• Hart durchgreifen gegen Aggressoren?

    CDU-Wahlplakat mit Slogan: "Hart durchgreifen"

    1999 zeigte sich die hesssische CDU ganz besonders autoritär. Das Plakat warb um Stimmen bei der Landtagswahl am 7.2.1999, kurz vor dem Überfall auf Restjugoslawien, um den es ab hier gehen soll (CC-BY-SA KAS).

    Glücklicherweise ebbt die patriotische Aufwallung vom Frühling des Jahres allmählich ab, und selbst die kommerzielle Öffentlichkeit scheint sich, wenn auch nur in glazialem Tempo, auf die Einsicht zu besinnen, dass das Töten von Menschen nur zu mehr Gemetzel führt. Dennoch ist die Ansicht, der Aggressor müsse auf jeden Fall ordentlich bestraft werden, bevor mensch mit dem Töten aufhören könne, immer noch alarmierend häufig zu lesen.

    Mal die Frage beiseite, ob „der Aggressor“ selbst im Ukrainekrieg so sicher zu bestimmen ist: Das ist natürlich ein ganz massives Nachgeben gegenüber der autoritären Versuchung. Die Fantasie, mit Gewalt und Strafe Verhalten anderer gestalten zu können, funktioniert schon im Strafrecht allenfalls so la-la, obwohl der Staat verglichen mit jenen, die er seiner Disziplin unterwerfen will, praktisch unbegrenzte Gewaltmittel hat. Der Plan, den Umgang von ja innerhalb von ein paar Größenordnungen gleichstarken Staaten[1] gewaltförmig zu zivilisieren, ist hingegen von vorneherein ein Rezept für endloses Blutvergießen.

    Als Bewohner der Bundesrepublik Deutschland bin ich tatsächlich ziemlich froh, dass es diese Sorte Strafgericht zwischen Staaten nicht gibt (mal von Rechtfertigungsreden für Krieg und Waffenlieferung abgesehen), denn ich habe keine Lust, für die diversen Angriffskriege meiner Regierungen und ihrer Freunde bestraft zu werden, um so weniger, da ich über die Jahre gegen sie alle angekämpft habe.

    Beweismittel: Ein Bericht der OSZE

    Ein besonders schlagendes Beispiel für strafwürdiges Verhalten liefert der erste ordentliche[2] Angriffskrieg der BRD-Geschichte, der Angriff auf das ohnehin schon gerupfte Restjugoslawien im Jahr 1999. Das Rationale damals war, es müsse dringend „ein neues Auschwitz verhindert werden“ (so Außenminister Josef Fischer). Parallelen zum heutigen Bullshit von der „Entnazifizierung der Ukraine“ dürfen gesehen werden; und klar ging es in beiden Fällen in Wirklichkeit darum, Klientelregimes der jeweiligen Gegenseite – die Milošević-Regierung von Restjugoslawien für Russland damals, die Seliniski-Regierung für „uns“ heute – zu schwächen oder idealerweise gar zu stürzen. Nebenbei: die weitere Geschichte des serbischen Staates lässt ahnen, dass diese Sorte gewaltsamen Regime Changes in der Regel nicht so richtig toll funktioniert.

    Wie dünn die Geschichten mit dem zu verhindernden „Auschwitz“ und den Hufeisenplänen waren, war damals genauso klar wie es die Schwächen der öffentlich beteuerten Kriegsgründe auf allen Seiten heute sind. Insbesondere stand während des gesamten Kosovokriegs auf der Webseite der OSZE der Bericht einer Beobachtermission, die bis kurz vor „unserem“ Angriff die Dinge im Kosovo im Auge behielt (Backup als PDF).

    Ich möchte hier ein paar Ausschnitte aus diesem Bericht vorstellen, um zu zeigen, wie sehr „wir“ damals Aggressor waren und wie fadenscheinig die Vorwände für den Überfall.

    Während der Umfang der militärischen Auseinandersetzungen im Februar abgenommen hat, setzte die UCK ihre Angriffe auf die serbische Polizei fort. Das umfasste isolierte Zusammenstöße und sporadisch Schusswechsel, zeitweise auch den Einsatz schwerer Waffen durch die Jugoslawische Armee.

    Also: keine Frage, da haben Leute aufeinander geschossen, aber das war dennoch klar ein Guerillakrieg von Freischärlern[3] und mitnichten irgendein „Vernichtungsfeldzug“ im Stil der deutschen Armee der 1940er Jahre. Das war nicht die gleiche Liga, das war nicht das gleiche Stadion, das war nicht mal die gleiche Sportart – eine Feststellung, auf die ich übrigens auch im Hinblick auf die aktuellen Kämpfe Wert lege.

    Polizei im Schwarzenegger-Stil

    Sehen wir mal an, wie das konkret aussah:

    Am 20. Januar [1999] endete eine polizeiliche Durchsuchung im Gebiet von Mitrovica in einem Schusswechsel und dem Tod von zwei UCK-Mitgliedern. Der Zwischenfall wurde von der OSZE-Mission durchgehend beobachtet. Die Polizei umstellte zwei Häuser und forderte die BewohnerInnen auf, sich zu ergeben. Diese reagierten mit Feuer aus Kleinwaffen. Eine Vermittlung durch die OSZE-Mission scheiterte, als die BewohnerInnen das Feuer mit panzerbrechenden Raketen eröffneten. Die Polizei antwortete mit Flak-Feuer. Die Leichen von zwei UCK-Kämpfern wurden gefunden. Es wurde geschätzt, dass 10 weitere BewohnerInnen geflohen waren.

    Ich gebe zu: Wenn die Polizei mit Flak-Geschützen rumfährt, ist klar was nicht in Ordnung. Aber wenn sie das tut, weil irgendwer mit Panzerfäusten auf sie schießt, ist gleichzeitig offensichtlich, dass mehr Waffen und mehr Rumballern die Situation gewiss nicht verbessern werden. Übrigens finde ich recht beeindruckend, dass da 10 Leute trotz Polizeiflak davongekommen sind. Ich will im Angesicht von Flak lieber nicht von verhältnismäßigem Einsatz von Gewalt sprechen, aber verglichen mit so manchem Waffengebrauch der deutschen Polizei müssen die damals den Abzug eher verhalten bedient haben.

    Bemerkenswert ist ebenfalls, dass das offensichtlich wie eine recht normale Polizeiaktion anfing, so mit Umstellen und Durchsagen und allem. Zum Vergleich, wie sowas in einem „richtigen“ Krieg aussieht (wohlgemerkt: immer noch kein „Vernichtungskrieg“), sei der Artikel Fallujah during the Iraq War aus der englischsprachigen Wikipedia und einige der verlinkten Quellen empfohlen; diese Lektüre hilft übrigens auch beim Nachvollziehen der Genese eines Zivilisationbruchs vom Kaliber des IS.

    Parenthetisch kann ich bei der Alliteration von Polizei und Panzerfaust nicht anders, als genüsslich §69 des Polizeigesetzes Baden-Württemberg zu verlinken.

    Terroristen!

    Aber weiter im OSZE-Bericht:

    Die UCK hat am 22. Januar fünf alte serbische ZivilistInnen aus Nevoljane (westlich von Vucitrn) entführt. Sie teilte der OSZE-Mission mit, dass die Geiseln an die OSZE übergeben würden, wenn die Polizei ihre Arbeit in der Gegend von Vucitrn einstellen würde […] Die OSZE-Mission hat die Entführung dieser ZivilistInnen mit Nachdruck als einen Akt des Terrorismus verurteilt.

    Eingestanden: anständige Leute sagen nicht Terrorismus. Aber da das nun mal Politprofis waren, die damals die Dinge im Kosovo begutachteten, sei ihnen die Gaunersprache gegönnt. Wichtiger für die Frage der Legitimation unserer Aggression ist jedoch: Diese Sorte von Entführen und Erpressen ist auch nicht gerade das, was mensch unmittelbar vor dem „Auschwitz“ von Außenminister Fischer erwarten würde.

    Unterdessen gab es tatsächlich eine Ecke, in der die UCK richtig Krieg gespielt hat:

    Am 28. und 29. Januar gab es Berichte über Mörser-, Panzer- und Maschinengewehrfeuer südlich von Podujevo in Richtung des Dorfes Kisela Banja. Es gibt keine Berichte über Opfer, jedoch wurden in der Gegend zahlreiche Personen auf der Flucht beobachtet. Der fortgesetzte Stellungskrieg zwischen UCK und den Sicherheitskräften in diesem Gebiet, in dessen Rahmen beide Seiten Gräben gezogen und Stellungen vorbereitet haben, war über den gesamten Berichtszeitraum hinweg besonders besorgniserregend. […] Die OSZE-Mission hat gegen die Verletzung der Waffenstillstandsregeln durch beide Seiten protestiert.

    Der Punkt hier ist: es war nicht etwa so, dass die jugoslawische Armee im Falluja-Stil durch die Dörfer gezogen wäre und Kram kaputt gehauen hätte. Nein, es gab einfach ein Widerstandsnest, das sie nicht haben erobern können. Angenommen, irgendwelche Radikalkurpfälzer würden sich am Heidelberger Schloss…

    Foto: das Heidelberger Schloss mit wilden Wolken

    …verschanzen: wie würde wohl die Regierung in Berlin reagieren? Ich denke, auf diese Frage konnen wir Antworten aus der Geschichte bekommen.

    Mafia-Methoden

    Zurück ins Restjugoslawien des Jahres 1999:

    Die Gewalt in den Städten hat im Februar stark zugenommen. Pristina, Mitrovica, Pez, Urosevac haben alle derartige Zwischenfälle erlebt. In ihnen wurden fünf Menschen getötet und mehr als ein Dutzend verletzt. Im schlimmsten dieser Fälle wurde am 6. Februar eine Bombe außerhalb eines kleinen albanischen Ladens in Pristina gezündet. Sie tötete den Besitzer und zwei PassantInnen, darunter eine Teenagerin.

    Es gab weitere Berichte, wie die UCK „polizeiliche“ Gewalt unter den AlbanerInnen ausübte und Strafmaßnahmen durchführte gegen Personen, die der Kollaboration mit den Serben beschuldigt wurden […] Die meisten Opfer waren gut ausgebildete Männer, von serbischer Seite beschrieben als „loyale Bürger von Serbien“. Sie wurden durch Schüsse in den Kopf getötet.

  • Vögel von unten betrachten

    Grüne Papageien sitzen herum, einer davon lüftet seine Flügel

    VertreterInnen von Heidelbergs Halsbandsittich-Population im Dezember 2018. Beachtet, wie die Unterseite der Schwingen deutlich stärker gemustert ist als die Oberseite.[1]

    Schon im Juli hat Forschung aktuell im Deutschlandfunk kurz ein Paper erwähnt, das mein Amateurinteresse an Zoologie geweckt hat: In den Wissenschaftsmeldungen vom 6.7. hieß es ungefähr 2 Minuten in das Segment rein, die oft wilden Muster auf den Unterseiten von Vogelflügeln könnten der Vermeidung von Kollisionen zwischen den fliegenden Tieren dienen.

    Die zugrundliegende Arbeit ist „Contrasting coloured ventral wings are a visual collision avoidance signal in birds“ von Kaidan Zheng und KollegInnen von der Sun Yat-sen-Uni in Guangzhou[2] und der Uni Konstanz, erschienen in den Proceedings B der Royal Society, Vol. 289, doi:10.1098/rspb.2022.0678. Forschungsziel dieser Leute war, Risikofaktoren für Kollisionen – also etwa große Schwärme, Bedarf an hektischen Manövern (sagen wir: Paviane überfallen Flamingos), eingeschränkte Manövierfähigkeiten (z.B. bei großen, schweren Vögeln) – mit auffällig gemusterteten Flügelunterseiten zu korrelieren.

