• Lenard vs. Einstein: Vom langsamen Fortschreiten der Zivilisation

    Erst vor ein paar Tagen habe ich das Wort „Augusterlebnis“ so richtig wahrgenommen: Es handelt sich um die 1914er-Version der modernen „Zeitenwende“ von 2022. Auch damals, als sich der Rüstungswettlauf der 1900er Jahre in einem lang erwarteten Krieg entlud, haben sich viele Menschen – leider auch welche, die sich als links und/oder intellektuell verstanden – patriotisch hinter das „eigene“ Land (und dessen Verbündete) gestellt, als dieses mit hinreichender Entschlossenheit und Tiefe Kriegspartei wurde.

    Ich habe dieses Phänomen schon während „unserer“ diversen Kriege im ehemaligen Jugoslawien ungläubig bestaunt. Nach dieser Erfahrung war ich nicht mehr ganz so entsetzt über die vielen Stimmen auch aus in normalen Zeiten weniger patriotischen Kreisen, die im vergangenen Frühling fürs Vaterland wieder töten, sterben oder doch wenigstens waffenliefern wollten.

    Foto: Stehendes Buch im Halbprofil

    Immer wieder gut für historische Perspektiven auf Deutsche, die in den Krieg ziehen (lassen) wollen: Wolfram Wettes „Ernstfall Frieden“.

    Ebenfalls nicht überrascht hat mich die Diffamierung jener, die historische Evidenz beibrachten dafür, dass all das Sterben und Töten Dinge nicht besser, wohl aber blutiger macht. Je nach individuellem Geschmack gelten sie neuen wie alten PatriotInnen als Verblendete, Träumer oder böswillig. Großer Konsens auf allen Seiten ist nach Augusterlebnissen und Zeitenwenden: Wer nicht schießen will, ist ausländischer Agent bzw. gleichbedeutend russischer Troll.

    Das Manifest der 93

    Die Geschichte vom Augusterlebnis von 1914 fand ich, als ich historische Perspektiven dieser Art mit einer Neulektüre des immer wieder informativen Ernstfall Frieden von Wolfram Wette (Bremen: Donat Verlag, 2017) auffrischte. Diese rief mir auch ein für mich besonders deprimierendes Beispiel für Aufwallungen deutschen Patriotismus' in Erinnerung: Das Manifest der 93, eine Erklärung, der sich, während sich die Soldaten im September 1914 an den diversen Fronten eingruben und die ersten Signale zurückkamen, wie ein industrialisierter Krieg wohl aussehen könnte, 93 häufig immer noch recht bekannte „Intellektuelle“[1] des deutschen Reichs anschlossen.

    Die Wikipedia dokumentiert den vollen Text des Manifests; lasst mich ein paar Zitate heraussuchen, die besonders nach heute klingen:

    Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden.

    Das erinnert sehr an die Entschlossenheit vieler aktueller PatriotInnen, mit viel Verve und Empörung die Beiträge zu bestreiten, die „unsere“ Angriffskriege („völkerrechtswidrig“ oder nicht), Grenzverschiebungen, imperialen Abenteuer und Landnahmen auf dem Weg in den Krieg gespielt haben. Ganz entgegen dem Augenschein ist in dieser Erzählung die eigene Seite die personifizierte Friedlichkeit. ImperialistInnen waren auch damals schon immer („nur“, wo es ein „auch“ bräuchte) die anderen.

    Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen.

    Außer, wenn er einen Panthersprung vollführte oder seine Flotte aufrüstete oder… nun, bei genauerer Betrachtung war ihm der Weltfrieden doch eigentlich immer ziemlich scheißegal. Aber klar, vielleicht hat er die Flotte ja wirklich gegen Piraten gebraucht, so wie… wir zum Beispiel mit unserer Operation Atalanta.

    Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer Verletzung entschlossen. Nachweislich war Belgien damit einverstanden. Selbstvernichtung wäre es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen.

    …ganz wie unsere Waffen heute mit dem Einverständnis „der Ukrainer“ helfen, das Land in Schutt und Asche zu legen. Hauptsache (imaginiert eine quäkende Stimme) „aber der hat angefangen“, denn dann dürfen wir es auch.

    Es ist nicht wahr, daß unsere Truppen brutal gegen Löwen [Zum Kontext: gemeint waren nicht Tiere, sondern die flandrische Stadt Leuven/Louvain] gewütet haben. An einer rasenden Einwohnerschaft, die sie im Quartier heimtückisch überfiel, haben sie durch Beschießung eines Teils der Stadt schweren Herzens Vergeltung üben müssen.

    Auch das eine Invariante des Patriotismus: Massaker verüben die anderen. Unsere Herzen sind hingegen immer noch schwer, weil uns ruchlose Feinde zwangen, bei Kundus schlimme Anschläge zu verhindern.

    Töten aus Liebe zur Kunst

    Weiter im Manifest der 93:

    Aber so wenig wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend jemand übertreffen lassen, so entschieden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerks mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen.

    …denn „verlieren“, verlieren dürfen „wir“ nicht. Selbst wenn dafür Städte zu Klump gehen, SoldatInnen ungezählte Menschen töten oder verstümmeln und die, die übrig bleiben, gefälligst fürs Vaterland frieren und hungern sollen.

    Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust.

    Das, was mensch – von der Kontinuität sprachlicher Figuren, dem radikalen Othering der Kriegspropaganda abgesehen – aus dieser Passage wirklich lernen kann: Wie kam es eigentlich dazu, dass heute „im Westen“ keine Brüste mehr zerrissen werden?

    Mensch kann diese Geschichte gewiss als die einer totalen Niederlage erzählen, durch die Deutschland „geläutert“ worden sei. Weit stimmiger wird das aber durch die Betrachtung, dass im Gegensatz zur Zeit nach dem ersten Weltkrieg nach dessen zweiter Ausgabe auf beiden Seiten von Rhein und Brenner Menschen regierten, die – eingestandenermaßen unter der gefühlten Bedrohung „aus dem Osten“ – beschlossen haben, die dämlichen Auseinandersetzungen um die Kontrolle des Elsaß, von Südtirol oder von Eupen und Malmedy einzustellen und sich zu vertragen, ganz egal, wer irgendwann mal angefangen hat, diese Landstücke wem anders wegzunehmen.

    Ein paar Jahrzehnte später hat sich diese Vernunft – dann schon gegen heftigen Widerstand – sogar auf Oder, Erzgebirge und Böhmerwald ausgedehnt. Stellt euch vor, wie furchtbar die Verhältnisse an diesen Grenzen heute wären, hätte sich damals die „kein Fußbreit unseres Vaterlands unseren Feinden“-Fraktion durchgesetzt.

    Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt

    Zwar möchte heute noch niemand offen das Hohelied des Militarismus singen – die Geschichte, „ohne starke Armee“ müsse das Land untergehen allerdings erzählen leider wieder ziemlich viele Leute. Und zwar auch welche, deren Muttersprache Wörter wie Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz hervorbringt. Wenn diese wieder Typenbezeichnungen von Panzerhaubitzen kennen, ist das jedenfalls nicht weit von „deutschem Militarismus“ weg.

    Wir können die vergifteten Waffen der Lüge unseren Feinden nicht entwinden.

    Nun gut – wir können es zumindest versuchen.

    Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.

    Dass in den entsprechenden Statements von heute eher von Freiheit und Menschenrechten die Rede ist als von schon damals über hundert Jahre alten Geistesgrößen sowie der „Scholle“, das erkenne ich als klaren Fortschritt an.

    Klar unterschreiben Ekelpakete...

    Deprimierend finde ich das Manifest vor allem, weil sich in dem Kreis der Unterzeichner – es hat wirklich keine Frau ihren Namen hergegeben; wahrscheinlich wurde aber auch keine gefragt – finsterste Schurken mit recht normalen Wissenschaftlern und zum Teil sogar ziemlich fortschrittlich denkenden Menschen mischen.

    So steht etwa Philipp Lenard unter der Erklärung, der später in seiner „Deutschen Physik“ die Beiträge von JüdInnen aus der Physik tilgen wollte und der zusammen mit der NSDAP von deutscher Weltherrschaft träumte; seine Wirkungsstätte Heidelberg bekam deshalb das „Institut für Weltpostwesen” neben die Physik am Philosophenweg gestellt, denn das Weltreich, von dem Lenard und seine Freunde träumten, hätte ja schließlich stabile transkontinentale Kommunikation gebraucht.

    Unvermeidlich bei dieser Sorte Aufwallung war natürlich ein Vertreter der Familie Wagner, und zwar einer, dem 1924 nach einem Besuch bei Mussolini nur einfiel: „Alles Wille, Kraft, fast Brutalität. Fanatisches Auge, aber keine Liebeskraft darin wie bei Hitler und Ludendorff.“

    Gut auf dieser Liste macht sich auch Fritz Haber, der später die Giftgas-Kriegsführung erfand und mit seinem Engagement fürs Land seine Frau Clara Immerwahr dazu brachte, sich mit seinem Offiziersrevolver zu erschießen. Oder Ernst Haeckel, der zwar wunderschöne Strukturen der Natur dokumentierte, sich aber ansonsten als rabiater Sozialdarwinist hervortat.

    ...aber dann auch normale Menschen

    Dass solche Menschen patriotische Erklärungen unterzeichnen, wird niemanden überraschen. Dass aber auch viele mehr oder weniger normale Wissenschaftler ihre Namen unter das Papier setzten, finde ich zumindest bedenkenswert.

    Max Planck steht da zum Beispiel, der immerhin an anderer Stelle leichteren Hochschulzugang für Frauen gefordert hatte (vom Manifest hat er sich später wohl distanziert), oder Wilhelm Wien (der vom Verschiebungsgesetz) oder Wilhelm Conrad Röntgen (der mit den Strahlen; auch er soll die Unterschrift später bedauert haben) oder Friedrich Wilhelm Ostwald, den ich vor allem als Begründer einer feinen Buchreihe mit „Klassikern der exakten Wissenschaften“ kenne.

    Und dann stehen da Biowissenschaftler unter der Erklärung, die mit ihrer Arbeit ungezählte Leben gerettet haben: Emil Behring – der Namensgeber meiner alten Schule übrigens; hätte ich das damals mal gewusst – etwa, oder Paul Ehrlich, also der mit dem Institut, von dem während Corona die Rede war, wenn es ums Impfen und Testen ging.

    Vielleicht noch erstaunlicher sind die Bona-Fide-Intellektuellen unter der Erklärung: mit Max Reinhardt eine der zentralen Figuren der Kultur des Weimarer Berlin zum Beispiel oder, in gewisser Weise noch schlimmer, Gerhart Hauptmann, der mit den Webern ein wirklich beeindruckendes Sozialdrama geschaffen hatte (und nach einigen Jahren auch wieder zur Vernunft kam).

    Es war sogar ein Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft mit von der Partie, nämlich der Astronom (und Gründer des Instituts, an dem ich arbeite) Wilhelm Foerster. Als ausgewiesener Pazifist fand er …

  • A QR Code Scanner for the Desktop

    Screenshot: Two windows.  One contains a photo of a QR code, the other two buttons, one for opening the URI parsed from the QR code, the other for canceling and scanning on.

    qropen.py in action: Here, it has scanned a QR code on a chocolate wrapper and asks for confirmation that you actually want to open the URI contained (of course, it doesn't come with the glitzy background).

    When I was investigating the SARS-2 vaccination certificates last year (sorry: that post is in German), I played a bit with QR codes. A cheap by-product of this was a little Python program scanning QR codes (and other symbologies). I cannot say I am a huge fan of these things – I'd take short-ish URIs without cat-on-the-keyboard strings like “?id=508“ instead any day –, but sometimes I get curious, and then this thing comes in handy given that my telephone cannot deal with QR codes.

    Yesterday, I have put that little one-file script, qropen.py, on codeberg, complemented by a readme that points to the various ways you could hack the code. I'll gratefully accept merge requests, perhaps regarding a useful CLI for selecting cameras – you see, with an external camera, something like this thing starts being actually useful, as when I used it to cobble together a vaccination certificate checker in such a setup. Or perhaps doing something smart with EAN codes parsed (so far, they just end up on stdout)?

    On that last point, I will admit that with the camera on my Thinkpad X240, most product EAN codes do not scan well. The underlying reason has been the biggest challenge with this program even for QR codes: Laptop cameras generally have a wide field of view with a fixed focus.

    The wide field of view means that you have to bring the barcodes pretty close to the camera in order to have the features be something like three pixels wide (which is what zbar is most fond of). At that small distance, the fixed focus means that the object is severely out of focus and hence the edges are so blurry that zbar again does not like them.

    Qropen.py tries to mitigate that by unsharp masking and potentially steep gammas. But when the lines are very thin to begin with – as with EAN stripes –, that does not really help. Which means that the QR codes, perhaps somewhat surprisingly given their higher information content, in general work a lot better for qropen.py than to the simple and ancient EAN codes.

    There clearly is a moral to this part of the story. I'm just not sure which (beyond the triviality that EANs were invented for lasers rather than cameras).

  • Mehrfach geschachtelte Chutzpe

    Foto: "Wir protestieren gegen das Verbot dieser Symbole" über einem Satz von Fahnen und Wimpeln kurdischer Organisationen und deinem Öcalan-Portrait.

    In der taz vom Wochenende: Der saarländische Flüchtlingsrat und die Aktion 3. Welt Saar unterlaufen geschickt das übelriechende Verbot von allerlei Fähnchen und Wimpeln diverser kurdischer Organisationen. Solche Hacks braucht es, wenn Innenministerien über Jahrzehnte hinweg geschlossen autoritäre „Lösungen“ durchzudrücken versuchen.

    Seit Hans-Dietrich Genscher und Otto G. Lambsdorff 1983 ihren Parteifreund Gerhart Baum als Innenminister gestürzt haben, waren eigentlich alle Innenministerien von Bund und Ländern – mitsamt ihrer Aufsicht über Polizei und den staatsanwaltlichen Teil der Justiz – durchweg von menschenrechtsfeindlichen, autoritären Rechtsauslegern der jeweiligen Regierungen besetzt. Namen wie, uh, Old Schwurhand Friedrich Zimmermann, Boris Pistorius, Jörg Schönbohm, Otto Schily, Manfred Kanther oder Abschiebungen-zum-Geburtstag Horst Seehofer jagen teils auch Jahrzehnte nach dem Ende der Unwesen ihrer Träger Menschen mit minimalem bürgerrechtlichem Instinkt wahlweise Schauer über den Rücken oder Zornesröte ins Gesicht.

    Hoffnungen, das könne bei der gegenwärtigen Amtsinhaberin anders werden, die sich ja immerhin in Sachen NSU 2.0 mal in diskutabler Weise geäußert hat, erwiesen sich als weitgehend vergebens, wie nicht nur ihr jüngstes Trommeln für die Ursünde Vorratsdatenspeicherung zeigt. Ein Blick in die aktuellen Gesetzesvorhaben aus ihrem Haus gleicht einem Aufmarsch der Polizei-Bruderschaft:

    Insbesondere hat Faeser nicht die skandalöse Kriminalisierung von indymedia linksunten durch ihren Vorgänger aufgehoben – was sie per Federstrich tun könnte –, und sie tut auch nichts gegen die bizarren Verfolgungen von Menschen, die Abzeichen einiger kurdischer Organisationen tragen, die die türkische Regierung nicht mag. Spätestens seit dem Flüchtlingsdeal mit den Machthabern in der Türkei wird zum Beispiel verfolgt, wer die falschen Kombinationen von Gelb, Grün und Rot durch die Straßen trägt; einige davon könnt ihr im Aufmacherbild bewundern.

    Nun bin ich spätestens seit meinen Berichten zu kurdischer PKK-Skepsis in meiner Chios-Geschichte allzu großer Euphorie Richtung PKK sicher unverdächtig. Dennoch: im Genre der bewaffneten Aufstände der Gegenwart ist die PKK mit ihrem doch deutlich über das übliche „unser Boss soll Kalif sein anstelle des Kalifen“ hinausgehenden Programm schon ein Lichtblick, und es gibt nun wirklich keinen menschenrechtsverträglichen Grund für die verbissene Wut, mit der deutschen Innenministerien nachgeordnete Behörden hinter deren Wimpeln herermitteln.

    Aber wenn autoritäre Politik im Wesentlichen unkontrolliert walten kann, hilft Kreativität. So wie bei der Beilage in der taz vom Wochenende, die ich oben dokumentiere. Was dort zu sehen ist, ist ein Forttransparent einer Demo, die mit dem Zeigen der inkriminierten Symbole davonkam, weil sie ja dokumentieren musste, worum ihr Protest geht. Die beiden Organisationen, die das Flugblatt herausgegeben haben, haben das eins weitergedreht: Sie können die verbotenen Zeichen drucken, weil sie Widerstand gegen das Verbot dokumentieren.

    Nun, und ich kann das jetzt nochmal eine Runde weiterdrehen: Ich darf die Zeichen zeigen, weil ich Leute loben will, die mit Chutzpe und Kreativität die autoritären Betonköpfe aus den verschiedenen Innenministerien gekonnt ausspielen. Dafür schwinge sogar ich mal eine Fahne. Eine? Fünfzehn!

  • Running a Current Zoom Package on 32-bit Debian

    [There's a TL;DR at the end of this rant in case you're just desperate to get your Zoom client to work again]

    There are many reasons why proprietary, non-interoperable services are a bane and why I generally say no to them, be them Twitter, Discourse, or Google Docs. However, I regrettably cannot say no to Zoom, even though there are perfectly Free alternatives like, say, mumble plus perhaps VNC if you need screen sharing. Still, just about everyone simply expects you to cope with this heap of proprietary lock-in. Granted, at least it doesn't require downloading and running ridiculous amounts of Javascript code into your web browser each time you run it like some other telecon systems I could mention (including Free ones).

    Upgrade now! But… to what?

    And one has to give the Zoom client that its audio interface used to be a lot better than what today's major browser vendors have to offer (minor browsers can't run the telecon crapware anyway).

