allows for it, you can attach a headset to your modem and use it as a mobile phone. You require a 4-wire headset with a 2.5 mm connector, to use your modem as a phone. (This plugs into the Audio connector on the back of the modem. You may need an extension cable if the modem is installed in the trunk. Contact your service provider to determine what extension cables are supported.)

    Well… The small EM 7345 certainly does not have a 2.5 mm connector. There aren't even soldering pads visible without peeling off stickers:

    Photo of the interior of a computer with some small extension cards.  One of them has a big sticker on it saying it's a Sierra device.

    The Sierra modem as fitted into a Lenovo X240: Certainly no 2.5 mm connectors visible.

    There is also no trace of the Sierra card in the ALSA mixer, and neither is there an ALSA card they could have put in as a USB audio device. Hence, at this point I believe getting out some sort of analog-ish audio is unrealistic.

    Go digital

    However, what if I could pull PCM bytes or perhaps GSM-encoded audio from the device in some way? A thread in the Sierra forum seems to indicate it could work but then trails off into mumbling about firmware versions. Some further mindless typing into search engines suggested to me that the a “version 6“ of the firmware should be able to do PCM voice (in some way not discussed in useful detail). Version 6 sounds a bit menacing to me in that my device says:

    at+GMR
    V1.1,00
    

    I faintly remember having once tried to update the firmware and eventually giving up after some quality time with WINE. On that background, skipping five major versions sounds particularly daring („the Evel Knievel upgrade: what could possibly go wrong except 40 to 50 broken bones“). But then Sierra's support page doesn't even acknowledge the 7345's existence any more.

    While Sierra itself does not give its documentation to the unwashed masses, on some more or less shady page I found documentation on the AT commands of one of its the successors, the EM7355. That appears to have a lot of PCM-related commands. In particular:

    Note: To enable audio on an audio-capable device, use the “ISVOICEN” customization for AT!CUSTOM (see page 32 for details).

    Regrettably, on my box:

    AT !CUSTOM ISVOICEEN=1
    ERROR
    

    Actually, it would seem that none of the various Sierra-proprietary AT commands starting with a bang are present in my firmware.

    That's where I stand. Does anyone have deeper insights into whether I could have GSM voice calls on that board without reverse-engineering the whole firmware?

    A tale of two cards

    In case you are wondering why I would even want to do GSM telephony with my computer… Well, I have a 4.99 Euro/month 1 GB+telephony flatrate with Winsim (turn off Javascript to avoid their broken cookie banner). While I can recommend Winsim for a telephone support far better than you'd expect for that price (of course: the network coverage isn't great, it's just a Telefonica reseller, and forget about using the e-mail support), they'll charge you another five Euro or so monthly for a second SIM card in that plan, whereas you can get a SIM card for free if you get a second pre-payed contract.

    I'm not sure what reasoning is behind two contracts with two cards being cheaper than one contract with two cards, but then telephony prices stopped making any sense a long time ago.

    Since my phone can only do UMTS and GSM (i.e., only GSM these days in Germany) and I have the LTE modem inside the computer anyway, I recently transferred the SIM with the flatrate into the LTE modem so my garden office has a faster internet connection than when I'm using the phone as a modem. Consequenly, I now have another (pre-paid) card in the phone. The net effect is that I could do telephone calls for free on the computer if I could just figure out the audio part – whereas naive VoIP doesn't really work in much of the network because of packet loss, latencies, low bandwitdth and so on – and I pay 9 ct per minute for GSM telephony on the phone.

    I give you that's probably not a sufficient reason to sink hours of research into the stupid Sierra card. But I'd also have the BIGGEST PHONE ON THE WHOLE TRAIN if I just could pull it off!

    Nachtrag (2023-06-21)

    Well, on the “new firmware“ part, I found https://lists.freedesktop.org/archives/libqmi-devel/2018-August/002951.html. And oh my, of course Intel don't publish the sources to their firmware flash thingy. That's extremely bad for me because they don't bother to build i386 binaries and now I have to dual-arch in half a linux system:

    ldd /opt/intel/platformflashtoollite/bin/platformflashtoollite
            linux-vdso.so.1 (0x00007ffcf43ed000)
            libdldrapi.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libdldrapi.so (0x00007f61d4000000)
            libCore.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libCore.so (0x00007f61d3c00000)
            libNetwork.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libNetwork.so (0x00007f61d3800000)
            libDeviceManager.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libDeviceManager.so (0x00007f61d3400000)
            libLogger.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libLogger.so (0x00007f61d3000000)
            libJson.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libJson.so (0x00007f61d2c00000)
            libDldrManager.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libDldrManager.so (0x00007f61d2800000)
            libUtilityWidgets.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libUtilityWidgets.so (0x00007f61d2400000)
            libQt5Xml.so.5 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libQt5Xml.so.5 (0x00007f61d2000000)
            libQt5Widgets.so.5 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libQt5Widgets.so.5 (0x00007f61d1600000)
            libQt5Gui.so.5 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libQt5Gui.so.5 (0x00007f61d0c00000)
            libQt5Network.so.5 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libQt5Network.so.5 (0x00007f61d0800000)
            libQt5Script.so.5 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libQt5Script.so.5 (0x00007f61d0200000)
            libxfstk-dldr-api.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libxfstk-dldr-api.so (0x00007f61cfe00000)
            libPlatformUtils.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libPlatformUtils.so (0x00007f61cfa00000)
            libQt5Core.so.5 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libQt5Core.so.5 (0x00007f61cf200000)
            libm.so.6 => /lib/x86_64-linux-gnu/libm.so.6 (0x00007f61d3ebc000)
            libgcc_s.so.1 => /lib/x86_64-linux-gnu/libgcc_s.so.1 (0x00007f61d4530000)
            libc.so.6 => /lib/x86_64-linux-gnu/libc.so.6 (0x00007f61d322c000)
            libpthread.so.0 => /lib/x86_64-linux-gnu/libpthread.so.0 (0x00007f61d450c000)
            librt.so.1 => /lib/x86_64-linux-gnu/librt.so.1 (0x00007f61d4502000)
            libdl.so.2 => /lib/x86_64-linux-gnu/libdl.so.2 (0x00007f61d44fc000)
            /lib64/ld-linux-x86-64.so.2 (0x00007f61d457b000)
            libstdc++.so.6 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libstdc++.so.6 (0x00007f61d2e33000)
            libUSBScan.so => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libUSBScan.so (0x00007f61cee00000)
            libgobject-2.0.so.0 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libgobject-2.0.so.0 (0x00007f61d44a0000)
            libgthread-2.0.so.0 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libgthread-2.0.so.0 (0x00007f61d449b000)
            libglib-2.0.so.0 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libglib-2.0.so.0 (0x00007f61d3ad1000)
            libXext.so.6 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libXext.so.6 (0x00007f61d4486000)
            libX11.so.6 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libX11.so.6 (0x00007f61d36bd000)
            libGL.so.1 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libGL.so.1 (0x00007f61d3e35000)
            libusb-0.1.so.4 => /lib/x86_64-linux-gnu/libusb-0.1.so.4 (0x00007f61cea00000)
            libboost_program_options.so.1.46.1 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libboost_program_options.so.1.46.1 (0x00007f61ce600000)
            libicui18n.so.54 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libicui18n.so.54 (0x00007f61ce000000)
            libicuuc.so.54 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libicuuc.so.54 (0x00007f61cdc00000)
            libicudata.so.54 => /opt/intel/platformflashtoollite/lib/libicudata.so.54 (0x00007f61cc000000)
            libudev.so.0 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libudev.so.0 (0x00007f61d447d000)
            libffi.so.7 => /usr/lib/x86_64-linux-gnu/libffi.so.7 (0x00007f61d4471000)
            libpcre.so.3 …
  • Ach Bahn, Teil 13: Besser wirds am XX.XX.XXXX

    Die Bahn behauptet ja gerne, all die indiskreten „Analytik“-Skripte, die sie über ihre Webseite ausliefert, dienten irgendwie dazu, die „User Experience“ zu verbessern. Wenn das so ist, so hoffe ich, dass ihnen ihre Analytik-Dienstleister Hinweise zur profunden Nutzlosigkeit von Meldungen dieser Art geben:

    Screenshot der Bahnseite mit einer Meldung „Zum XX.XX.XXX werden die technischen Systeme von bahn.de umgestellt [...] Mehr Informationen finden Sie unter d2.

    Aber nennt mich konservativ: Ich sehe dem angekündigen XX.XX.XXXX mit wenig Freude entgegen, denn trotz aller Analytik ist die Bahn-Webseite über die Jahre für mich immer schlechter bedienbar geworden. Während die ersten Formulare schnell luden, praktisch ohne Belastung für heutige CPUs renderten und mit Browser-Hausmitteln tastaturbedienbar waren, ist die heutige Javascript-Wüste in jeder Hinsicht lästig. Das einzige Feature jedoch, das mir schon in den ganz alten Bahnseiten fehlte, fehlt immer noch: Wenn sie schon wissen, wer ich bin und dass ich eine Bahncard 50 habe, dann könnten sie doch voreinstellen, dass ich auch Bahncard 50-Fahrkarten kaufen will.

    Nach etwas Kontemplation habe ich übrigens verstanden, dass ich das „d2“ in der Meldung oben ignorieren muss und kann, wohingegen das Ding mit dem Pfeil davor zwar völlig aus dem Layout fällt, aber den Satz im Absatz darüber komplettiert und mithin der Link sein wird, unter dem es „mehr Informationen“ geben soll. Also klickte ich auf die „Zukunft der Bahn“ und war nach dem oben Gesagten nur sehr mäßig enttäuscht, als ich Folgendes zu sehen bekam:

    Screenshot: „Sie haben in Ihrem Browser JavaScript deaktiviert, dies wird jedoch von unserer Anwendung benötigt.“

    Liebe Bahn: Ich will keine „Anwendung“. Ich will ein Formular, über das ich Fahrplanauskünfte bekomme und vielleicht noch Fahrkarten kaufen kann. Ja, das geht ohne Javascript, und eine öffentliche Infrastruktur – um einen Gegenbegriff zum „modernen Dienstleistungsunternehmen“ einzuführen – sollte das auch dann möglich machen, wenn sie gegenwärtig in eine etwas ungeeignete Rechtsform gezwungen ist.

  • Bruchsal zwischen Mandolinen und Soldaten

    Foto von ca. 20 Lederbändern mit aufgepressten Metallplättchen über Klaviersaiten mit einem Holzbügel mit der Aufschrift „Mandoline auf die Zapfen Z setzen”.

    Ein Detail eines automatischen Klaviers („Pianova“ von den Leipziger Musikwerken Paul Lochmann GmbH), ca. 1910. Was es mit diesen Lederstreifen auf sich hat, erzähle ich ziemlich gegen Ende dieses Posts.

    Unter den Einrichtungen, die beim Oberrhein-Musesumpass mitmachen, finden sich einige Burgen (z.B.) und Schlösser (nochmal z.B.). An Fronleichnam verschlug es mich in dieser Angelegenheit in die Residenz der Fürstbischöfe von Speyer in Bruchsal.

    Dafür, dass das Bistum Speyer eine recht überschaubare Herrschaft war, ist der Palast, den der Potentat Damian von Schönborn-Buchheim seinen Untertanen in den 1720er Jahren abgepresst hat, beeindruckend groß und großzügig. Noch überraschender angesichts des Duodezbauherren ist, dass beim Bau die Stars der damaligen Prunkbauten-Szene – etwa Balthasar Neuman oder Cosmas und Damian Asam – am Start waren.

    Der Fairness halber will ich einräumen, dass sich Schönborn-Buchheim ein Schloss ersetzen ließ, das Soldaten in einem Krieg kaputtgehauen hatten, mit dem er nichts zu tun hatte, und dass er selbst sich mit Kriegen und anderem Gemetzel vorbildlich zurückgehalten hat.

    Insofern darf mensch das völlig übertrieben große Treppenhaus und die Prunkhallen mit ihren nicht immer ganz geschmackssicheren und schon wegen ganzer Bände heidnischer Mythen entschieden unfrommen Deckenmalereien ohne viel schlechtes Gewissen goutieren, um so mehr, als die aktuellen Decken ohnehin aus der Nachkriegszeit stammen. Alliierte Bomber haben das Schloss nämlich bei Angriffen auf die in Bruchsal stationierten deutschen Zweite-Weltkrieger noch im März 1945 getroffen, woraufhin es ausgebrannt ist.

    Foto einer großen runden Mauer mit Durchblick auf ein hohes Deckenfresko

    Das Treppenhaus im Schloss von Bruchsal ist eigentlich klar überdimensioniert für das kleine Reich seiner Besitzer.

    Soldaten gehen und kommen

    Das mutmaßliche Ziel der Alliierten gehört zur bösen Geschichte Bruchsals: Seit den Zeiten des Fürstbischofs hatte das Städtchen eine Kaserne. 1922 befreiten die Demilitarisierungsregeln des Versailler Vertrags die BürgerInnen von den Soldaten, 1945 nochmal der Zusammenbruch der faschistischen Herrschaft. In beiden Fällen kamen die Soldaten leider bald wieder.