    Mich hat das wahrscheinlich vor allem deshalb angesprochen, weil im Garten meines Instituts regelmäßig kleine Schwärme der oben abgebildeten Halsbandsittiche waghalsige Flugmanöver vollziehen, und dabei zwar viel Krach machen, aber erstaunlicherweise nie ineinander oder gar in die Äste der Bäume fliegen. Und ich bin jederzeit dafür, dass Wissenschaft sich solcher Alltagsrätsel annimmt.

    Die Studie hat auch meine Sympathie, weil sie ein Beispiel ist für Archive Science, also Wissenschaft, die auf der geschickten Nachnutzung bereits bestehender Daten basiert. Das macht fast immer weniger Dreck als neu erhobene Daten, spart besonders im Bereich der Biologie der Ethikkommission Arbeit, und, davon bin ich jedenfalls fest überzeugt, sie hat das Zeug dazu, unerwartete Zusammenhänge aufzudecken, die im üblichen Beantragen-Messen-Publizieren-Zyklus schwer zu finden sind.[3]

    Hunderttausend Blicke

    Wobei: Ganz ohne Leid ging auch diese Studie nicht ab. Die AutorInnen haben Bilder von 3500 Unterseiten von Vogelflügeln aus drei verschiedenen Archiven im Netz gezogen und dabei 1780 Spezies abgedeckt. Um den gesuchten Zusammenhang zu finden, mussten sie zunächst bestimmen, wie konstrastreich oder markant die jeweiligen Flügel eigentlich sind. Dazu haben sie vor allem 30 Studis der Sun Yat-Sen-Uni rekrutiert, die jeweils alle diese Bilder als „starker Kontrast“ oder „eher nicht“ klassifizierten. 3500 Bilder sind viel, wenn mensch sie beurteilen soll. Ich frage mich, wie sich wer nach so einer Sitzung fühlt.

    Um mal eine grobe Abschätzung einzuwerfen: Wenn die Leute schnell waren und alle 10 Sekunden so eine Klassifizierung hinbekamen, reden wir über 30 × 3500 × 10  s ≈ 106 Sekunden oder knapp zwei Wochen (nämlich: 1/30 Jahr) konzentrierter Bildbeurteilung, die in die Arbeit geflossen sind. Whoa.

    Daraus jedenfalls kommt der Score, mit dem das Paper vor allem arbeitet: Wie viele der KlassifiziererInnen haben den Flügel als kontrastreich klassifiziert? Der Score ist auch mal nicht-ganzzahlig, wie etwa beim Sperber in Abbildung 1, der auf 0.4 kommt; das passiert, wenn mehrere Bilder einer Spezies gemittelt werden.

    Für kontrolliert aufgenommene Bilder aus Museumssammlungen berechnet das Paper weiter als eine Art „objektiver“ Größe Standardabweichungen über die Grauwerte der Pixel der Schwingen. Zu dem Teil der Arbeit hätte ich einiges Rumgemäkel. Ganz vornedran gefällt mir nicht, dass dieses Maß kleinräumiges Rauschen, das plausiblerweise nicht gut als mittelreichweitiges Signal taugt (und das sie in ihren Anweisungen für ihre Studis auch wegfiltern wollten), genauso behandelt wie großräumige Strukturen. Mit etwas Glättung und Segmentierung wäre das sicher viel besser gegangen, und da sie eh schon opencv verwenden, hätten es dazu auch nicht schrecklich viel Aufwand gebraucht.

    Eigenartig finde ich auch, dass sie die Bilder in Grauwerte umgerechnet haben, während sie im Paper öfter über Farben reden. In der Tat muss mensch Vögel nur ansehen, um stark zu vermuten, dass sie (und ganz besonders die Vogelfrauen) sehr wohl Farben wahrnehmen. In der Tat sehen manche sogar UV und dürften in jedem Fall eher eine bessere Farbwahrnehmung haben als wir.

    Ich hätte also die „objektiven“ Kontrastscores doch zumindest mal separat nach Farbkanälen ausgewertet – das wäre nicht viel Arbeit gewesen und hätte das Hedging in der Artikelzusammenfassung überflüssig gemacht. Aber dann: es spielt für den Rest des Papers nur eine eher untergeordnete Rolle, weil sie diese Standardabweichungen eigentlich nur dazu verwenden, ihre „manuellen“ Scores zu validieren, indem nämlich (für mich offen gestanden etwas überraschend) die beiden Typen von Scores recht stark korrelieren.

    Zu diesen Scores kamen schließlich aus anderen Archiven – vor allem wohl dem trotz Javascript- und local storage-Zwang bezaubernden Birds of the World – Merkmale wie Masse, Schwarmgröße oder „Koloniebrüterei“ für 1780 Spezies, wobei letzteres einfach wahr oder falsch sein konnte.

    Monte Carlo Markov Chain

    Und jetzt mussten die AutorInnen nur noch sehen, welche dieser Merkmale mit ihren Kontrast-Scores korrelierten. Dazu fuhren sie recht schweres Geschütz auf, nämlich über MCMC-Verfahren geschätzte Verteilungen – erfreulicherweise unter Verwendung der Freien Software R und MCMCglmm. Ich kann nicht sagen, dass ich verstehen würde, warum sie da nicht schlichtere Tests machen. Vermutlich würde es helfen, wenn ich wüsste, was „the phylogenetic relatedness among species was included as a random effect in these models“ praktisch bedeutet und warum sie das überhaupt wollen.

    Aber solche Fragen sind es, wozu mensch FachwissenschaftlerInnen braucht, und ich bin, was dieses Fach angeht, kompletter Laie (erschwerend: ich habe noch nicht mal in meinem Fach wirklich was mit MCMC gemacht). So will ich gerne glauben, dass das methodisch schon in Ordnung geht.

    Vielleicht ist das aber auch wurst, denn die nach den Modellen richtig überzeugende Korrelation ist auch in Abbildung 3 des Papers mit einer großzügigen Portion Augenzusammenkneifen zu erkennen:

    In klaren Worten: Bei Vögeln, die in Kolonien brüten, geht die Strukturierung der Flügelunterseiten deutlich stärker mit der Masse des einzelnen Vogels nach oben als bei Vögeln, die das nicht tun. Wer etwa die Pelikane von Penguin Island vor Augen hat:

    Foto: Pelikane und andere Vögel stehen in loser Gruppe, zwei landen in ziemlicher Nähe

    oder, viel näher und mit kleineren Vögeln, die Insel der Möwen in der Wagbach-Niederung:

    Foto: Insel mit sitzenden und brütenden Möwen

    mag schon ein Bild entwickeln von einem gewissen evolutionären Druck auf, sagen wir, Pelikane, Mechanismen zu entwickeln, die es leichter machen, nicht ineinander zu fliegen.

    Aber ganz ehrlich: so richtig schlagend finde ich das Paper nicht. Ein wenig mehr Betrachtung, warum zum Beispiel die Vögel, die den blauen Punkte rechts unten in der oben reproduzierten Abbildung 3 entsprechen, offensichtlich auch ohne wohlmarkierte Flügel relativ kollisionsfrei gemeinsam brüten können, hätte mir schon geholfen, etwas mehr Vertrauen zu den Schlüssen zu fassen.

    Oder umgekehrt: Koloniebrüter haben plausiblerweise auch andere zusätzliche Kommunikationsbedürfnisse als andere Vögel, z.B. beim auskaspern, wer wo brüten darf (cf. Kopffüßer in Octopolis). Vielleicht kommt der Extra-Aufwand bei der Gestaltung der Schwingen ja auch daher? Und die Korrelation mit der Größe hat vielleicht mehr was mit Beschränkungen bei der Strukturbildung zu tun? Hm.

    Referees, gebt euch etwas mehr Mühe

    Beim Lesen des Textes habe ich mir übrigens an ein paar Stellen gedacht, dass die GutachterInnen des Papers schon noch ein paar gute Ratschläge mehr hätten geben können. So schreiben die AutorInnen allen Ernstes „Birds are well known for their ability to fly, besides a few flightless lineages such as ratites and penguins“ – das kann mensch in einem Kinderbuch machen oder in GPT-3-generierten Textoiden, die die Aufmerksamkeit von Google gewinnen sollen; in einem Fachartikel in einer biologischen Fachzeitschrift wirkt es jedenfalls für einen Physiker ziemlich verschroben.

    Hätte ich das begutachtet, hätte ich weiter angemerkt, dass, wer Rocket Science wie verallgemeinerte lineare Modelle mit MCMC aufruft, besser nicht den Schätzer für die Standardabweichung (Gleichung 2.1) breit ausstellen sollte – und dann noch als einzige Gleichung im ganzen Paper. Das ist ein wenig wie bei dem Monty-Python-Sketch zur Kilimandscharo-Expedition: Wir fahren über die Gneisenaustraße zur B37, wechseln am Heidelberger Kreuz auf die A5 und dann fahren dann weiter zum Kilimandscharo.

    Natürlich ist Begutachtung von Fachveröffentlichung ein brotloser Job (auch wenn ich vermute, dass es fast jedeR macht wie ich und dafür jedenfalls mal eine gute Ecke Arbeitszeit verwendet; dann ist es eine weitere öffentliche Subvention für die Verlage). Aber trotzdem, Referees: Ratet zu weniger Text! Nicht zuletzt gibt es ja bei vielen Blättern noch (und im Zusammenhang mit Open Access gerade) Page Charges – Leute müssen also dafür bezahlen, dass ihre Artikel gedruckt werden, und um so mehr, je länger der Artikel ist. Weniger Text schadet also den Verlags-Geiern und ist mithin ein Gewinn für alle anderen! Ref: „Academic publishers make Murdoch look like a socialist“.

    [1]Disclaimer: Auch, wenn das hier anders aussehen mag, füttere ich mitnichten Papageien oder andere Wildtiere. Aber ich kann nicht lügen: Ich bin jenen dankbar, die es tun, weil ich ohne sie weit weniger hübsche Tiere zu sehen bekäme.
    [2]Stetige LeserInnen dieses Blogs sind der Stadt am Perlfluss zum letzten Mal in SARS-1 und das Zimmer 911 begegnet.
    [3]Noch ein Disclaimer: Ich werde dafür bezahlt, Archive Science zu ermöglichen. Es könnte also sein, dass ich in diesem Zusammenhang nicht mein übliches Neutralitätslevel „Salomon“ erreiche.
  • Betonwüste Heidelberg

    Vier Fotos von Plätzen in Heidelberg mit viel Beton

    Wunderbar fotografiert vom Nabu: Baukunst in Heidelberg. Rechte beim Nabu Heidelberg.

    Anlässlich demnächst anstehender Wahlen zum/r Heidelberger OberbürgermeisterIn hat der lokale Nabu wunderschöne Flugblätter rumgeschickt. Auf dem einen erfährt mensch, dass Heidelberg nur 7 m² öffentliche Grünfläche pro Kopf hat, was selbst Pforzheim – zweifellos eine der hässlichsten Städte der weiteren Umgebung – locker überbietet (13 m²), während Karlsruhe satte 27 m² zu bieten hat. Wo ich gerade aus Karlsruhe zurückkomme: es macht wirklich schwer was aus. Zum Glück hat Heidelberg immerhin die nahen Berge mit ihren einladenden Wäldern.