    One strong reason to say no even to Zoom, however, is the feeling of helplessness when the software depends on a central server and that server suddenly locks you out. That happened to me with Zoom last week, when the damn thing started to say “you need to upgrade to connect to this conference” or something to that effect.

    After I have been running the probably multiply exploitable, ugly binary package for perhaps two years without ever upgrading (Zoom doesn't operate a proper repository, and hence there's no apt-upgrading it), that was not unreasonable per se. Except that even manually pulling a .deb from Zoom's Javascript-infested web pages did not help. Umm, what?

    It turns out that the Zoom folks do not bother any more to update their 32-bit package and simply distribute the 5.4.whatever that they're locking out. No amount of installing that changed Zoom's refusal to let me into the conference, and working with the telecon host to see whether any setting in the management interface would let me in again went nowhere. It is this feeling and fact of infant-like helplessness that I so detest about being forced into proprietary technologies.

    How great would it be if Zoom were proper Free software and I could build this myself? How even greater if it were built on open standards and I could just switch to an alternative client? Or cobble together my own?

    But no, I had to eat dirt. I fetched the 64-bit version and dpkg -i-ed it. I had already run:

    dpkg --add-architecture amd64
    

    on that box a long time ago, so I figured Debian's dependency resolution magic should cover the rest. How wrong I was.

    Typing zoom after dpkg -i zoom-amd64.deb followed by apt install -f to satisfy dependencies brought back the command prompt right away – but not zoom window. The program just silently crashed. What?

    In such a situation, the first thing I do is run strace to see what syscalls the program does before dying. However, the output made no sense at all, starting with chdir(0x01). This would have to immediately crash (there certainly is no path name at the memory address 1), but the strace of Zoom instead went on for a few pages. Hu?

    After having been stumped for a few minutes, it dawned on me that stracing an amd64 binary will plausibly require an amd64 strace, so I typed:

    apt install strace:amd64
    

    and tried again. This time, strace's output made a lot more sense, and right before dying, it said:

    stat("/usr/lib", {st_mode=S_IFDIR|0755, st_size=32768, ...}) = 0
    writev(2, [{iov_base="/opt/zoom/zoom", iov_len=14},
     {iov_base=": ", iov_len=2},
     {iov_base="error while loading shared libraries", iov_len=36},
     {iov_base=": ", iov_len=2}, {iov_base="libpango-1.0.so.0", iov_len=17},
     {iov_base=": ", iov_len=2}, {iov_base="cannot open shared object file", iov_len=30},
     {iov_base=": ", iov_len=2}, {iov_base="No such file or directory", iov_len=25},
     {iov_base="\n", iov_len=1}], 10) = 131
    

    In other words: It tried to load the pango library (which draws text strings in Gtk and elsewhere) but failed. What? I installed this from a Debian package and it has not noticed the dependency?

    Well, the Zoom folks clearly got it wrong and fooled the machine into accepting the 32-bit libraries (which of course are already on the box) for 64-bit dependencies, which simply cannot work. I am not going to do research for a commercial entity and hence just gritted my teeth. Repeatedly letting the thing crash, I eventually figured out that I need to manually say:

    apt install libxcb-keysyms1:amd64 libglib2.0-0:amd64\
      libxcb-shape0:amd64 libxcb-shm0:amd64 libxcb-xfixes0:amd64\
      libxcb-randr0:amd64 libxcb-image0:amd64 libfontconfig1:amd64\
      libgl1-mesa-glx:amd64 libegl1-mesa:amd64 libxi6:amd64\
      libsm6:amd64 libxrender1:amd64 libpulse0:amd64 libxcomposite1:amd64\
      libxslt1.1:amd64 libsqlite3-0:amd64 libxcb-xtest0:amd64\
      libdbus-1-3:amd64 libxtst6:amd64 libxcb-xinerama0:amd64\
      libxkbcommon-x11-0:amd64 desktop-file-utils:amd64\
      libgbm1:amd64 libdrm2:amd64 libfreetype6 libatk-bridge2.0-0:amd64\
      libxrandr2:amd64 libpango-1.0-0:amd64 libcairo2:amd64\
      libcups2:amd64 libnss3:amd64 libxdamage1:amd64
    

    to have the damn thing at least not crap out during startup. What, if I may ask, does it need cups for?

    Nachtrag (2024-10-31)

    In the meantime, there are two extra packages zoom wants to see, so I added these, too.

    Alas, that's still not good enough. While Zoom at least did not immediately terminate any more, it still did not properly connect either. This time, strace -f-ing ends with:

    5783  poll([{fd=3, events=POLLIN}, {fd=13, events=POLLIN}, {fd=14, events=POLLIN}], 3, 0) = 0 (Timeout)
    5783  poll([{fd=3, events=POLLIN}, {fd=13, events=POLLIN}, {fd=14, events=POLLIN}], 3, 14995 <unfinished ...>
    5789  <... futex resumed>)              = -1 ETIMEDOUT (Connection timed out)
    5789  futex(0x7fa62a77b4d0, FUTEX_WAKE_PRIVATE, 1) = 0
    an then a lot of
    5789  +++ exited with 0 +++
    ...
    5783  +++ exited with 0 +++
    

    Oh great. A successful exit even though the program failed. The joys of commercial software development.

    But be that as it may: it is failing because whatever should be feeding file descriptor 3 apparently is not fast enough. The question is: what? Well, let's see what this file descriptor 3 is. In my vi, I'm grepping through the strace protocol for a call in process 5783 returning three like this:

    ?5783.*= 3$
    

    and I find:

    5783  socket(AF_UNIX, SOCK_STREAM|SOCK_CLOEXEC, 0) = 3
    5783  connect(3, {sa_family=AF_UNIX, sun_path=@"/tmp/.X11-unix/X0"}, 20) = 0
    

    Oh dang. The thing is waiting for the X server when it dies? Why would the X server time out? Spoiler: That I have not found out. But quite close to this I saw that Zoom also opens the file ~/.zoom/zoom_stdout_stderr.log and dumps the messages I was missing on stderr there. In fact, I could have gathered the missing libraries from that file rather than strace had I known about it.

    What did I find in there? Well:

    ZoomLauncher started.
    Zoom path is: /opt/zoom
    cmd line:
    Start subprocess: /opt/zoom/zoom sucessfully,  process pid: 5916
    sh: 1: pactl: not found
    

    This looks almost as if it needs pulseaudio? But what about the timeout on the X socket? I don't know, but I can report that installing pulseaudio-utils did fix the pactl failure (if you want to call it that), but it still did not make the thing run. At least according to strace:

    7193  execve("/bin/sh", ["sh", "-c", "pactl --version"], 0x7ffd6d009b08 /* 38 vars */ <unfinished ...>
    ...
    7193  <... execve resumed>)             = 0
    

    it's not because pactl would fail, though frankly it would seem a bit odd that Zoom is calling an external binary in the first place and then go through the shell on top – what's wrong with execve and friends? Zoom, however, still exits on the X timeout:

    7223  poll([{fd=3, events=POLLIN}, {fd=13, events=POLLIN}, {fd=14, events=POLLIN}], 3, 14994 <unfinished ...>
    [...]
    7223  <... poll resumed>)               = 0 (Timeout)
    

    At this point, I seemed to be at a dead end: do I really want to debug whatever Zoom's Qt basis had to work out with X11 that would make X11 fail that dramatically?

    On a wild guess, I suspected some stale setting now that I had noticed there is a .zoom directory. I hence moved that away. Lo and behold: suddenly the messages so far hidden in .zoom arrived on stderr. And it now said “No PulseAudio daemon running, or not running as session daemon”. Aw, bother. That the Zoom client properly dealt with plain ALSA was, frankly, one of the reasons I sort of gave in to zoom. That's now over, too.

    I sprinkled the box with a bit of holy water (something to the effect of pulseaudio --start), and zoom finally came up and connected to their nasty, proprietary server that had locked me out with the 32-bit client.

    Too long; didn't read

    So… If you're in the same situation as a was and Zoom's servers lock you out: I'd hope that installing the extra libraries and pulseaudio and then moving the .zoom subdirectory out of the way – I'd probably not remove it altogether immediately, as it might contain credentials or a Zoom bitcoin …

  • Kohlenstoff-Stoffwechsel des Menschen: Nur über Bande schlimm

    Foto einer Prozession mit viel Weihrauch

    Machen diese Priester, die da 2013 duch Barcolona prozedieren, mehr Treibhauseffekt durch ihren Qualm oder durch ihre Atemluft? Das zumindest rechne ich hier nicht aus.

    Mich hat neulich wer gefragt, wie viel CO2 ein durchschnittlicher Mensch so emittiert, und mit meiner Kopfzahl vom letzten Jahr, um die 35 Gigatonnen CO2-Äquivalent Gesamtemission weltweit, geteilt durch die geschätzten 8 Milliarden Menschen, die letzte Woche durch die Presse gingen, habe ich mal munter „vier Tonnen“ gesagt und anschließend die zweite Kopfzahl von damals, 2/3 Gt für die BRD mit 80 Millionen EinwohnerInnen zu „eher so acht Tonnen für dich und mich“ verarbeitet, „nicht zu vergessen ein paar Tonnen obendrauf für Fertigwaren und Futter, die wir importieren und die derzeit für oder gegen China, Brasilien oder Indonesien zählen.“

    Aber darum ging es ihm nicht. Er wollte wissen, was ein Mensch so ausatmet, was wir also einfach nur durch unseren Stoffwechsel emittieren. Dafür hatte ich spontan keine brauchbaren Kopfzahlen und habe (ahem: deshalb) erstmal eingewandt, dass das, wie unten ausgeführt, ziemlich irrelevant ist. Dennoch ist das keine per se schlechte Frage, und so habe ich meinen Post zur menschlichen Leistung hervorgekramt und daraus für mich und vergleichbare Menschen eine Wärmefreisetzung zwischen 8 und 16 MJ am Tag (also Megajoule, Millionen Joule) abgelesen. So ein Ärger: Das hatte ich eigentlich schon damals zur Kopfzahl erklärt, aber dann doch wieder vergessen.

    Vier Kilo pro Tag

    Zur CO2-Bilanz unserer Kohlenstoff-Verstoffwechselung hatte ich in meinen Überlegungen zur thermischen Leistung schon etwas geschrieben. Eine kurze Erinnerung daran: Tiere wie der Mensch betreiben sich vor allem, indem sie Phosphor von ATP abspalten, was ihnen für jedes Mol ATP 31 kJ Energie bringt. Für 30 Mol ATP atmen wir ungefähr sechs Mol CO2 aus, womit wir auf die Stoffmenge von CO2 bezogen am Ende

    31 ( kJ)/(mol ATP)(30  mol ATP)/(6  mol CO2) = 155  kJ ⁄ mol CO2

    an Wärme abgeben können. Das ist die untere Grenze der mit dem Ausatmen von einem Mol CO2 verbundenen Wärmefreisetzung; in Wahrheit werden auch die Prozesse zur Herstellung von ATP aus den verschiedenen Nahrungsbestandteilen Wärme freisetzen. Die obere Grenze ist – im zitierten Post diskutiert – die Reaktionsenthalpie von Verbrennung von Kohlenstoff, nämlich 394  kJ ⁄ mol. Die folgende Abschätzung aus der Abwärme liefert jedenfalls eine obere Grenze der Emission.

    Wenn wir die 155 kJ/mol mit der Leistung eines Durchschnittmenschen verrechnen – wir nehmen jetzt mal den Mittelwert der oben erwähnten Grenzen, also 12'000 kJ/d –, ergibt sich für die CO2-Emission eines Menschen aus dem Stoffwechsel

    (1.2⋅104 kJ ⁄ d)/(155  kJ ⁄ mol) ≈ 80  mol ⁄ d.

    Wer nun bei „Mol“ nur düstere Erinnerungen an den Chemieunterricht hat: Das ist einfach Abkürzung für „ungefähr 6⋅1023 Moleküle“, und diese krumme Zahl ist so gemacht, dass mensch im Groben nur die Nukleonenzahlen der beteiligten Atome zusammenaddieren muss, um das Mol („Stoffmenge“) in Gramm („Masse“) zu wandeln. Als Kopfzahlen taugen 12 Nukleonen für den Kohlenstoff und 16 Nukleonen für den Sauerstoff[1]. Für Kohlendioxid mit zwei Sauerstoff- und einem Kohlenstoffatom ergeben sich also 44 Gramm aufs Mol.

    Mithin atmen wir so auf einen Faktor zwei – Tour de France-FahrerInnen ausgenommen –

    80  mol ⁄ d⋅0.044  kg ⁄ mol ≈ 3.5  kg ⁄ d

    Kohlendioxid aus. Mit der Kopfzahl 1 Kubikmeter aufs Kilogramm für Luft (jaja, CO2 ist ist etwas dichter als N2, das ja die Luft dominiert, aber Faktoren von 1.5 spielen hier keine große Rolle) ist das ganz nebenher schnell in ein Volumen gewandelt: Wir atmen was zwischen zwei und acht Kubikmeter reines CO2 am Tag aus, genug, um eine Grube zu füllen, die groß genug ist, um reinzufallen. Ein Glück, dass unter normalen Umständen CO2 nicht in solchen Gruben bleibt, oder wir würden uns regelmäßig durch unsere eigene Atmung umbringen.

    Fürze und AfD-Debatten

    Völlig vernachlässigbar im Hinblick auf den Treibhauseffekt sind übrigens Fürze. Die Wikipedia beziffert die auf rund einen Liter am Tag. Angenommen, es handele sich um pures Methan (das geruchlos ist, was zeigt, dass wir hier eine nicht ganz zutreffende Annahme machen), wäre das in etwa ein Gramm davon und damit klimatisch verschwindend gegenüber dem CO2, selbst dann, wenn mensch die Treibhauswirkung von Methan mit etwas wie einem Faktor 20 gegenüber Kohlendioxid ansetzt.

    Aufs Jahr gerechnet haben wir also rund eine Tonne CO2-Äquivalent aus dem Stoffwechsel. Das schien mir verdächtig nahe an den fossilen Emissionen, die ich oben auf vier Tonnen pro Jahr geschätzt habe[2]. Dass wir im Schnitt lediglich vier Mal mehr fossile Energie verbraten sollten als wir durch unsere Nahrung zu uns nehmen, erschien mir auf Anhieb völlig unplausibel. Deswegen habe ich eine Suchmaschine mit etwas wie "CO2-Emission" "Atmung" angeworfen, und ich habe etwas über meinen Bekannten herausgefunden, das ich wirklich nicht wissen wollte.

    Per (übrigens ziemlich lahmen) Faktencheck der Tagesschau stellt sich nämlich raus, dass das Thema „Uh, Menschen in Afrika atmen und machen fast so viel CO2 wie unsere Autos” von einem, nun, intellektuell eher einfach gestrickten Menschen etabliert wurde, der für die AfD im Bundestag sitzt. Gut: solche „Diskurse“ können Menschen auch über Ecken erreichen – vielleicht ist der Bekannte ja gar nicht in AfD-Echokammern unterwegs. Ich nehme das jetzt einfach mal ganz fest an.

    Ziemlich irrelevant

    Lahm ist der Tagesschau-Faktencheck übrigens nicht nur, weil er nicht mal versucht, ein – ja wirklich nicht allzu kompliziertes – physikalisches Argument zu machen, sondern einfach nur irgendeine Autorität zitiert und dann mit völlig albernen Mantissenlängen arbeitet (von „168” bis „2040“, quasi aufs Promille genau), sondern auch, weil er viel zu wenig darauf eingeht, warum genau die Frage nach dem Stoffwechselbeitrag gleichzeitig völlig irrelevant und dramatisch ist.

    Irrelevant ist sie, weil: „Das vom Menschen ausgeatmete CO2 stammt aus dem eigenen Stoffwechsel, war also bereits im biologischen Kreislauf vorhanden“. Weder dieser noch die folgenden Sätze im Faktencheck machen hinreichend klar, was der entscheidende Unterschied ist zwischen Mensch und Betonmischer ist.

    Menschen nämlich essen nach wie vor praktisch nur Dinge, die ungefähr im Jahr vorher Pflanzen waren, oder jedenfalls im Jahrzehnt vorher. Das steht im Gegensatz zu fossilem Kohlenstoff, also Kohlenstoff, der vor vielen Millionen Jahren mal Pflanze war (oder anderweitig aus der Atmosphäre genommen wurde). Während nun Kohlenstoff, der letztes Jahr Pflanze war, plausiblerweise auch demnächst wieder Pflanze sein wird und sich kaum in den Atmosphäre anreichern wird, wird Kohlenstoff, den wir von vor (hunderten) Millionen Jahren in die Gegenwart transportieren, das eher nicht so schnell können – und in der Tat verbleiben jedenfalls große Mengen davon augenscheinlich sehr lange in der Atmosphäre.

    Eine Art, das zu sagen, wäre: „Solange wir weder Zeug aus Kohle noch aus Erdöl essen, sind wir unmittelbar nicht schlimmer als die Tiere, die wir verdrängt haben.“ Das „woher“ in der Überschrift deutet diesen Gedanken zwar an, aber es hätte schon sehr geholfen, ihn etwas klarer als über den doch recht abstrakten Verweis auf den „biologischen Kreislauf“ auszusprechen.

    Wir verstoffwechseln also direkt nur sehr wenig fossilen Kohlenstoff; ich denke, ein paar Aromastoffe und und andere Spuren in üblichen Lebensmitteln dürften direkt aus Öl und Gas erzeugt werden, aber selbst Analogkäse wird immer noch aus „Milch-, Soja- oder Bakterieneiweiß und Pflanzenfette als Grundstoffe, teils auch Stärke“ (Wikipedia) gemacht. Solange das so ist, sind wir mit dem Stoffwechsel selbst notwendig im CO2-Gleichgewicht mit unserer Landwirtschaft, die ja ständig den Kohlenstoff aus der Atmosphäre binden muss, der in der Folge wiederum in unseren Därmen landet – wie weit diese Produktions-Konsumptions-Logik noch als „biologischer Kreislauf“ durchgeht, dürft ihr selbst entscheiden.