    Da die Bundeswehr Anfang der 1990er Jahre ein vorerst letztes Mal verschwunden ist („Friedensdividende“), ist Bruchsal zur Zeit wieder militärisch unbelastet. Die zurückbleibende Kaserne – ich kann der Abschweifung nicht widerstehen – nutzte die Landesregierung von Baden-Württemberg für ein besonders verdrehtes Experiment im Rahmen ihrer Privatisierungsstrategie für Hochschulen (vgl. neulich zu Bologna): Die International University in Germany, in die die öffentliche Hand mehrfach ein paar Millionen Euro versenkte, bevor der Laden erwartungsgemäß Pleite ging. Ich weiß nicht, was jetzt in der Kaserne ist; hoffentlich kommen die Soldaten nicht schon wieder zurück. Ganz sicher wäre selbst ein weiteres Experiment mit einer Privatuniversität weniger grässlich – und erheblich billiger sowieso.

    Die Guillotine von Plötzensee

    Aber zurück zum Schloss: Neben den Prunkräumen befindet sich dort heute das Stadtmuseum, das etwa die recht interessante Geschichte des Bruchsaler Knastes beleuchtet (bemerkenswerterweise ohne Erwähnung des dort bis vor 15 Jahren einsitzenden Promis Christian Klar). Insbesondere war mir ganz neu, dass der Scharfrichter des NS-Volksgerichtshofs im Strafgefängnis Plötzensee seinen Opfern mit der badischen Guillotine von Bruchsal die Köpfe abschlug – angesichts der eigentlich liberalen Tradition des Landes Baden hat diese Geschichte, finde ich, eine gewisse Ironie.

    Liberale Tradition? Ja, eine weitere Geschichte aus dem Stadtmuseum handelt vom Revolutionsjahr 1848, als Bruchsal schon einmal ohne langfristigen Erfolg die Soldaten abgeschüttelt hatte: Damals nämlich waren die Dragoner ausgerückt, um den Hecker-Aufstand niederzuschlagen. Als sie damit fertig und also zurück in Bruchsal waren, nahmen viele der für eine Weile freiheitlich gesinnten BürgerInnen gegen sie eine „drohende Haltung ein“. Der Museumstext weiter: „Schließlich musste das Militär nach Mannheim verlegt werden, um die Ruhe in Bruchsal nicht weiter zu gefährden.”

    Aber wie gesagt: Trotz dieses vorübergehend vorbildlichen BürgerInnensinns waren waren die Dragoner wenig später wieder da. In der Realität gewinnen halt doch meistens die Bösen.

    Musikautomaten

    Aber ich will die Realität nicht schelten, denn es gibt auch immer wieder bezaubernde Wunderdinge. Besonders viele davon sind im Musikautomaten-Museum versammelt, das ebenfalls mit dem Schloss-Ticket besichtigt werden kann (ihr solltet mindestens zwei Stunden dafür einplanen). Dort hatte ich die Einsicht, dass es neben der Analog-Schallplatte („Schellack“) rund um 1900 herum eine ernstzunehmende digitale Konkurrenz durch Lochplatten gab:

    Eine Metallplatte mit eingestanzen Löchern entlang von konzentrischen Spuren in einem Abspielmechanismus mit hölzernem Kasten.

    In diesen Platten sind Impulse kodiert, die Stimmzungen oder Pfeifen ansteuerten; jede Spur entsprach einem Ton, so dass der Zauber schon nach einer Umdrehung etwas repititiv wurde – aber sie drehten natürlich auch viel langsamer als die 45 Umdrehungen pro Minute zeitgenössischer Schallplatten, und ihre Klangqualität war um Längen besser. Das Bruchsaler Muserum hat zahlreiche Mechanismen, die Platten dieser Art mit verschiedenen Techniken abspielten.

    Mir ist beim Blick auf die Dinger durch den Kopf gegangen, dass ein wesentliches Problem der Technologie gegenüber der Schellackplatte neben der eher kurzen Spieldauer fehlende Standards gewesen sein dürften, also etwa: Wie groß soll die Platte sein? Wie schnell soll sie gedreht werden? Welche Zähnung hat die Antriebsspur? Welche Spur macht welchen Ton? Beim Schellack konnte recht bald jede Platte auf jedem Gerät gespielt werden, hier ziemlich sicher nicht.

    Putziges Implementationsdetail zur letzten Frage: Weil Basslinien in normalen Stücken deutlich langsamer sind als Läufe im Sopran, entsprechen innere (also kürzere) Spuren bei den Geräten fast immer tieferen Tönen.

    Was mich allerdings am meisten hingerissen hat: Der Hack vom Aufmacherfoto, nämlich auf Lederbänder gepresste Blechlein. Diese Teile haben einem mechanischen Klavier wirklich so eine Art Mandolinenklang (also: etwas schnarrend) beigebracht, und zwar indem der Holzbügel, der im oberen Teil des Fotos erkennbar ist, die Lederbänder auf die Saiten gedrückt hat, vielleicht ein wenig wie bei einem Dämpfer. Erstaunlicherweise haben dann die mitschwingenden Blechlein wirklich den Toncharakter erheblich verändert. Ob ich den neuen Klang ohne Vorsagen „Mandoline“ genannt hätte, lasse ich mal offen.

    Ein Rat noch: Nehmt euch Gehörschutz mit. Etliche der Maschinen waren für Jahrmärkte und laute Kneipen gedacht und von der Lautstärke her entsprechend ausgelegt.

  • Alles kaputt first, Bedenken second

    Nachdem die Bahn sich weigert, Menschen, die auf ihren Computern selbst root sein wollen, 49-Euro-Tickets zu geben, versuche ich gerade, das Ding vom lokalen Nahverkehrsunternehmen VRN zu kaufen, denn die geben Plastikkarten aus (Lob immerhin dafür). Und weil ich gerade wirklich die Nase voll habe von vermurksten Webseiten (vgl. unten), wollte ich mir das Ding einfach in der „Mobilitätszentrale“ in Heidelberg kaufen. Aber keine Chance:

    Ein Aushang des VRN: das Mobilitätszentrum ist bis auf weiteres am Mittwoch zu, weil die Leute mit 49-Euro-Ticket-Bürokratie beschäftigt sind.

    Mit anderen Worten: Aufgrund des „muss aber digital sein“-Irrsinns, den Bundesverkehrsminister Wissing dem 49-Euro-Ticket verordnet hat, gibts keine Mobilität… szentrale. Ja klasse!

    Mensch vergleiche das insbesondere mit dem entspannten Ablauf beim 9-Euro-Ticket vor einem Jahr. Die Tickets kamen spontan, ohne Abo und ganz normal aus Papier aus dem Automaten, keine Mobilitätszentren mussten schließen, und es gab auch sonst keine nennenswerte Beeinträchtigung der Kundendienste (soweit sie nicht eh schon kaputt waren). Ist es eigentlich schon nachgewiesener böser Wille, wenn Wissing statt eines einfachen und bewährten Verfahrens etwas erzwingt, das rechts und links explodiert?

    Links und rechts? Na klar. Ich versuche seit einer Woche, mir das Juni-Ticket aus der murksigen Bahn-App zu holen und habe dazu mindestens sieben Captchas gelöst, nur im dann immer das hier zu kriegen:

    Foto eines Mobiltelefonbildschirms mit der Meldung 503 Service Unavailable von der Webseite accounts.bahn.de

    Wie oft muss ich das probieren, um bei einem eventuellen Schwarzfahrverfahren keinen Ärger zu bekommen?

    Fast schon überflüssig zu erwähnen, dass vom Bahn-Abo-Support seit letztem Freitag kein Signal kam zu einschlägigen Fehlerberichten außer einer Eingangsbestätigung.

    Nachdem das „Mobilitätszentrum“ zu hatte, habe ich es übrigens doch mit der VRN-Webseite probiert, mit dem erwartbaren Ergebnis. Das Javascript auf https://abo.rnv-online.de/abo/new.aspx landet auf einem luakit mit einem:

    TypeError: $('.nyroModal_2').nyroModal is not a function. (In '$('.nyroModal_2').nyroModal()', '$('.nyroModal_2').nyroModal' is undefined)
    

    in new.aspx (ASP! Für Menschen unter 45: Das sind Active Server Pages, irgendein unsäglicher Microsoft-Scheiß, den ich für längst jenseits von smells funny gehalten habe), Zeile 327 hart, woraufhin die Dialoge nicht mehr gehen (und der blöde Spinner permanent oben auf der Seite steht).

    Mit einem Firefox kommt mensch immerhin weiter, auch wenn das immer noch eine ziemliche Klickerei ist und ich beim ersten Versuch nach all den Einwilligungen magisch wieder neu anfangen musste.

    Sollte wer das lesen, der/die bei der letzten Wahl FDP gewählt („Rasende Porno-Kiffer“, wie fefe so schön gesagt hat) hat: Ohne euch hätten wir immerhin den Wissing nicht, der auch nach Maßstäben von MinisterInnen besonders destruktiv agiert. Schämt euch! Für den ganzen 49-Euro-Scheiß habe ich was gut bei euch.

    Nachtrag (2023-06-07)

    Am Nachmittag habe ich, geduldig wie ich bin, das mit dem Juniticket von der Bahn nochmal probiert. Und siehe da, ich bin an der Authentifizierung vorbeigekommen (ich musste wieder „Planeten“ antatschen).

    Aber was soll ich sagen? Es geht immer noch nicht. Die Meldung, die der „Navigator“ jetzt ausspuckt, ist auch kein Stück besser als das gewohnte 503 von accounts.bahn.de. Wenn ich der Anweisung „Swipe down to Refresh“ folge, bekomme ich nämlich:

    Foto eines Bildschirms mit einem modalen Dialog: „The order could not be found.  Please ensure that you have centered all of the information correctly“

    Was denn für eine „order“? Ich habe keine eingegeben. Ich habe nur runtergeswipt. Welche Information also sollte ich bitte „correctly“ eingeben? Vielleicht anmutiger swipen? Und ja, die Authentifikation scheint ok; jedenfalls zeigt mir das Ding meine Bahncard, wenn ich den entsprechenden Menüpunkt antatsche.

    Was für ein Murks! Funktioniert das überhaupt für irgendwen? Und hat irgendwer auch nur irgendwas vom Abo-Support der Bahn bekommen, das nicht nur die Eingangsbestätigung ist?

    Nach-Nachtrag: Ah. Per Hand hinzufügen (mit dem eigenartigen +-Knopf, der Abo-Nummer und dem Nachnamen) geht. Ha! Was kann da schon schiefgehen?

  • Skandalöse Plotholes: Loriot vs. Scrabble

    Wenn ich gerne mal eine Partie Scrabble spiele, mag das durchaus an Loriots Film Ödipussi aus dem Jahr 1988 liegen. Darin versucht eine ältere Dame („Tante Mechthild“) zunächst, mit dem Wort „Hundnase“ durchzukommen:

    Ein Scrabble-Brett mit einigen gelegten Wörtern, eine Hand vollendet gerade „Hundnase“

    Rechte: Warner Home Video (nehme ich an)

    Das führt natürlich zu einer der großartigen Debatten, ob es nun ein Wort gebe oder nicht und ob es von den jeweiligen Hausregeln her zulässig sei. Die Spielrunde zwingt Mechthild mit strengen Blicken und Kommentaren, das Wort zurückzunehmen. Sie darf es aber – das ist auch schon eine liberale Regelabweichung – nochmal probieren. Auf diese Weise entsteht der Klassiker „Schwanzhund“:

    Das gleiche Scrabble-Brett wie eben, nur vollendet die Hand jetzt „Schwanzhund“

    Rechte: Warner Home Video (nehme ich an)

    Ich weiß gar nicht, wie mir das bisher entgehen konnte, aber: Das ist sehr wahrscheinlich ein Plothole, ein Fehler im Drehbuch. „Schwanz“ sind ja sieben Buchstaben, also alle, die mensch beim Scrabble auf der Hand hat. Wie aber hat sie dann vorher „Nase“, also mit einem E, legen können?

    Es gibt eigentlich nur zwei Erklärungen[1]: Entweder ist Tante Mechthild tüddelig und hat versehentlich acht Steine auf der Hand gehabt (aber hätten ihre strengen MitspielerInnen sie das machen lassen?). Oder sie hat geschickt betrogen und das E gegen einen der Schwanz-Buchstaben ausgetauscht.

    Es mag schon sein, dass in diesem Twist eine subtile Botschaft von Loriot liegt, zumal Mechthilds Behauptung, das seien 57 Punkte, so auch nicht stimmt. Zwar ist richtig, dass mit den Buchstabenwerten des Filmspiels, dem Doppelwert des W und dem dreifachen Wortwert unter dem S 3 × 19 = 57 Punkte rauskommen, aber Mechthild bekommt eigentlich noch den Bonus fürs Ablegen aller Buchstaben und kommt also auf 107 Punkte – es sei denn, sie hat wirklich ein E behalten, weil sie acht Buchstaben auf der Hand hatte (vgl. oben).