    Noch besser hat mir das andere Flugblatt gefallen, dessen zentrale visuelle Botschaft diesen Post aufmacht: Die augenblickliche Stadtregierung hat wirklich viel dafür getan, dass der Grünanteil ja nicht wächst. Stattdessen hat sie jede Menge zugepflasterte Plätze produziert. Mehr noch: eine Fläche, die mit etwas gutem Willen als kleiner Park durchgegangen ist, den Montpellierplatz, hat sie für eine neue Tiefgarage weggebuddeln lassen.

    Ich hätte die Misere in dem Bereich nicht besser illustrieren können.

    Opus Caementitium oder Beton?

    Leider ist die Möglichkeit, bei dieser Wahl Informationen zu übertragen, also etwa weniger destruktive Politiken zu einzufordern, auch nach den ohnehin beschränkten Maßstäben dieses Polit-Genres extrem beschränkt. Die Wahl wird entschieden zwischen zwei KandidatInnen, die beide konsequente Beton-, Auto-, Wachstums-, Wettbewerbs- und Ausgrenzungspolitiken fahren werden.

    Da ist zum einen der auf einem breiten Rechtsticket an die Macht gekommene Amtsinhaber Eckhard Würzner, der für die abgebildeten Baukatastrophen verantwortlich ist und nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, den kleinen Pentapark am Neckar für eine Hotelerweiterung zu verhökern. Von absurden Ampeln mit Fahrradsymbolen drauf, die gerade dann grün werden, wenn die kreuzenden Autos auch grün haben, der Komplettasphaltierung der weiteren Umgebung des Bahnhofs oder dem rücksichtslosen Feilbieten der Aufmerksamkeit seiner Untertanen will ich gar nicht anfangen.

    Gegen ihn tritt an Theresia Bauer, die die letzten Jahre als Chefin des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst in Stuttgart von Wachstum und „Exzellenz“ geredet hat. Oh, ich will fair sein: Gegenüber ihrem CDU-Vorgänger Frankenberg hat sie immerhin dafür gesorgt, dass der im Ministerium ausgeschenkte Kaffee nun fair gehandelt war. Wirklich sprechend dagegen ist die Tatsache, dass unter ihr Baden-Württemberg eines der wenigen Bundesländer geworden ist (wenn ich den Überblick nicht verloren habe: das einzige), das noch formale Studiengebühren erhebt, wenn auch nur von Menschen, die nicht aus einem EU-Staat kommen.

    Drei für grüne Studiengebühren

    Das ist wirklich ihr Werk. Ihr diesbezüglicher Eifer ist auch nicht überraschend, denn sie ging schon in den 1990er Jahren, lang vor den Sachzwängen rot-grüner Machtausübung, mit allerlei Studiengebührenmodellen hausieren, gemeinsam mit Boris Palmer (der das damals von der Grünen Hochschulgruppe in Tübingen aus betrieb) und Matthias Berninger, der gerne statt Edelgard Bulmahn[1] Schröders Wissenschafts- und Bildungsminister geworden wäre. Daraus wurde zwar nichts, aber er fand über die Schröder-Jahre im Ministerium für Verbraucherschutz ein Auskommen, bis er nach der Abwahl von Rot-Grün 2005 direkt zu den Zuckerbäckern von Mars wechselte und mithin zu einem der Unternehmen, vor denen „Verbraucher“ am meisten hätten geschützt werden müssen.

    In der Liga intensiv riechender Seitenwechsel nach dem Schröder-Armageddon rangiert das sicher weit vor dem Wechsel von Außenminister Fischer zu BMW – zumal BMW, soweit ich weiß, derzeit nichts von dem Kriegsgerät herstellt, das Fischer einsetzen ließ –, und, soweit es mich betrifft, sogar noch vor der Gazprom-Connection von Schröder selbst.

    Ich kann mir angesichts dieser Freunde und Ideologeme der Kandidatin kaum vorstellen, dass der Nabu mit „Stadtgrün“ eine Empfehlung für den Wahlvorschlag von Bündnis 90/Die Grünen aussprechen wollte. Wenn er das doch gewollt haben sollten, wird es ein bitteres Erwachen geben.

    Nachtrag (2023-04-24)

    Und siehe da: Kaum ist Bauer aus dem Mittnachtbau (dem Sitz des Wissenschaftsministeriums in Stuttgart) ausgezogen, schon geht es mit den Studiengebühren für AusländerInnen zu Ende. Jetzt müssten wir nur noch an die albernen Zweitstudiengebühren ran…

    [1]Das ist die, derem Spätwerk wir die fürchterliche „Exzellenzinitiative“ zu verdanken haben. Ob das mit Berninger nicht ganz so schlimm ausgegangen wäre? Ich würde ja dagegen wetten.
  • 34 Monate Corona im Film

    Im Sommer 2021 habe ich in zwei Posts Filme zur Visualisierung der Corona-Inzidenzen und einer Art Alters-Scores aus den RKI-Daten der vorherigen anderthalb Jahren vorgestellt und ein wenig das Python-Programm diskutiert, das die generiert.

    Ich wollte das über den Sommer immer mal aktualisieren. Aber die Pandemie hat keine erkennbare Pause eingelegt, die eine gute Gelegenheit für eine Art Rückblick gewesen wäre. Jetzt aber ist wohl so in etwa der letzte Moment, in dem so ein Film noch nicht vollständige Clownerei ist, denn schon jetzt testet zumindest anekdotisch kaum mehr jemand. Wenn aber fast niemand PCR-Tests machen lässt, werden die Zahlen, die ich da visualisiere, weitgehend bedeutunglos (weil nicht small data).

    Bevor das Ganze zu einer Art aufwändigen Lavalampen-Simulation wird, habe ich die Programme genommen, dem Inzidenzfilm eine dynamische Colorbar gegönnt – angesichts von Inzidenzen von örtlich über 4000/100'000 im letzten Winter war das bisher feste Maximum von 250 nicht mehr sinnvoll – und habe die Filmchen nochmal mit aktuellen Daten gerendert.

    Hier also die Inzidenzen per Kreis (Hinweise dazu von vor einem Jahr):

    und hier die Alters-Scores (auch dazu Hinweise vom letzten Mal):

    Beide Filme sind mit -i 7 gebaut, jeder Tag ist also sieben Frames lang. Inzwischen wären die Filme zwar auch ohne Interpolation lang genug, aber sie hilft wenigstens dem Lavalampen-Effekt – und natürlich verletze ich gerne das Durchhörbarkeits-Zeitlimit von drei Minuten. Auch wenn die Filme gar keinen Ton machen.

    Ich habe die Gelegenheit genutzt, um den Code, der das macht – statt ihn nur hier zu verlinken, wo ihn niemand finden wird –, brav auf dem Codeberg abzuladen. Vielleicht hilft er dort ja Leuten, die irgendwann irgendwelche Daten in Kreispolygonen von matplotlib aus plotten wollen. Wenn es dafür bessere Standardverfahren geben sollte, habe ich die zumindest vor einem Jahr nicht gefunden.

  • Die BGE spielt Stadt-Land-Fluss

    Mein unergründlicher Stapel von heftoidem A4-Kram, den ich mal lesen sollte, hat heute Einblicke Nummer 10 hervorgespült, die ein Jahr alte Ausgabe des Magazins der Bundesgesellschaft für Endlagerung. Darin fand ich, nicht ganz so angeordnet, diese Illustrationen:

    Drei Dioramen, Stadt, Land und Wasser, jeweils mit darunterliegenden Atommülllagern.

    Rechte bei der BGE

    Mich hat diese Sorte Kunst sofort und direkt angesprochen. Schon die Darstellung des Atommülls: Da sieht mensch gleich, wie der Kram strahlt. Aber natürlich ist insbesondere die Komposition der Dioramen bemerkenswert. Es scheint, als hätte der_die Künstler_in sagen wollen: Stadt, Land, Fluss, ganz egal, wir buddeln überall unsere Höhlen und stellen ein paar Fässer Atommüll rein. Oben drüber merken es weder Banker noch Rinder noch Fische. Doch schon schlängeln sich lange Klüfte in unsere strahlenden Höhlen…

    Ich finde das anrührend und offen gestanden auch allzu verständlich angesichts des wahrscheinlich unlösbaren Problems der BGE. Ich gehe ziemlich hohe Wetten ein, dass sich nach dem Fiasko von Gorleben in der BRD kein Standort für ein Endlager für den hochradioaktiven Müll finden wird, an dem die Polizei Bau und Befüllung nicht paramilitärisch (also wie beim Zwischenlager in Gorleben) wird durchprügeln müssen; doch genau diese Gewaltorgien soll die BGE verhindern. Da dürfte der Gedanke, einfach überall heimlich ein paar Fässchen zu verbuddeln, wie eine schöne Utopie wirken.

    Bei diesem Thema möchte ich noch eben die erste Hälfte von Neal Stephensons Roman „Anathem“ empfehlen. Ich spoilere wahrscheinlich nicht zu viel, wenn ich verrate, dass darin eine ganz besondere und aus meiner Sicht auch realistische Lösung für das Problem der BGE vorschlagen wird. Nebenbei entwirft das Buch eine Welt, wie sie sein könnte, wenn seinerzeit pragmatische PythagoräerInnen das Rennen im römischen Reich gemacht hätten statt Stoiker, Mithras-Anhänger und schließlich ChristInnen.

    Aber spart euch die zweite Hälfte vom Buch. Soweit es mich betrifft, hätte die Handlung das Kloster nie verlassen sollen. Keine Apert für Anathem!

  • Newszone-Urteil: Keine Rauschmedien-Prävention, nirgends

    Foto eines Münchner Zeitungsständers mit Schlagzeile: „Schnösel-Mob greift Polizei-Wache an!“

    München, im Juli 2019: Die freie Presse™ kommt ihrem Informationsauftrag nach.

    Manchmal entscheiden Gerichte zwar nachvollziehbar, aber aus jedenfalls ethisch oder praktisch ganz falschen Gründen. Heute zum Beispiel hat das Landgericht Stuttgart dem SWR untersagt, Newszone zu betreiben (der SWR selbst dazu).

    Das Urteil kann ich vom Ergebnis her nachvollziehen, denn, soweit ich das nach einer schnellen Inspektion der Newszone-Webseite beurteilen kann, ist das eine öffentliche Subvention für die privaten Infrastrukturen von Apple und Google. Mit anderen Worten: öffentlich finanzierte Inhalte sind bei Newszone für die Öffentlichkeit nur zugänglich, wenn sie sich überwachungskapitalistischen Praktiken unterwirft. Obendrauf geschieht das weitgehend ohne Not, da die App sehr wahrscheinlich nichts kann, das nicht auch im Browser oder auf einem Desktop-Client funktionieren würde.

    Ein möglicher guter Grund

    Demgegenüber hätte ein wohlfunktionierendes Gemeinweisen ein einklagbares Recht auf Zugang zu öffentlichen Daten und Diensten über offene, gemeinschaftskontrollierte Standards. Dieses Recht gibt es leider nicht. Und so konnte, jaja, das Gericht diese Urteilsbegründung auch nicht nutzen.