    Trotzdem schlimm

    Allerdings: auch das Gegenargument ist in der Praxis ungültig, denn es gilt nur für die Sorte Subsistenzlandwirtschaft, die möglicherweise verbreitet bleibt in den Teilen des globalen Südens, die wir noch nicht „in den Weltmarkt integriert haben“: Sie findet ohne Beteiligung fossiler Energieträger statt, der Kohlenstoff, der da verhandelt wird, ist also tatsächlich vom letzten Jahr oder, wo die BäuerInnen mal roden, vielleicht vom letzten Jahrhundert.

    Die marktkonforme Lebensmittelproduktion hingegen hat, zwischen Trockenlegung von Feuchtgebieten, Treckern und Supermärkten, einen gewaltigen Anteil an der Emission (mehr oder, etwa im Fall von Mooren, minder) fossilen Kohlenstoffs, je nach Rechnung zwischen 10% und 30%. Und so ist schon richtig, dass das Wachstum dem Klima den Rest gibt. Das Wachstum der Bevölkerung jedoch hat darauf nur insoweit einen Einfluss, als es normalerweise Wirtschaftswachstum nach sich zieht. Es ist aber nicht die Subsistenzbäuerin, es ist die Produktion für den Weltmarkt, die fossiles CO2 freisetzt.

    Das spiegelt sich in den Abschätzungen der Pro-Kopf-Emission von Treibhausgasen in Our World In Data wider[3]. Während ein Weltmarktbürger wie dieser mangelinformierte AfD-Mensch um die acht Tonnen CO2-Äquivalent emittiert, sind Menschen in der komplett abgehängten Zentralafrikanischen Republik mit 40 Kilogramm im Jahr dabei. 200 Menschen dort haben den Fußabdruck dieses einen AfDlers. Ginge es nur um die Kohlenstoffemissionen, könnten wir „im Westen“ durch eine sehr mäßige Rate von Selbstentleibung noch jede Menge Bevölkerungswachstum im globalen Süden mehr als ausgleichen.

    Aber einerseits ist das nur Teil der Gleichung, und andererseits soll sich ja eigentlich niemand aufhängen. Es bleibt also nicht nur im …

  • Magie im Spam

    Leider vermag mich halbwegs origineller Spam durchaus mal nerdzusnipen (ref; zuvor). Und so habe ich mich heute über ein Angebot für dieses Gerät gefreut:

    Werbebild von irgendeinem Zwischenstecker und seiner Verpackung

    Rechte: Tja, halt bei irgendeinem Spammer.

    Beschrieben wird das im begleitenden Text (genauer: der text/plain-Alternative) als:

    Fangen Sie mit E-Energy schon heute an zu sparen! E-Energy sprecher die erhaltene reaktive Elektroenergie und gibt die aktive Elektroenergie an das Ger&#228;t ab, welches sich im selben Stromkreis mit dem Stromsparer befindet.

    Funktionsweise von E-Energy &gt;&gt;

    Energieeinsparung -50% + Ihr Rabatt -50%!

    Das ist natürlich kompletter Unfug, der mit Physik ungefähr so viel zu tun hat wie in die Zukunft blickende Glaskugeln. Demgegenüber hat selbst der Technobabble der originalen Star-Trek-Serie noch jede Menge Plausibilität. Schön!

    Ebenfalls schön ist, dass stil- und genresicher das, was diese Mail erzeugt hat, nicht in der Lage war, Entities aus dem doofen HTML in ordentliches Unicode zu übersetzen. Dennoch sind die Spammer in der Hinsicht den Schurken von cleverreach voraus, denn immerhin steht etwas im Plain Text.

    Was dort allerdings völlig unklar bleibt: Ist das ein Versuch, Leute zum Klicken auf giftige Links zu verleiten oder will da wirklich wer was verkloppen? In der HTML-Alternative stehen Links drin, und zwar auf eine Domain dirabore.co.in. Habt Verständnis, dass ich keinen Link draufsetze; zwar habe ich nicht viel Pagerank zu vergeben, aber auch den sollen sie nicht haben.

    Das wiederum redirectet (mit einem selbst unterschriebenen Zertifikat) auf eine wirre Seite auf litbeurope.com (soll das Vertipper von libreurope fangen?) mit folgendem Teaser:

    Screenshot mit Text: „So bestrafte ein einfacher Dortmunder die E.ON für den BETRUG and der ganzen Bevölkerung“

    Im Weiteren behauptet der „Text“, eon habe den Einsatz des e-energy-Wunderdings gerichtlich verbieten lassen wollen. Interessanter sind die (vermutlichen) Kauf-Links auf der Seite, denn die haben ohne Javascript keine Ziele. Rauspopeln, welches Javascript die setzt oder diese Leute gar Javascript bei mir ausführen lassen – nun, so neugierig bin ich dann auch nicht.

    Die Frage, ob das Betrug mit funktionslosen Steckern oder nicht ausgeführten Lieferungen ist oder ob das doch nur ein elaborierter Versuch ist, Leuten Malware unterzuschieben: Das muss ich dann wohl offen lassen. Dennoch schönen Dank an die AutorInnen für unterhaltsamen Spam.

    Ergänzung 2022-11-25: Oh wow. Das ist mehr als ein wirres Randphänomen. Es geht offenbar gerade groß im Netz rum – jedenfalls warnt die Bundesnetzagentur vor Maschen dieses Typs (heise online dazu). Was für eine katastrophale Niederlage für unser Schulsystem…

  • Making Linux React to Power Gain and Loss

    Photo of a mains switch built into a power socket

    This is what this post is about: having a single switch for monitor, amplifier, and computer.

    I use an oldish notebook with a retired monitor and an amplifier I picked up from kerbside junk to watch TV („consume visual media“, if you prefer), and I want all that hardware to be switched on and off using a single power switch (see, um… Figure 1).

    Given that the notebook's battery still is good for many minutes, it's a perfectly reasonable stand-in for a UPS. Hence, my problem is quite like the one in the ancient days when big-iron servers had UPSes with just enough juice to let them orderly shut down when the power grid was failing. This used to involve daemons watching a serial line coming in from the UPS. Today, with ACPI in almost every x86 box and batteries in many of them, it's quite a bit simpler.

    This post shows how to automatically power (up and) down with acpid. If you run systemd, you probably will have to do a few extra tweaks to keep it from interfering. Please write in if you figure them out or if things just work.

    Make the Box Wake Up On Power

    The first half is to configure the machine to wake up when mains power returns. Notebooks typically don't do that out of the box, but most ACPI firmwares can be configured that way. On my box, a Thinkpad X230 controlled by a legacy BIOS rather than UEFI, it is a setting in the BIOS setup pages[1]. If you boot through UEFI, you may be able to do this configuration from within the Linux (please write in if you can provide details on that).

    Having said that, let me, perhaps only loosely relatedly, mention /proc/acpi/wakeup, which may play a role in this for you (although it does not on the X230). If you cat this file, you will see something like:

    LID       S4    *enabled   platform:PNP0C0D:00
    SLPB      S3    *enabled   platform:PNP0C0E:00
    IGBE      S4    *enabled   pci:0000:00:19.0
    EXP3      S4    *disabled  pci:0000:00:1c.2
    XHCI      S3    *enabled   pci:0000:00:14.0
    EHC1      S3    *enabled   pci:0000:00:1d.0
    EHC2      S3    *enabled   pci:0000:00:1a.0
    HDEF      S4    *disabled  pci:0000:00:1b.0
    

    Whatever is enabled here will wake the machine up, sometimes depending on whether it is hibernating or just suspended. There are various events that could cause a wakeup, such as when the lid is opened (in the ACPI lingo used here, LID), when a Wake-on-LAN packet arrives (IGBE), when the sleep/power button is pressed (SLPB) or when someone puts in a signal via USB (XHCI, EHC1, ECH2; typically, that would be a keyboard)[2]. To change this, you echo the respective string into the file, which toggles the enabledness:

    $ echo LID | sudo tee /proc/acpi/wakeup
    LID
    $ cat /proc/acpi/wakeup | grep LID
    LID       S4    *disabled  platform:PNP0C0D:00
    

    If there's no obvious BIOS setting for waking up the machine on power, look for something like PWR in /proc/acpi/wakeup. Incidentally, disabling wakeup sources here may actually conserve battery power when hibernating.

    Make the Box Hibernate on Mains Loss

    The second half is that the machine should go into hibernation when I flip the central power switch. A straightforward way to get there is to talk to the acpid. It seems it is still standard on PC-style hardware even when there is systemd.

    So, let us configure it to call an appropriate script when it switches to battery mode (i.e., the power has gone). You can do that sufficiently well by writing:

    # /etc/acpi/events/battery
    # Called when AC power goes away and we switch to battery
    
    event=battery.*
    action=/etc/acpi/to-battery.sh
    

    to /etc/acpi/events/battery. The Debian-distributed acpid already has that file, but it calls the script power.sh, which, as delivered, does something entirely different; you could modify power.sh to your liking, but it's cleaner to use a different, custom script, for instance, because it is less hassle on dist-upgrades. Disclaimer: This will fire too often, namely both on power up and down. However, at least on my hardware that doesn't hurt, and it doesn't seem acpid generates different events for battery in/out.

    Then create the script /etc/acpi/to-battery.sh. I've written this there:

    #!/bin/sh
    
    sleep 2
    if [ `cat /sys/class/power_supply/AC/online` -eq 1 ]; then
      exit
    fi
    
    # x230 specials; you probably won't need them
    buslist="pci i2c"
    for bus in $buslist; do
      for i in /sys/bus/$bus/devices/*/power/control; do
          echo on > $i
      done
    done
    
    logger "powerbutton-acpi-support enter"
    sync
    sync
    echo platform > /sys/power/disk
    echo disk > /sys/power/state
    logger "powerbutton-acpi-support leave"
    
    (sleep 12; ntpdate pool.ntp.org) &
    # this is just an example of an extra hack for resetting a TV
    # card that would be broken after the wakeup.
    (sleep 2; logger reloading tv; /usr/local/bin/uhubctl -l 1-1 -a cycle) &
    

    This thing first waits two seconds and then ensures AC is really gone before doing anything else; this is because on my box I occasionally received spurious power loss notifications, and hibernating the box just when something interesting was on TV has interrupted the rare moments of enjoyable programming a few times too often. Besides, this will catch cases where the battery event is generated by power coming back.

    After that, I'm running a few specials where I enable power management on the PCI and I²C busses of the machine. That has been broken for some reason or another at least on one kernel version or another on this particular box. I've left it the script above in as an inspiration for how you could intervene if something doesn't quite work and needs some fiddling.

    It then proceeds to sync the disk, just in case something goes wrong on suspend or resume and eventually does a low-level hibernation. You could probably use pm-hibernate or some systemd facility just as well, but I personally have found the direct operation of /sys/power to be at the same time the least hassle and the least fragile option (at least if you're prepared to write a few lines of script like the bus loop in my example).

    The last two commands – an NTP update and a hack to reset a USB device that is confused after a wakeup – are executed as part of the wakeup (but in background shells so the box is quickly responsive again). Adapt to your needs.

    Enjoy – and conserve energy by centrally pulling power from all the greedy little wall plug transformers.

    [1]On the X230, to change it I had to press Enter immediately after power-up, then F1, and then navigate to “Power On with AC Attach“ in the Config pane – but regrettably, there's nothing even resembling a standard there, and given this is tech supposedly obsolete since, what, 15 years, I don't think there will ever be one.
    [2]In case you're wondering what HDEF is: Well, it's audio, according to other things ACPI. What I don't know is how to make the audio hardware send a wakeup sinal. I've tried plugging in a headphone, and that didn't work. If you know more… well, again, totally feel free to write in.
  • Wird Thomas Watson Recht behalten?

    In der diesjährigen Buchmesse-Sendung von Forschung aktuell am Deutschlandfunk ging es vor allem um Bücher zur Zukunft an und für sich. In der Anmoderation dazu sagte Ralf Krauter:

    Die Geschichte der Menschheit ist denn auch voll von krass falschen Prognosen. Die vielleicht bekannteste – oder eine meiner Favoriten – kennen Sie womöglich. Tom Watson, der fühere IBM-Chef, sagte im Jahr 1943 mal: Ich denke, es gibt einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer. Kam dann anders, wie wir alle wissen, aber es zeigt schon: Selbst die Prognosen von absoluten Fachleuten sind mit Vorsicht zu genießen.

    Als ich das gerade gehört habe, wollte ich spontan einwenden, dass das Urteil über Thomas Watsons Prognose noch aussteht. Natürlich wird es auf absehbare Zeit hunderte Milliarden von Mikroprozessoren geben, aber die meisten von denen tun Dinge, für die es früher vielleicht diskrete Steuerungen oder Analogelektronik gegeben hätte – sie dienen genau nicht als die universellen programmierbaren Geräte, die Watson bei seiner Schätzung im Kopf gehabt haben wird.

    Viele andere sind verbaut in den späten Erben der Fernschreiber und Terminals der Großrechnerära: Den Mobiltelefonen, die heute vielfach kaum mehr sind als Ein-/Ausgabegeräte für eine Handvoll großer Computer. Dabei muss mensch nochmal die Augen etwas zusammenkneifen; wenn wir Watson geben, dass er von riesigen Mainframes gesprochen hat, mit vielen, vielen CPUs, dann sind die heutigen „Clouds“ von Google, Facebook, Microsoft und Alibaba im Wesentlichen jeweils ein Computer im Sinn von Watson. In dieser Zählung – in der Router und Endgeräte nicht, die Rechenzentren der „Hyperscaler“ jeweils als ein Computer zählen – teilen sich in der Tat fünf oder zehn Computer den Großteil der Computernutzung eines Großteils der Menschheit.

    Je dominanter das Modell wird, in dem dumme Clients unter Kontrolle von Apple bzw. Google („Smartphones“) Dienste ausspielen, die auf einer kleinen Zahl von Infrastrukturen laufen („Cloud“), desto näher kommen wir wieder Watsons Einschätzung. Noch gibt es natürlich ordentliche Computer in allen möglichen Händen. Wie sehr sich die Menschen jedoch schon an das Konzept gewöhnt haben, dass sie nur Terminals, aber keine eigenen Computer mehr haben, mag eine Anekdote von meiner letzten Bahnreise illustrieren.

    Ich sitze im Zug von Würzburg nach Bamberg; er steht noch im Bahnhof. Ich kann mich nicht beherrschen und linse kurz auf den Bildschirm neben mir, und ich bin sehr erfreut, als dort jemand halbwegs ernsthafte Mathematik tippt, natürlich mit dem großartigen TeX. Meine Freude trübt sich etwas auf den zweiten Blick, denn der Mensch benutzt Overleaf, ein System, bei dem mensch in einem Webbrowser editiert und den TeX-Lauf auf einem Server macht, der dann die formatierten Seiten als Bilder wieder zurückschickt.

    Ich habe Overleaf, muss ich sagen, nie auch nur im Ansatz verstanden. Ich habe TeX schon auf meinem Atari ST laufen lassen, der ein Tausendstel des RAM der kleinsten heute verkauften Maschinen hatte, dessen Platte in einem ähnlichen Verhältnis zur Größe der kleinsten SD-Karte steht, die mensch heute im Drogeriemarkt kaufen kann. Gewiss, mit all den riesigen LaTeX-Paketen von heute wäre mein Atari ST überfordert, aber zwischen dem TeX von damals und dem TeX von heute ist kein Faktor 1000. LaTeX ist wirklich überall verfügbar, und es gibt gut gewartete und funktionierende Distributionen. Wer mit anderen gemeinsam schreiben will, kann auf eine gut geölte git-Infrastruktur zurückgreifen. Am wichtigsten: die Menschen vom Stamme vi können damit editieren, jene der emacs-Fraktion mit ihrem Lieblingseditor, niemand wird auf das hakelige Zeug von Overleaf gezwungen.

    Aber zurück zur Anekdote:

    Obwohl er also ganz einfach TeX auch auf seinem Rechner laufen lassen könnte, klickt mein Sitznachbar nur ein wenig hilflos herum, als wir den Bahnhof verlassen und mit dem WLAN auch das Hirn von Overleaf verschwindet. Er versucht dann, mit seinem Telefon die Nabelschnur zum Overleaf-Computer wiederherzustellen, aber (zum Unglück für Herrn Watson) ist die Mobilfunkversorgung der BRD marktförmig organisiert. Die Nabelschnur bleibt am flachen Land, wo zu wenig KundInnen Overleaf machen wollen, gerissen. Schließlich gibt er auf und packt seinen Nicht-Computer weg. Zu seinem Glück geht auf seinem Telefon immerhin noch mindestens ein Spiel ohne Internetverbindung…

    Dass die gegenwärtige Welt offenbar gegen die Vorhersagen von Thomas Watson konvergiert, dürfte kein Zufall sein. Watson war ein begnadeter Verkäufer, und er hat vom Markt geredet. Spätestens seit das WWW breite Schichten der Bevölkerung erreicht, wird auch das Internet mehr von begnadeten VerkäuferInnen und „dem Markt“ gestaltet als von BastlerInnen oder Nerds.

    Wenn ihr die Welt mit fünf Computern für eine Dystopie haltet und das Internet nicht „dem Markt“ überlassen wollt: Arg schwer ist das nicht, denn zumindest Unix und das Netz haben noch viel vom Erbe der WissenschaftlerInnen und BastlerInnen, die die beiden geschaffen haben. Siehe zum Beispiel die Tags Fediverse und DIY auf diesem Blog.

  • Ach Bahn, Teil 11: Wenn Geschenke schlechte Laune machen

    Eine Papier-Fahrkarte auf dem Bezug von Nahverkehrssitzen in den Bahn

    Sieht zwar digital aus, funktioniert aber und geht schnell: Eine Fahrkarte aus dem Automaten auf den weichen Polstern der Nahverkehrs-Bahn.

    Die Bahn verschickt ja dann und wann mal Gutscheine über einige Euro, einzulösen für Fahrkarten innerhalb eines relativ knappen Zeitraums. Ich zum Beispiel habe gerade einen über 15 Euro, der bis zum 30.11. wegmuss – und ich kann ihn nur einlösen, wenn ich über 50 Euro verfahre. Viele Gelegenheiten dafür gibts bei mir nicht mehr.