    Aber dann passen die Buchstabenwerte nicht zu modernem Scrabble; jedenfalls in den (laut Wikipedia seit 1987) aktuellen deutschen Scrabble-Spielen gibt das C vier Punkte und das W drei Punkte. Ob das in alten Scrabbles anders war? Vielleicht gab es da auch noch keinen 50-Punkte-Bonus? Das gefilmte Spiel ist jedenfalls kein englisches Spiel (in dem die Buchstabenwerte natürlich ganz anders sind), erstens wegen der (deutschen) Beschriftung der Multiplikatorfelder, zweitens, weil es einen Ö-Stein gibt.

    Fragen über Fragen. Wer zur Aufklärung beitragen kann: gerne. Und guckt gar nicht erst: Bei IMDB ist das (noch) nicht kommentiert.

    [1]Dass die beiden Versuche in einem Zug passierten ist klar, weil sich am restlichen Brett nichts änderte. Theoretisch, das sei eingestanden, wäre denkbar, dass sie ihre Buchstaben in ihrem nächsten Zug ausgetauscht hat und ansonsten alle SpielerInnen über zwei Runden nur gepasst oder selbst ausgetauscht haben, aber das hat es wohl in der gesamten Geschichte des Scrabblespielens noch nicht gegeben.
  • Bologna: Die universell gescheiterte Verschwörung

    Foto eines Plakats mit dem Claim: „Tschüss Notengrenze Hallo Master!  Bei den meisten Masterstudiengängen an der Hochschule Coburg gibt es keine Notengrenze mehr!”

    Dieses Plakat ist mir am 2. April in Fürth aufgefallen, und es ist eine schöne Illustration der Tatsache, dass der Bologna-Prozess sogar für die Ministerien komplett in die Hose gegangen ist.

    Meine längere Diatribe über Verschwörungstheorien neulich war inspiriert von dem Plakat auf dem Eingangsbild zu diesem Post, denn es illustriert eine von vielen Weisen, in denen der Bologna-Prozess – Arbeitsdefinition: ungefähre Verfünffachung der Prüfungslast an Hochschulen, mehr dazu gleich – krachend gescheitert ist. In diesem Scheitern ist er wiederum eine besonders schlagende Illustrationen für meine Behauptung gegen Ende des Verschwörungsposts: Verschwörungen – im Sinne von „verabredete Differenzen zwischen öffentlichen und privaten Äußerungen“ – sind zwar tatsächlich allgegenwärtig im politischen Prozess. Paranoid und unzutreffend ist aber die Annahme, diese Verschwörungen würden auch funktionieren, den Verschworenen also die Vorteile bringen, die sie sich erwartet haben.

    Beim Bologna-Prozess und seinen Vorläufern war ich als kleines Rädchen live dabei und hatte sogar eine eigene kleine Seiten-Verschwörung am Laufen: Ich habe nämlich bei der Einführung eines der ersten Bachelor-Studiengänge an der Uni hier mitgewirkt und habe allerlei positive Äußerungen zu Bologna durch meine Mitverschworenen wider besseren Wissens nicht korrigiert. Weil: wir wollten Studis eine Gelegenheit geben, ohne Latinum einen Abschluss zu bekommen, was mit dem alten Magister aussichtslos, mit dem neuen Bachelor jedoch leicht schien. Zu meiner Verteidigung: Ich bin nie so tief gesunken, dass ich den Bologna-Quatsch selbst gelobt hätte.

    Die große Bolognaverschwörung

    Das, was später „Bologna-Prozess“ genannt wurde, muss irgendwann Anfang der 1990er in Gütersloh seinen Ausgangspunkt genommen haben. Eingestandenermaßen war ich da nicht dabei. Ich habe aber genug der sonstigen erzreaktionären („neoliberalen“) Diskurse, die damals in den Mainstream drängten, mitbekommen, um mit großer Zuversicht behaupten zu können, dass sich die in der ostwestfälischen Provinz residierenden Bertelsmann-Manager ungefähr zu dieser Zeit Geschichten dieser Art erzählten:

    Der Bildungsmarkt ist tausend Milliarden Dollar im Jahr [inzwischen viel mehr] schwer. Als moderner Medien- und Dienstleistungskonzern müssen wir einen größeren Anteil davon erobern. Schulbücher sind lukrativ, aber guckt nach Harvard. 25'000 Dollar [inzwischen viel mehr] für ein paar Kurse und Gelegenheiten zum Netzwerken! Zwei Mal im Jahr! Das ist Geschäft![1]

    Der sehnsüchtige Blick nach Harvard war damals eher noch üblicher als er es heute ist. Und so haben sich die Bertelsmänner ans Werk gemacht und überlegt, was es für die Eroberung des Bildungsmarktes wohl bräuchte. Ich paraphrasiere weiter:

    Was die deutschen Universitäten machen, verhindert alle sinnvollen Business-Modelle: Erstmal verschenken sie den Kram, sogar ihre Abschlüsse und Zertifikate! Und dann macht jede ein bisschen andere Kurse mit jeweils ein bisschen anderen Kriterien. Dafür Produkte [dass dieses Wort auf Briefzustellung oder Investment-Glücksspiele oder Vorlesungen anwendbar wurde, ist auch der damaligen Zeit zu… na ja: verdanken] zu entwickeln, ist ökonomisch nicht darstellbar [na gut: das Geschwätz von „darstellbar“ ging glaube ich erst etwas später los].

    Für Bertelsmanns künftiges Geschäft mit „Courseware“ war es also erstens wichtig, das „Produkt“ Studium kostenpflichtig zu machen, zweitens, das „Produkt“ Vorlesungsschein (heutzutage: ECTS-Punkte) zu standardisieren und zu kommodifizieren (meint: zu einer massenproduzierbaren, marktfähigen Ware zu machen). So klar sagten sie das natürlich nicht öffentlich. Zu sehr verbrämten sie es aber auch nicht, was die GEW in einem post-mortem von 2014 schön herausgearbeitet hat:

    Denn [ungefähr im Jahr 2000] forderte Müller-Böling [ein Bertelsmann, vgl. in einem Moment] von der Hochschule als „Dienstleistungsunternehmen“ eben dies: Dienstleistungen in Forschung und Lehre zu produzieren, diese in „Konkurrenz zu anderen Hochschulen“ anzubieten, „auf die Anforderungen des ‚Marktes‘“ möglichst rasch zu reagieren, wobei der Staat sich in diesen Markt nicht einmischen dürfe (so viel zum neoliberalen Theorierahmen des Modells), Leistungen werden aufgrund von Input-Output-Rechnungen beurteilt usw.

    „Marktentwicklung“ umschreibt ganz ausgezeichnet die Mission des Zentrums für Hochschulentwicklung (CHE), das Bertelsmann 1994 aus der Taufe hob. Mit dem Urheber des Zitats im GEW-Zitat, Detlef Müller-Böling, (dessen private Seite mit einer Crapicity von 161 ordentlich vorlegt) fanden sie auch gleich einen hyperaktiven Chef, der die Klaviatur der Medien – egal ob von Bertelsmann selbst (z.B. RTL und Gruner & Jahr) oder von der Konkurrenz – meisterhaft spielte.

    Dass die Bertelsmänner ihren Bildungs-„Thinktank“ ausgerechnet einem Diplom-Kaufmann unterstellten, ist aus verschwörungstheoretischer Warte bemerkenswert ehrlich.

    Wer war mit dabei? Die HRK!

    Mit von der Partie beim CHE war die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), was nicht nur rückblickend als suizidal auf Lemmingniveau zu werten ist. Das schon, weil die Rankings, die das CHE wenig später rauszupumpen begann, die RektorInnen unter heftigen Druck setzten, dem jeweils neuesten Bullshit (häufig geliefert vom CHE selbst) hinterherzurennen.

    Rankings oder nicht: Die verheerenden Auswirkungen des vom CHE geschaffenen „Wettbewerbs“ hätten die (damals fast ausschließlich) Herren Rektoren auch so unschwer vorhersehen können, denn in jedem Wettbewerb zwischen N KonkurrentInnen gibt es (maximal) eineN GewinnerIn – und mithin N − 1 VerliererInnen.

    Zumindest die Figuren jedoch, die die HRK damals dominierten, glaubten, genau sie würden gewinnen, oder (bei realistischer veranlagten Charakteren) es würde wenigstens so viele Titel zu gewinnen geben, dass einer davon schon für sie abfallen würde. Ich glaube, sie glaubten das, weil sie sich eingeredet hatten, sie würden auch mindestens Harvard, wenn sie nur erst Studiengebühren nehmen und gemäß ihrer brillianten „Strategien“ ausgeben könnten. Ein Vertreter der Spezies Rektor, der sich sehr erkennbar mit solchen Gedanken trug, war der Heidelberger Amtsträger Peter Ulmer (zuvor Juraprof), gegen dessen Gebührenpläne schon 1993 zu protestieren war.

    Mit der Gründung des CHE ein paar Jahre später wuchs sich dann der vorher nur sehr allmählich anschwellende Bocksgesang um „Langzeitstudis“ zum ohrenbetäubenden Getöse aus. Er heulte über Menschen, die mehrere Fächer hintereinander studierten – zumeist nur gelegentlich mit Abschlüssen – oder im dreißigsten Fachsemester noch darüber nachdachten, ob sie sich allmählich zur Prüfung anmelden sollten.

    So unsinnig das Getöse war – die „Langzeitstudis“ haben damals niemandem weh getan, und jene von ihnen, die sich irgendwie in die heutige Zeit rübergetrickst haben, tun es immer noch nicht –, es sorgte für haufenweise Akzeptanz für das, was einige Jahre später in Baden-Württemberg Trotha-Tausi hieß, nämlich Strafgebühren von zunächst 1000 Mark, später dann 500 Euro im Semester für Studis ab dem vierzehnten Fach- oder auch mal Hochschulsemester.

    Damit konnten der damalige baden-württembergische Wissenschaftsminister Klaus Trotha (blaublütig und CDU) und sein das Ganze parallel betreibender niedersächsischer Kollege Thomas Oppermann (SPD) einen Einstieg in die Studiengebühren (ihre erinnert euch: Voraussetzung von Teil eins der Bertelmann-Verschwörung) hinbekommen, zumal nennenswerte Teile der Studischaft den Unsinn von den die Unis schädigenden Langzeitstudis selbst zu glauben glaubten.

    Obendrauf gewann die Erzählung von den die Unis im Umkehrschluss „verbessernden“ Studiengebühren spätestens nach dem furchtbaren Ende des 97/98er-Streiks, dessen Agenda rasch vom CHE-Sprachrohr Zeit diktiert wurde, erschreckende Popularität in einer ganzen Generation von Studis. Es dauerte mindestens bis zum Bildungsstreik 2009, bis sich dieses Gift so halbwegs aus den Studihirnen rausgewaschen hatte.

    Eine Versammlung in Bologna

    Dass die Studiengebühren, statt allmählich auf harvardeske Höhen zu steigen, wieder sterben würden, war ziemlich sicher jenseits der Vorstellungswelt der Bertelsmänner, die sich auf der Zielgeraden zur Erschließung des Bildungsmarkts (ihr erinnert euch: Eine Billion Dollar!) wähnten. So begannen sie munter mit dem zweiten Teil ihres Programms: der Kommodifizierung von Hochschulbildung, also der möglichst einheitlichen Strukturierung von Studiengängen in separat handelbare Pakete („Module”).

    Der CHE-Chefideologe Müller-Böling war sich völlig bewusst, dass er mit seinem Gesamtprogramm gegen die Interessen aller Beteiligten handelte:

    Im CHE standen dreißig Leute 36 000 Professoren und zwei Millionen Studenten an achtzig bis hundert Universitäten und rund 260 Fachhochschulen gegenüber, außerdem 16 Landesministerien mit jeweils 300 Mitarbeitern

    – nun, dreißig Leute sowie das Kapital, die Pressemacht und die Netzwerke von Bertelsmann, wenn mensch ganz ehrlich ist; dass sich gerade die willfährigsten Claqueure der Reichen und Mächtigen damals so ein offensichtlich quatschiges Rebellenimage ankleben wollten, fasziniert mich bis heute.

    Angesichts des hinter ihm stehenden ganz großen Bruders Bertelsmann jedenfalls ist Müller-Bölings Jubel von „Ich habe nie gedacht, dass man mit dreißig Leuten Dinge direkt durchsetzen kann” schon zu relativieren. Dennoch ist ihm zu bescheinigen, dass sein Laden die klassische Machttaktik des divide et impera schon sehr geschickt eingesetzt hat. Das allerdings – verschiedenen Gruppen verschiedene Dinge zu versprechen und sie so am Aufbau einer gemeinsamen Gegenwehr zu hindern – hat am Schluss das ganze Projekt ruiniert. Womit ich endlich zum Kern der Verschwörungsgeschichte komme.