    Ich hätte gerade noch Verständnis gehabt für ein Urteil, das sagt, ein Angebot, das (ausweislich der Teaser, die gerade auf der offen zugänglichen Webseite stehen) zur Hälfte besteht aus Meldungen wie:

    • Kevin Spacey: Freigesprochen vom Vorwurf der sexuellen Belästigung
    • Messerangriff: Mann verletzt 16-Jährige und ihre Mutter
    • Corona-Nachwirkungen: Darunter leidet Elevator-Boy Jacob
    • So geht es mit Silent Hill weiter
    • DAS darf Fat Comedy jetzt nicht mehr machen
    • Hat Sascha Koslowski eine neue Freundin?
    • Verfolgungsjagd und Unfälle: Trennung endet bei der Polizei!
    • Aus Kader geflogen: Das sagt Ronaldo jetzt!
    • Fall gelöst: Polizei weiß jetzt, wer diese Frau ist!

    vielleicht nicht in öffentlichem Interesse ist und mithin auch nicht aus öffentlichem Geld zu finanzieren ist. Allerdings hätte ich das für eine gefährliche Argumentation gehalten, so sehr es mich auch reut, wenn meine GEZ-Beiträge in Volksmusikshows und Bundesliga fließen statt in Deutschland- oder Zündfunk und Sendung mit der Maus. Solange mir aber die Bundesliga-Leute nicht mein Forschung aktuell nehmen wollen, ist ein gewisses Maß an Boulevard wahrscheinlich nicht zuletzt taktisch gut, denn werden diese Inhalte noch kommerzieller aufbereitet, sind sie sicher sozial wie individuell deutlich schädlicher.

    Gericht: Presse ist Clickbait

    Das war aber ohnehin auch nicht die Argumentation des Gerichts. Das Landgericht Stuttgart hat die App untersagt, weil sie zu presseähnlich sei. Zunächst würde ich, wäre ich der Kläger – ein Verband kommerzieller Medienunternehmen aus Baden-Württemberg – diese Urteilsbegründung als Beleidigung auffassen. Wenn nämlich die Sammlung von grenzdebilem Clickbait, die mir Newszone größtenteils zu sein scheint, presseähnlich sein sollte, müsste ich mich aufhängen, wenn ich die Sorte von Presse sein wollte, von der Thomas Jefferson mal gesagt hat:

    Unsere Freiheit kann nicht erhalten werden ohne die Pressefreiheit. Und diese kann nicht beschränkt werden, ohne dass ihr Verlust droht.

    Das Dramatische an dem Urteil ist jedoch, dass es die ständige Rechtsprechung vertieft, nach dem der Staat das Geschäftsmodell kommerzieller Medien irgendwie zu schützen und deshalb eine künstliche Verknappung redaktioneller Inhalte zu verordnen hat. Nicht nur als täglicher Konsument der DLF-Presseschau bestreite ich das. Klar: Für eine sinnvolle Meinungsbildung sind freie Medien, ganz wie Jefferson sagte, zweifellos unverzichtbar.

    Es gibt keine Freiheit im Unternehmen

    Doch sind kommerzielle Medien jedenfalls unter Bedingungen des faktischen Arbeitszwangs nicht frei, denn ihre AutorInnen schreiben immer unter der latenten oder (weit häufiger, da sie ja normalerweise keine ordentlichen Arbeitsverträge mehr haben) offenen Drohung, bei unbotmäßigen Äußerungen ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Entsprechend sind sich zumindest die Kommentarspalten in aller Regel erschreckend einig, wenn es um Klasseninteressen[1] geht, seien sie nun Hartz IV oder die Privatisierungspolitik.

    Nun operieren auch öffentlich-rechtliche Medien unter Bedingungen des Arbeitszwangs, und inzwischen ist auch dort die breite Mehrheit der AutorInnen prekär (feste Freie) bis ultraprekär (Freie) beschäftigt, was ihre Freiheit gerade angesichts selbstherrlicher IntendantInnen logischerweise auch stark einschränkt. Aber ohne den Druck der privaten Medien ließe sich da wieder viel mehr Tarifbindung – und damit Freiheit – durchsetzen, und immerhin hat Selbstherrlichkeit weniger einseitige Wirkungen als Klasseninteresse.

    Nach dieser Überlegung besteht selbstverständlich ein großes gesellschaftliches Interesse an möglichst breiten Angeboten und breit zugänglichen von öffentlich-rechtlichen oder noch besser gänzlich ohne Bedrohung der Existenz der AutorInnen produzierten Medien. Mit Bildzeitung und Big Brother hat das aber nichts zu tun. Im Gegenteil liegt die Schädlichkeit dieser Sorte kommerzieller Medien auf der Hand.

    Rauschmediensteuer?

    Nun sollen mündige BürgerInnen natürlich Cannabis, Tabak oder Alkohol erwerben und konsumieren und mithin zumindest in Maßen auch produzieren dürfen. Ich argumentiere also ganz entschieden nicht für ein Verbot kommerzieller Medien, und seien sie auch so offensichtlich auf Rausch und Abhängigkeit optimiert wie Springerpresse, Bertelsmann-Fernsehen oder die Angebote von Meta. Wobei… die aktuellen Ereignisse im UK, die es gewiss ohne die Dauerhetze der Murdoch-Medien[2] so nicht gäbe, könnten durchaus Argumente liefern. Aber wie dem auch sei: Es gibt wegen ihrer mangelnden Bedeutung für Medien- und Informationsfreiheit gewiss kein öffentliches Interesse an der Erhaltung der Geschäftsmodelle privater Medien.

    Wenn es nun umgekehrt schon keine – aus meiner Sicht naheliegende – Rauschmediensteuer gibt in Analogie zur Branntweinsteuer (oder was immer inzwischen aus ihr geworden ist), so sollten Staat und Gerichte jedenfalls nicht ungiftigere Medien daran hindern, NutzerInnen von kommerziellen Medien tendenziell zu entwöhnen.

    Deshalb: Das LG Stuttgart hat aus den falschen Gründen nachvollziehbar entschieden. Es ist nun Job der Gesellschaft, diese falschen Gründe wegzukriegen.

    [1]Wer bei diesem Wort zuckt: Tja. Mit ordentlich freien Medien würde es allenfalls ein mildes Achselzucken auslösen. Klasseninteressen existieren so unbestreitbar wie der Klimawandel, und bis auf Weiteres bestimmen sie das politische Leben noch deutlich stärker. Immerhin das dürfte sich aber in den nächsten paar Jahrzehnten ändern…
    [2]So gesehen sollten wir Axel Springer dankbar für sein Erbe sein, das uns zumindest Murdochs Produkte vom Hals gehalten hat.
  • Rekursives 419: Ein brillianter Betrugsversuch

    Screenshot: Mail mit 'I am a banker'

    Ich glaube, jedeR hat irgendwelche dunklen Marotten, die normalen Menschen eigentlich peinlich sind. Ich zum Beispiel bin ein großer Fan der Nigeria-Connection, etwas korrekter Vorschussbetrug oder ähnlich inkorrekt (weil auch auf Nigeria bezogen) 419er-Mails genannt. Ich verfüge, ich gestehe es, ohne rot zu werden, über eine 12 Megabyte umfassende Sammlung handverlesener einschlägiger Mails aus den letzten 20 Jahren, die ich bei Interesse gerne für wissenschaftliche oder andere Untersuchungen zur Verfügung stelle.

    Heute kam nun eine besondere Perle: Ein 419er-Scam, der Opfern anderer 419er-Scams Hilfe anempfiehlt, natürlich gegen eine kleine Gebühr. Fantastisch. Wer könnte ein dankbareres Opfer für diese Sorte von Betrug sein als jemand, der/die schon mal auf sowas reingefallen ist? In meiner Begeisterung über die selbstbezügliche Genialität dieses Kozepts missachte ich eventuelle Urheberrechte und reproduziere hier die ganze Mail:

    Date: Tue, 18 Oct 2022 10:32:57 +0100
    From: William Christian <williamsgeorge00051@gmail.com>
    To: undisclosed-recipients:
    Subject: I HAVE GOOD NEWS FOR YOU

    Hi my friend,

    I must apologize for this spontaneous email to you. I am aware of this is certainly not a conservative way of approaching you, but you will understand the need for my action thought It’s true we don’t know each other, but “I” think you need to hear this truth to protect yourself from being defrauded.

    I am Williams Christian, from , I was one of the Victims in Africa by some individuals whom I contacted to help me get my Inheritance Funds, but they all took advantage of me and left me a Bankrupt, I have tried in different ways to get my payment but all to know avail, I lost my life savings to different FAKE groups that claimed to be working in Banks like CBN Bank, Zenith bank, UBA, First bank etc. and many others thinking they were helping me, but rather, they were busy defrauding my hard earned money, I am very sorry telling my past, but I think there are many innocent people out there too that need this message.

    Honestly I wouldn't want anybody to experience what I went through in the hands of those crooks scammers, I lost all my friends because I refused to listen to their advice, simply because I thought I was on the right part without knowing I was dealing with scammers,

    But the good news today is that God has finally remembered me, few weeks ago I received a mail from a unknown person, a man in the state of Arizona advising me to contact one senior and professional attorney Mr Femi Falana, He is a Nigerian international lawyer and human rights activist whose law firm is made up of UK/Nigerian qualified solicitor and renders commercial legal services in due diligence, corporate investigation and trade secrets, immigration, intellectual property etc.

    He actually helped me in Nigeria in other west African countries to claim my lost funds and if I have not gotten mine I wouldn’t have bothered to advice another person, although at the beginning ,I thought it was another trick to scam me, but two weeks I decided to give it a try by contacting the attorney using email address provided, and to my greatest surprise it happened to be 100% real and I got my lost funds.

    Of course, I promised myself never to share my testimony/news until I receive my fund and then be convinced enough before letting people know, and Today I am now writing with joy to advise us all to STOP feeding scammers out there and contact this attorney on the email below if you haven’t claimed your lost money yet,

    Although, you may be wondering how I got my funds without paying a cent, yes I paid little money to the attorney which is normal to secure a some documents including permit certificate in my name of which I have the copy on file, but my advice to you is to STOP dealing with those scammers and contact this senior attorney to claim all your lost funds, his email address ID and phone number are(sexkepy@gmail.com) (+2348145880372)

    I encourage you to contact him for your own money and he will help you get it because I am a living testimony.

    Yours Sincerely
    William Christian

    Gut: Stilistisch reicht es jetzt nicht ganz zum Literaturnobelpreis. Aber William Christian sollte, finde ich, zumindest den Münchhausen-Preis der Stadt Bordenwerder erhalten, denn der soll „Personen mit besonderer Begabung in Darstellungs- und Redekunst, Fantasie und Satire“ auszeichnen. All of the above.

  • Ach Bahn, Teil 10: Textbausteine machen schlechte Laune

    Zu den universellen Erfahrungen des dritten Jahrtausends gehört ganz gewiss die Frustration nach Kontakt mit kommerziellem Kundendienst jeder Art. Das ist besonders bitter, wenn mensch das Niveau im Free Software-Bereich gewohnt ist: Bei fast allen Problemen und Wünschen, die ich zu Freier Software hatte, kam zumindest eine sinnvolle Reaktion, häufig auch rasch eine Lösung.

    Ganz anders im kommerziellen Bereich. Als neulich mein Rezept für Internet via Telefon nicht mehr funktionierte (im o2-Netz wiederverkauft von WinSIM), kamen auf zwei schriftliche Supportanfragen jeweils zwei zusammengeklickte Antworten, die offensichtlich nicht auf meine Anfragen eingingen und folglich auch komplett nutzlos waren. Ich wollte eigentlich schon an dieser Stelle empört darüber ranten, als nach einer verzweifelten telefonischen Anfrage tatsächlich eine nützliche Antwort mit einer vernünftigen Erklärung kam – gut genug, dass ich gelegentlich mal separat darüber bloggen will. Danach war ich zu versöhnt für einen Rant.