    Leider würde dieser Gutschein nur auf der Webseite der Bahn funktionieren, also weder am Automaten noch gar am Schalter. Das war früher (wie in: bevor man „Digitalisierung“ machen musste) kein schlimmes Problem. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich für 15 Euro in Einzelfällen durchaus bereit bin, meine natürliche Abneigung gegenüber Marketing zu überwinden.

    Digitalisierung ist, wenn Menschen, die keinen Bock drauf haben, Computer verwenden müssen.

    Inzwischen jedoch hat sich die Bahn digitalisiert. Digitalisierung ist, ich habe schon mal drüber geschrieben, wenn alles außer Werbung und Ausforschung kaputt ist. Jedenfalls, bis mensch es einmal aus- und wieder eingeschaltet hat. So auch heute bei der Bahn, nur, dass ich die nicht powercyclen kann.

    Um halb neun versuche ich zum ersten Mal zu buchen. Ich muss ein hCaptcha mit „Tassen mit Kaffee“ lösen. Ich füge mich: Für 15 Euro mache ich ein Mal sogar so einen Scheiß. Nach erfolgreichem Lösen (ob das wirklich immer Kaffee war in den Tassen? Wer weiß?) bekomme ich aber nur ein „429 Too Many Requests“ von der Bahn.

    Ich fluche und verfluche das giftige Geschenk der Bahn, zumal ich schon ahne, was kommt, wenn ich einen Reload mache. Klar: ich bekomme das nächste Captcha. Libellen. 7 Euro 50 pro gelöstem Captcha sind allmählich schon unterhalb der Grenze meiner Käuflichkeit. Wird aber sowieso nichts, denn „429 Too Many Requests“.

    Um den Zorn auf das Bahn-Management etwas abkühlen zu lassen und den Computer-Leuten der Bahn etwas Zeit zu geben, den Mist geradezuziehen, beschließe ich, das um 11 Uhr nochmal zu probieren.

    Digitalisierung ist, wenn es Werbung zeigt und dann abstürzt.

    Ich lese meine Mails. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, denn die Bahn schreibt:

    Subject: Aktualisieren Sie Ihr Konto

    Ihr Administrator hat soeben beantragt, dass Sie Ihr Deutsche Bahn-Konto aktualisieren, indem Sie folgende Aktion(en) ausführen: requiredAction.CONFIGURE_TWO_FACTOR_AUTH. Klicken Sie auf den untenstehenden Link, um diesen Prozess zu starten.

    https://accounts.bahn.de/auth/realms/db/login-actions/action-token?key=<691 byte base 64>

    Wie bitte? Wozu soll ich mich Zwei-Faktor-authentifizieren, wenn ich nicht mal ohne so Klimbim reinkomme? Warum bitteschön soll ich zum Fahrkartenkauf in Zukunft ein Telefon brauchen, das mir Anweisungen gibt, welche Zahlen ich in einen Computer zu tippen habe, damit die Bahn sich herablässt, mein Geld zu nehmen?

    Es geht hier ja wirklich nicht um Fort Knox oder die Codes der Atombomben in Büchel, sondern allenfalls darum, dass mal wer auf meine Kosten Zug fahren könnte. Das Risiko dafür schätze ich übrigens nach 20 Jahren elektronisch gekauften Bahnfahrkarten als im Wesentlichen verschwindend ein, um so verschwindender, als die Bahn ja noch nicht mal bona fide-KundInnen online Karten verkauft. Jedenfalls nicht mir.

    Und dann, ganz ehrlich, Bahn: Ihr kriegt ja nicht mal mehr eure normale Infrastruktur auch nur ansatzweise auf Reihe. Wie könnt ihr da irgendeine Hoffnung hegen, etwas wie 2FA so hinzubekommen, dass das nicht nur bei Neumond und Nipptide tut, was es soll?

    Digitalisierung ist, wenn alles außer Werbung und Ausforschung kaputt ist.

    So ist auch das Ende der Geschichte absehbar. Ich bereue, dass ich keinen Screenshot gemacht habe. hCaptcha ist weiter online, aber offensichtlich im Spott-Modus: Kaninchen am Strand. KANINCHEN AM STAND?!? Solche Witze finde ich nicht lustig, wenn ich gerade merke, dass ich für fünf Euro pro Runde Tassen, Libellen und Kaninchen am Stand angeklickt habe. Au weia. Baisse an der Börse, auf der meine Würde gehandelt wird (einschlägiger Dilbert-Strip).

    Die Pointe war wenig überraschend, dass auch das wieder nur auf ein 429 Too Many Requests führte. Am Bahnhof hingegen hatte ich meine Fahrkarte am Automaten in ungefähr einer Minute, ganz ohne Captcha und 2FA, und ganz ohne Versuchung, irgendeinen Marketingquatsch mitzumachen.

    Ich war schon ein fanatischer Feind der Digitalisierung (also: Menschen, die keinen Bock drauf haben, müssen Computer verwenden), sobald sie wer erfunden hatte. Mein Fanatismus hat heute morgen viel Nahrung bekommen. Und nein, nur weil der Fahrkartenautomat einen Computer hat und seine NutzerInnen gelegentlich demütigt, ist er noch lang keine Digitalisierung; dafür funktioniert er zu zuverlässig, schnüffelt zu wenig und verlangt nicht von mir, Code von ihm unbesehen auf meinem Computer laufen zu lassen.

    Vielleicht fängt er an, Digitalisierung zu sein, wenn er erstmal Werbespots zeigt, bevor er Karten druckt. Und dabei abstürzt.

  • Ach, Fraport: Verdrängung von Armut

    Neulich war ich mal wieder am Frankfurter Flughafen[1], und als ich mich bei der Gelegenheit etwas umgesehen habe, ist mir das hier aufgefallen:

    Foto: Mülleimer mit: „Jede unberechtigte Entnahme wird als Diebstahl angezeit“

    Die Kreativität, Armut in der Gestalt von FlaschensammlerInnnen aus den Hallen vor den Business Lounges ausgerechnet über das Eigentumsrecht am Müll anderer Leute fernhalten zu wollen, verdient eine zweifellos einige, wenn auch entsetzte, Bewunderung.

    Allerdings stellt sich bei diesem haarsträubenden Rechtskonstrukt die interessante Frage: Kann eigentlich Fraport da klagen? Habe ich, wenn ich etwas in diesen Mülleimer werfe, es damit Fraport geschenkt? Und was ist, wenn ich, Pfand gehört daneben, mein Leergut einfach neben den Mülleimer stelle – bleibe ich dann nicht Eigentümer, um so mehr, als Fraport mich ja womöglich deshalb verfolgen könnte?

    Wie auch immer: Die Schurken von der Startbahn West haben es mit diesem Schild geschafft, nicht nur die Supermärkte mit ihrem verbissenen Feldzug gegen das Containern zu toppen – immerhin verfolgen die Supermärkte noch Leute, die Krempel nehmen, den sie selbst weggeworfen haben. Nein, Fraport wirkt hier als Sympathieträger für die Bahn, die zwar arme Menschen durchaus auch mal belästigt und dafür allerlei Hausordnungstricks aufruft; Aggression gegen FlaschensammlerInnen im Auftrag der Bahn ist mir aber noch nie aufgefallen.

    [1]Disclaimer: Das mag sich so anhören, als müsste ich jetzt Flugscham haben, aber das ist nicht so. Über Teilnahme-an-Fragwürdigen-Treffen-Scham können wir reden.
  • Hart durchgreifen gegen Aggressoren?

    CDU-Wahlplakat mit Slogan: "Hart durchgreifen"

    1999 zeigte sich die hesssische CDU ganz besonders autoritär. Das Plakat warb um Stimmen bei der Landtagswahl am 7.2.1999, kurz vor dem Überfall auf Restjugoslawien, um den es ab hier gehen soll (CC-BY-SA KAS).

    Glücklicherweise ebbt die patriotische Aufwallung vom Frühling des Jahres allmählich ab, und selbst die kommerzielle Öffentlichkeit scheint sich, wenn auch nur in glazialem Tempo, auf die Einsicht zu besinnen, dass das Töten von Menschen nur zu mehr Gemetzel führt. Dennoch ist die Ansicht, der Aggressor müsse auf jeden Fall ordentlich bestraft werden, bevor mensch mit dem Töten aufhören könne, immer noch alarmierend häufig zu lesen.

    Mal die Frage beiseite, ob „der Aggressor“ selbst im Ukrainekrieg so sicher zu bestimmen ist: Das ist natürlich ein ganz massives Nachgeben gegenüber der autoritären Versuchung. Die Fantasie, mit Gewalt und Strafe Verhalten anderer gestalten zu können, funktioniert schon im Strafrecht allenfalls so la-la, obwohl der Staat verglichen mit jenen, die er seiner Disziplin unterwerfen will, praktisch unbegrenzte Gewaltmittel hat. Der Plan, den Umgang von ja innerhalb von ein paar Größenordnungen gleichstarken Staaten[1] gewaltförmig zu zivilisieren, ist hingegen von vorneherein ein Rezept für endloses Blutvergießen.

    Als Bewohner der Bundesrepublik Deutschland bin ich tatsächlich ziemlich froh, dass es diese Sorte Strafgericht zwischen Staaten nicht gibt (mal von Rechtfertigungsreden für Krieg und Waffenlieferung abgesehen), denn ich habe keine Lust, für die diversen Angriffskriege meiner Regierungen und ihrer Freunde bestraft zu werden, um so weniger, da ich über die Jahre gegen sie alle angekämpft habe.

    Beweismittel: Ein Bericht der OSZE

    Ein besonders schlagendes Beispiel für strafwürdiges Verhalten liefert der erste ordentliche[2] Angriffskrieg der BRD-Geschichte, der Angriff auf das ohnehin schon gerupfte Restjugoslawien im Jahr 1999. Das Rationale damals war, es müsse dringend „ein neues Auschwitz verhindert werden“ (so Außenminister Josef Fischer). Parallelen zum heutigen Bullshit von der „Entnazifizierung der Ukraine“ dürfen gesehen werden; und klar ging es in beiden Fällen in Wirklichkeit darum, Klientelregimes der jeweiligen Gegenseite – die Milošević-Regierung von Restjugoslawien für Russland damals, die Seliniski-Regierung für „uns“ heute – zu schwächen oder idealerweise gar zu stürzen. Nebenbei: die weitere Geschichte des serbischen Staates lässt ahnen, dass diese Sorte gewaltsamen Regime Changes in der Regel nicht so richtig toll funktioniert.

    Wie dünn die Geschichten mit dem zu verhindernden „Auschwitz“ und den Hufeisenplänen waren, war damals genauso klar wie es die Schwächen der öffentlich beteuerten Kriegsgründe auf allen Seiten heute sind. Insbesondere stand während des gesamten Kosovokriegs auf der Webseite der OSZE der Bericht einer Beobachtermission, die bis kurz vor „unserem“ Angriff die Dinge im Kosovo im Auge behielt (Backup als PDF).

    Ich möchte hier ein paar Ausschnitte aus diesem Bericht vorstellen, um zu zeigen, wie sehr „wir“ damals Aggressor waren und wie fadenscheinig die Vorwände für den Überfall.

    Während der Umfang der militärischen Auseinandersetzungen im Februar abgenommen hat, setzte die UCK ihre Angriffe auf die serbische Polizei fort. Das umfasste isolierte Zusammenstöße und sporadisch Schusswechsel, zeitweise auch den Einsatz schwerer Waffen durch die Jugoslawische Armee.

    Also: keine Frage, da haben Leute aufeinander geschossen, aber das war dennoch klar ein Guerillakrieg von Freischärlern[3] und mitnichten irgendein „Vernichtungsfeldzug“ im Stil der deutschen Armee der 1940er Jahre. Das war nicht die gleiche Liga, das war nicht das gleiche Stadion, das war nicht mal die gleiche Sportart – eine Feststellung, auf die ich übrigens auch im Hinblick auf die aktuellen Kämpfe Wert lege.

    Polizei im Schwarzenegger-Stil

    Sehen wir mal an, wie das konkret aussah:

    Am 20. Januar [1999] endete eine polizeiliche Durchsuchung im Gebiet von Mitrovica in einem Schusswechsel und dem Tod von zwei UCK-Mitgliedern. Der Zwischenfall wurde von der OSZE-Mission durchgehend beobachtet. Die Polizei umstellte zwei Häuser und forderte die BewohnerInnen auf, sich zu ergeben. Diese reagierten mit Feuer aus Kleinwaffen. Eine Vermittlung durch die OSZE-Mission scheiterte, als die BewohnerInnen das Feuer mit panzerbrechenden Raketen eröffneten. Die Polizei antwortete mit Flak-Feuer. Die Leichen von zwei UCK-Kämpfern wurden gefunden. Es wurde geschätzt, dass 10 weitere BewohnerInnen geflohen waren.

    Ich gebe zu: Wenn die Polizei mit Flak-Geschützen rumfährt, ist klar was nicht in Ordnung. Aber wenn sie das tut, weil irgendwer mit Panzerfäusten auf sie schießt, ist gleichzeitig offensichtlich, dass mehr Waffen und mehr Rumballern die Situation gewiss nicht verbessern werden. Übrigens finde ich recht beeindruckend, dass da 10 Leute trotz Polizeiflak davongekommen sind. Ich will im Angesicht von Flak lieber nicht von verhältnismäßigem Einsatz von Gewalt sprechen, aber verglichen mit so manchem Waffengebrauch der deutschen Polizei müssen die damals den Abzug eher verhalten bedient haben.

    Bemerkenswert ist ebenfalls, dass das offensichtlich wie eine recht normale Polizeiaktion anfing, so mit Umstellen und Durchsagen und allem. Zum Vergleich, wie sowas in einem „richtigen“ Krieg aussieht (wohlgemerkt: immer noch kein „Vernichtungskrieg“), sei der Artikel Fallujah during the Iraq War aus der englischsprachigen Wikipedia und einige der verlinkten Quellen empfohlen; diese Lektüre hilft übrigens auch beim Nachvollziehen der Genese eines Zivilisationbruchs vom Kaliber des IS.

    Parenthetisch kann ich bei der Alliteration von Polizei und Panzerfaust nicht anders, als genüsslich §69 des Polizeigesetzes Baden-Württemberg zu verlinken.

    Terroristen!

    Aber weiter im OSZE-Bericht:

    Die UCK hat am 22. Januar fünf alte serbische ZivilistInnen aus Nevoljane (westlich von Vucitrn) entführt. Sie teilte der OSZE-Mission mit, dass die Geiseln an die OSZE übergeben würden, wenn die Polizei ihre Arbeit in der Gegend von Vucitrn einstellen würde […] Die OSZE-Mission hat die Entführung dieser ZivilistInnen mit Nachdruck als einen Akt des Terrorismus verurteilt.

    Eingestanden: anständige Leute sagen nicht Terrorismus. Aber da das nun mal Politprofis waren, die damals die Dinge im Kosovo begutachteten, sei ihnen die Gaunersprache gegönnt. Wichtiger für die Frage der Legitimation unserer Aggression ist jedoch: Diese Sorte von Entführen und Erpressen ist auch nicht gerade das, was mensch unmittelbar vor dem „Auschwitz“ von Außenminister Fischer erwarten würde.

    Unterdessen gab es tatsächlich eine Ecke, in der die UCK richtig Krieg gespielt hat:

    Am 28. und 29. Januar gab es Berichte über Mörser-, Panzer- und Maschinengewehrfeuer südlich von Podujevo in Richtung des Dorfes Kisela Banja. Es gibt keine Berichte über Opfer, jedoch wurden in der Gegend zahlreiche Personen auf der Flucht beobachtet. Der fortgesetzte Stellungskrieg zwischen UCK und den Sicherheitskräften in diesem Gebiet, in dessen Rahmen beide Seiten Gräben gezogen und Stellungen vorbereitet haben, war über den gesamten Berichtszeitraum hinweg besonders besorgniserregend. […] Die OSZE-Mission hat gegen die Verletzung der Waffenstillstandsregeln durch beide Seiten protestiert.

    Der Punkt hier ist: es war nicht etwa so, dass die jugoslawische Armee im Falluja-Stil durch die Dörfer gezogen wäre und Kram kaputt gehauen hätte. Nein, es gab einfach ein Widerstandsnest, das sie nicht haben erobern können. Angenommen, irgendwelche Radikalkurpfälzer würden sich am Heidelberger Schloss…

    Foto: das Heidelberger Schloss mit wilden Wolken

    …verschanzen: wie würde wohl die Regierung in Berlin reagieren? Ich denke, auf diese Frage konnen wir Antworten aus der Geschichte bekommen.

    Mafia-Methoden

    Zurück ins Restjugoslawien des Jahres 1999:

    Die Gewalt in den Städten hat im Februar stark zugenommen. Pristina, Mitrovica, Pez, Urosevac haben alle derartige Zwischenfälle erlebt. In ihnen wurden fünf Menschen getötet und mehr als ein Dutzend verletzt. Im schlimmsten dieser Fälle wurde am 6. Februar eine Bombe außerhalb eines kleinen albanischen Ladens in Pristina gezündet. Sie tötete den Besitzer und zwei PassantInnen, darunter eine Teenagerin.

    Es gab weitere Berichte, wie die UCK „polizeiliche“ Gewalt unter den AlbanerInnen ausübte und Strafmaßnahmen durchführte gegen Personen, die der Kollaboration mit den Serben beschuldigt wurden […] Die meisten Opfer waren gut ausgebildete Männer, von serbischer Seite beschrieben als „loyale Bürger von Serbien“. Sie wurden durch Schüsse in den Kopf getötet.

  • Vögel von unten betrachten

    Grüne Papageien sitzen herum, einer davon lüftet seine Flügel

    VertreterInnen von Heidelbergs Halsbandsittich-Population im Dezember 2018. Beachtet, wie die Unterseite der Schwingen deutlich stärker gemustert ist als die Oberseite.[1]

    Schon im Juli hat Forschung aktuell im Deutschlandfunk kurz ein Paper erwähnt, das mein Amateurinteresse an Zoologie geweckt hat: In den Wissenschaftsmeldungen vom 6.7. hieß es ungefähr 2 Minuten in das Segment rein, die oft wilden Muster auf den Unterseiten von Vogelflügeln könnten der Vermeidung von Kollisionen zwischen den fliegenden Tieren dienen.