    Nachdem nämlich das CHE das Bologna-Programm schon zwei Jahre vor der Erklärung formuliert hatte, haben sie sich zunächst keine Mühe mit Parlamenten oder ProfessorInnen gemacht, sondern sind gleich zu den BildungsministerInnen gegangen. Wie genau es dazu kam, dass diese am 19. Juni 1999 im Rahmen eines Treffens von RektorInnen sich für wichtig haltender europäischer Universitäten in Bologna versammelt waren, weiß ich nicht. Tatsache ist: Sie unterschrieben dort eine allenfalls notdürftig getarnte Fassung des Bertelsmann-Programms (also: Studiengänge sollen aus frei handelbaren Modulen aufgebaut werden).

    Ein Raum mit unfassbar dichten Wandmalerreien, davor moderne Bestuhlung.

    Eine der zwei Aulae Magnae im Archiginnasio in Bologna. Ich glaube, dass in dieser wirren Kulisse die MinisterInnen die Bertelsmann'sche Erklärung unterschrieben haben.

    Dieses Papier geisterte in den folgenden Jahren als Bologna-Erklärung durch die Hochschullandschaft, ganz besonders durch die deutsche, die sich in der Folge von 68 im Vergleich zu vielen anderen recht liberal und wenig gängelig zeigte und deshalb aus Bertelsmann-Sicht besonders viel „Reformbedarf“ hatte.

    Zu vielen zu viel versprochen

    Dass die BildungsministerInnen-Versammlung, die die Forderung damals abgenickt hat, keinerlei politische Funktion hatte – einen „Rat der für Hochschulen zuständigen MinisterInnen“ auf EU-Ebene gab es damals nicht –, war …

  • Eine Xerox 860 in Basel

    Wer einen Blick auf die Verteilung der Teilnehmenden am Museumspass wirft, kann Basel (mit derzeit 67 Einrichtungen in der Region) nicht übersehen: Die Konzentration von Museen und ähnlichem rund um das Rheinknie ist beeindruckend. Deshalb habe ich letzte Woche ein paar Tage dort verbracht und allerlei gesehen, gelernt beziehungsweise bewundert. Und weil eh schon viele von Tinguely reden, möchte ich drei andere Museen hervorheben.

    Erstens will ich für die wunderbare Basler Papiermühle (jaja, die Webseite ist mit Crapicity 33.3 etwas lästig) Werbung machen, in der BesucherInnen Papier schöpfen, Antiqua mit Metall- oder Vogelfedern schreiben und sehen können, wie haarig es war, mit Schreibmaschinen fehlerfreie Texte zu Papier zu bringen.

    Mit besonderer Hingabe habe ich als großer Fan von TeX das Stockwerk mit den Satzmaschinen erkundet. Da steht zum Beispiel noch eine funktionsfähige Linotype, also eine Maschine, in der mit flüssigen Bleilegierungen hantiert wurde, um mehr oder minder automatisch Druckzeilen zu setzen. Welch ein Wunder der Technik!

    Ein komplizierter Mechanismus mit Tastatur und einem stolzen Typenschild „Linotype“ am ca. zwei Meter hohen Gehäuse.

    Mit solchen Höllenmaschinen wurden noch in den 1970er Jahren Zeitungen und Bücher gesetzt. Weil ein Tippfehler dabei zumindest das Neugießen einer ganzen Zeile nach sich zog – an einen automatischen Umbruch eines möglicherweise folgenden Restabsatzes war gar nicht zu denken – waren SetzerInnen wichtige Menschen, und ihre Gewerkschaften hatten erhebliche Macht.

    Dann jedoch kamen allmählich ordentliche Rechner in die Setzereien. Die Papiermühle entstand aus kommerziellen Unternehmen, die die Entwicklung von Unix, troff und TeX in den 1970er Jahren noch verschlafen haben. Daher findet sich dort nur die professionelle Konkurrenz, etwa in Form dieser erstaunlichen Maschine von 1980:

    Ein schreibtischhoher Rechner neben einem Schreibtisch mit einem Hochkant-Monitor und einer großen gelben Tastatur.

    Es handelt sich um eine Xerox 860, eine für „Textverarbeitung“ geschaffene Maschine mit Schwarz-auf-Weiß-Display (ich vermute allerdings, dass es furchtbar geflimmert hat) und, wie ich in Basel zum ersten Mal gesehen habe, sogar einem Touchpad (ganz rechts in der Tastatur). 1980!

    Ich hätte gerne gesehen, was das Touchpad wohl gesteuert hat, aber leider war ich zu feige, das Museumspersonal um eine Demonstration zu bitten. Wahrscheinlich ist das Teil aber tatsächlich nicht mehr lauffähig, und zwar weil die Software schon von Diskette kam, wenn auch von den riesigen Floppies der ersten Generation mit einem Durchmesser von acht Zoll (das ist so in etwa A4-Breite). Ich wäre überhaupt nicht überrascht, wenn alle Floppies dieser Art inzwischen komplett durch wären – und wenn sie es nicht sind, würde ich erwarten, dass die Antriebsriemen der gigantischen Laufwerke inzwischen so ausgeleiert sind, dass auch von guten Floppies nichts mehr zu lesen wäre.

    Aber wer weiß? Wenn ich nochmal in der Papiermühle bin, muss ich einfach mal fragen – allein der Headload[1] von Laufwerken in der Größe wird mir wahrscheinlich das Herz wärmen, denn als ich in den späten 1980er Jahren Zivildienst im Krankenhaus leistete, gab es die Achtzöller auch noch im Siemens-CT des Hauses (während der Rest der Welt bereits die auf sie folgenden 5 ¼-Zöller zugunsten der 3 ½-Zöller, die noch heute viele „Speichern“-Icons zieren, beerdigt hatte). Es wäre jedenfalls schon schön, die markerschütternden Headloads nochmal zu hören.

    Ansonsten illustriert die Papiermühle immer wieder überdeutlich, wie mühsam und arbeitsintensiv jeder Schritt der Produktion von Druckmaterial – Papierherstellung, Satz, Vervielfältigung, Binden – noch vor fünfzig Jahren war. Wie eigentlich immer, wenn ich irgendwo sehe, wie viel wir automatisiert haben (oder automatisieren könnten), frage ich mich ernsthaft, wie es sein kann, dass wir ganz wie zu Zeiten unserer Großeltern immer noch 40 Stunden die Woche (oder mehr) lohnarbeiten. Wieso genau lassen wir uns mit all den dämlichen „Dienstleistungen“, Wettbewerben, Geschäftsführungen und Sicherheitsjobs beschäftigungstherapieren, statt endlich mal die Produktivitätsfortschritte in frei und sinnvoll verwendbare Zeit zu übersetzen?

    Beispiele für das, was Menschen mit frei verwendbarer Zeit anfangen könnten, sind sehr schön versammelt im zweiten Baseler, nun ja, Museum, das ich hier erwähnen möchte: Den Spielzeug Welten. Jaklar, das Leerzeichen ist doof, und ich gebe offen zu, dass ich angesichts des des prätentiösen Namens vielleicht eher mit einem Abriss über das Spiel in der Kultur gerechnet hätte, mit Halma, Spielkarten (zu denen es übrigens in der Papiermühle einiges gab), Modelleisenbahnen oder (jetzt wieder aktuell) Spielzeugpanzern.

    Das sind die „Spielzeug Welten“ nicht. Stattdessen sind fast ausschließlich Unmengen von Teddybären und Puppenstuben zu sehen und, zwischen herzig und verschroben, haufenweise Puppendioramen, die ganz klar niemals für Kinder gedacht waren. Leider ist das alles nicht so überwältigend gut kuratiert (meint: beschriftet). Selbst mit Infos aus bereitstehenden Computern wird der Kontext nicht immer ganz klar, was ich besonders traurig fand bei den aus meiner Sicht bizarrsten Exponaten: Einer Puppenstuben-Kapelle mit Kruzifix, Priester und allen Schikanen (welche blasphemischen Spiele hätten damit stattfinden sollen?) sowie einer Folterkammer als Puppenstube:

    In Bauntönen gehaltenes Modell einer Folterkammer mit Streckbank, eiserner Jungfrau, Pranger usf.

    Hier hätte mich sehr interessiert, wer dieses Ding wann wo und für wen gemacht hat.

    Ein lobendes Wort will ich noch zu einem dritten Baseler Museum loswerden: Im Naturhistorischen Museum gibt es neben vielen sorgfältig arrangierten Tierpräparaten vier besonders wunderbare Exponate, die den Fortgang der wissenschaftlichen Vorstellungen der Gestalt von Iguanodonen nachzeichneten. Zwischen den ersten Versuchen von Mantell im frühen 19. Jahrhundert (inklusive dem Daumenknochen als Nashorn) und den heutigen Zweibein-Läufern bestehen beeindruckend wenig Parallelen.

    Vielleicht wäre noch ein Hauch mehr Text zur Frage, warum sich die Vorstellungen so geändert haben, hilfreich gewesen, aber als Illustration des Wissenschaftsprozesses ist sowas einfach großartig. Leider spiegelte das Glas, hinter dem die Modelle standen, ziemlich schlimm; aber diese schnelle Montage mag dennoch einen Eindruck geben von der Evolution der Iguanodon-Vorstellungen (von links oben nach rechts unten):

    Vier Dinosauriermodelle von etwas Leguanähnlichem mit Einhorn über eine Eidechse mit breitem Schädel über ein Kängurudings bis zu einer vegetarischen Variante von T. Rex.
    [1]Für die, die nur noch kleine oder gar keine Floppies mehr kennen: die Schreib-Lese-Köpfe dieser Laufwerke saßen auf einer Art Hebel-Konstruktion, auf der auch der Schrittmotor montiert war, der sie über die Spuren bewegte. Beim Zugriff auf Daten klackte die ganze Moped mit einem ziemlich satten Sound gegen einen Anschlag, was als Headload bezeichnet wurde. Das Booten eines Rechners von Floppy erzeugte so einen für Betriebssystem und Version charakteristischen Schlagzeug-Track; bis heute habe ich CP/M-86 auf dem Siemens PC 16/10 im Ohr…
  • Iberische Schwertwale gegen Segelboote 50:0

    Größenvergleich eines Schwertwals zu einem Menschen (der vielleicht ein Drittel der Länge hat)

    Bei der Lektüre dieses Posts sollte mensch den Größenvergleich zwischen Menschen und Schwertwalen im Kopf haben (CC-BY Chris Huh).

    Wer meinen Beitrag zu menschenverzehrenden Pelztieren gelesen hat, wird nicht überrascht sein, dass mich ein Post auf Fefes Blog gestern auf Anhieb fasziniert hat. Er hat berichtet von „Angriffen“ von Orcas (auf Deutsch: Schwertwale; sachlich sind das besonders große Delfine, was Free Willy und Fortsetzungen geschickt kommerzialisiert haben) auf Boote im Atlantik vor Spanien, Portugal und noch ein bisschen Frankreich. Was immer da nun ganz aktuell passiert: Schon nach ein paar Klicks bin ich bei einem ordentlichen wissenschaftlichen Artikel gelandet, den ich mit einiger Faszination gelesen habe.

    Es handelt sich um die 2022 im Wiley-Blatt Marine Mammal Science erschienene Studie „Killer whales of the Strait of Gibraltar, an endangered subpopulation showing a disruptive behavior“, geschrieben Ende 2021 von Ruth Esteban vom Walmuseum in Madeira sowie KollegInnen aus einer beeindruckenden Menge verschiedener Institute aus den „betroffenen“ Ländern (doi:10.1111/mms.12947; leider gepaywallt und noch nicht bei libgen).

    Bekannte Täterinnen

    Vorneweg: Die Tiere heißen auf Englisch „killer whale“, nicht, weil sie gerne Menschen umbringen – tatsächlich hat sich offenbar noch kein wildlebender Orca für Menschen als Nahrung interessiert –, sondern weil sie ihre Beute gerne in einem recht blutigen Spektakel zerlegen. Dennoch fand ich die Vorstellung, dass da ein fast zehn Meter großes Tier mit jedenfalls sehr variablen Nahrungspräferenzen etwa an meinem Schlauchboot rumuntersucht, ganz entschieden gruselfilmtauglich.

    Meine erste Überraschung in dem Paper war nun, dass die „Täterinnen“ der Übergriffe auf die Boote wohlbekannt sind: Beim letzten Zensus im Jahr 2011 bestand die fragliche Population überhaupt nur aus 39 Individuen. Aufgrund von reichlichen Film- und Fotoaufzeichnungen konnten nun Esteban et al identifizieren, welche von denen sich an den Booten zu schaffen machten. Es stellte sich heraus: Die 50 „Interactions“ im Zeitraum von (im Wesentlichen) Mai bis Oktober 2020 gingen auf zwei Gruppen aus nur ingesamt 9 Tieren zurück.