    Nun aber wieder die Bahn. Im September bekam ich nach einer Captcha-und-too-many-requests-Zumutung (Rant am Fediverse) auch noch zwei seltsame Mails von der Bahn, die in etwa so aussahen:

    Date: Wed, 21 Sep 2022 19:13:43 +0000 (GMT)
    From: DB <noreply@deutschebahn.com>
    To: msdemlei@fsfe.org
    Subject: Verify email
    
    Someone has created a Deutsche Bahn account with this email address.
    If this was you, click the link below to verify your email address
    
    https://accounts.bahn.de/auth/realms/db/login-actions/action-token?key=eyJhbGciO<ungefähr-1k-base64>-<vielleicht-eine-checksumme>&client_id=fe_esuite&tab_id=cY2rW_Q_7wc
    
    This link will expire within 15 minutes.
    
    If you didn't create this account, just ignore this message.
    

    Eine sehr nach fishing aussehende Mail mit genug Binärsoße, um ein halbes Betriebssystem drin unterzubringen? Auf Englisch von der deutschen Bahn? Und dann noch ohne CSS-Müll im Text? Das schien mir extrem verdächtig, aber auch genauere Untersuchung brachte keine Anzeichen für eine Fälschung zutage. Andererseits war der Bahn-Server ja vorher offensichtlich kaputt gewesen. Vielleicht war er ja insgesamt von Parteien übernommen, die mir noch übler wollen als die Bahn?

    Von solchen Fragen bewegt habe ich es mal wieder mit dem Bahn-„Kundendienst“ versucht. Folgendes habe ich noch am 21. September geschrieben:

    Liebe Mitarbeiter/in der Bahn,

    Kontext:

    Ich hatte heute schon wieder ganz großartige "User Experience" beim versuchten Fahrkartenkauf -- nicht nur musste ich mal wieder ein Captcha lösen (was ich offen gestanden für die Ursünde der UX halte), ich kam nach der Lösung unmittelbar auf eine nginx-Fehlerseite mit einem schlichten "too many connections". Der Back-Button führte auf noch ein Captcha.

    Gäbe es eine Alternative für den Online-Kauf von Fahrkarten, ich wäre jetzt dort. So, wie es ist, bin ich dankbar für Fahrkarten-Automaten.

    Das eigentliche Problem:

    Kurz nach diesem Erlebnis kamen zwei Mails wie die im Anhang. Die sieht nach allen Kriterien bis hin zu den Received-Headern aus wie eine legitime Mail von Ihnen. So, wie das gemacht ist, habe ich aber keine Ahnung, was das tut, und der endlose Binär-String löst jetzt auch wirklich kein Vertrauen aus. Ich habe das jetzt mal nicht geklickt -- es könnte ja sein, dass da jemand meinen Account übernehmen will.

    Was ist das? Habe ich das ausgelöst? Wäre es nicht gut, das etwas weniger spammisch aussehen zu lassen?

    Als der Bahn-Webserver wieder ging, hat sich herausgestellt, dass das tatsächlich Verifikationsmails der Bahn waren und das Web-Interface die Mails so angekündigt hätte (wenn auch ohne Begründung, warum überhaupt und gerade jetzt) – hätte ich am 21.9. nicht Captchas und „too many requests“ statt der Bahn-Webseiten bekommen.

    Der Bahn-Kundendienst hätte das jetzt erklären und sich entschuldigen können. Stattdessen kam fast drei Wochen später, am 11.10., eine profund nutzlose Antwort, die ich hier öffentlich kommentieren will, zunächst, weil ich meine Kommentare geistreich finde.

    Vor allem habe ich aber den Verdacht, dass jemand mit Technikkompetenz bei der Bahn dann und wann wahrnimmt, was ich hier schreibe. Warum ich das glaube? Nun, die Kundendienst-Antwort hatte endlich keinen CSS-Müll mehr an der text/plain-Alternative. Ich hatte das vor Jahren mal per Mail bemängelt, ohne dass sich etwas geändert hätte. Nun, nach meinem Post vom Juni, kommt die Mail endlich vernünftig und lesbar, sogar mit Absätzen und allem. Kann Zufall sein. Kann aber auch ein gutes Zeichen sein.

    Und drum hier die Bahn-Antwort mit meinen Kommentaren:

    vielen Dank für Ihre E-Mail. Bitte entschuldigen Sie die späte Antwort.

    Wir haben Ihr Anliegen geprüft.

    Die Authentifizierungsmail wird von uns versendet und ist für die Zurücksetzung Ihres Passwortes notwendig. Nach Klick auf den Link zur

    Meine Frage, wozu das Verfahren überhaupt eingerichtet wurde, bleibt leider unbeantwortet. Außerdem ging es nicht um ein Passwort, und es wurde auch nichts zurückgesetzt. Wie die ursprüngliche Mail selbst schon sagte, ging es um die Bestätigung einer Mailadresse. Mit einer sowohl falschen als auch nutzlosen Information aufzumachen, verdient für mich den Winston-Churchill-Preis für Erwartungsmanagement („Blut, Schweiß und Tränen“).

    Kontoaktualisierung, öffnet sich eine Seite auf bahn.de. Hier muss die E-Mail-Adresse mit Klick auf >> Klicken Sie hier, um fortzufahren bestätigt werden. Anschließend erscheint die Meldung, dass das Konto aktualisiert wird und Sie können sich wieder in Ihrem Kundenkonto anmelden.

    Achten Sie darüber hinaus bitte darauf, unsere DB Navigator App auf dem neuesten Stand zu halten und über einer sicheren und stabilen Internetverbindung zu buchen.

    Kundendienst-Tipp #1: Anfragen lesen und dann keine unpassenden Formtexte in die Antworten pasten -- ich habe keine Hardware, auf der die App laufen würde, und so dementsprechend hatte meine Anfrage auch nichts mit der App zu tun.

    Bei instabilen Internetverbindungen verzeichnen wir ein hohes Aufkommen von Buchungsabbrüchen.

    Kundendienst-Tipp #2: Fehler eingestehen. Da war keine instabile Internet-Verbindung. Was da kam, war eine Meldung vom Reverse Proxy der Bahn, weil offenbar der Dienst dahinter überlastet oder kaputt war.

    Die richtige Reaktion wäre gewesen: „Ja, sorry, wir haben es verkackt. Und weil das im Zusammenhang mit dem Captcha eingestandenermaßen nochmal blöder war, werden wir uns jetzt wirklich mal überlegen, den Captcha-Quatsch zu lassen. Ansonsten Entschuldigung.“

    Empfehlenswert wäre ebenfalls, beim Log-in via Browser die Cookies und den Verlauf zu löschen und zudem auf dem neuesten Stand zu halten und ggf. den Adblocker zu deaktivieren.

    Kundendienst-Tipp #3: Keine Voodoo-Tipps geben. Wie soll bitte das Löschen „des Verlaufs“ ein 500 (oder 504, ich weiß nicht mehr) des Reverse Proxy der Bahn reparieren? Und wenn Leute wirklich der Empfehlung folgen und „die Cookies löschen“, werden sie unter Umständen böse Überraschungen erleben. Wenn die Bahn meint, in Einzelfällen (wenn auch offensichtlich nicht diesem) könne ein Zurücksetzen Ihrer Cookies nötig sein: das kann mensch von der Server-Seite aus viel zielgenauer tun, etwa mit einer Webseite, die entsprechende Set-Cookie-Header ausliefert (und ggf. zu weiteren Seiten weiterleitet, die das für weitere Domains tun). Damit geht dann ein „gehen Sie zu <dieser URL>, um die Bahn-Cookies zu löschen“.

    Wenn die Bahn schließlich wirklich findet, dass aktivierte Adblocker die Nutzung ihrer Dienste behindern: Wäre das nicht ein Anlass, darüber nachzudenken, all den Tracking- und Marketing-Quatsch von der Seite runterzunehmen? Aber wie gesagt: das war vorliegend gar nicht das Problem.

    Wir hoffen, dass wir Ihre Fragen beantworten konnten und wir Sie bald in unseren Zügen begrüßen zu dürfen.

    Helfen Sie uns unser Angebot und unseren Service weiter zu verbessern. Beantworten Sie dazu bitte nachfolgende Fragen unter Umfrage bahn.de. Vielen Dank.

    Ganz perfekt sind die text/plain-Alternativen immer noch nicht, denn die URL der Umfrage geht dabei verloren. Aber weil Umfragen an sich und schon gar im Web ein Fluch sind, würde ich das in diesem Fall eher als Feature als als Bug klassifizieren.

  • Schrödingers Tiger

    Wieder mal bin ich erstaunt über die Relation von Corona- zu sonstiger Berichterstattung. Während die Deutschlandfunk-Nachrichten um 7:30 aufmachten mit 800 Austritten aus der Linkspartei, gab es kein Wort dazu, dass derzeit hier im Land recht wahrscheinlich mehr SARS-2-Viren umgehen als je zuvor.

    Das ist aus den robusten Schätzern (Lang lebe small data!) zu schließen, die das RKI in seinen Wochenberichten veröffentlicht – die Inzidenzzahlen aus der Vollerfassung reflektieren ja inzwischen eher reales Verhalten als reale Verhältnisse, weil kaum mehr jemand PCR-testet. Bessere Zahlen sind zu schätzen aus dem, was ganz normale Leute über das GrippeWeb des RKI (Danke an alle, die mitmachen!) zu Erkältungen und Co berichten und aus den Diagnosen bei ÄrztInnen, wie viele Leute derzeit mit Symptonen Covid haben:

    Screenshot-Zitat: COVID-ARE-Inzidenz zwischen 1300 und 3100/100000

    (Quelle). Sehen wir uns an, wie das zum Höhepunkt der Omikron-Welle im Frühling aussah; die höchste Schätzung war für Kalenderwoche 11 im Bericht vom 24.3.:

    Screenshot-Zitat: COVID-ARE-Inzidenz zwischen 2000 und 3300/100000

    Nun gebe ich euch, dass das Mittel der damaligen Schätzung noch eine Ecke über der von heute liegt und inzwischen die Fehlerbalken größer sind. Aber wirklich signifikant verschieden sind die geschätzten Inzidenzen nicht.

    Und das sind nur Leute mit Symptomen. Weil inzwischen viel mehr Menschen SARS-2 schon einmal überstanden haben als im März, ist anzunehmen, dass auch viel mehr Menschen asymptomatisch erkrankt (aber vielleicht noch infektiös) sein werden als in Kalenderwoche 11. Wenn sich die entsprechende Dunkelziffer auch nur um ein Drittel erhöht hat, laufen jetzt fast sicher mehr SARS-2-infektiöse Menschen herum als damals.

    Dass „Infektionsraten wieder zurück auf Märzniveau“ gar keine Nachricht ist, finde ich zumindest in der Schrödinger-Interpretation des derzeitigen Pandemie-Umgangs interessant. Im Pandemie-vorbei-Zustand – und Abschnitt 1.6.3 im aktuellen RKI-Wochenbericht scheint in anzuzeigen –, wäre die Nachricht nämlich im Effekt „alle haben Schnupfen“, was eingestandenermaßen eher auf dem Niveau von „Hund beißt Mann“ ist und vielleicht wirklich nicht in die DLF-Nachrichten gehört. Stellt sich allerdings heraus, dass die Pandemie nicht vorbei ist, ist das, was da in der Schrödinger-Kiste ist, keine Katze mehr, sondern ein Tiger.