    Die zugrundliegende Arbeit ist „Contrasting coloured ventral wings are a visual collision avoidance signal in birds“ von Kaidan Zheng und KollegInnen von der Sun Yat-sen-Uni in Guangzhou[2] und der Uni Konstanz, erschienen in den Proceedings B der Royal Society, Vol. 289, doi:10.1098/rspb.2022.0678. Forschungsziel dieser Leute war, Risikofaktoren für Kollisionen – also etwa große Schwärme, Bedarf an hektischen Manövern (sagen wir: Paviane überfallen Flamingos), eingeschränkte Manövierfähigkeiten (z.B. bei großen, schweren Vögeln) – mit auffällig gemusterteten Flügelunterseiten zu korrelieren.

    Mich hat das wahrscheinlich vor allem deshalb angesprochen, weil im Garten von meinem Institut regelmäßig kleine Schwärme der oben abgebildeten Halsbandsittiche waghalsige Flugmanöver vollziehen, und dabei zwar viel Krach machen, aber erstaunlicherweise nie ineinander oder gar in die Äste der Bäume fliegen. Und ich bin jederzeit dafür, dass Wissenschaft sich solcher Alltagsrätsel annimmt.

    Die Studie hat auch meine Sympathie, weil sie ein Beispiel ist für Archive Science, also Wissenschaft, die auf der geschickten Nachnutzung bereits bestehender Daten basiert. Das macht fast immer weniger Dreck als neu erhobene Daten, spart besonders im Bereich der Biologie der Ethikkommission Arbeit, und, davon bin ich jedenfalls fest überzeugt, sie hat das Zeug dazu, unerwartete Zusammenhänge aufzudecken, die im üblichen Beantragen-Messen-Publizieren-Zyklus schwer zu finden sind.[3]

    Hunderttausend Blicke

    Wobei: Ganz ohne Leid ging auch diese Studie nicht ab. Die AutorInnen haben Bilder von 3500 Unterseiten von Vogelflügeln aus drei verschiedenen Archiven im Netz gezogen und dabei 1780 Spezies abgedeckt. Um den gesuchten Zusammenhang zu finden, mussten sie zunächst bestimmen, wie konstrastreich oder markant die jeweiligen Flügel eigentlich sind. Dazu haben sie vor allem 30 Studis der Sun Yat-Sen-Uni rekrutiert, die jeweils alle diese Bilder als „starker Kontrast“ oder „eher nicht“ klassifizierten. 3500 Bilder sind viel, wenn mensch sie beurteilen soll. Ich frage mich, wie sich wer nach so einer Sitzung fühlt.

    Um mal eine grobe Abschätzung einzuwerfen: Wenn die Leute schnell waren und alle 10 Sekunden so eine Klassifizierung hinbekamen, reden wir über 30 × 3500 × 10  s ≈ 106 Sekunden oder knapp zwei Wochen (nämlich: 1/30 Jahr) konzentrierter Bildbeurteilung, die in die Arbeit geflossen sind. Whoa.

    Daraus jedenfalls kommt der Score, mit dem das Paper vor allem arbeitet: Wie viele der KlassifiziererInnen haben den Flügel als kontrastreich klassifiziert? Der Score ist auch mal nicht-ganzzahlig, wie etwa beim Sperber in Abbildung 1, der auf 0.4 kommt; das passiert, wenn mehrere Bilder einer Spezies gemittelt werden.

    Für kontrolliert aufgenommene Bilder aus Museumssammlungen berechnet das Paper weiter als eine Art „objektiver“ Größe Standardabweichungen über die Grauwerte der Pixel der Schwingen. Zu dem Teil der Arbeit hätte ich einiges Rumgemäkel. Ganz vornedran gefällt mir nicht, dass dieses Maß kleinräumiges Rauschen, das plausiblerweise nicht gut als mittelreichweitiges Signal taugt (und das sie in ihren Anweisungen für ihre Studis auch wegfiltern wollten), genauso behandelt wie großräumige Strukturen. Mit etwas Glättung und Segmentierung wäre das sicher viel besser gegangen, und da sie eh schon opencv verwenden, hätten es dazu auch nicht schrecklich viel Aufwand gebraucht.

    Eigenartig finde ich auch, dass sie die Bilder in Grauwerte umgerechnet haben, während sie im Paper öfter über Farben reden. In der Tat muss mensch Vögel nur ansehen, um stark zu vermuten, dass sie (und ganz besonders die Vogelfrauen) sehr wohl Farben wahrnehmen. In der Tat sehen manche sogar UV und dürften in jedem Fall eher besser Farbwahrnehmung haben als wir.

    Ich hätte also die „objektiven“ Kontrastscores doch zumindest mal separat nach Farbkanälen ausgewertet – das wäre nicht viel Arbeit gewesen und hätte das Hedging in der Artikelzusammenfassung überflüssig gemacht. Aber dann: es spielt für den Rest des Papers nur eine eher untergeordnete Rolle, weil sie diese Standardabweichungen eigentlich nur dazu verwenden, ihre „manuellen“ Scores zu validieren, indem nämlich (für mich offen gestanden etwas überraschend) die beiden Typen von Scores recht stark korrelieren.

    Zu diesen Scores kamen schließlich aus anderen Archiven – vor allem wohl dem trotz Javascript- und local storage-Zwang bezaubernden Birds of the World – Merkmale wie Masse, Schwarmgröße oder „Koloniebrüterei“ für 1780 Spezies, wobei letzteres einfach wahr oder falsch sein konnte.

    Monte Carlo Markov Chain

    Und jetzt mussten die AutorInnen nur noch sehen, welche dieser Merkmale mit ihren Kontrast-Scores korrelierten. Dazu fuhren sie recht schweres Geschütz auf, nämlich über MCMC-Verfahren geschätzte Verteilungen – erfreulicherweise unter Verwendung der Freien Software R und MCMCglmm. Ich kann nicht sagen, dass ich verstehen würde, warum sie da nicht schlichtere Tests machen. Vermutlich würde es helfen, wenn ich wüsste, was „the phylogenetic relatedness among species was included as a random effect in these models“ praktisch bedeutet und warum sie das überhaupt wollen.

    Aber solche Fragen sind es, wozu mensch FachwissenschaftlerInnen braucht, und ich bin, was dieses Fach angeht, kompletter Laie (erschwerend: ich habe noch nicht mal in meinem Fach wirklich was mit MCMC gemacht). So will ich gerne glauben, dass das methodisch schon in Ordnung geht.

    Vielleicht ist das aber auch wurst, denn die nach den Modellen richtig überzeugende Korrelation ist auch in Abbildung 3 des Papers mit einer großzügigen Portion Augenzusammenkneifen zu erkennen:

    In klaren Worten: Bei Vögeln, die in Kolonien brüten, geht die Strukturierung der Flügelunterseiten deutlich stärker mit der Masse des einzelnen Vogels nach oben als bei Vögeln, die das nicht tun. Wer etwa die Pelikane von Penguin Island vor Augen hat:

    Foto: Pelikane und andere Vögel stehen in loser Gruppe, zwei landen in ziemlicher Nähe

    oder, viel näher und mit kleineren Vögeln, die Insel der Möwen in der Wagbach-Niederung:

    Foto: Insel mit sitzenden und brütenden Möwen

    mag schon ein Bild entwickeln von einem gewissen evolutionären Druck auf, sagen wir, Pelikane, Mechanismen zu entwickeln, die es leichter machen, nicht ineinander zu fliegen.

    Aber ganz ehrlich: so richtig schlagend finde ich das Paper nicht. Ein wenig mehr Betrachtung, warum zum Beispiel die Vögel, die den blauen Punkte rechts unten in der oben reproduzierten Abbildung 3 entsprechen, offensichtlich auch ohne wohlmarkierte Flügel relativ kollisionsfrei gemeinsam brüten können, hätte mir schon geholfen, etwas mehr Vertrauen zu den Schlüssen zu fassen.

    Oder umgekehrt: Koloniebrüter haben plausiblerweise auch andere zusätzliche Kommunikationsbedürfnisse als andere Vögel, z.B. beim auskaspern, wer wo brüten darf (cf. Kopffüßer in Octopolis). Vielleicht kommt der Extra-Aufwand bei der Gestaltung der Schwingen ja auch daher? Und die Korrelation mit der Größe hat vielleicht mehr was mit Beschränkungen bei der Strukturbildung zu tun? Hm.

    Referees, gebt euch etwas mehr Mühe

    Beim Lesen des Textes habe ich mir übrigens an ein paar Stellen gedacht, dass die GutachterInnen des Papers schon noch ein paar gute Ratschläge mehr hätten geben können. So schreiben die AutorInnen allen Ernstes „Birds are well known for their ability to fly, besides a few flightless lineages such as ratites and penguins“ – das kann mensch in einem Kinderbuch machen oder in GPT-3-generierten Textoiden, die die Aufmerksamkeit von Google gewinnen sollen; in einem Fachartikel in einer biologischen Fachzeitschrift wirkt es jedenfalls für einen Physiker ziemlich verschroben.

    Hätte ich das begutachtet, hätte ich weiter angemerkt, dass, wer Rocket Science wie verallgemeinerte lineare Modelle mit MCMC aufruft, besser nicht den Schätzer für die Standardabweichung (Gleichung 2.1) breit ausstellen sollte – und dann noch als einzige Gleichung im ganzen Paper. Das ist ein wenig wie bei dem Monty-Python-Sketch zur Kilimandscharo-Expedition: Wir fahren über die Gneisenaustraße zur B37, wechseln am Heidelberger Kreuz auf die A5 und dann fahren dann weiter zum Kilimandscharo.

    Natürlich ist Begutachtung von Fachveröffentlichung ein brotloser Job (auch wenn ich vermute, dass es fast jedeR macht wie ich und dafür jedenfalls mal eine gute Ecke Arbeitszeit verwendet; dann ist es eine weitere öffentliche Subvention für die Verlage). Aber trotzdem, Referees: Ratet zu weniger Text! Nicht zuletzt gibt es ja bei vielen Blättern noch (und im Zusammenhang mit Open Access gerade) Page Charges – Leute müssen also dafür bezahlen, dass ihre Artikel gedruckt werden, und um so mehr, je länger der Artikel ist. Weniger Text schadet also den Verlags-Geiern und ist mithin ein Gewinn für alle anderen! Ref: „Academic publishers make Murdoch look like a socialist“.

    [1]Disclaimer: Auch, wenn das hier anders aussehen mag, füttere ich mitnichten Papageien oder andere Wildtiere. Aber ich kann nicht lügen: Ich bin jenen dankbar, die es tun, weil ich ohne sie weit weniger hübsche Tiere zu sehen bekäme.
    [2]Stetige LeserInnen dieses Blogs sind der Stadt am Perlfluss zum letzten Mal in SARS-1 und das Zimmer 911 begegnet.
    [3]Noch ein Disclaimer: Ich werde dafür bezahlt, Archive Science zu ermöglichen. Es könnte also sein, dass ich in diesem Zusammenhang nicht mein übliches Neutralitätslevel „Salomon“ erreiche.
  • Betonwüste Heidelberg

    Vier Fotos von Plätzen in Heidelberg mit viel Beton

    Wunderbar fotografiert vom Nabu: Baukunst in Heidelberg. Rechte beim Nabu Heidelberg.

    Anlässlich demnächst anstehender Wahlen zum/r Heidelberger OberbürgermeisterIn hat der lokale Nabu wunderschöne Flugblätter rumgeschickt. Auf dem einen erfährt mensch, dass Heidelberg nur 7 m² öffentliche Grünfläche pro Kopf hat, was selbst Pforzheim – zweifellos eine der hässlichsten Städte der weiteren Umgebung – locker überbietet (13 m²), während Karlsruhe satte 27 m² zu bieten hat. Wo ich gerade aus Karlsruhe zurückkomme: es macht wirklich schwer was aus. Zum Glück hat Heidelberg immerhin die nahen Berge mit ihren einladenden Wäldern.

    Noch besser hat mir das andere Flugblatt gefallen, dessen zentrale visuelle Botschaft diesen Post aufmacht: Die augenblickliche Stadtregierung hat wirklich viel dafür getan, dass der Grünanteil ja nicht wächst. Stattdessen hat sie jede Menge zugepflasterte Plätze produziert. Mehr noch: eine Fläche, die mit etwas gutem Willen als kleiner Park durchgegangen ist, den Montpellierplatz, hat sie für eine neue Tiefgarage weggebuddeln lassen.

    Ich hätte die Misere in dem Bereich nicht besser illustrieren können.

    Opus Caementitium oder Beton?

    Leider ist die Möglichkeit, bei dieser Wahl Informationen zu übertragen, also etwa weniger destruktive Politiken zu einzufordern, auch nach den ohnehin beschränkten Maßstäben dieses Polit-Genres extrem beschränkt. Die Wahl wird entschieden zwischen zwei KandidatInnen, die beide konsequente Beton-, Auto-, Wachstums-, Wettbewerbs- und Ausgrenzungspolitiken fahren werden.

    Da ist zum einen der auf einem breiten Rechtsticket an die Macht gekommene Amtsinhaber Eckhard Würzner, der für die abgebildeten Baukatastrophen verantwortlich ist und nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, den kleinen Pentapark am Neckar für eine Hotelerweiterung zu verhökern. Von absurden Ampeln mit Fahrradsymbolen drauf, die gerade dann grün werden, wenn die kreuzenden Autos auch grün haben, der Komplettasphaltierung der weiteren Umgebung des Bahnhofs oder dem rücksichtslosen Feilbieten der Aufmerksamkeit seiner Untertanen will ich gar nicht anfangen.

    Gegen ihn tritt an Theresia Bauer, die die letzten Jahre als Chefin des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst in Stuttgart von Wachstum und „Exzellenz“ geredet hat. Oh, ich will fair sein: Gegenüber ihrem CDU-Vorgänger Frankenberg hat sie immerhin dafür gesorgt, dass der im Ministerium ausgeschenkte Kaffee nun fair gehandelt war. Wirklich sprechend dagegen ist die Tatsache, dass unter ihr Baden-Württemberg eines der wenigen Bundesländer geworden ist (wenn ich den Überblick nicht verloren habe: das einzige), das noch formale Studiengebühren erhebt, wenn auch nur von Menschen, die nicht aus einem EU-Staat kommen.

    Drei für grüne Studiengebühren

    Das ist wirklich ihr Werk. Ihr diesbezüglicher Eifer ist auch nicht überraschend, denn sie ging schon in den 1990er Jahren, lang vor den Sachzwängen rot-grüner Machtausübung, mit allerlei Studiengebührenmodellen hausieren, gemeinsam mit Boris Palmer (der das damals von der Grünen Hochschulgruppe in Tübingen aus betrieb) und Matthias Berninger, der gerne statt Edelgard Bulmahn[1] Schröders Wissenschafts- und Bildungsminister geworden wäre. Daraus wurde zwar nichts, aber er fand über die Schröder-Jahre im Ministerium für Verbraucherschutz ein Auskommen, bis er nach der Abwahl von Rot-Grün 2005 direkt zu den Zuckerbäckern von Mars wechselte und mithin zu einem der Unternehmen, vor denen „Verbraucher“ am meisten hätten geschützt werden müssen.

    In der Liga intensiv riechender Seitenwechsel nach dem Schröder-Armageddon rangiert das sicher weit vor dem Wechsel von Außenminister Fischer zu BMW – zumal BMW, soweit ich weiß, derzeit nichts von dem Kriegsgerät herstellt, das Fischer einsetzen ließ –, und, soweit es mich betrifft, sogar noch vor der Gazprom-Connection von Schröder selbst.

    Ich kann mir angesichts dieser Freunde und Ideologeme der Kandidatin kaum vorstellen, dass der Nabu mit „Stadtgrün“ eine Empfehlung für den Wahlvorschlag von Bündnis 90/Die Grünen aussprechen wollte. Wenn er das doch gewollt haben sollten, wird es ein bitteres Erwachen geben.

    Nachtrag (2023-04-24)

    Und siehe da: Kaum ist Bauer aus dem Mittnachtbau (dem Sitz des Wissenschaftsministeriums in Stuttgart) ausgezogen, schon geht es mit den Studiengebühren für AusländerInnen zu Ende. Jetzt müssten wir nur noch an die albernen Zweitstudiengebühren ran…

    [1]Das ist die, derem Spätwerk wir die fürchterliche „Exzellenzinitiative“ zu verdanken haben. Ob das mit Berninger nicht ganz so schlimm ausgegangen wäre? Ich würde ja dagegen wetten.
  • 34 Monate Corona im Film

    Im Sommer 2021 habe ich in zwei Posts Filme zur Visualisierung der Corona-Inzidenzen und einer Art Alters-Scores aus den RKI-Daten der vorherigen anderthalb Jahren vorgestellt und ein wenig das Python-Programm diskutiert, das die generiert.

    Ich wollte das über den Sommer immer mal aktualisieren. Aber die Pandemie hat keine erkennbare Pause eingelegt, die eine gute Gelegenheit für eine Art Rückblick gewesen wäre. Jetzt aber ist wohl so in etwa der letzte Moment, in dem so ein Film noch nicht vollständige Clownerei ist, denn schon jetzt testet zumindest anekdotisch kaum mehr jemand. Wenn aber fast niemand PCR-Tests machen lässt, werden die Zahlen, die ich da visualisiere, weitgehend bedeutunglos (weil nicht small data).

    Bevor das Ganze zu einer Art aufwändigen Lavalampen-Simulation wird, habe ich die Programme genommen, dem Inzidenzfilm eine dynamische Colorbar gegönnt – angesichts von Inzidenzen von örtlich über 4000/100'000 im letzten Winter war das bisher feste Maximum von 250 nicht mehr sinnvoll – und habe die Filmchen nochmal mit aktuellen Daten gerendert.