    Eine sorgfältig zusammengestellte Tabelle der tierischen Kampagnen im Paper zeichnet recht deutlich das Bild, dass die Schwertwale spätestens ab August 2020 angefangen haben, praktisch täglich Bootfahrende zu belästigen. Mensch könnte den Eindruck gewinnen, sie hätten ein neues Hobby entdeckt.

    Ein Faible für Segelyachten

    Esteban et al schlüsseln das Walspielzeug nach Bootstypen auf. Populär sind vor allem Segelboote, was ich gut verstehen kann, denn ohne rotierende Schiffschraube sind die Dinger aus Orcasicht deutlich weniger gefährlich. Immerhin haben sie aber drei Mal auch Zodiacs untersucht, also etwas bessere Schlauchboote – hoffenlich hatten die Leute in den Nussschalen (die ja vermutlich deutlich kleiner waren als jeder einzelne der Wale) stahlharte Nerven.

    Zumindest im von Esteban beobachteten Zeitraum haben die Schwertwale die Boote aber erkennbar nicht kaputt machen wollen; sie haben eher für eine halbe Stunde oder so an ihnen rumgespielt, wobei sie fast immer das Steuerruder besonders interessierte. „Rumspielen“ ist mein Wort, aber die Beschreibung aus dem Paper legt das Wort schon sehr nahe:

    Wenn die Wale engeren Kontakt aufnehmen, üblicherweise am Steuerruder, drücken sie entweder mit ihren Köpfen und machen eine Hebelbewegung mit ihren Körpern, um das Blatt zu drehen. In manchen Fällen haben sie das Boot dabei um fast 360° gewendet. Je höher die Geschwindigkeit des Bootes oder je stärker die Besatzung um die Kontrolle des Steuerrades rang, desto mehr und stärker drückten die Wale in der Regel.

    Angefangen haben sie üblicherweise bei guter Fahrt des Bootes (gerne was wie 15 km/h, was für so einen Schwertwal kein großes Problem ist). Wenn das Schiff angehalten hat, ist es ihnen langweilig geworden und sie sind weitergezogen. Die Ausgänge „kaputt“, „beschädigt“ und „kein Schaden“ (jeweils im Hinblick auf das Steuerruder) sind dabei so in etwa gleich verteilt.

    Ich finde ja schon bemerkenswert, dass gerade mal neun Individuen so ein Bohei die Küste rauf und runter verursachen können, auch wenn es schon ziemlich große Tiere sind. Tatsächlich haben ihre Exploits die staatlichen Autoritäten zur Sperrung von Seegebieten gebracht:

    The Spanish Maritime Traffic Security authorities prohibited the coastal navigation for small (<15 m) sailing vessels where interactions were concentrated at the time.

    Vorboten des Schwarm-Szenarios?

    Eine wirklich gute Erklärung dafür, was den Walen das Interesse an den Steuerrudern beibrachte, haben auch Esteban et al nicht. Die Möglichkeit, sie würden damit ein unangenehmes Erlebnis etwa mit Fischern verarbeiten (die iberischen Schwertwale klauen gerne Thunfische aus menschlichen Fanggeräten), finde ich jedenfalls nicht plausibel, denn Fischerboote scheinen sie nur aus Versehen mal angerempelt zu haben.

    Hier hätte ich mal eine Geschichte, die ich gerne glauben würde: die Wale fanden die Ruhe während der Corona-Lockdowns zwischen März und Mai total klasse und dachten sich, sie könnten das wieder haben, wenn sie den FreizeitskipperInnen genug auf die Nerven fallen; die Fischerboote würden sie schon hinnehmen, solange die ihnen Thunfische fangen.

    Der Charme dieser Geschichte: Wenn die spanischen Behörden in der Folge das Meer sperren, wenn die Wale irgendwo auftauchen, wäre das nette eine positive Konditionierung: die Spiele der Wale würden wirklich für mehr Ruhe am Wasser sorgen. Das aber würde schön erklären, warum sich das Verhalten ausbreitet – wenn es das denn wirklich tut.

    Ob das gegenüber dem Stand vor anderthalb Jahren wirklich so ist: Mal sehen, was Esteban et al demnächst so veröffentlichen. Ich habe trotz meines generellen Grusels vor ORCID (keine Verwandschaft mit Orca) kurz einen Blick auf Ruth Estebans ORCID-Seite geworfen. Jetzt gerade ist das besprochene Paper die letzte Publikation. Aber angesichts des Medienrummels um ihre Schwertwale wirds dabei sicher nicht bleiben.

    Unterdessen: Ebenfalls von 2021 ist dieser Vortrag von Ruth Esteban, in dem sie Videos der Walbegegnungen zeight. Wie viel nützlicher wäre der, wenn sie eine vernünftigte Lizenz draufgemacht hätten!

    Nachtrag (2023-06-25)

    In Forschung aktuell vom 26. Mai gab es eine schöne Fortsetzung dieser Geschichte, die den Score auf 500:0 legt. Gegen Ende werden Verhaltenstipps diskutiert. Vor allem: Einfach nicht dort segeln, wo die Orcas sind. Wenn die Leute das wirklich machen, wäre ich neugierig, was die Reaktion der Orcas ist…

  • Fiebrige Einsichten, von Veit Etzold vermittelt (eine Buchkritik)

    Die Behauptung, Reisen erweitere den Horizont, ist sicher eine der abgedroscheneren Weisheiten, die einen Artikel eröffnen können. Nun: hier habe ich eine aktuelle Illustration für ihre fortbestehende Wahrheit.

    Kaum überraschend bin ich nämlich von meiner ersten großen Auslands-Dienstreise (immerhin noch ohne die Erniedrigung des Flugverkehrs) mit einer aktuellen Variante von SARS-II zurückgekommen. Diese brachte mein Immunsystem mächtig auf Touren („Calor, Dolor, Tumor, Rubor“, in meinem Fall vor allem Calor bis 39 Grad und bejammernswerte Mengen Dolor). In Summe: Ich konnte für drei Tage im Wesentlichen nichts tun als Audiobücher hören, die ich bei vergangenen Reisen aus dem ICE-Portal der Bahn aufgenommen habe. Eines davon war „Die Filiale“ des Wirtschafts-Motivationspredigers Veit Etzold.

    Vielleicht ist das Werk selbst nicht sehr bemerkenswert, doch seine Verbreitungsweise ist es: Da es bei Argon erschienen ist (und auch als richtiges Buch bei Droemer), muss es wohl durch mindestens ein Lektorat gegangen sein. Und danach muss es immer noch wer fürs ICE-Portal ausgewählt haben. Irgendwo auf diesem Weg sollte doch jemand selbst angesichts eines Promi-Autors („Promi“ nehme ich jedenfalls an; ich kannte Etzold bis jetzt nicht) die Anmerkung gewagt haben, dass die Personen der Geschichte sprechen und handeln wie auf schlecht übersetzte US-Soaps trainierte Schaufensterpuppen?

    Ich finde weiter, ein Lektorat hätte merken müssen, dass die weit mehr künstlich als kunstvoll eingebauten Versuche, zweifelhafte „Finanzprodukte“[1] zu erklären und ein paar Brocken Französisch einzustreuen, einen Cringe-Faktor haben wie Marie Louise Fischers Hausgespenst-Schmonzetten (1976 bis 1982; für Kinder der Zeit sowie Neugierige entleihbar bei libgen) aus dem Schneider-Verlag unseligen Angedenkens[2]. Auch diese versuchten es mit übermäßig beiläufig eingestreuten Bildungshäppchen zu Pferdepflege, bayrischer Geographie, Kreuzfahrtschiffen und eben auch Französisch.

    Dazu tritt das zu billig rekrutierte Personal der Geschichte, das im Wesentlichen aus relativ glücklich verheirateten, berufstätigen, einfamilienhausbewohnenden Schwabos[3] um die 40 besteht, die mit, na ja, Internetfirmen und von diesen unterwanderten Traditionsbanken um ihr liebevoll ausgebautes – wenn auch nur gemietetes – Einfamilienhaus samt kameraüberwachten Gartenzwergen ringen.

    Also schön: das mit den Gartenzwergen habe ich erfunden: In der Wirklichkeit des Buchs videoüberwacht der liebenswerte, wenn auch etwas trottelige Gatte der Bankangestellten-Heldin gleich die ganze Straße; dass Etzold schließlich die Rettung der ab Mitte des Werks außertariflich Bezahlten auf diese niederträchtige Schurkerei aufbaut und bei der Gelegenheit noch etwas Anti-DSGVO-Ressentiment unterbringt, das hätte es selbst in diesem Roman wirklich nicht gebraucht.

    Das ganze Szenario wirkt um so artifizieller, als in Etzolds Welt die Männer Handwerker (oder bestenfalls FH-Absolventen auf dem Sprung aus Besoldungsgruppe A11) sind, während die Frauen zumindest akademischen Habitus zeigen. Ich wittere da aus der ollen rechten Sorge vor der „Überakademisierung“ der Bevölkerung geborene Träume, denn in der Realität sind schichtenübergreifende Ehen in dieser Kombination sehr wahrscheinlich immer noch die große Ausnahme (da bin ich mir so sicher, dass ich keine Belege dafür suche).

    Und auch wenn ich kein Diversitätsfass aufmachen will, ist es für eine Geschichte, die in Berlin spielt, eigentlich schon ein politisches Statement, wenn als einzige erkennbare Nichtschwabos zwei tschetschenische Killer und ganz kurz ein dicker, rauchender Franzose auftreten.

    Bei aller Kritik, und nun kommt das mit der Horizonterweiterung (denn ohne Reisen hätte ich weder jetzt SARS-II eingefangen noch das Etzold-Buch gehört), hat mir das Buch eine ganze Welt in Plastorama vorgespielt: Menschen, die mit ihren KollegInnen um die Beförderung zur stellvertretenden Filialleitung konkurrieren und die Arbeitsnutzerrede vom Betriebsrat als Abhängebude erst dann kurz vergessen, wenn es wirklich brennt, deren Internet aus lauter proprietären Plattformen, aus Markennamen besteht (aus dem Kopf: Reddit, Linkedin, Xing, Instagram, Whatsapp, erstaunlicherweise aber nach meiner Erinnerung weder Amazon noch Twitter), die ständig im Auto – einem „Amarok“ zumal, wenn sie im Wald Tiere totschießen wollen[4] – umherfahren und die ansonsten ihre triste Existenz mit Grillfleisch, Rotwein, Caipirinha, Starbucks-Karamelkaffee und Bekannten aus der Muckibude aufhellen.

    Wie mir Vorleserin Verena Wolfien das alles durchaus gekonnt in mein Fieberdämmern hineintrug, kam es mir in der irritierenden Kombination von hölzerner Prosa und thermoplastischer Handlung wie eine komische und wüste Dystopie im Stil von David Lynch vor. Bis ich merkte, dass das vermutlich unfair ist. Klar ist die Geschichte grob holzgeschnitzt, aber das Internet besteht für viele Menschen ja tatsächlich im Wesentlichen aus einer Handvoll proprietärer Plattformen. Nennenswert viele Menschen arbeiten, glaube ich, tatsächlich ernsthaft auf eine Beförderung hin, ganz gleich, wie sinnlos oder gar unmoralisch („Anlageberaterin“) schon ihre bestehende Tätigkeit ist.

    In meinem Fieber fühlte sich diese Einsicht recht profund an. Wahrscheinlich ist sie das nicht, aber gut sind solche Erinnerungen an die Blasenhaftigkeit der eigenen Weltwahrnehmung dann und wann bestimmt. Außerdem war die Erleichterung angenehm, als im nächsten Hörbuch („Acht, in Böen Neun” von Michael Wirbitzky, der als Hörfunkmensch eingestanden auch bessere Voraussetzungen hat; wenns das im Bahn-Portal noch gibt, lohnt es sich durchaus) Leute wieder wie halbwegs echte Buchmenschen redeten.

    Oh, und… Herr Etzold, sollten Sie das lesen und wirklich einen Bildungsauftrag verspüren: Nein, schon als Sie das Buch schrieben, war ein UMTS-Modul in einem Computer keine gute Wahl mehr für mobilen Internetzugang. Ein schneller Blick in die Wikipedia (oh ja: wertvoll, obwohl ohne Preis) hätte Ihnen gesagt, dass in der BRD schon Ende 2021 mit UMTS kein Blumentopf mehr zu gewinnen war (in der Praxis war für mich schon Mitte 2021 Schluss), also im Wesentlichen simultan zur Gamestop-Geschichte, auf die Sie im Buch anspielen.

    Für die nächste Auflage des Buches schlage ich eingedenk dessen ein durchgreifendes De-Branding vor. Hier zum Beispiel: „Funkmodem”. Allerdings gebe ich zu, dass ein Wort wie „Karrierenetzwerk“ den Tatbestand von Linkedin und Co zur Kenntlichkeit verzerrt, was vielleicht der Kunst (oder was immer) nicht wirklich hilft. Hmja.