    Ich selbst – der gerade das erste Rhinoviren-Elend der Saison durchläuft – neige mittlerweile deutlich zur Einschätzung, dass wir mit „ist vorbei“ durchkommen werden, ohne noch unser Normal-Moralniveau im Bereich öffentlicher Gesundheit verlassen zu müssen.

    Aber wie es so ist mit den Kisten vom Schrödinger-Typ: Beim Öffnen kann es Überraschungen geben. Und so fände ich es schon ganz korrekt, wenigstens ein Mal die Woche, also nach dem Wochenbericht, kurz durchzusagen, dass, wer sich einschlägig Sorgen macht, derzeit die Ohren auf Märzniveau anlegen sollte.

  • Blog Extensions on Codeberg

    Screenshot of a browser window showing http://localhost:6070/foo and a fortune cookie in glorious ASCII.

    This post takes an odd bend to become an apology for CGI (as in common gateway interface) scripts. This is the netsurf browser communicating with the CGI shell script at the foot of this post.

    I have written a few plugins and extensions for this blog, and I have discussed them in a few posts (e.g., feedback form, tag explanations, cited-by links, or the search engine). The code implementing these things has been strewn across the various posts. I have to admit that having that code attached to just a few blog posts has always felt somewhat too early-90iesy to me.

    Now that I have created my Codeberg account, I have finally copied together all the various bits and pieces to create a repository on Codeberg that you are welcome to clone if you're running pelican or perhaps some other static blog engine. And of course I appreciate merge requests with improvements.

    There is one major file in there I have not previously discussed here: cgiserver.py. You see, I'm a big fan of CGI scripts. They're reasonably simple to write, trivial to deploy, and I have CGIs that have been working with minimal maintenance for more than 20 years. Sure, pulling up an interpreter for every request is not terribly efficient, but for your average CGI that is perhaps called a dozen times per day (depending on how many web crawlers find it interesting) this really doesn't matter. And that's why both the feedback script and the search engine are written as CGIs.

    However, in contrast to apache, nginx (which serves this blog) does not support CGI scripts. I even by and large agree with their rationale for that design decision. Still, I would like to run CGIs, and that's why I've written the cgiserver. It is based on Python's built-in HTTP server and certainly will not scale – but for your average blog (or similar site) it should be just fine. And I don't think it has any glaring security problems (that you don't introduce with your CGIs, that is).

    Installation is almost trivial: put the file somewhere (the in-source sysvinit script assumes /var/www/blog-media/cgiserver.py, but there's absolutely no magic about this), and then run it with a port number (it will only bind to localhost; the default in the sysvinit script is 6070) and a directory into which you put your CGI scripts (the sysvinit script assumes /var/www/blog-media/cgi).

    When you have a cgi script foo, you can dump it in this directory, make it executable and then run it by retrieving http://localhost:6070/foo. In case you have nothing else, you can try a shell script like:

    #!/bin/sh
    echo "content-type: text/plain"
    echo
    /usr/games/fortune
    

    (which of course only works in this form if you have something like fortunes-en installed on a Debian box). That should be enough to give you something like the screenshot opening this post. Even more than 25 years after I have written my first CGI, I am still amazed how simple this is.

    Disclaimer: Writing CGI scripts that take input such that they are not trivially exploitable is higher art. So… don't do it, except as a game. Oh, and to debug your scripts, simply let cgiserver run in a terminal – that way, you will see what your scripts emit on stderr. Note, however, that the way the sysvinit script starts cgiserver, it will run as nobody; if things work when you start cgiserver yourself but not when it's running as a daemon, that's the most likely reason.

  • Es ist wer daheim!

    Vorneweg die wichtigste Nachricht: Der/die Datenschutzbeauftragte von Google hat eine Mailadresse, und sie ist dpo-google@google.com.

    Fragt mensch duckduckgo nach dieser Adresse, kommt derzeit nichts zurück. Google hingegen kommt mit ein paar Matches zurück, darunter https://www.datenanfragen.de/company/google/ (ein Selbsthilfe-Laden, der einen recht guten Eindruck macht) und eine reddit-Seite, auf der auch einiges Naserümpfen stattfindet, weil Google diese Mailadresse eher diskret behandelt. Immerhin: Google hätte sie ja auch aus ihrem Index verbannen können.

    Die Adresse habe ich von, ta-da, der irischen Datenschutzbehörde. Es gibt sie! Es ist dort wer zu Hause! Ein Gedanke, der mich spontan an diese denkwürdige Geschichte erinnert hat:

    Datenschutzpersonal des ULD an den Fenstern ihres Gebäudes

    Rechte wahrscheinlich beim ULD S-H.

    Dass beim irischen DPC jemand daheim ist weiß ich, weil ich tatsächlich eine Antwort bekommen habe auf meine Anfrage an die irische Datenschutzbehörde, wie ich an eine für Datenschutz zuständige Person von Google herankommen könnte. Eingelaufen ist sie am 27. September, exakt einen Tag vor Ablauf der Monatsfrist seit der Eingabe. Wie schaffen die Leute es nur, solche Sachen immer im letzten Moment hinzubekommen?

    Verblüffenderweise ist das auch nicht nur ein Formbrief, denn es steht schon mal drin: „I note you are seeking erasure of an old Google account,“ und dann, nachdem die einschlägigen Rechtsgrundlagen referiert wurden: „We would recommend that you contact Google’s Data Protection Officer (DPO) directly, requesting erasure of your data as per Article 17 of the GDPR, requesting a reply. You can contact the DPO at dpo-google@google.com.“ Schön.

    Auf meine Aufforderung, Google zu ermahnen, weil sie keine klaren Kontaktmöglichkeiten in Datenschutzsachen bieten und schon daher im Konflikt mit der DSGVO stehen, geht der antwortende „Information Officer“ leider nicht ein. Aber gut: Google anpissen ist jetzt sicher nichts, was ich im Bereich der Verhaltensmöglichkeiten des/der irischen DPC verortet hätte.

    Unterdessen habe ich auch schon ein erstes Lebenszeichen von der Google-Adresse:

    Hello,

    Thank you for contacting us. This is an automatic response to let you know that we've received your request and we'll respond as soon as possible.

    We treat requests seriously and we review them in the order in which they're received. If you send multiple requests, it might take us longer to respond to you.

    Thank you for your understanding and cooperation.

    Regards, Google

    Im Schreiben der irischen Datenschutzstelle steht:

    The organisation must respond to you within one month of receiving your request; in certain circumstances, this period may be extended by a further two months.

    Da das Lebenszeichen kaum als Antwort durchgehen wird: die Zeit läuft.

  • Schurken, Orden, und der Bau von U-Bahnen

    Viel behelmte Polizei auf einer städtischen Straße

    Mangels eines Freien Fotos zur Menschenrechtslage in Ägypten: So sah es auf der Route der Welcome to Hell-Demo beim G20-Gipfel im Juli 2017 aus, kurz nachdem die im Vergleich zu Ägypten ja noch relativ milde deutsche Staatsgewalt mit ihr fertig war.

    Auch wenn ich bekennender Freund der Le Monde Diplomatique bin, bin ich erst jetzt dazu gekommen, die Ausgabe vom April 2022 zu lesen und darin eine recht bemerkenswerte Anekdote zu finden. Sie geht, in den Worten des Artikels Pharaonische Obsession von Léa Polverini, so:

    Am 7. Dezember 2020 verlieh Präsident Emmanuel Macron [dem ägyptischen Diktator] Marschall al-Sisi – wenn auch diskret – das Große Kreuz der Ehrenlegion. Am 8. November 2021 konnte der französische Alstom-Konzern einen 876-Millionen-Euro-Auftrag für die Renovierung der Kairoer Metro melden, finanziert über die staatliche Entwicklungshilfe, also die Agence française de développement (AFD).

    Nun mag es sein, dass das alles Zufall ist und nicht Industriepolitik; es ist ja auch fast ein Jahr zwischen den Ereignissen vergangen. Wirklich plausibel ist das jedoch nicht, zumal es prima zu meinen Experimenten zur Auswahl von „Führungspersonal“ passt. Deren Ergebnis – die starke Anreicherung von gewissenlosen Schurken hierarchieaufwärts – müsste nach dieser Geschichte allerdings ergänzt werden zu „gewissenlose eitle Schurken“. Ich nehme als Hausaufgabe mit, ein Modell zu ersinnen, das auch auf Eitelkeit selektiert.

    Bei der vorliegenden Geschichte liegt die Gewissenlosigkeit und Schurkigkeit zunächst bei Macron. Ich will niemandes Gefühle verletzen, indem ich meine Präferenzen für die Aufnahme in die Ehrenlegion bei einer Wahl zwischen Putin und al-Sisi äußere, aber was Polizeiwillkür, Folter, Zensur, Militarisierung des Alltags, ungerechte Einkommensverteilung, rücksichtslose und wahnsinnige Großprojekte oder so in etwa jeden anderen Aspekt von Menschenrechten angeht, müssten sich die ÄgypterInnen mindestens ebenso dringend befreien wie die RussInnen. Wie sehr muss mensch jeder Sorte „Gesinnungsethik“[1] entsagt haben, um dem Organisator dieser Orgie von Unrecht Orden (und dann noch erster Stufe) an die Brust zu heften?

    Ungefähr ebenso erschreckend finde ich jedoch den Eitelkeitsaspekt, der hier vor allem von al-Sisi abgedeckt wird (nicht, dass der kein Schurke wäre). Kann es wirklich sein, dass so ein Stück Blech über zahlreiche Leichen gehende Menschen wie al-Sisi in ihren politischen Entscheidungen beeinflusst? Nur zur Einordnung, worum es hier geht, zitiere ich aus der Wikipedia zur physischen Erscheinung des besagten Großkreuzes:

    Ordensstern auf der linken Brust, dazu Ordensband getragen über rechter Schulter

    Dafür vergibt der Mann Milliardenaufträge, finanziert durch Kredite, deren Rückzahlung wieder ein paar hunderttausend ÄgypterInnen in Not und Armut stoßen werden?

    Aber gut: Wahrscheinlich hätten Blech und Tuch alleine doch nicht gereicht. Vielleicht könnte jemand in Frankreich mal die Details zur erwähnten „Finanzierung“ des Deals durch die französische Seite befreien. Wahrscheinlich fände ich beruhigend, was dabei herauskommt. Und wenn sich wer schon die Mühe macht: Einblicke in die Diplomatie rund um das ähnliche Düfte verströmende U-Bahn-Projekt in Belgrad (LMD 8/2022, „Eine Metro für Belgrad“; ist leider noch nicht offen online) wären bestimmt auch interessant.

    [1]Um mal den übelriechenden Gegensatz Max Webers zu „Verantwortungsethik“ (a.k.a. Schurkigkeit) aufzunehmen.
  • Religion vs. Wissenschaft: Null zu Eins gegen kleine Geschwister

    Detail aus einem gemalten Bild: Benedikt gestikuliert, Scholastika betet ihn an

    Geschwisterliebe – hier zwischen Benedikt und Scholastika von Nursia – in der Fantasie des Illustrators der Klosterkirche Elchingen (Dank an den Wikipedia-Fotografen).

    Am 22. September musste ich etwas früher als normal aufstehen, und so bekam ich die Morgenandacht im Deutschlandfunk mit. Thema war unter anderem die große Geschwisterliebe zwischen Benedikt von Nursia und seiner Schwester Scholastika von Nursia. Die Geschichte ist, wie wohl die meisten Heiligenlegenden, etwas Stulle. Gregor ruft die Pflicht, Scholastika will aber noch etwas Zeit mit ihrem Bruder verbringen, was im DLF-Andachtsduktus so klingt:

    Sie kann nicht genug bekommen. Sie hat noch so viel auf dem Herzen. Und so betet sie. Und kurz darauf tobt ein Unwetter los. Benedikt kann erstmal nicht ins Kloster zurückkehren. Zum Glück für Scholastika.