    Hier also die Inzidenzen per Kreis (Hinweise dazu von vor einem Jahr):

    und hier die Alters-Scores (auch dazu Hinweise vom letzten Mal):

    Beide Filme sind mit -i 7 gebaut, jeder Tag ist also sieben Frames lang. Inzwischen wären die Filme zwar auch ohne Interpolation lang genug, aber sie hilft wenigstens dem Lavalampen-Effekt – und natürlich verletze ich gerne das Durchhörbarkeits-Zeitlimit von drei Minuten. Auch wenn die Filme gar keinen Ton machen.

    Ich habe die Gelegenheit genutzt, um den Code, der das macht – statt ihn nur hier zu verlinken, wo ihn niemand finden wird –, brav auf dem Codeberg abzuladen. Vielleicht hilft er dort ja Leuten, die irgendwann irgendwelche Daten in Kreispolygonen von matplotlib aus plotten wollen. Wenn es dafür bessere Standardverfahren geben sollte, habe ich die zumindest vor einem Jahr nicht gefunden.

  • Die BGE spielt Stadt-Land-Fluss

    Mein unergründlicher Stapel von heftoidem A4-Kram, den ich mal lesen sollte, hat heute Einblicke Nummer 10 hervorgespült, die ein Jahr alte Ausgabe des Magazins der Bundesgesellschaft für Endlagerung. Darin fand ich, nicht ganz so angeordnet, diese Illustrationen:

    Drei Dioramen, Stadt, Land und Wasser, jeweils mit darunterliegenden Atommülllagern.

    Rechte bei der BGE

    Mich hat diese Sorte Kunst sofort und direkt angesprochen. Schon die Darstellung des Atommülls: Da sieht mensch gleich, wie der Kram strahlt. Aber natürlich ist insbesondere die Komposition der Dioramen bemerkenswert. Es scheint, als hätte der_die Künstler_in sagen wollen: Stadt, Land, Fluss, ganz egal, wir buddeln überall unsere Höhlen und stellen ein paar Fässer Atommüll rein. Oben drüber merken es weder Banker noch Rinder noch Fische. Doch schon schlängeln sich lange Klüfte in unsere strahlenden Höhlen…

    Ich finde das anrührend und offen gestanden auch allzu verständlich angesichts des wahrscheinlich unlösbaren Problems der BGE. Ich gehe ziemlich hohe Wetten ein, dass sich nach dem Fiasko von Gorleben in der BRD kein Standort für ein Endlager für den hochradioaktiven Müll finden wird, an dem die Polizei Bau und Befüllung nicht paramilitärisch (also wie beim Zwischenlager in Gorleben) wird durchprügeln müssen; doch genau diese Gewaltorgien soll die BGE verhindern. Da dürfte der Gedanke, einfach überall heimlich ein paar Fässchen zu verbuddeln, wie eine schöne Utopie wirken.

    Bei diesem Thema möchte ich noch eben die erste Hälfte von Neal Stephensons Roman „Anathem“ empfehlen. Ich spoilere wahrscheinlich nicht zu viel, wenn ich verrate, dass darin eine ganz besondere und aus meiner Sicht auch realistische Lösung für das Problem der BGE vorschlagen wird. Nebenbei entwirft das Buch eine Welt, wie sie sein könnte, wenn seinerzeit pragmatische PythagoräerInnen das Rennen im römischen Reich gemacht hätten statt Stoiker, Mithras-Anhänger und schließlich ChristInnen.

    Aber spart euch die zweite Hälfte vom Buch. Soweit es mich betrifft, hätte die Handlung das Kloster nie verlassen sollen. Keine Apert für Anathem!

  • Newszone-Urteil: Keine Rauschmedien-Prävention, nirgends

    Foto eines Münchner Zeitungsständers mit Schlagzeile: „Schnösel-Mob greift Polizei-Wache an!“

    München, im Juli 2019: Die freie Presse™ kommt ihrem Informationsauftrag nach.

    Manchmal entscheiden Gerichte zwar nachvollziehbar, aber aus jedenfalls ethisch oder praktisch ganz falschen Gründen. Heute zum Beispiel hat das Landgericht Stuttgart dem SWR untersagt, Newszone zu betreiben (der SWR selbst dazu).

    Das Urteil kann ich vom Ergebnis her nachvollziehen, denn, soweit ich das nach einer schnellen Inspektion der Newszone-Webseite beurteilen kann, ist das eine öffentliche Subvention für die privaten Infrastrukturen von Apple und Google. Mit anderen Worten: öffentlich finanzierte Inhalte sind bei Newszone für die Öffentlichkeit nur zugänglich, wenn sie sich überwachungskapitalistischen Praktiken unterwirft. Obendrauf geschieht das weitgehend ohne Not, da die App sehr wahrscheinlich nichts kann, das nicht auch im Browser oder auf einem Desktop-Client funktionieren würde.

    Ein möglicher guter Grund

    Demgegenüber hätte ein wohlfunktionierendes Gemeinweisen ein einklagbares Recht auf Zugang zu öffentlichen Daten und Diensten über offene, gemeinschaftskontrollierte Standards. Dieses Recht gibt es leider nicht. Und so konnte, jaja, das Gericht diese Urteilsbegründung auch nicht nutzen.

    Ich hätte gerade noch Verständnis gehabt für ein Urteil, das sagt, ein Angebot, das (ausweislich der Teaser, die gerade auf der offen zugänglichen Webseite stehen) zur Hälfte besteht aus Meldungen wie:

    • Kevin Spacey: Freigesprochen vom Vorwurf der sexuellen Belästigung
    • Messerangriff: Mann verletzt 16-Jährige und ihre Mutter
    • Corona-Nachwirkungen: Darunter leidet Elevator-Boy Jacob
    • So geht es mit Silent Hill weiter
    • DAS darf Fat Comedy jetzt nicht mehr machen
    • Hat Sascha Koslowski eine neue Freundin?
    • Verfolgungsjagd und Unfälle: Trennung endet bei der Polizei!
    • Aus Kader geflogen: Das sagt Ronaldo jetzt!
    • Fall gelöst: Polizei weiß jetzt, wer diese Frau ist!

    vielleicht nicht in öffentlichem Interesse ist und mithin auch nicht aus öffentlichem Geld zu finanzieren ist. Allerdings hätte ich das für eine gefährliche Argumentation gehalten, so sehr es mich auch reut, wenn meine GEZ-Beiträge in Volksmusikshows und Bundesliga fließen statt in Deutschland- oder Zündfunk und Sendung mit der Maus. Solange mir aber die Bundesliga-Leute nicht mein Forschung aktuell nehmen wollen, ist ein gewisses Maß an Boulevard wahrscheinlich nicht zuletzt taktisch gut, denn werden diese Inhalte noch kommerzieller aufbereitet, sind sie sicher sozial wie individuell deutlich schädlicher.

    Gericht: Presse ist Clickbait

    Das war aber ohnehin auch nicht die Argumentation des Gerichts. Das Landgericht Stuttgart hat die App untersagt, weil sie zu presseähnlich sei. Zunächst würde ich, wäre ich der Kläger – ein Verband kommerzieller Medienunternehmen aus Baden-Württemberg – diese Urteilsbegründung als Beleidigung auffassen. Wenn nämlich die Sammlung von grenzdebilem Clickbait, die mir Newszone größtenteils zu sein scheint, presseähnlich sein sollte, müsste ich mich aufhängen, wenn ich die Sorte von Presse sein wollte, von der Thomas Jefferson mal gesagt hat:

    Unsere Freiheit kann nicht erhalten werden ohne die Pressefreiheit. Und diese kann nicht beschränkt werden, ohne dass ihr Verlust droht.

    Das Dramatische an dem Urteil ist jedoch, dass es die ständige Rechtsprechung vertieft, nach dem der Staat das Geschäftsmodell kommerzieller Medien irgendwie zu schützen und deshalb eine künstliche Verknappung redaktioneller Inhalte zu verordnen hat. Nicht nur als täglicher Konsument der DLF-Presseschau bestreite ich das. Klar: Für eine sinnvolle Meinungsbildung sind freie Medien, ganz wie Jefferson sagte, zweifellos unverzichtbar.

    Es gibt keine Freiheit im Unternehmen

    Doch sind kommerzielle Medien jedenfalls unter Bedingungen des faktischen Arbeitszwangs nicht frei, denn ihre AutorInnen schreiben immer unter der latenten oder (weit häufiger, da sie ja normalerweise keine ordentlichen Arbeitsverträge mehr haben) offenen Drohung, bei unbotmäßigen Äußerungen ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Entsprechend sind sich zumindest die Kommentarspalten in aller Regel erschreckend einig, wenn es um Klasseninteressen[1] geht, seien sie nun Hartz IV oder die Privatisierungspolitik.

    Nun operieren auch öffentlich-rechtliche Medien unter Bedingungen des Arbeitszwangs, und inzwischen ist auch dort die breite Mehrheit der AutorInnen prekär (feste Freie) bis ultraprekär (Freie) beschäftigt, was ihre Freiheit gerade angesichts selbstherrlicher IntendantInnen logischerweise auch stark einschränkt. Aber ohne den Druck der privaten Medien ließe sich da wieder viel mehr Tarifbindung – und damit Freiheit – durchsetzen, und immerhin hat Selbstherrlichkeit weniger einseitige Wirkungen als Klasseninteresse.

    Nach dieser Überlegung besteht selbstverständlich ein großes gesellschaftliches Interesse an möglichst breiten Angeboten und breit zugänglichen von öffentlich-rechtlichen oder noch besser gänzlich ohne Bedrohung der Existenz der AutorInnen produzierten Medien. Mit Bildzeitung und Big Brother hat das aber nichts zu tun. Im Gegenteil liegt die Schädlichkeit dieser Sorte kommerzieller Medien auf der Hand.

    Rauschmediensteuer?

    Nun sollen mündige BürgerInnen natürlich Cannabis, Tabak oder Alkohol erwerben und konsumieren und mithin zumindest in Maßen auch produzieren dürfen. Ich argumentiere also ganz entschieden nicht für ein Verbot kommerzieller Medien, und seien sie auch so offensichtlich auf Rausch und Abhängigkeit optimiert wie Springerpresse, Bertelsmann-Fernsehen oder die Angebote von Meta. Wobei… die aktuellen Ereignisse im UK, die es gewiss ohne die Dauerhetze der Murdoch-Medien[2] so nicht gäbe, könnten durchaus Argumente liefern. Aber wie dem auch sei: Es gibt wegen ihrer mangelnden Bedeutung für Medien- und Informationsfreiheit gewiss kein öffentliches Interesse an der Erhaltung der Geschäftsmodelle privater Medien.

    Wenn es nun umgekehrt schon keine – aus meiner Sicht naheliegende – Rauschmediensteuer gibt in Analogie zur Branntweinsteuer (oder was immer inzwischen aus ihr geworden ist), so sollten Staat und Gerichte jedenfalls nicht ungiftigere Medien daran hindern, NutzerInnen von kommerziellen Medien tendenziell zu entwöhnen.

    Deshalb: Das LG Stuttgart hat aus den falschen Gründen nachvollziehbar entschieden. Es ist nun Job der Gesellschaft, diese falschen Gründe wegzukriegen.

    [1]Wer bei diesem Wort zuckt: Tja. Mit ordentlich freien Medien würde es allenfalls ein mildes Achselzucken auslösen. Klasseninteressen existieren so unbestreitbar wie der Klimawandel, und bis auf Weiteres bestimmen sie das politische Leben noch deutlich stärker. Immerhin das dürfte sich aber in den nächsten paar Jahrzehnten ändern…
    [2]So gesehen sollten wir Axel Springer dankbar für sein Erbe sein, das uns zumindest Murdochs Produkte vom Hals gehalten hat.
  • Rekursives 419: Ein brillianter Betrugsversuch

    Screenshot: Mail mit 'I am a banker'

    Ich glaube, jedeR hat irgendwelche dunklen Marotten, die normalen Menschen eigentlich peinlich sind. Ich zum Beispiel bin ein großer Fan der Nigeria-Connection, etwas korrekter Vorschussbetrug oder ähnlich inkorrekt (weil auch auf Nigeria bezogen) 419er-Mails genannt. Ich verfüge, ich gestehe es, ohne rot zu werden, über eine 12 Megabyte umfassende Sammlung handverlesener einschlägiger Mails aus den letzten 20 Jahren, die ich bei Interesse gerne für wissenschaftliche oder andere Untersuchungen zur Verfügung stelle.

    Heute kam nun eine besondere Perle: Ein 419er-Scam, der Opfern anderer 419er-Scams Hilfe anempfiehlt, natürlich gegen eine kleine Gebühr. Fantastisch. Wer könnte ein dankbareres Opfer für diese Sorte von Betrug sein als jemand, der/die schon mal auf sowas reingefallen ist? In meiner Begeisterung über die selbstbezügliche Genialität dieses Kozepts missachte ich eventuelle Urheberrechte und reproduziere hier die ganze Mail:

    Date: Tue, 18 Oct 2022 10:32:57 +0100
    From: William Christian <williamsgeorge00051@gmail.com>
    To: undisclosed-recipients:
    Subject: I HAVE GOOD NEWS FOR YOU

    Hi my friend,

    I must apologize for this spontaneous email to you. I am aware of this is certainly not a conservative way of approaching you, but you will understand the need for my action thought It’s true we don’t know each other, but “I” think you need to hear this truth to protect yourself from being defrauded.

    I am Williams Christian, from , I was one of the Victims in Africa by some individuals whom I contacted to help me get my Inheritance Funds, but they all took advantage of me and left me a Bankrupt, I have tried in different ways to get my payment but all to know avail, I lost my life savings to different FAKE groups that claimed to be working in Banks like CBN Bank, Zenith bank, UBA, First bank etc. and many others thinking they were helping me, but rather, they were busy defrauding my hard earned money, I am very sorry telling my past, but I think there are many innocent people out there too that need this message.

    Honestly I wouldn't want anybody to experience what I went through in the hands of those crooks scammers, I lost all my friends because I refused to listen to their advice, simply because I thought I was on the right part without knowing I was dealing with scammers,

    But the good news today is that God has finally remembered me, few weeks ago I received a mail from a unknown person, a man in the state of Arizona advising me to contact one senior and professional attorney Mr Femi Falana, He is a Nigerian international lawyer and human rights activist whose law firm is made up of UK/Nigerian qualified solicitor and renders commercial legal services in due diligence, corporate investigation and trade secrets, immigration, intellectual property etc.

    He actually helped me in Nigeria in other west African countries to claim my lost funds and if I have not gotten mine I wouldn’t have bothered to advice another person, although at the beginning ,I thought it was another trick to scam me, but two weeks I decided to give it a try by contacting the attorney using email address provided, and to my greatest surprise it happened to be 100% real and I got my lost funds.

    Of course, I promised myself never to share my testimony/news until I receive my fund and then be convinced enough before letting people know, and Today I am now writing with joy to advise us all to STOP feeding scammers out there and contact this attorney on the email below if you haven’t claimed your lost money yet,

    Although, you may be wondering how I got my funds without paying a cent, yes I paid little money to the attorney which is normal to secure a some documents including permit certificate in my name of which I have the copy on file, but my advice to you is to STOP dealing with those scammers and contact this senior attorney to claim all your lost funds, his email address ID and phone number are(sexkepy@gmail.com) (+2348145880372)

    I encourage you to contact him for your own money and he will help you get it because I am a living testimony.

    Yours Sincerely
    William Christian

    Gut: Stilistisch reicht es jetzt nicht ganz zum Literaturnobelpreis. Aber William Christian sollte, finde ich, zumindest den Münchhausen-Preis der Stadt Bordenwerder erhalten, denn der soll „Personen mit besonderer Begabung in Darstellungs- und Redekunst, Fantasie und Satire“ auszeichnen. All of the above.

  • Ach Bahn, Teil 10: Textbausteine machen schlechte Laune

    Zu den universellen Erfahrungen des dritten Jahrtausends gehört ganz gewiss die Frustration nach Kontakt mit kommerziellem Kundendienst jeder Art. Das ist besonders bitter, wenn mensch das Niveau im Free Software-Bereich gewohnt ist: Bei fast allen Problemen und Wünschen, die ich zu Freier Software hatte, kam zumindest eine sinnvolle Reaktion, häufig auch rasch eine Lösung.

    Ganz anders im kommerziellen Bereich. Als neulich mein Rezept für Internet via Telefon nicht mehr funktionierte (im o2-Netz wiederverkauft von WinSIM), kamen auf zwei schriftliche Supportanfragen jeweils zwei zusammengeklickte Antworten, die offensichtlich nicht auf meine Anfragen eingingen und folglich auch komplett nutzlos waren. Ich wollte eigentlich schon an dieser Stelle empört darüber ranten, als nach einer verzweifelten telefonischen Anfrage tatsächlich eine nützliche Antwort mit einer vernünftigen Erklärung kam – gut genug, dass ich gelegentlich mal separat darüber bloggen will. Danach war ich zu versöhnt für einen Rant.

    Nun aber wieder die Bahn. Im September bekam ich nach einer Captcha-und-too-many-requests-Zumutung (Rant am Fediverse) auch noch zwei seltsame Mails von der Bahn, die in etwa so aussahen:

    Date: Wed, 21 Sep 2022 19:13:43 +0000 (GMT)
    From: DB <noreply@deutschebahn.com>
    To: msdemlei@fsfe.org
    Subject: Verify email
    
    Someone has created a Deutsche Bahn account with this email address.
    If this was you, click the link below to verify your email address
    
    https://accounts.bahn.de/auth/realms/db/login-actions/action-token?key=eyJhbGciO<ungefähr-1k-base64>-<vielleicht-eine-checksumme>&client_id=fe_esuite&tab_id=cY2rW_Q_7wc
    
    This link will expire within 15 minutes.
    
    If you didn't create this account, just ignore this message.
    