    [1]Was ich davon mitgenommen habe: Wandelanleihen sind Mist, weil daran allenfalls die Bank verdient. Zur Kritik des gesamten Konzepts von Reichwerden mit Geldspielen kommt, das sage ich gleich mal, im Buch nichts; aber das wäre vielleicht auch etwas viel verlangt von einem, der bei der HAW Aalen als BWL-Professor auftritt (angesichts der hohen Lehrbelastung an Ex-Fachhochschulen und Etzolds Wohnsitz in Berlin werden bei diesem Job aber wohl mildernde Umstände im Spiel sein).
    [2]Beim Wikipedia-Stöbern zu alten Schneider-Autoren habe ich zu meiner endlosen Überraschung erfahren, dass der Autor der doch sehr stulligen (aber von mir seinerzeit heißgeliebten) Schreckenstein-Romane, Oliver Hassencamp, Gründungsmitglied der Münchner Lach- und Schießgesellschaft war. Oh?
    [3]Schwabo ist die (eine?) Bezeichnung für „Deutsche“ im Serbokroatischen gewesen. Weil ich immer noch Abbitte leisten will für das Unheil, das Genschers Großmachtfantasien vom Dezember 1991 (und u.a. meine Unfähigkeit, rechtzeitig effektiv etwas gegen sie unternehmen) über dessen SprecherInnen gebracht haben, ziehe ich das Wort dem üblicheren „Kartoffel“ vor.
    [4]Wobei unklar bleibt, wie sich der Betreiber eines Schlüsseldienstes diese Sorte exklusives Hobby eigentlich leisten kann.
  • Irgendwo in Afrika

    Heute morgen durfte im Deutschlandfunk der schwäbische CDU-Bundestagsabgeordnete Thorsten Frei eine Viertelstunde lang weitgehend unwidersprochen „Ausländer raus“ durchdeklinieren, was vermutlich wieder niemand skadalisieren wird. Normalität im Afrikamanagement halt.

    Vielleicht zum Trost ist dem Interviewenden Philipp May ein Lapsus unterlaufen. Ich hoffe ja, er ist dem Stress zuzuschreiben, dem Interviewten nicht ins Gesicht zu sagen, dass er da in einem Fort ziemlichen Faschokram erzählt rechte Narrative bedient:

    May: …werden jetzt zum Beispiel äh ihre Menschen äh ihre Geflüchteten ähm nach nach ähm sagen Sie schnell – Frei: Ruanda – May: Ruanda, danke bitte, äh, danke

    Wenn das ganze Interview nicht so ein fieser Mist wäre, bei dem Menschen mit Bürokratensprache wie „Nichteinreisefiktion“ in Volk und Nicht-Volk sortiert werden, wäre das eigentlich eine schöne Variation des Themas Live.

  • Feedback and Addenda in Pelican Posts

    Screenshot: a (relatively) rude comment and a reply, vaguely reminiscent of classic slashdot style.

    Blog comments may be dead out there; here, I'd like to at least pretend they're still alive, and thus I've written a pelican plugin to properly mark them up.

    When I added a feedback form to this site about a year ago, I also created a small ReStructuredText (RST) extension for putting feedback items into the files I feed to my blog engine Pelican. The extension has been sitting in my pelican plugins repo on codeberg since then, but because there has not been a lot of feedback on either it or the posts here (sigh!), that was about it.

    But occasionally a few interesting (or at least provocative) pieces of feedback did come in, and I thought it's a pity that basically nobody will notice them[1] or, (cough) much worse, my witty replies.

    At the same time, I had quite a few addenda to older articles, and I felt some proper markup for them (plus better chances for people to notice they're there) would be nice. After a bit of consideration, I figured the use cases are similar enough, and I started extending the feedback plugin to cover addenda, too. So, you can pull the updated plugin from codeberg now. People running it on their sites would certainly be encouragement to add it to the upstream's plugin collection (after some polishing, that is).

    Usage is simple – after copying the file to your plugins folder and adding "rstfeedback" to PLUGINS in pelicanconf.py, you write:

    .. feedback::
        :author: someone or other
        :date: 2022-03-07
    
        Example, yadda.
    

    for some feedback you got (you can nest these for replies) or:

    .. addition::
      :date: 2022-03-07
    
      Example, yadda.
    

    for some addition you want to make to an article; always put in a date in ISO format.

    In both cases a structured div element is generated in the HTML, which you can style in some way; the module comment shows how to get what's shown in the opening figure.

    The extension also adds a template variable LAST_FEEDBACK_ITEMS containing a list of the last ten changes to old posts. Each item is an instance of some ad-hoc class with attributes url, kind (feedback or addendum), the article title, and the date. On this blog, I'm currently formatting it like this in my base template:

    <h2>Letzte Ergänzungen</h2>
    <ul class="feedback">
    {% for feedback_item in LAST_FEEDBACK_ITEMS %}
            <li><a href="{{ SITEURL }}/{{ feedback_item.url }}">{{ feedback_item.kind }} zu „{{ feedback_item.title }}“</a> ({{ feedback_item.date }})</li>
    {% endfor %}
    </ul>
    

    As of this post, this block is at the very bottom of the page, but I plan to give it a more prominent place at least on wide displays real soon now. Let's see when I feel like a bit of CSS hackery.

    Caveats

    First of all, I have not localised the plugin, and for now it generates German strings for “Kommentar” (comment), “Nachtrag” (addendum) and “am” (on). This is relatively easy to fix, in particular because I can tell an article's language from within the extension from the article metadata. True, that doesn't help for infrastructure pages, but then these won't have additions anyway. If this found a single additional user, I'd happily put in support for your preferred language(s) – I should really be doing English for this one.

    This will only work with pages written in ReStructuredText; no markdown here, sorry. Since in my book RST is so much nicer and better defined than markdown and at the same time so easy to learn, I can't really see much of a reason to put in the extra effort. Also, legacy markdown content can be converted to RST using pandoc reasonably well.

    If you don't give a slug in your article's metadata, the plugin uses the post's title to generate a slug like pelican itself does by default. If you changed that default, the links in the LAST_FEEDBACK_ITEMS will be wrong. This is probably easy to fix, but I'd have to read a bit more of pelican's code to do it.

    I suppose the number of recent items – now hardcoded to be 10 – should become a configuration variable, which again ought to be easy to do. A more interesting (but also more involved) additional feature could be to have per-year (say) collections of such additions. Let's say I'm thinking about it.

    Oh, and error handling sucks. That would actually be the first thing I'd tackle if other people took the rstfeedback plugin up. So… If you'd like to have these or similar things in your Pelican – don't hesitate to use the feedback form (or even better your mail client) to make me add some finish to the code.

    [1]I made nginx write logs (without IP addresses, of course) for a while recently, and the result was that there's about a dozen human visitors a day here, mostly looking at rather recent articles, and so chances are really low anyone will ever see comments on old articles without some extra exposure.
  • Ach Bahn, Teil 12: „Digitales“ 49-Euro-Ticket

    Foto eines altmodischen Telefons mit einem anonymisierten Barcode im Display

    Das Happy End dieses Artikels: Ich habe das 49-Euro-Ticket auf Rechnern unter meiner Kontrolle (neben dem N900 im Bild auch noch auf meinem ordentlichen Computer).

    Ich habe mir ein 49-Euro-Ticket von der Bahn gekauft. Ich hätte das, der Kritik von freiheitsfoo folgend, besser nicht tun sollen, aber das 9-Euro-Ticket hat mir viel Spaß gemacht, und monatliche Kündigung und so… da habe ich verdrängt, dass Wissing von „digital“ geredet hat, was ja bei weniger EDV-affinen Menschen in der Regel heißt: „Ist in meinem Handy“ bzw. „Google macht das für mich“ (also für mich: „Vergiss es“). Da aber eine Bahn-FAQ erklärte, wie mensch das „Ticket in die App“ bekommt, war mein Umkehrschluss, dass das Ticket erstmal nicht in der „App“ ist und also für mich verwendbar. Wegen dieses Fehlschlusses bekam die Bahn meine 49 Euro und ich einen Haufen Ärger.

    Denn nach der Bezahlung kam aber nicht wie gewohnt ein PDF mit dem QR-Code – was für die Bahn wirklich kein Problem wäre –, sondern ein dämlicher Text, der mich aufforderte, das Ticket in meinem „DB Navigator” zu „öffnen“.

    Digitalisierung: Zwei Stunden Arbeit von Kauf bis Erhalt

    Tja: Dieses Programm („App“) gibts jedenfalls offiziell nur mit Google-id und nur auf relativ wenigen Typen von Hardware, und drum habe ich es nicht. Ich knirschte also mit den Zähnen und habe erstmal eine diesbezügliche Frage an die immerhin angegebene Kontaktadresse (Lob: ganz normale Standard-Email) geschickt – aber von da kam nur eine gutgelaunte Eingangsbestätigung zurück:

    Derzeit kann es aufgrund des hohen Bestellaufkommens zu Verzögerungen kommen. Wenn´s [falsches Auslassungszeichen im Original] ein wenig länger dauert: Wir haben Sie nicht vergessen, wir melden uns.

    Nun – bis dahin ist der Mai vorbei, und dann brauche ich auch keine Information mehr.

    Ich knirschte dann heute morgen lauter mit den Zähnen und dachte mir: Na ja, wenn ich mir schon mit dem Bahn-Bonus-Quatsch Android eingetreten habe, kann ich da ja vielleicht noch den „DB Navigator“ dazupacken – ich brauche das ja nur ein Mal im Monat, um den QR-Code runterzuladen. Also bin ich wieder zum etwas dubiosen[1] apkpure.com gegangen. Dort gibt es auch ein paar Dinge, die „DB Navigator“ heißen, aber die alle kommen nicht als apk, sondern als xapk. Hu?

    Mit etwas Recherche stellt sich xapk als so eine Art informeller Standard aus der Android-Piratencommunity heraus, in dem zusammengesetzte Pakete, die Google vermutlich über Abhängigkeiten aus dem Appstore ausliefert, in einer Zip-Datei kommen. In dem Navigator-xapk von apkpure finden sich insbesondere auch zwei Pakete, in deren Dateinamen arm64 drinsteht, und ich begann zu ahnen, dass das ohne dedizierte Telefonhardware wenig Spaß machen würde.

    Tatsächlich habe ich nach ein paar Experimenten mit pm install (so installiert mensch Pakete auf der Android-Shell) und den Nicht-arm64-Paketen, die alle mit nutzlosen und/oder kryptischen Fehlermeldungen endeten, auch aufgegeben.

    Digitalisierung: Datenübertragung durch Foto

    Stattdessen habe ich ein Google-administriertes (aber nicht -registriertes, also: Kein Playstore) Telefon, das mir mal ein netter Mensch überlassen hat, ausgepackt, die ganze Google-Belästigung weggetatscht, ultramutig einen Piraten-xapk-Installer draufgeklatscht, der nun sicher alle meine Credentials zu irgendwelchen Kids in Wladiwostok schickt (ein Glück, dass das nur meine Bahn-Credentials betrifft; trotzdem: Danke, Bahn), wieder Google-Belästigung weggetatscht, den blöden „DB Navigator“ von apkpure draufgebügelt, wieder Google-Belästigung weggetatscht und tatsächlich: Die Bahn hat mir die Karte, die ich gekauft habe, nun auch endlich gegeben:

    Foto eines Mobiltelefons mit einem 49-Euro-Ticket im DB Navigator

    Nur zur Rechtfertigung: Den QR-Code habe ich verwürfelt, mir die Bahn ansonsten das hart errungene Ticket gleich wieder zurückruft.

    Welcome to digital capitalism, wo du erstmal zwei Stunden basteln und fummeln und irgendwelchen Kids aus Wladiwostok Zugriff auf deinen (Wegwerf-) Computer geben musst, damit du neu erworbenen Krempel auch bekommst. Fast so klasse wie Onlinehandel.

    Es gab aber noch ein zweites Problem: Wie bekomme ich den so erkämpften QR-Code nun aus dem Android-Silo raus? Ich habe schnell beschlossen, dass ich überhaupt keinen Nerv habe rauszukriegen, wo die Kiste ihre Screenshots speichert. Mein Kopf ist schon beim Lokalisieren der Chrome-Downloads während meiner Android-x86-Versuche explodiert. Noch weniger Lust hatte ich, zur Datenübertagung einen sshd auf das Telefon zu installieren, das ich Minuten vorher den Kids aus Wladiwostok übereignet hatte.

    Und so habe ich, es lebe die Digitalisierung!, das Foto oben gemacht, es aus der Kamera in einen richtigen Computer gezogen und dort entzerrt. Und so habe ich jetzt ein PNG mit dem QR-Code.

    Auf dem N900

    Das wiederum hat den Vorteil, dass ich mein gutes, altes Corona-Impfpass-Skript für den Nokia N900 (vgl. Foto oben) weiterverwenden kann. Das hat während der 3G-Zeiten gut funktioniert: Es zieht das PNG auf den Bildschirm, stellt das Backlight auf krass hell und macht nach 45 Sekunden alles wieder rückgängig – ich war damit fast immer schneller und unproblematischer durch Checkpoints durch als Leute mit der offiziellen App.