    Geschwisterliebe?

    Nun wäre viel zu diesem Stakkatostil zu sagen, doch kann ich, der ich am liebsten jeden zweiten Satz mit einem „und“ anfangen würde, da nicht hinreichend sicher mit Steinen werfen. Mich hat aber ohnehin eher die Einleitung zu dieser Passage gereizt:

    Papst Gregor der Große hat dieses Gespräch, das sich im Jahr 543 ereignet haben muss, aufgeschrieben. [Hervorhebung ich]

    Umm… Schon zu Benedikt selbst steht in der Wikipedia zur Zeit:

    Eine Minderheit von Forschern bezweifelt aufgrund der problematischen Quellenlage, dass Benedikt eine reale historische Persönlichkeit war. [...] Der Theologe Francis Clark legte 1987 eine zweibändige Untersuchung der Dialogi [der angeblich von Gregor dem Großen verfassten Hauptquelle zu Benedikt] vor, in der er die Hypothese vertritt, das Werk sei unecht. Der Verfasser sei nicht der 604 gestorbene Papst Gregor, sondern ein Fälscher, der im späten 7. Jahrhundert gelebt habe.

    Der Wikipedia-Artikel geht noch weiter auf die darauf folgende Kontroverse ein, die ich als Laie mit „mehr oder weniger offen im Hinblick auf die Existenz einer einzigen Person mit den wesentlichen Punkten von Benedikts Biografie“ zusammenfassen würde.

    Zu Scholastika nun finden sich außerhalb der frommen Legenden von Gregor oder einem Gregor-Fälscher überhaupt keine Spuren. Dass „Benedikt“ als (mutmaßlicher) Erfinder von Ora et Labora eine Schwester, gar Zwillingsschwester, haben soll, die irgendwas wie Gelehrsamkeit heißt: Also bitte! Das kann mensch 400 Jahre nach Gallilei und fast 200 Jahre nach Baur und seiner Schule gerne mit mildem Spott oder meinetwegen auch freundlicher Verspieltheit rezipieren – aber jedenfalls nicht als „ereignet haben muss“.

    Nichts als Stress

    Die fromme Legende von der innigen Geschwisterliebe hat mich jedoch immerhin daran erinnert, dass ich noch einer anderen Geschichte zur Geschwisterthematik aus dem Deutschlandfunk nachgehen wollte, und zwar einem Segment aus Forschung aktuell am 13. September.

    Hintergrund davon ist eine Arbeit von Verena Behringer vom Deutschen Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen und einigen KollegInnen, „Transition to siblinghood causes a substantial and long-lasting increase in urinary cortisol levels in wild bonobos“ (sagen wir: „Wilde Bonobos stresst es, kleine Geschwister zu kriegen“), die dieses Jahr in eLife erschienen ist, doi:10.7554/eLife.77227.

    Der Artikel hat mich schon deshalb interessiert, weil meine KollegInnen vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung, seit sie aus der niedersächsischen Provinz nach Göttingen gekommen sind, Nachbarn des DPZ sind und berichten, von dort seien öfter mal seltsame Geräusche zu hören. Insofern bin ich neugierig, was am DPZ so geforscht wird.

    Behringers Arbeit scheint allerdings kein Fall für die Ethikkommission zu sein, auch wenn da zweifelsohne eine draufgeguckt haben wird; dazu unten ein paar Worte. Als kleiner Bruder habe ich aber auch ein persönliches Interesse an den Ergebnissen, denn wir kleine Geschwister kommen in der Arbeit gar nicht gut weg. Grafisch dargestellt:

    Die Punkte in den Plots entsprechen Konzentrationen von Cortisol im Urin von jungen Bonobos. Cortisolspiegel gelten in vielen Spezies als Proxy dafür, wie gestresst ein Individuum gerade ist. Beachtet, dass die Ordinate logarithmisch aufgeteilt ist; auch wenn ein linearer Zusammenhang zwischen „gefühltem“ Stress und dem Spiegel ausgeschlossen werden kann, ist hier jedenfalls viel Dynamik im Graphen.

    Auf der Abszisse stehen die Jahre vor bzw. nach der Geburt des jeweils ersten kleinen Geschwisters. Der senkrechte Strich zwischen Null und Eins markiert fünf Monate nach der Geburt des Geschwisters. Schon ohne tiefergehende Analyse fällt auf, dass in diesen ersten fünf Monaten als Schwester oder Bruder die Bonobos nie entspannt waren und sich die Stresslevel (wenn mensch denn an den Cortisolproxy glaubt) durchweg stark am oberen Rand bewegen. Danach, immerhin, normalisiert sich die Situation erkennbar.

    Die Linien mit so einer Art Konfidenzintervallen drumrum sind Modellfits für den „typischen“ Verlauf des Cortisolspiegels, jeweils getrennt nach Jungen und Mädchen (die Bestimmung der Farbzuordnung ist dem/der LeserIn zur Übung anempfohlen). Der Schluss ist fast unausweichlich: kleine Geschwister sind Stress, jedenfalls für eine ganze Weile. TTS nennen das Behringer et al, Transition to Siblinghood.

    Alle zehn Tage ein paar Tropfen Urin

    Wer sich fragt, wie die Leute an die Urinproben gekommen sind: Nun, die Max-Planck-Gesellschaft betreibt im Kongo eine Einrichtung namens LuiKotale, die in der Openstreetmap als tourism:camp_site getaggt ist. Es lohnt sich, die Karte etwas rauszuzoomen, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was für eine einsame Angelegenheit das ist und wie klein das Risiko, dass sich wirklich mal TouristInnen dorthin verirren könnten. In der Umgebung des Camps leben einige Stämme von Bonobos, die sich an urinsammelnde und zuguckende Menschen gewöhnt haben, ansonsten aber offenbar ihrem üblichen Leben nachgehen können.

    Die DPZ-WissenschaftlerInnen haben zwischen Juli 2008 und August 2018 – ich bin allein schon wegen der zehn Jahre beeindruckt – Urin vom Bonobonachwuchs gesammelt, wenn er (der Urin, nicht der Nachwuchs) auf Blättern gelandet ist und nicht verkotet war. Aus diesen Proben konnten sie offenbar Konzentrationen verschiedener Hormone – darunter Cortisol – bestimmen. Ich verstehe zu wenig von den Laborprozeduren, um beurteilen zu können, wie groß die Fehlerbalken an den Punkten im Plot oben wohl sein sollten. Alleine die Überlegung, dass die Blätter nicht immer trocken gewesen sein werden, schlägt schon sehr große statistische Fehler vor. Andererseits würden selbst Fehler von 50% in der logarithmischen Darstellung nicht besonders auffallen und jedenfalls nichts an den grundsätzlichen Ergebnissen ändern.

    Am Schluss kamen über die zehn Jahre 319 nutzbare Urinproben von passenden Kindern zusammen. Die Leute haben also weniger als alle zehn Tage eine Probe gewinnen können. Ihre Methode mag ethisch weitgehend unbedenklich sein, sie braucht aber ganz klar viel Geduld und Glück.

    Etwas verblüffend finde ich, dass im Sample 20 Mädchen, aber nur 6 Jungen vorhanden sind. Ein solches Ungleichgewicht ist – ohne das jetzt wirklich durchgerechnet zu haben – fast sicher kein Zufall. Sind die Jungen vielleicht scheuer? Sie hängen jedenfalls signifikant mehr an ihren Müttern (Abb. 2 D im Artikel). Gibt es in den beobachteten Stämmen vielleicht einfach weniger von ihnen? Wenn die Studie das kommentiert, habe ich es überlesen.

    Versuch einer Ehrenrettung

    Die Arbeit verwendet einige Sorgfalt darauf, herauszukriegen, was genau diesen Stress auslöst. Zusammengefasst sind die zentralen Ansätze in der Abbildung 2 im Paper, die betrachtet, was sich postnatal sonst noch so alles ändern könnte im Verhältnis von Mutter und großem Geschwister. Die zugrundeliegenden Daten wurden durch stundenweise Beobachtung der jeweiligen Kinder gewonnen. Ja, diese Leute kennen ganz offenbar ihre Affen.

    Es zeigt sich, dass weder beim Säugen (oder entsprechenden Ersatzhandlungen) noch beim Kuscheln oder der gemeinsamen Nahrungsaufname über die Geburt hinweg viel passert, denn die Mütter entwöhnen größtenteils schon vorher. Beim Rumschleppen („Riding“) der älteren Kinder tut sich tatsächlich etwas, jedenfalls, wenn diese älteren Kinder selbst noch jung und männlich sind (Abb. 2 D und E im Paper). Dieser Alterseffekt ist aber in den Cortisoldaten nicht nachweisbar, so dass „weniger getragen werden“ als Grund des starken Stresssignals wohl ausfällt.

    Die AutorInnen spekulieren über weitere Gründe für das erhöhte Stressniveau, beispielsweise, dass die Geschwister mit dem Baby spielen wollen, aber nicht dürfen (yeah, right), oder dass sich die Mütter perinatal von der Gruppe absetzen und so auch die Geschwister isolierter sind. Stress könnten auch die üblichen Grobiane in den Stämmen machen, indem sie die älteren Kinder ärger quälen, während die Mutter anderweitig beschäftigt ist. Richtig überzeugend ist das alles nicht. Kleine Geschwister sind wohl einfach an und für sich stressig.

    Und es handelt sich klar um ein starkes Signal. Aus den Modell-Fits ergibt sich, dass sich bei der TTS die Cortisolniveaus verfünffachen. Demgegenüber kommen Menschen, wenn sie den Tieren im Labor Stress machen wollen, gerade mal auf eine Verdoppelung der Cortisolniveaus, bei Kämpfen zwischen Bonobo-Stämmen ist es kaum ein Faktor 1.5. Erst eine schlimme Lungenseuche, an der ziemlich viele Tiere starben – deutlich mehr als Menschen an SARS-2 – hat einen ähnlichen Effekt gehabt, so in etwa einen Faktor 10.

    Als Merksatz ließe sich also für die ersten fünf Monate des Große-Geschwister-Daseins feststellen: Kleine Geschwister sind ungefähr so schlimm wie Corona.

    Erstaunlicherweise gibt sich das alles nach den ersten fünf Monaten. Behringer et al machen den Scholastika-ErzählerInnen auch ein paar Friedensangebote.

    Alternatively, it has been suggested that early-life events of ‘tolerable stress’ [...] may serve to prime subjects to develop stress resistance later in life. Moreover, TTS may accelerate acquisition of motor, social, and cognitive skills [...] Having an older sibling may enhance the development and survival of the younger sibling that contributes to the inclusive fitness of both the older sibling and the mother.

    Würde ich die Dinge nur aus der …

  • Hilfe bei E-Bike und Schule

    Fast ebenso billig wie das Lamentieren über den Zustand der Bahn ist es, die religösen Praktiken anderer Menschen zu belächeln. Aber es ist mindestens ebenso schwierig, der Versuchung zu widerstehen.

    Das gilt ganz besonders im Dunstkreis katholischer Wallfahrten und Votivgaben. Aus der Sicht nach 1750 („Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“) sozialisierter Menschen wirken diese häufig eher wie böser Spott auf Religion als als ernstgemeinte Äußerung von, nun ja, Spiritualität. Sie werden aber dennoch eher letzteres sein.