    Eine sehr nach fishing aussehende Mail mit genug Binärsoße, um ein halbes Betriebssystem drin unterzubringen? Auf Englisch von der deutschen Bahn? Und dann noch ohne CSS-Müll im Text? Das schien mir extrem verdächtig, aber auch genauere Untersuchung brachte keine Anzeichen für eine Fälschung zutage. Andererseits war der Bahn-Server ja vorher offensichtlich kaputt gewesen. Vielleicht war er ja insgesamt von Parteien übernommen, die mir noch übler wollen als die Bahn?

    Von solchen Fragen bewegt habe ich es mal wieder mit dem Bahn-„Kundendienst“ versucht. Folgendes habe ich noch am 21. September geschrieben:

    Liebe Mitarbeiter/in der Bahn,

    Kontext:

    Ich hatte heute schon wieder ganz großartige "User Experience" beim versuchten Fahrkartenkauf -- nicht nur musste ich mal wieder ein Captcha lösen (was ich offen gestanden für die Ursünde der UX halte), ich kam nach der Lösung unmittelbar auf eine nginx-Fehlerseite mit einem schlichten "too many connections". Der Back-Button führte auf noch ein Captcha.

    Gäbe es eine Alternative für den Online-Kauf von Fahrkarten, ich wäre jetzt dort. So, wie es ist, bin ich dankbar für Fahrkarten-Automaten.

    Das eigentliche Problem:

    Kurz nach diesem Erlebnis kamen zwei Mails wie die im Anhang. Die sieht nach allen Kriterien bis hin zu den Received-Headern aus wie eine legitime Mail von Ihnen. So, wie das gemacht ist, habe ich aber keine Ahnung, was das tut, und der endlose Binär-String löst jetzt auch wirklich kein Vertrauen aus. Ich habe das jetzt mal nicht geklickt -- es könnte ja sein, dass da jemand meinen Account übernehmen will.

    Was ist das? Habe ich das ausgelöst? Wäre es nicht gut, das etwas weniger spammisch aussehen zu lassen?

    Als der Bahn-Webserver wieder ging, hat sich herausgestellt, dass das tatsächlich Verifikationsmails der Bahn waren und das Web-Interface die Mails so angekündigt hätte (wenn auch ohne Begründung, warum überhaupt und gerade jetzt) – hätte ich am 21.9. nicht Captchas und „too many requests“ statt der Bahn-Webseiten bekommen.

    Der Bahn-Kundendienst hätte das jetzt erklären und sich entschuldigen können. Stattdessen kam fast drei Wochen später, am 11.10., eine profund nutzlose Antwort, die ich hier öffentlich kommentieren will, zunächst, weil ich meine Kommentare geistreich finde.

    Vor allem habe ich aber den Verdacht, dass jemand mit Technikkompetenz bei der Bahn dann und wann wahrnimmt, was ich hier schreibe. Warum ich das glaube? Nun, die Kundendienst-Antwort hatte endlich keinen CSS-Müll mehr an der text/plain-Alternative. Ich hatte das vor Jahren mal per Mail bemängelt, ohne dass sich etwas geändert hätte. Nun, nach meinem Post vom Juni, kommt die Mail endlich vernünftig und lesbar, sogar mit Absätzen und allem. Kann Zufall sein. Kann aber auch ein gutes Zeichen sein.

    Und drum hier die Bahn-Antwort mit meinen Kommentaren:

    vielen Dank für Ihre E-Mail. Bitte entschuldigen Sie die späte Antwort.

    Wir haben Ihr Anliegen geprüft.

    Die Authentifizierungsmail wird von uns versendet und ist für die Zurücksetzung Ihres Passwortes notwendig. Nach Klick auf den Link zur

    Meine Frage, wozu das Verfahren überhaupt eingerichtet wurde, bleibt leider unbeantwortet. Außerdem ging es nicht um ein Passwort, und es wurde auch nichts zurückgesetzt. Wie die ursprüngliche Mail selbst schon sagte, ging es um die Bestätigung einer Mailadresse. Mit einer sowohl falschen als auch nutzlosen Information aufzumachen, verdient für mich den Winston-Churchill-Preis für Erwartungsmanagement („Blut, Schweiß und Tränen“).

    Kontoaktualisierung, öffnet sich eine Seite auf bahn.de. Hier muss die E-Mail-Adresse mit Klick auf >> Klicken Sie hier, um fortzufahren bestätigt werden. Anschließend erscheint die Meldung, dass das Konto aktualisiert wird und Sie können sich wieder in Ihrem Kundenkonto anmelden.

    Achten Sie darüber hinaus bitte darauf, unsere DB Navigator App auf dem neuesten Stand zu halten und über einer sicheren und stabilen Internetverbindung zu buchen.

    Kundendienst-Tipp #1: Anfragen lesen und dann keine unpassenden Formtexte in die Antworten pasten -- ich habe keine Hardware, auf der die App laufen würde, und so dementsprechend hatte meine Anfrage auch nichts mit der App zu tun.

    Bei instabilen Internetverbindungen verzeichnen wir ein hohes Aufkommen von Buchungsabbrüchen.

    Kundendienst-Tipp #2: Fehler eingestehen. Da war keine instabile Internet-Verbindung. Was da kam, war eine Meldung vom Reverse Proxy der Bahn, weil offenbar der Dienst dahinter überlastet oder kaputt war.

    Die richtige Reaktion wäre gewesen: „Ja, sorry, wir haben es verkackt. Und weil das im Zusammenhang mit dem Captcha eingestandenermaßen nochmal blöder war, werden wir uns jetzt wirklich mal überlegen, den Captcha-Quatsch zu lassen. Ansonsten Entschuldigung.“

    Empfehlenswert wäre ebenfalls, beim Log-in via Browser die Cookies und den Verlauf zu löschen und zudem auf dem neuesten Stand zu halten und ggf. den Adblocker zu deaktivieren.

    Kundendienst-Tipp #3: Keine Voodoo-Tipps geben. Wie soll bitte das Löschen „des Verlaufs“ ein 500 (oder 504, ich weiß nicht mehr) des Reverse Proxy der Bahn reparieren? Und wenn Leute wirklich der Empfehlung folgen und „die Cookies löschen“, werden sie unter Umständen böse Überraschungen erleben. Wenn die Bahn meint, in Einzelfällen (wenn auch offensichtlich nicht diesem) könne ein Zurücksetzen Ihrer Cookies nötig sein: das kann mensch von der Server-Seite aus viel zielgenauer tun, etwa mit einer Webseite, die entsprechende Set-Cookie-Header ausliefert (und ggf. zu weiteren Seiten weiterleitet, die das für weitere Domains tun). Damit geht dann ein „gehen Sie zu <dieser URL>, um die Bahn-Cookies zu löschen“.

    Wenn die Bahn schließlich wirklich findet, dass aktivierte Adblocker die Nutzung ihrer Dienste behindern: Wäre das nicht ein Anlass, darüber nachzudenken, all den Tracking- und Marketing-Quatsch von der Seite runterzunehmen? Aber wie gesagt: das war vorliegend gar nicht das Problem.

    Wir hoffen, dass wir Ihre Fragen beantworten konnten und wir Sie bald in unseren Zügen begrüßen zu dürfen.

    Helfen Sie uns unser Angebot und unseren Service weiter zu verbessern. Beantworten Sie dazu bitte nachfolgende Fragen unter Umfrage bahn.de. Vielen Dank.

    Ganz perfekt sind die text/plain-Alternativen immer noch nicht, denn die URL der Umfrage geht dabei verloren. Aber weil Umfragen an sich und schon gar im Web ein Fluch sind, würde ich das in diesem Fall eher als Feature als als Bug klassifizieren.

  • Schrödingers Tiger

    Wieder mal bin ich erstaunt über die Relation von Corona- zu sonstiger Berichterstattung. Während die Deutschlandfunk-Nachrichten um 7:30 aufmachten mit 800 Austritten aus der Linkspartei, gab es kein Wort dazu, dass derzeit hier im Land recht wahrscheinlich mehr SARS-2-Viren umgehen als je zuvor.

    Das ist aus den robusten Schätzern (Lang lebe small data!) zu schließen, die das RKI in seinen Wochenberichten veröffentlicht – die Inzidenzzahlen aus der Vollerfassung reflektieren ja inzwischen eher reales Verhalten als reale Verhältnisse, weil kaum mehr jemand PCR-testet. Bessere Zahlen sind zu schätzen aus dem, was ganz normale Leute über das GrippeWeb des RKI (Danke an alle, die mitmachen!) zu Erkältungen und Co berichten und aus den Diagnosen bei ÄrztInnen, wie viele Leute derzeit mit Symptonen Covid haben:

    Screenshot-Zitat: COVID-ARE-Inzidenz zwischen 1300 und 3100/100000

    (Quelle). Sehen wir uns an, wie das zum Höhepunkt der Omikron-Welle im Frühling aussah; die höchste Schätzung war für Kalenderwoche 11 im Bericht vom 24.3.:

    Screenshot-Zitat: COVID-ARE-Inzidenz zwischen 2000 und 3300/100000

    Nun gebe ich euch, dass das Mittel der damaligen Schätzung noch eine Ecke über der von heute liegt und inzwischen die Fehlerbalken größer sind. Aber wirklich signifikant verschieden sind die geschätzten Inzidenzen nicht.

    Und das sind nur Leute mit Symptomen. Weil inzwischen viel mehr Menschen SARS-2 schon einmal überstanden haben als im März, ist anzunehmen, dass auch viel mehr Menschen asymptomatisch erkrankt (aber vielleicht noch infektiös) sein werden als in Kalenderwoche 11. Wenn sich die entsprechende Dunkelziffer auch nur um ein Drittel erhöht hat, laufen jetzt fast sicher mehr SARS-2-infektiöse Menschen herum als damals.

    Dass „Infektionsraten wieder zurück auf Märzniveau“ gar keine Nachricht ist, finde ich zumindest in der Schrödinger-Interpretation des derzeitigen Pandemie-Umgangs interessant. Im Pandemie-vorbei-Zustand – und Abschnitt 1.6.3 im aktuellen RKI-Wochenbericht scheint in anzuzeigen –, wäre die Nachricht nämlich im Effekt „alle haben Schnupfen“, was eingestandenermaßen eher auf dem Niveau von „Hund beißt Mann“ ist und vielleicht wirklich nicht in die DLF-Nachrichten gehört. Stellt sich allerdings heraus, dass die Pandemie nicht vorbei ist, ist das, was da in der Schrödinger-Kiste ist, keine Katze mehr, sondern ein Tiger.

    Ich selbst – der gerade das erste Rhinoviren-Elend der Saison durchläuft – neige mittlerweile deutlich zur Einschätzung, dass wir mit „ist vorbei“ durchkommen werden, ohne noch unser Normal-Moralniveau im Bereich öffentlicher Gesundheit verlassen zu müssen.

    Aber wie es so ist mit den Kisten vom Schrödinger-Typ: Beim Öffnen kann es Überraschungen geben. Und so fände ich es schon ganz korrekt, wenigstens ein Mal die Woche, also nach dem Wochenbericht, kurz durchzusagen, dass, wer sich einschlägig Sorgen macht, derzeit die Ohren auf Märzniveau anlegen sollte.

  • Blog Extensions on Codeberg

    Screenshot of a browser window showing http://localhost:6070/foo and a fortune cookie in glorious ASCII.

    This post takes an odd bend to become an apology for CGI (as in common gateway interface) scripts. This is the netsurf browser communicating with the CGI shell script at the foot of this post.

    I have written a few plugins and extensions for this blog, and I have discussed them in a few posts (e.g., feedback form, tag explanations, cited-by links, or the search engine). The code implementing these things has been strewn across the various posts. I have to admit that having that code attached to just a few blog posts has always felt somewhat too early-90iesy to me.

    Now that I have created my Codeberg account, I have finally copied together all the various bits and pieces to create a repository on Codeberg that you are welcome to clone if you're running pelican or perhaps some other static blog engine. And of course I appreciate merge requests with improvements.

    There is one major file in there I have not previously discussed here: cgiserver.py. You see, I'm a big fan of CGI scripts. They're reasonably simple to write, trivial to deploy, and I have CGIs that have been working with minimal maintenance for more than 20 years. Sure, pulling up an interpreter for every request is not terribly efficient, but for your average CGI that is perhaps called a dozen times per day (depending on how many web crawlers find it interesting) this really doesn't matter. And that's why both the feedback script and the search engine are written as CGIs.

    However, in contrast to apache, nginx (which serves this blog) does not support CGI scripts. I even by and large agree with their rationale for that design decision. Still, I would like to run CGIs, and that's why I've written the cgiserver. It is based on Python's built-in HTTP server and certainly will not scale – but for your average blog (or similar site) it should be just fine. And I don't think it has any glaring security problems (that you don't introduce with your CGIs, that is).

    Installation is almost trivial: put the file somewhere (the in-source sysvinit script assumes /var/www/blog-media/cgiserver.py, but there's absolutely no magic about this), and then run it with a port number (it will only bind to localhost; the default in the sysvinit script is 6070) and a directory into which you put your CGI scripts (the sysvinit script assumes /var/www/blog-media/cgi).

    When you have a cgi script foo, you can dump it in this directory, make it executable and then run it by retrieving http://localhost:6070/foo. In case you have nothing else, you can try a shell script like:

    #!/bin/sh
    echo "content-type: text/plain"
    echo
    /usr/games/fortune
    

    (which of course only works in this form if you have something like fortunes-en installed on a Debian box). That should be enough to give you something like the screenshot opening this post. Even more than 25 years after I have written my first CGI, I am still amazed how simple this is.

    Disclaimer: Writing CGI scripts that take input such that they are not trivially exploitable is higher art. So… don't do it, except as a game. Oh, and to debug your scripts, simply let cgiserver run in a terminal – that way, you will see what your scripts emit on stderr. Note, however, that the way the sysvinit script starts cgiserver, it will run as nobody; if things work when you start cgiserver yourself but not when it's running as a daemon, that's the most likely reason.

  • Es ist wer daheim!

    Vorneweg die wichtigste Nachricht: Der/die Datenschutzbeauftragte von Google hat eine Mailadresse, und sie ist dpo-google@google.com.

    Fragt mensch duckduckgo nach dieser Adresse, kommt derzeit nichts zurück. Google hingegen kommt mit ein paar Matches zurück, darunter https://www.datenanfragen.de/company/google/ (ein Selbsthilfe-Laden, der einen recht guten Eindruck macht) und eine reddit-Seite, auf der auch einiges Naserümpfen stattfindet, weil Google diese Mailadresse eher diskret behandelt. Immerhin: Google hätte sie ja auch aus ihrem Index verbannen können.

    Die Adresse habe ich von, ta-da, der irischen Datenschutzbehörde. Es gibt sie! Es ist dort wer zu Hause! Ein Gedanke, der mich spontan an diese denkwürdige Geschichte erinnert hat:

    Datenschutzpersonal des ULD an den Fenstern ihres Gebäudes

    Rechte wahrscheinlich beim ULD S-H.

    Dass beim irischen DPC jemand daheim ist weiß ich, weil ich tatsächlich eine Antwort bekommen habe auf meine Anfrage an die irische Datenschutzbehörde, wie ich an eine für Datenschutz zuständige Person von Google herankommen könnte. Eingelaufen ist sie am 27. September, exakt einen Tag vor Ablauf der Monatsfrist seit der Eingabe. Wie schaffen die Leute es nur, solche Sachen immer im letzten Moment hinzubekommen?

    Verblüffenderweise ist das auch nicht nur ein Formbrief, denn es steht schon mal drin: „I note you are seeking erasure of an old Google account,“ und dann, nachdem die einschlägigen Rechtsgrundlagen referiert wurden: „We would recommend that you contact Google’s Data Protection Officer (DPO) directly, requesting erasure of your data as per Article 17 of the GDPR, requesting a reply. You can contact the DPO at dpo-google@google.com.“ Schön.

    Auf meine Aufforderung, Google zu ermahnen, weil sie keine klaren Kontaktmöglichkeiten in Datenschutzsachen bieten und schon daher im Konflikt mit der DSGVO stehen, geht der antwortende „Information Officer“ leider nicht ein. Aber gut: Google anpissen ist jetzt sicher nichts, was ich im Bereich der Verhaltensmöglichkeiten des/der irischen DPC verortet hätte.

    Unterdessen habe ich auch schon ein erstes Lebenszeichen von der Google-Adresse:

    Hello,

    Thank you for contacting us. This is an automatic response to let you know that we've received your request and we'll respond as soon as possible.

    We treat requests seriously and we review them in the order in which they're received. If you send multiple requests, it might take us longer to respond to you.

    Thank you for your understanding and cooperation.

    Regards, Google

    Im Schreiben der irischen Datenschutzstelle steht:

    The organisation must respond to you within one month of receiving your request; in certain circumstances, this period may be extended by a further two months.

    Da das Lebenszeichen kaum als Antwort durchgehen wird: die Zeit läuft.

  • Schurken, Orden, und der Bau von U-Bahnen

    Viel behelmte Polizei auf einer städtischen Straße

    Mangels eines Freien Fotos zur Menschenrechtslage in Ägypten: So sah es auf der Route der Welcome to Hell-Demo beim G20-Gipfel im Juli 2017 aus, kurz nachdem die im Vergleich zu Ägypten ja noch relativ milde deutsche Staatsgewalt mit ihr fertig war.

    Auch wenn ich bekennender Freund der Le Monde Diplomatique bin, bin ich erst jetzt dazu gekommen, die Ausgabe vom April 2022 zu lesen und darin eine recht bemerkenswerte Anekdote zu finden. Sie geht, in den Worten des Artikels Pharaonische Obsession von Léa Polverini, so:

    Am 7. Dezember 2020 verlieh Präsident Emmanuel Macron [dem ägyptischen Diktator] Marschall al-Sisi – wenn auch diskret – das Große Kreuz der Ehrenlegion. Am 8. November 2021 konnte der französische Alstom-Konzern einen 876-Millionen-Euro-Auftrag für die Renovierung der Kairoer Metro melden, finanziert über die staatliche Entwicklungshilfe, also die Agence française de développement (AFD).