    Wer noch einen N900 mit hinreichend originalem Maemo hat, mag das vielleicht nützlich finden (es geht davon aus, dass ihr das Zertifikat als 49-euro.png ins Homeverzeichnis gelegt habt):

    #!/bin/sh
    /usr/bin/dbus-send --print-reply --dest=com.nokia.image_viewer /com/nokia/image_viewer com.nokia.image_viewer.mime_open string:file:///home/user/49-euro.png
    /usr/bin/dbus-send --print-reply --system --dest=org.freedesktop.Hal /org/freedesktop/Hal/devices/computer_backlight org.freedesktop.Hal.Device.LaptopPanel.SetBrightness int32:255
    sleep 45
    /usr/bin/dbus-send --print-reply --system --dest=org.freedesktop.Hal /org/freedesktop/Hal/devices/computer_backlight org.freedesktop.Hal.Device.LaptopPanel.SetBrightness int32:20
    killall image-viewer
    

    Wenn das in /home/user/mybin/passhow.sh steht, geht es gut zusammen mit einer Datei covpass.desktop im Verzeichnis /usr/share/applications/hildon, in der sowas hier steht:

    [Desktop Entry]
    Version=1.0
    Encoding=UTF-8
    Name=covpass
    Icon=covpass
    Exec=/home/user/mybin/passhow.sh
    Type=Application
    

    Ich erwähne im Desktop-File ein Icon namens „covpass“. Damit das was anderes als ein blaues Quadrat anzeigt, müsst ihr ein hübsches PNG (bei mir ist das noch ein stilisiertes Coronavirus, was, finde ich, auch für das doofe 49-Euro-Ticket ganz gut passt) mit dem namen covpass.png nach /opt/usr/share/icons/hicolor/scalable/apps schreiben.

    Damit der Desktop diese Datei sieht: sudo killall hildon-desktop – upstart (ja, das lebt noch im alten Maemo) zieht das dann automatisch wieder hoch.

    [1]„Dubios“ ist in diesem Zusammenhang ein positives Wort, denn bei Google bin ich sicher, dass sie gegen meine Interessen handeln. Bei apkpure hingegen kann ich da noch Zweifel (lat: dūbium, n) haben.
  • Klarsprache: Frontex braucht einen Neuanfang

    Screenshot mit dem zitierten Text unten und dem Logo des Bundesinnenministerium sowie dessen Fediverse-Handle, @bmi@social.bund.de

    Ich fand 140-Zeichen-Regeln vom Typ Twitter immer etwas fragwürdig – zumal, wenn selbst ein Text-Tweet auch auf der API mit seinen Metadaten dann doch viele Kilobyte Daten überträgt. Aber: manchmal sorgt die Verkürzung der üblichen Worthülsen in politischen Erklärungen überraschend für Klarsprache, oder jedenfalls etwas, das Dinge klarer benennt als möglicherweise beabsichtigt. So trötete das deutsche Innenministerium gestern als O-Ton der Ministerin:

    Deutschland hat sich sehr für einen Neuanfang bei Frontex eingesetzt. Europäisches Recht und Menschenrechte müssen an Europas Außengrenzen eingehalten werden.

    Das ist ohne Zwang zu lesen als: Frontex hat bisher an den Außengrenzen europäisches Recht gebrochen und die Menschenrechte missachtet, und das so systematisch, dass der Laden umgekrempelt werden muss, damit das aufhört. Diese Feststellung ist gewiss keine Neuigkeit für Menschen, die den Umgang der EU mit Geflüchteten oder Noch-Nicht-Geflüchteten auch nur aus dem Augenwinkel beobachten. Regierungsamtlich so klar gesagt schrappt das aber schon ziemlich hart am Affront entlang.

    In der eigentlichen Pressemitteilung ist hingegen mehr Platz. So verschwimmt dort die klare Ansage aus dem Tröt leider etwas in „zentralen Elementen“ und „klaren Haltungen“:

    Deutschland hat sich sehr für einen Neuanfang bei Frontex eingesetzt. Frontex ist für den Schutz der europäischen Außengrenzen ein zentrales Element. Dabei ist unsere Haltung klar: Europäisches Recht und die Menschenrechte müssen an Europas Außengrenzen eingehalten werden.

    Liebe_r ÖffentlichkeitsarbeiterIn des BMI: Wenn der Effekt der klärenden Kürzung Absicht war: Chapeau (und sowieso: Danke, dass ihr helft, den Twitterzwang, den viele Menschen fühlen, abzubauen). Wenn nicht: Ich hoffe, das gibt jetzt keinen Ärger…

  • Im Hambacher Schloss

    Playmobil-Diorama des Hambacher Festes

    Mein Highlight der Hambacher Ausstellung: 1832 als in Playmobil ausgeführtes Diorama. Ich weiß nicht, ob ich die visuelle Ähnlichkeit zu den Kola-Puppen von neulich irgendwie interpretieren soll.

    Zumindest für ein paar Jahre noch dürften viele mit den Schlagworten „Hambach“ und „Demokratie“ eher die Verteidigung des Hambacher Forsts gegen Polizei und RWE von 2019 assoziieren als das Hambacher Fest von 1832 – es handelt sich um zwei ganz verschiedene Hambache –, aber für die Selbsterzählung der Bundesrepublik Deutschland wird letzteres wohl wichtiger bleiben, schon aus Gründen des Fahnenschwingens, denn dort wurde die Farbkombination Schwarz, Rot, Gelb (in dieser Reihenfolge, und original tatsächlich mit der Schmuckfarbe Gold) kanonisiert.

    Der physische Beleg dafür liegt in einer Ausstellung im Hambacher Schloss, einer in einigen Tranchen teilrekonstruierten Burgruine ein paar Kilometer außerhalb von Neustadt an der Weinstraße: Die Fahne, die 1832 an den Turmresten flatterte, gibt es noch, und sie ist dort lichtgeschützt zu bewundern. Wobei, na ja, „geben” schon ein starkes Wort ist, denn das Rot ist inzwischen eher so ein Weiß mit Rosastich, und das goldfarbene Gewebe ist erkennbar am Zerfallen. Nur die Warnung an die Nachbarn ist noch gut lesbar: „Deutschlands Wiedergeburt“.

    Sechs Euro Fünfzig und dann nur ein Stockwerk

    Ich habe mich davon letztes Wochenende überzeugen können, denn auch diese Ausstellung ist mit Museumspass kostenlos zu besichtigen; die 6.50 Euro, die ansonsten fällig werden, dürfte sie nach meiner Einschätzung nur extremen FahnennärrInnen wert sein. Zunächst nämlich hat die Ausstellung (ein Stockwerk) schlicht nicht die Fläche für 6.50 Euro, zumal der größere Teil (zwei Stockwerke) des rekonstruierten Gebäudes derzeit für Feiern aller Art verwendet wird – als ich da war, sammelte sich gerade eine Hochzeitsgesellschaft.

    Foto eines eigenartigen Hauses, dessen Dach aus dem gleichen Stein gemacht zu sein scheint wie seine Mauern.

    Was wollte uns der_die ArchitektIn sagen, als er_sie das „Besucherhaus“ (deren Begriff) der Demokratiegedenkstätte wie einen Bunker gestaltete?

    Vor allem aber stehen im Wikipedia-Artikel deutlich mehr nützliche und beeindruckende Informationen zum Hambacher Fest, und in jeder Zweigstelle von Landeszentralen für politische Bildung viel mehr nützliche und beeindruckende Informationen zu den Themen der damaligen TeilnehmerInnen (Pressefreiheit, Nation, Rechtsstaat, eventuell sogar Partizipation). Was in Hambach gezeigt wird, bleibt hingehen enttäuschend oberflächlich und, für eine Gedenkstätte dieser Art schlimmer, unkritisch.

    Dabei ist selbstverständlich zu begrüßen, dass sich die BRD (nicht nur) an diesem Ort mehr auf das eher gemütliche Hambacher Fest beruft als auf das rasend nationalistische Bücherverbrennungs-Spektakel Wartburgfest 15 Jahre zuvor; in Hambach brannte nichts, und das antifranzösische und antisemitische Sentiment von der Wartburg wäre in der vergleichsweise liberalen Rheinpfalz auch deshalb kaum durchzuhalten gewesen, weil der Ehrengast, Ludwig Börne, nach der 1830er-Revolution nach Paris gezogen war und dem jüdischen Ghetto in Frankfurt entstammte. Eingestanden: er hatte sich bereits 1818 taufen lassen und wäre damit wahrscheinlich bei den Wartburg-Feiernden noch so eben durchgekommen[1].

    Vorlagen der Museumspädagogik liegengelassen

    Dass Börne beim Hambacher Fest als Hauptredner auftrat, würde ich aus Aufklärungsperspektive ohnehin als ausgesprochen gutes Zeichen werten, hatte er sich doch mal verlauten lassen mit:

    Es fließt ein Blutstrom durch achtzehn Jahrhunderte und an seinen Ufern wohnt das Christentum.

    Dass ein liberaler Aufklärer dieses Kalibers bei einem „deutschen Mai“ (so Hauptorganisator Philipp Jakob Siebenpfeiffer) umjubelt war, führt nicht nur die Ausstellung auf die segensreiche Wirkung der französichen Herrschaft in den linksrheinischen Gebieten (also auch der Rheinpfalz) zurück, die ihnen in den Jahren vor Napoleons Fall 1815 in den Worten der Ausstellung einen „Entwicklungsvorsprung“ im Hinblick auf Freiheit und Menschenrechte gegeben hat. Bedauerlicherweise kamen die KuratorInnen aber dennoch nicht darauf, die bizarre (wenn auch erstaunlich übliche) Rede von den „Befreiungskriegen“ für die Restitution der reaktionären Regierungen im Europa nach Napoleons Russlandfeldzug in Frage zu stellen.

    Was waren das also für Leute, die einen Gottseibeiuns wie Börne gefeiert haben? Am Anfang der Ausstellung hat mir ein museumspädagogischer Move der Hambacher KuratorInnen Hoffnung auf eine unterhaltsame und relevante Behandlung dieser Frage gemacht. Es werden nämlich gleich hinter dem Eingang der Student August, die Winzertochter Anna, die Bürgerin Katharina, der Arzt Heinrich und der Journalist Johann als BesucherInnen des Fests vorgestellt. Damit hätte mensch die Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen der BesucherInnen illustrieren können, die ja jenseits der Erwartung, irgendeine Sorte „Deutschland“ könne ihr Lage verbessern, wenig einte.

    Leider jedoch lassen die AusstellungsmacherInnen die Figuren im Wesentlichen nur mit mehreren Stimmen eine gemeinsame Geschichte erzählen, eben die vom Fest für „Freiheit“ und „Vaterland“ – dass diese Wörter nach Schicht und politischer Orientierung ganz verschiedene Bedeutungen hatten und haben, sollte ehrliche politische Bildung gerade an so einem Platz eigentlich nicht unterschlagen.

    Kontinuitäten der Machtausübung

    Umgekehrt hätten manchmal Brücken ins Heute den Jubel dämpfen sollen. Nehmt zum Beispiel das fürchterliche Schwert, das irgendwelche Leute aus Frankfurt mitgebracht hatten, um es dem Mitorganisator Johann Wirth zu verehren. Die Gravur „Vaterland – Ehre – Freiheit“ auf der Klinge hätte einen prima Anlass geboten, die düstere Rolle der Studentenverbindungen (Wirth gehörte selbst der Erlanger Arminia an) schon damals, noch mehr aber später[2] zu beleuchten. Zur Einordnung von Wirth mag seine Ablehnung der klassischen Kokarde in Blau-Weiß-Rot – sachlich ein Bekenntnis zur Freiheit, Gleichheit und Solidarität der französischen Revolution – helfen; stattdessen sollten die Leute das nationale Schwarz-Rot-Gelb tragen, wie es heute im „Besucherhaus“ verkauft wird:

    Kokarden mit gelben Kern, dann ein roter und außen ein schwarzer Ring, in einem durchsichtigen Verkaufseimer.

    Selbst wenn Mut oder Möglichkeit so einer Ausstellung zu einer profunden Kritik des Verbindungswesens nicht reicht, könnte sie zumindest zur Einordnung gesellschaftlicher Kontinuitäten und Diskontinuitäten anmerken, dass Menschen heute schon wegen §2 (3) Versammlungsgesetz mit Strafverfahren überzogen werden, wenn sie bei vergleichbaren Gelegenheiten Schwimmbrillen dabei haben, von anderen Alltagsgegenständen wie einem Opinel ganz zu schweigen. Mein Rat an die KuratorInnen wäre, an den Leuchtkasten mit dem Schwert einen launigen Schriftzug anzubringen, etwa:

    PSA: Bringt heute lieber keine Schwerter mehr zu Demos mit.

    Ähnlich aufschlussreiche Parallelen zu heute hätten sich angeboten im Fall der Verbotsverfügung fürs Hambacher Fest, die ausführte, das Fest strebe nach der Auflösung der herrschenden Ordnung. Ähnliche Anordnungen nach §15 Versammlungsgesetz ergehen immer noch, wobei die Schwelle inzwischen niedriger liegt, denn verboten werden kann eine Versammlung, „wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.“

    Eine Parallele, die ich besonders gerne gezogen sähe, geht von diesem Exponat:

    Foto eines großen, dicken Buchs mit handschriftlichen Einträgen

    zu Einrichtungen wie dem Informationssystem Innere Sicherheit (dessen Name bis vor einigen Jahren gerne mal als ISIS abgekürzt wurde) des BKA. Im ISIS verwalten die deutschen Polizeien rund hunderttausend (Stand 2019; 2011 waren es eher noch 85000) Menschen, die die Beschreibung des gezeigten Buchs in der Ausstellung als „politisch auffällige Personen“ klassifiziert.

    Das Buch wiederum ist ein Verzeichnis von aus heutiger Sicht bescheidenen 1'867 „Extremisten” (wie diese politisch aufälligen Personen heute genannt werden), die die Frankfurter „Zentralbehörde für politische Untersuchungen“ in den Jahren 1833 bis 1838 in feiner Kurrentschrift zusammentrug. Dass sie damit im Jahr nach dem Hambacher Fest anfing, ist sicher kein Zufall – und leider auch nicht, dass sie 1838 wieder aufhörte, denn soo viel gab es im Vormärz wohl trotz allem nicht zu beobachten.

    Ein Psychotest für Untertanen

    Es sei den aktuellen Regierungen nachgesehen, dass sie in Hambach lieber jubeln und fahnenschwenken wollen als über Kontinuitäten von Machtausübung zu philosophieren. Dann aber wärs schon besser, das nicht in einen Kontext von Demokratie (jetzt im Sinne von Partizipation und nicht von Volk und Herrschaft) und Freiheit zu stellen. Ganz schlimm wird das im Nebenzimmer des Schwert- und Fahnenraums, in dem sich BesucherInnen anhand von einer Art begehbarem Psychotest in Bürgertypen einordnen sollen. Das Schlimme daran ist, dass die partizipativste Antwortoption in der Regel nicht mehr als ein Appell an die Obrigkeit ist.

    Zum Beispiel wird die Situation beschrieben, dass am Rande einer Demonstration TeilnehmerInnen JournalistInnen bedrängen. Die natürliche Verhaltensweise, nämlich nachzufragen, worum es geht und so oder so deeskalierend einzugreifen, kommt gar nicht vor – als einzige Interventionsmöglichkeit bietet die Ausstellung an, eine Anzeige bei der Polizei zu stellen. Denunziantentum als musterdemokratisches Verhalten zu loben: Das ist schon ein starkes Stück.

    Oder nehmt das hier:

    Foto einer Pychotestfrage: ein Kulturzentrum soll abgerissen werden, mit Optionen "zum Stadtrat gehen", "eine Petition unterschreiben" und "nichts machen".

    Wie wäre es denn mit einem Szenario „das Haus besetzen”? Oder vielleicht, des Dynamikumfangs wegen, „den Stadtrat stürzen“? Oder „an Abrissmaschinen festkleben”? Ah, nee, dafür ist der Psychotest zu alt. Mag sein, dass das alles zu partizipativ für einen autoritär gebürsteten Demokratiebegriff ist, aber irgendwas, das nur annähernd Agency, meinetwegen „Selbstwirksamkeit“ außerhalb eines Obrigkeit-Untertanen-Verhältnisses anbietet, wäre schon recht gewesen in einer Gedenkstätte für einen (wenn auch kreuzbraven) Aufstand. Also vielleicht: „Ich spreche mich mit Nachbarn ab und melde eine Demonstration an“?

    Erst mal die Bahnsteig^WVerpflegungskarte kaufen

    Dazu passt ganz gut, dass die Ausstellung ebenfalls nicht die Geschichte erzählt, was aus dem Impetus des Hambacher Festes wurde. Während nämlich alles in patriotischem (und vielleicht auch etwas freiheitlichem) Taumel war, begannen die wichtigen Männer der Bewegung noch in Neustadt die nächsten Schritte zu diskutieren, was die Wikipedia jetzt gerade so zusammenfasst:

    Die Schlussabstimmung zur Frage, ob eine Konstitution aus sich selbst heraus die Kompetenz hätte, im Namen von ganz Deutschland eine Revolution zu beginnen, ließ die Bemühungen jedoch scheitern, da keine Einigkeit zustande kam.

    Das passt sehr gut zu einem Exponat, das ich irgendwann mal einsetzen möchte mit Referenz auf eine Wladimir „Lenin“ Uljanow …

  • Planspiele in Meerengen

    In den Deutschlandfunk-Nachrichten läuft derzeit Folgendes:

    Der EU-Außenbeauftragte, Borrell, hat Patrouillenfahrten europäischer Kriegsschiffe in der Straße von Taiwan gefordert.

    Europa müsse beim Thema Taiwan sehr präsent sein, schrieb Borrell in einem Gastbeitrag der französischen Sonntagszeitung „Journal du Dimanche“. Die Europäische Union sei sowohl wirtschaftlich als auch technologisch eng mit Taiwan verbunden. Es gehe um die Freiheit der Schifffahrt.

    Buchtitel in rot und schwarz: Weiß "2034" ein paar chinesische Schriftzeichen

    Grusel-Schocker: Ein Roman über den nächsten Weltkrieg. Rechte bei Penguin.

    Ich könnte jetzt grummeln, dass das schon sehr klare imperiale Ansagen sind („wir werden unseren wirtschaftlichen Interessen gemäß töten, und sei es auch am anderen Ende der Welt“), aber das wäre trotz der Empörung über konkurrierende imperiale Interessen, die Borrell dann und wann äußert, langweilig.

    Im Vergleich hinreichend spannend ist das Buch, an das mich diese Nachricht sofort erinnert hat, nämlich „2034 – A novel of the next world war“ von Elliot Ackerman, einem ehemaligen Marineinfanteristen, und James Stavridis, der von 2009 bis 2013 alliierter Oberbefehlshaber in Europa war (ist bei libgen entleihbar; ansonsten: Penguin Books 2021, ISBN 9780593298688). Die beiden haben in dem Buch erkennbar viel Spaß, sich Geschichten (durchaus im intersektionalen Sinn) diverser HeldInnen in einem allmählich eskalierenden Weltkrieg auszumalen. Wenn das diese Geschichten umgebende Szenario militärischen Planspielen nicht ohnehin schon so eng folgt wie das die Geheimnistuerei in dem Geschäft halt zulässt, wird es bestimmt demnächst jede Menge entsprechende Simulationen geben (siehe unten).

    Das Buch kam mir in den Sinn, weil sich in der Geschichte – ja, ich spoilere in diesem Absatz das ganze Buch – der Krieg entzündet an sozusagen Borrellschen Patroullienfahrten im fraglichen Seegebiet – nur natürlich der US-Marine, deren existierende Operationen Borrells Forderungen noch mehr als Wir-auch-Imperialismus markieren. Ein paar US-Zerstörer (oder was immer) schippern durch die Spratleys, und China kann die mit überwältigenden „Cyber Capabilities“ – sie sitzen ja in jedem Router! – ohne Gegenwehr versenken.[1] Nachdem die Iraner weiter einen tapferen Fighter Pilot foltern, die Chinesen eine See- und Cyberblockade über Taiwan verhängen und die Russen das Internet durch Kappen eines Tiefseekabels am Nordpol kaputtmachen, zünden die USA eine Atombombe über einer chinesischen Militärstadt (wie sie das angesichts der erdrückenden „Cyber Capability“ der Chinesen machen, bleibt offen), China zündet zwei über US-Städten, und dann darf der gefolterte Fighter Pilot, der inzwischen aus dem Iran freigekommen ist, mit seinen überlegenen uncyberigen Flugkünsten noch Shanghai einäschern, bevor Indien einen Friedensschluss erzwingt.

    Jaja, die Handlung ist stulle, aber dass sich alles um das dreht, was Militärs heute gerne „Indopazifik“ nennen, ist besonders bemerkenswert, weil Stavridis, soweit ich die deutsche Wikipedia richtig verstehe, eigentlich immer im erweiterten Atlantikraum unterwegs war (Irak, Bosnien, Haiti, Guantanamo inklusive Internierungslager, vielleicht sogar Heidelberg). In dem Buch streicht er das Erbe der Ballereien seiner eigenen Leute praktisch vollständig, was mir den Eindruck einer alarmierenden Fixierung auf China innerhalb der Leitungsbene des US-Militärs aufdrängt. Diese mag aktuell zwar etwas gemildert sein, aber vermutlich ist die Einschätzung Jörg Kronauers (in seiner Veranstaltung am 9. März bin ich auf das 2034-Buch aufmerksam geworden) nicht ganz abseitig, das große transatlantische Interesse am Krieg in der Ukraine könnte viel mit Rücken-Freihalten (oder -kriegen?) für Konflikte mit China zu tun haben.

    Daher: So unwohl ich mich in China gefühlt habe – die himmelschreiende Ungleichheit, die blinde Nutzung von allem, was blinkt und piept, der wilde Wettbewerbswille, der schockierend verbreitete glühende Patriotismus –, so sehr ist klar, dass Aufrüstung und Säbelrasseln bei uns nichts davon verbessern werden; wie üblich gilt es, der autoritären Versuchung nicht nachzugeben, denn sehr wahrscheinlich würde das nicht nur hier, sondern auch dort alles schlimmer machen.

    Wer den Menschen unter chinesischer Herrschaft helfen will, möge hier gegen Militarisierung und Patriotismus kämpfen, vermutlich würde auch Aktivismus gegen Freihandel helfen, und ganz gewiss Klima-Aktivismus, denn China hat in der Hinsicht viel zu verlieren und wenig zu gewinnen. Gute Vorbilder bei uns helfen den Menschen dort, mehr Partizipation und (damit notwendig) weniger Militär sowie weniger Arbeit und Wettbewerb zu erreichen. Ganz offenbar imperiale Gesten wie die Borrells machen den Menschen guten Willens dort ihre Arbeit zumindest mal viel schwerer.

    Unten

    Buchtitel "The third world war" fett weiß auf schwarzem Grund, darunter eine Erdkugel mit mehreren Großfeuern.

    Der Vorgänger von 1979. Rechte bei Sphere Books

    Der große Präzedenzfall für einen Nächster-Weltkrieg-Schocker ist übrigens „The Third World War“ (Sphere Books 1979), ein Lieblingsprojekt des Zweite-Weltkrieg-Haudegens „General Sir“ John Hackett, der beispielsweise in den 1960ern die britische Rheinarmee kommandiert hat und damit dann die „Northern Army Group“ der NATO – was immer das gewesen sein mag. In dem Buch – ich spoilere wieder – entzündet sich der Konflikt im Jahr 1985 erwartungsgemäß an West-Berlin, dann nuken die Russen Birmingham, dann die NATO Minsk, und dann zerfällt die Sowjetunion ganz ähnlich wie sie das in der Realität ein halbes Jahrzehnt später auch ohne Atombombe getan hat.

    Der Vergleich des aktuellen Ackerman/Stavridis-Buchs mit dem männerschweißigen Reißer aus den 1970ern samt dessen Waffen-Porn in Sprache und auf eingehefteten Bild-Tafeln schlägt übrigens vor, dass es vielleicht sogar im Militär irgendwas wie einen Prozess der Zivilisation gibt. Solange das das Militär immer noch nicht am Rumballern und Bombenwerfen hindert, tröstet das zwar wenig, aber immerhin sind die Akteure von 2034 nicht mehr die Terminatoren ohne Sozialleben oder erwähnenswerte Sprachfähigkeiten, die Hackett auftreten ließ.

    In den frühen 80ern war das Hackett-Buch gerade im Militär ein Bestseller (ich bin z.B. überzeugt, dass meine Ausgabe von einem Mitarbeiter der damals noch zahlreich in Heidelberg vorhandenen NATO-Stäbe ins Antiquariat gegeben wurde), und wer im Netz mal nach "Fulda Gap 1985" sucht, wird feststellen, dass Hacketts Szenario immer noch viele Kriegsspiele inspiriert.

    Mal sehen, wie die Leute in dreißig Jahren über Ackerman und Stavridis reden werden. Mit etwas Engagement sollte es doch hinzukriegen sein, das Wort „hellsichtig“ aus künftigen Besprechungen ihrer Geschichte rauszuhalten…

    [1]Die chinesischen „Cyber Capabilities“ sind natürlich völlig fantastisch und zeugen von einem eher religösen Verhältnis der Autoren zu Technologie, aber das ist beim Auftauchen der Buchstabenfolge „C-y-b-e-r“ (Standard-Bedeutung: Alles im Umkreis von 30 Tokens ist Bullshit) ja zu erwarten.

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