    Nun mag es sein, dass das alles Zufall ist und nicht Industriepolitik; es ist ja auch fast ein Jahr zwischen den Ereignissen vergangen. Wirklich plausibel ist das jedoch nicht, zumal es prima zu meinen Experimenten zur Auswahl von „Führungspersonal“ passt. Deren Ergebnis – die starke Anreicherung von gewissenlosen Schurken hierarchieaufwärts – müsste nach dieser Geschichte allerdings ergänzt werden zu „gewissenlose eitle Schurken“. Ich nehme als Hausaufgabe mit, ein Modell zu ersinnen, das auch auf Eitelkeit selektiert.

    Bei der vorliegenden Geschichte liegt die Gewissenlosigkeit und Schurkigkeit zunächst bei Macron. Ich will niemandes Gefühle verletzen, indem ich meine Präferenzen für die Aufnahme in die Ehrenlegion bei einer Wahl zwischen Putin und al-Sisi äußere, aber was Polizeiwillkür, Folter, Zensur, Militarisierung des Alltags, ungerechte Einkommensverteilung, rücksichtslose und wahnsinnige Großprojekte oder so in etwa jeden anderen Aspekt von Menschenrechten angeht, müssten sich die ÄgypterInnen mindestens ebenso dringend befreien wie die RussInnen. Wie sehr muss mensch jeder Sorte „Gesinnungsethik“[1] entsagt haben, um dem Organisator dieser Orgie von Unrecht Orden (und dann noch erster Stufe) an die Brust zu heften?

    Ungefähr ebenso erschreckend finde ich jedoch den Eitelkeitsaspekt, der hier vor allem von al-Sisi abgedeckt wird (nicht, dass der kein Schurke wäre). Kann es wirklich sein, dass so ein Stück Blech über zahlreiche Leichen gehende Menschen wie al-Sisi in ihren politischen Entscheidungen beeinflusst? Nur zur Einordnung, worum es hier geht, zitiere ich aus der Wikipedia zur physischen Erscheinung des besagten Großkreuzes:

    Ordensstern auf der linken Brust, dazu Ordensband getragen über rechter Schulter

    Dafür vergibt der Mann Milliardenaufträge, finanziert durch Kredite, deren Rückzahlung wieder ein paar hunderttausend ÄgypterInnen in Not und Armut stoßen werden?

    Aber gut: Wahrscheinlich hätten Blech und Tuch alleine doch nicht gereicht. Vielleicht könnte jemand in Frankreich mal die Details zur erwähnten „Finanzierung“ des Deals durch die französische Seite befreien. Wahrscheinlich fände ich beruhigend, was dabei herauskommt. Und wenn sich wer schon die Mühe macht: Einblicke in die Diplomatie rund um das ähnliche Düfte verströmende U-Bahn-Projekt in Belgrad (LMD 8/2022, „Eine Metro für Belgrad“; ist leider noch nicht offen online) wären bestimmt auch interessant.

    [1]Um mal den übelriechenden Gegensatz Max Webers zu „Verantwortungsethik“ (a.k.a. Schurkigkeit) aufzunehmen.
  • Religion vs. Wissenschaft: Null zu Eins gegen kleine Geschwister

    Detail aus einem gemalten Bild: Benedikt gestikuliert, Scholastika betet ihn an

    Geschwisterliebe – hier zwischen Benedikt und Scholastika von Nursia – in der Fantasie des Illustrators der Klosterkirche Elchingen (Dank an den Wikipedia-Fotografen).

    Am 22. September musste ich etwas früher als normal aufstehen, und so bekam ich die Morgenandacht im Deutschlandfunk mit. Thema war unter anderem die große Geschwisterliebe zwischen Benedikt von Nursia und seiner Schwester Scholastika von Nursia. Die Geschichte ist, wie wohl die meisten Heiligenlegenden, etwas Stulle. Gregor ruft die Pflicht, Scholastika will aber noch etwas Zeit mit ihrem Bruder verbringen, was im DLF-Andachtsduktus so klingt:

    Sie kann nicht genug bekommen. Sie hat noch so viel auf dem Herzen. Und so betet sie. Und kurz darauf tobt ein Unwetter los. Benedikt kann erstmal nicht ins Kloster zurückkehren. Zum Glück für Scholastika.

    Geschwisterliebe?

    Nun wäre viel zu diesem Stakkatostil zu sagen, doch kann ich, der ich am liebsten jeden zweiten Satz mit einem „und“ anfangen würde, da nicht hinreichend sicher mit Steinen werfen. Mich hat aber ohnehin eher die Einleitung zu dieser Passage gereizt:

    Papst Gregor der Große hat dieses Gespräch, das sich im Jahr 543 ereignet haben muss, aufgeschrieben. [Hervorhebung ich]

    Umm… Schon zu Benedikt selbst steht in der Wikipedia zur Zeit:

    Eine Minderheit von Forschern bezweifelt aufgrund der problematischen Quellenlage, dass Benedikt eine reale historische Persönlichkeit war. [...] Der Theologe Francis Clark legte 1987 eine zweibändige Untersuchung der Dialogi [der angeblich von Gregor dem Großen verfassten Hauptquelle zu Benedikt] vor, in der er die Hypothese vertritt, das Werk sei unecht. Der Verfasser sei nicht der 604 gestorbene Papst Gregor, sondern ein Fälscher, der im späten 7. Jahrhundert gelebt habe.

    Der Wikipedia-Artikel geht noch weiter auf die darauf folgende Kontroverse ein, die ich als Laie mit „mehr oder weniger offen im Hinblick auf die Existenz einer einzigen Person mit den wesentlichen Punkten von Benedikts Biografie“ zusammenfassen würde.

    Zu Scholastika nun finden sich außerhalb der frommen Legenden von Gregor oder einem Gregor-Fälscher überhaupt keine Spuren. Dass „Benedikt“ als (mutmaßlicher) Erfinder von Ora et Labora eine Schwester, gar Zwillingsschwester, haben soll, die irgendwas wie Gelehrsamkeit heißt: Also bitte! Das kann mensch 400 Jahre nach Gallilei und fast 200 Jahre nach Baur und seiner Schule gerne mit mildem Spott oder meinetwegen auch freundlicher Verspieltheit rezipieren – aber jedenfalls nicht als „ereignet haben muss“.

    Nichts als Stress

    Die fromme Legende von der innigen Geschwisterliebe hat mich jedoch immerhin daran erinnert, dass ich noch einer anderen Geschichte zur Geschwisterthematik aus dem Deutschlandfunk nachgehen wollte, und zwar einem Segment aus Forschung aktuell am 13. September.

    Hintergrund davon ist eine Arbeit von Verena Behringer vom Deutschen Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen und einigen KollegInnen, „Transition to siblinghood causes a substantial and long-lasting increase in urinary cortisol levels in wild bonobos“ (sagen wir: „Wilde Bonobos stresst es, kleine Geschwister zu kriegen“), die dieses Jahr in eLife erschienen ist, doi:10.7554/eLife.77227.

    Der Artikel hat mich schon deshalb interessiert, weil meine KollegInnen vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung, seit sie aus der niedersächsischen Provinz nach Göttingen gekommen sind, Nachbarn des DPZ sind und berichten, von dort seien öfter mal seltsame Geräusche zu hören. Insofern bin ich neugierig, was am DPZ so geforscht wird.

    Behringers Arbeit scheint allerdings kein Fall für die Ethikkommission zu sein, auch wenn da zweifelsohne eine draufgeguckt haben wird; dazu unten ein paar Worte. Als kleiner Bruder habe ich aber auch ein persönliches Interesse an den Ergebnissen, denn wir kleine Geschwister kommen in der Arbeit gar nicht gut weg. Grafisch dargestellt:

    Die Punkte in den Plots entsprechen Konzentrationen von Cortisol im Urin von jungen Bonobos. Cortisolspiegel gelten in vielen Spezies als Proxy dafür, wie gestresst ein Individuum gerade ist. Beachtet, dass die Ordinate logarithmisch aufgeteilt ist; auch wenn ein linearer Zusammenhang zwischen „gefühltem“ Stress und dem Spiegel ausgeschlossen werden kann, ist hier jedenfalls viel Dynamik im Graphen.

    Auf der Abszisse stehen die Jahre vor bzw. nach der Geburt des jeweils ersten kleinen Geschwisters. Der senkrechte Strich zwischen Null und Eins markiert fünf Monate nach der Geburt des Geschwisters. Schon ohne tiefergehende Analyse fällt auf, dass in diesen ersten fünf Monaten als Schwester oder Bruder die Bonobos nie entspannt waren und sich die Stresslevel (wenn mensch denn an den Cortisolproxy glaubt) durchweg stark am oberen Rand bewegen. Danach, immerhin, normalisiert sich die Situation erkennbar.

    Die Linien mit so einer Art Konfidenzintervallen drumrum sind Modellfits für den „typischen“ Verlauf des Cortisolspiegels, jeweils getrennt nach Jungen und Mädchen (die Bestimmung der Farbzuordnung ist dem/der LeserIn zur Übung anempfohlen). Der Schluss ist fast unausweichlich: kleine Geschwister sind Stress, jedenfalls für eine ganze Weile. TTS nennen das Behringer et al, Transition to Siblinghood.

    Alle zehn Tage ein paar Tropfen Urin

    Wer sich fragt, wie die Leute an die Urinproben gekommen sind: Nun, die Max-Planck-Gesellschaft betreibt im Kongo eine Einrichtung namens LuiKotale, die in der Openstreetmap als tourism:camp_site getaggt ist. Es lohnt sich, die Karte etwas rauszuzoomen, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was für eine einsame Angelegenheit das ist und wie klein das Risiko, dass sich wirklich mal TouristInnen dorthin verirren könnten. In der Umgebung des Camps leben einige Stämme von Bonobos, die sich an urinsammelnde und zuguckende Menschen gewöhnt haben, ansonsten aber offenbar ihrem üblichen Leben nachgehen können.

    Die DPZ-WissenschaftlerInnen haben zwischen Juli 2008 und August 2018 – ich bin allein schon wegen der zehn Jahre beeindruckt – Urin vom Bonobonachwuchs gesammelt, wenn er (der Urin, nicht der Nachwuchs) auf Blättern gelandet ist und nicht verkotet war. Aus diesen Proben konnten sie offenbar Konzentrationen verschiedener Hormone – darunter Cortisol – bestimmen. Ich verstehe zu wenig von den Laborprozeduren, um beurteilen zu können, wie groß die Fehlerbalken an den Punkten im Plot oben wohl sein sollten. Alleine die Überlegung, dass die Blätter nicht immer trocken gewesen sein werden, schlägt schon sehr große statistische Fehler vor. Andererseits würden selbst Fehler von 50% in der logarithmischen Darstellung nicht besonders auffallen und jedenfalls nichts an den grundsätzlichen Ergebnissen ändern.

    Am Schluss kamen über die zehn Jahre 319 nutzbare Urinproben von passenden Kindern zusammen. Die Leute haben also weniger als alle zehn Tage eine Probe gewinnen können. Ihre Methode mag ethisch weitgehend unbedenklich sein, sie braucht aber ganz klar viel Geduld und Glück.

    Etwas verblüffend finde ich, dass im Sample 20 Mädchen, aber nur 6 Jungen vorhanden sind. Ein solches Ungleichgewicht ist – ohne das jetzt wirklich durchgerechnet zu haben – fast sicher kein Zufall. Sind die Jungen vielleicht scheuer? Sie hängen jedenfalls signifikant mehr an ihren Müttern (Abb. 2 D im Artikel). Gibt es in den beobachteten Stämmen vielleicht einfach weniger von ihnen? Wenn die Studie das kommentiert, habe ich es überlesen.

    Versuch einer Ehrenrettung

    Die Arbeit verwendet einige Sorgfalt darauf, herauszukriegen, was genau diesen Stress auslöst. Zusammengefasst sind die zentralen Ansätze in der Abbildung 2 im Paper, die betrachtet, was sich postnatal sonst noch so alles ändern könnte im Verhältnis von Mutter und großem Geschwister. Die zugrundeliegenden Daten wurden durch stundenweise Beobachtung der jeweiligen Kinder gewonnen. Ja, diese Leute kennen ganz offenbar ihre Affen.

    Es zeigt sich, dass weder beim Säugen (oder entsprechenden Ersatzhandlungen) noch beim Kuscheln oder der gemeinsamen Nahrungsaufname über die Geburt hinweg viel passert, denn die Mütter entwöhnen größtenteils schon vorher. Beim Rumschleppen („Riding“) der älteren Kinder tut sich tatsächlich etwas, jedenfalls, wenn diese älteren Kinder selbst noch jung und männlich sind (Abb. 2 D und E im Paper). Dieser Alterseffekt ist aber in den Cortisoldaten nicht nachweisbar, so dass „weniger getragen werden“ als Grund des starken Stresssignals wohl ausfällt.

    Die AutorInnen spekulieren über weitere Gründe für das erhöhte Stressniveau, beispielsweise, dass die Geschwister mit dem Baby spielen wollen, aber nicht dürfen (yeah, right), oder dass sich die Mütter perinatal von der Gruppe absetzen und so auch die Geschwister isolierter sind. Stress könnten auch die üblichen Grobiane in den Stämmen machen, indem sie die älteren Kinder ärger quälen, während die Mutter anderweitig beschäftigt ist. Richtig überzeugend ist das alles nicht. Kleine Geschwister sind wohl einfach an und für sich stressig.

    Und es handelt sich klar um ein starkes Signal. Aus den Modell-Fits ergibt sich, dass sich bei der TTS die Cortisolniveaus verfünffachen. Demgegenüber kommen Menschen, wenn sie den Tieren im Labor Stress machen wollen, gerade mal auf eine Verdoppelung der Cortisolniveaus, bei Kämpfen zwischen Bonobo-Stämmen ist es kaum ein Faktor 1.5. Erst eine schlimme Lungenseuche, an der ziemlich viele Tiere starben – deutlich mehr als Menschen an SARS-2 – hat einen ähnlichen Effekt gehabt, so in etwa einen Faktor 10.

    Als Merksatz ließe sich also für die ersten fünf Monate des Große-Geschwister-Daseins feststellen: Kleine Geschwister sind ungefähr so schlimm wie Corona.

    Erstaunlicherweise gibt sich das alles nach den ersten fünf Monaten. Behringer et al machen den Scholastika-ErzählerInnen auch ein paar Friedensangebote.

    Alternatively, it has been suggested that early-life events of ‘tolerable stress’ [...] may serve to prime subjects to develop stress resistance later in life. Moreover, TTS may accelerate acquisition of motor, social, and cognitive skills [...] Having an older sibling may enhance the development and survival of the younger sibling that contributes to the inclusive fitness of both the older sibling and the mother.

    Würde ich die Dinge nur aus der …

  • Hilfe bei E-Bike und Schule

    Fast ebenso billig wie das Lamentieren über den Zustand der Bahn ist es, die religösen Praktiken anderer Menschen zu belächeln. Aber es ist mindestens ebenso schwierig, der Versuchung zu widerstehen.

    Das gilt ganz besonders im Dunstkreis katholischer Wallfahrten und Votivgaben. Aus der Sicht nach 1750 („Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“) sozialisierter Menschen wirken diese häufig eher wie böser Spott auf Religion als als ernstgemeinte Äußerung von, nun ja, Spiritualität. Sie werden aber dennoch eher letzteres sein.

    Zwei für mich recht spektakuläre Beispiele dafür sind mir gestern untergekommen, als ich vor einem Regenschauer in der Wallfahrtskirche Maria Trost bei Nesselwang im Allgäu Schutz suchte und – vielen Dank an die verantwortlichen Gottheiten oder Autoritäten – fand.

    Das erste Beispiel hatte jemand an die Kirchentür gemalt:

    In stilisierte Wolke auf Holz in Kinderschrift geschrieben: Liebe Muttergottes! laß mich in der Schule gut durchkommen.  Pfronten 15.4.72

    Allein, dass jemand sowas an eine Kirchentür schmiert, würde schon reichlich Material für eine Geschichte von Ludwig Thoma oder von René Goscinny liefern. Was mich jedoch völlig hingerissen hat, war die Rede vom „Durchkommen“. Es ging der bittstellenden Person nicht etwa ums „Mitkommen“, also das ordnungsgemäße Aufnehmen des Lehrstoffs. Es hätte ihr offenbar auch völlig gereicht, wenn Maria ihr jeweils hinreichende Möglichkeiten zum Abschreiben gegeben hätte oder peinliche Prüfungsrituale (aktueller Literaturtipp dazu: Der Vater eines Mörders von Alfred Andersch) rechtzeitig durch himmlische Intervention (ich sage mal: vorzeitige Pausenglocke oder, wenn gar nichts anders hilft, tanzende Englein) beendet.

    Katholizismus, wie ihn Max Weber nicht besser hätte karikieren können: da das im April 1972 geschrieben wurde, als die Aufklärung erst allmählich das Allgäu erreicht hat[1], mag das nicht weiter überraschen. Dennoch wäre ich neugierig, was die Person, die das Graffito verfasst hat, heute wohl treibt. Stimmt das Datum – und ich habe wenig Grund, daran zu zweifeln –, würde sie jetzt allmählich auf die Sechzig zugehen.

    Sendet sie immer noch möglicherweise nicht ganz zu Ende überlegte Wünsche an Maria? Eine Fürbitte aus dem September 2022, dieses Mal brav ins Gästebuch geschrieben, würde ich jedenfalls der Schrift nach noch eine Altersklasse weiter oben verorten:

    In etwas ungeübter Handschrift: „Erbitte Segen auf allen Wegen mit dem neuen E-Bike“

    Als Agnostiker mit einer sehr festen Überzeugung, dass Wunder nichts als Glückssache sind, habe ich bei der Kombination von solchen Fürbitten von mutmaßlich recht alten Menschen und steilen Schotterwegen kein sehr gutes Gefühl. Für den Fall, dass ich mit meinem Skeptizismus falsch liege: Maria hilf!

    [1]Das war immerhin noch sechzehn Jahre vor dem Memminger Prozess, der weithin als (vorerst) letzter Hexenprozess im deutschsprachigen Raum angesehen wird.

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