    Zwei für mich recht spektakuläre Beispiele dafür sind mir gestern untergekommen, als ich vor einem Regenschauer in der Wallfahrtskirche Maria Trost bei Nesselwang im Allgäu Schutz suchte und – vielen Dank an die verantwortlichen Gottheiten oder Autoritäten – fand.

    Das erste Beispiel hatte jemand an die Kirchentür gemalt:

    In stilisierte Wolke auf Holz in Kinderschrift geschrieben: Liebe Muttergottes! laß mich in der Schule gut durchkommen.  Pfronten 15.4.72

    Allein, dass jemand sowas an eine Kirchentür schmiert, würde schon reichlich Material für eine Geschichte von Ludwig Thoma oder von René Goscinny liefern. Was mich jedoch völlig hingerissen hat, war die Rede vom „Durchkommen“. Es ging der bittstellenden Person nicht etwa ums „Mitkommen“, also das ordnungsgemäße Aufnehmen des Lehrstoffs. Es hätte ihr offenbar auch völlig gereicht, wenn Maria ihr jeweils hinreichende Möglichkeiten zum Abschreiben gegeben hätte oder peinliche Prüfungsrituale (aktueller Literaturtipp dazu: Der Vater eines Mörders von Alfred Andersch) rechtzeitig durch himmlische Intervention (ich sage mal: vorzeitige Pausenglocke oder, wenn gar nichts anders hilft, tanzende Englein) beendet.

    Katholizismus, wie ihn Max Weber nicht besser hätte karikieren können: da das im April 1972 geschrieben wurde, als die Aufklärung erst allmählich das Allgäu erreicht hat[1], mag das nicht weiter überraschen. Dennoch wäre ich neugierig, was die Person, die das Graffito verfasst hat, heute wohl treibt. Stimmt das Datum – und ich habe wenig Grund, daran zu zweifeln –, würde sie jetzt allmählich auf die Sechzig zugehen.

    Sendet sie immer noch möglicherweise nicht ganz zu Ende überlegte Wünsche an Maria? Eine Fürbitte aus dem September 2022, dieses Mal brav ins Gästebuch geschrieben, würde ich jedenfalls der Schrift nach noch eine Altersklasse weiter oben verorten:

    In etwas ungeübter Handschrift: „Erbitte Segen auf allen Wegen mit dem neuen E-Bike“

    Als Agnostiker mit einer sehr festen Überzeugung, dass Wunder nichts als Glückssache sind, habe ich bei der Kombination von solchen Fürbitten von mutmaßlich recht alten Menschen und steilen Schotterwegen kein sehr gutes Gefühl. Für den Fall, dass ich mit meinem Skeptizismus falsch liege: Maria hilf!

    [1]Das war immerhin noch sechzehn Jahre vor dem Memminger Prozess, der weithin als (vorerst) letzter Hexenprozess im deutschsprachigen Raum angesehen wird.
  • Schrödingers Pandemie 2: Unsere Kraft ist die Gewerkschaft

    Foto einer großen und weitgehend leeren Halle mit ein paar Menschen auf einem Haufen.

    Im Glaspalast in Sindelfingen: Klare Luft und viel Platz. Mithin lässt das hier beobachtbare Clusterverhalten einen klaren Schluss auf P⁻ zu.

    Ich bin wieder eifrig am Öffnen der Kiste, in der Schrödingers Pandemie in einem Mischzustand von P⁺ (es ist noch Corona) und P⁻ (Corona ist rum) existiert – ich hatte das neulich schon diskutiert

    Dieses Mal bin ich bei der Landesdelegiertenversammlung meines GEW-Landesverbands. Im Vorfeld sah alles aus, als würde diese unter P⁺ stattfinden: Die Einladung mahnte zu Tests vor der Anreise und am Morgen des zweiten Tages, in der Konferenztasche fanden sich drei FFP-2-Masken, und vor allem anderen steigt das Ding im Sindelfinger Glaspalast. Diese Halle hat mich bei meinen CO₂-Messungen wirklich vom Hocker gerissen, denn während der Beratungen stieg die CO₂-Konzentration nie nennenswert über 400 ppm – bei einem Außenniveau von ungefähr 300 ppm. Was Aerosole angeht, kann mensch also ganz beruhigt sein, und wer in einem P⁺-Universum ein Treffen in der Paar-Hundert-Leute-Klasse plant, kann nach meiner Einschätzung beruhigt im Glaspalast einziehen.

    Als ich die Pandemiekiste vor Ort wirklich geöffnet habe, kollabierte die Wellenfunktion aber trotz dieser Vorzeichen fest auf P⁻. Abstand ist kein Thema, schon gar nicht OP-Masken etwa der Essensausgabe, wo große Menschenmengen in Spuckdistanz sind (und ich eines der wenigen realistischen Szenarien für Kontaktinfektionen sehe). Weniger eng war es zwar beim Frühstücksbuffet im Hotel – das von Delegierten dominiert war –, aber in einer P⁺-Welt, in der immer noch bis zu 2% der Erwachsenen SARS-2-Viren ausscheiden werden, wäre zumindest ein wenig Spuckschutz bei der Bedienung von Cornflakesspender und O-Saft-Kanne schon noch indiziert gewesen. Im Shuttlebus zwischen Hotel und Glaspalast folgten bis zu einer sehr deutlichen Mahnung des Busfahrers allenfalls ein Drittel der Delegierten der in den meisten P⁺-Universen geltenden Maskenpflicht (wobei ich einräumen muss, dass das zwar wie ÖPNV aussah, aber wahrscheinlich keiner war).

    Ganz klar in einer P⁻-Welt – ihr merkt, die Realität schubst mich zunehmend zur Everett-Interpretation – fand aber der soziale Abend statt, mit Musik, Tanz, milder Intoxikation, zwar in der Qualitätsluft im Glaspalast, aber eben auch mit völlig conrona-unkonformer Klumpung. Es war jedoch, das sei zur Ehrenrettung der Delegierten eingeräumt, viel leichter, hier Übertragungssituationen auszuweichen als beim Konferenz-Bankett, von dem ich vor einer guten Woche berichtet habe.

    Damals habe ich geschlossen mit:

    Wenn ich mir angesichts von realen Infektionsraten von mindestens 1% beim Bankett kein SARS-2 eingefangen habe, dann müssen die Menschen im P⁻-Zustand wohl doch recht haben…

    Was soll ich sagen? Die Antigen-Tests sind stur negativ geblieben. Dann hat sich auch noch Joe Biden als persongewordene Risikogruppe in P⁻ geoutet. Ich… Nun, ich mach die Kiste erstmal wieder zu und bin neugierig, wie es aussieht, wenn ich sie das nächste Mal wieder öffne.

  • Nur ihr werdet wissen, ob wir es getan haben

    Foto einer Gletscherzunge zwischen Bergen

    So sah der Ochsentaler Gletscher im August 2017 ungefähr von da aus aus. Ich wäre neugierig, wie sich das inzwischen verändert hat.

    In Forschung aktuell vom 26. August gab es ein Segment über mögliche Zukünfte der Alpengletscher. Darin wird von einer Art Grabstein für den inzwischen (praktisch) weggeschmolzenen isländischen Gletscher Okjökull[1] berichtet, dessen an die Nachwelt gerichtete Inschrift ich wunderbar pathetisch fand und so treffend, dass ich ihn hier schon mal für meine ZeitgenossInnen wiedergeben will, die es wahrscheinlich nicht nach Island schaffen werden:

    Wir wissen, was passiert und was wir tun müssen. Nur ihr werdet wissen, ob wir es getan haben.

    Utopia.de hat auch ein Bild davon; und nachdem ich mal eine Suchmaschine nach dem Text gefragt habe, bin ich überrascht, dass die Geschichte, die offenbar so gegen 2018 ihren Anfang nahm, bisher an mir vorübergegangen ist.

    [1]Ich vermute, dass der mal hier war. Die Openstreetmap hat da nur noch „bare rock“ – auch von daher ist das also durchaus plausibel. Die Openstreetmap-Tiles kamen bei mir übrigens nur sehr langsam. Ich vermute fast, dass da so selten wer hinguckt, dass die Tiles gerade frisch für mich gerechnet wurden. Und: von dem Grabstein ist in der OSM keine Spur zu sehen. Kennt wer wen in Island, der/die das fixen könnte?
  • Vom Händeringen und der digitalen Themengestaltung

    Foto: E-Roller auf Sperrfläche auf großer Straße.

    Skandal! Es finden sich einfach nicht genug Menschen, die solche hochnützlichen e-Roller in Nachtschichten einsammeln und aufladen wollen. Das verlangt doch wirklich nach einer profunden Erklärung.

    Zu den öffentlichen Narrativen, die wirklich offensichtlich Bullshit sind, gehört seit mindestens zwanzig Jahren die Rede vom „Fachkräftemangel“ und ganz besonders den „händeringend“ nach Beschäftigten suchenden Unternehmen. Ja – so alt ist das schon, es koexistierte bereits mit den verschiedenen Erzählungen vom „Reformstau“, die zur Durchsetzung der Hartz-Gesetze ersonnen worden sind.

    Ich erinnere mich an eine Gewerkschafts-Veranstaltung um 2005 herum, in der Mitglieder allen Ernstes argumentierten, die wahnsinnige Befristungspraxis an den Universitäten müsste schon wegen des „Fachkräftemangels“ bald ein Ende haben, denn sonst würden die Unis keine Beschäftigten mehr finden. Reality Check nach knapp 20 Jahren:

    Der Anteil der befristet beschäftigten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei mit 84 Prozent an den Universitäten und 78 Prozent an den HAW so hoch wie vor der Reform [des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes], sagt [Andreas] Keller[, der im GEW-Hauptvorstand u.a. für Unis zuständig ist.]

    Nicht viel besser sieht es in den meisten Bereichen der Industrie aus – miese Verträge und miese Behandlung des Humankapitals sind selbst in ach-so-Mangel-Bereichen wie, sagen wir, Computerbasteln eher die Regel als die Ausnahme (was erklären hilft, wie die Unis mit ihrem Mist durchkommen). Mag sein, dass es tatsächlich einen Mangel an Menschen gibt, die für wenig Geld viel arbeiten und schon genau das können, was so ein Betrieb haben will. Big deal: Wer die Arbeitskraft anderer Menschen nutzen will, wird sie in aller Regel geeignet zurichten müssen.

    Gäbe es jedoch tatsächlich einen Mangel an fair und sinnvoll beschäftigbaren Menschen, gäbe es keine Befristungsquoten um 80%, und es gäbe keine Qualitätszirkel, Knebelverträge und gute Räte zu Überstunden. Solange hingegen wirklich kreuzüberflüssige und garstige Betriebe wie Lieferdienste (sagen wir, gorillas) oder E-Roller-Anbieter (die Menschen als „juicer“ vernutzen) immer noch menschliche Arbeitskraft in erschreckendem Umfang verschleudern, gibt es ersichtlich keinen Mangel an jedenfalls qualifizierbarem Personal.

    Die zwei Seiten einer Zeitungsseite

    Die Absurdität dieser ganzen Debatte hat in der Wochenendausgabe der taz Volker Surmann in seiner Glosse „Verschluckt vom Erdboden“ schön verarbeitet:

    Die gelernte Naturwissenschaftlerin Schädele klingt deutlich sachlicher, kommt aber zum selben Ergebnis: „Uns ist keine Branche bekannt, die zurzeit nicht händeringend Personal suchte! Wir können daraus nur den einen logischen Schluss ziehen: Wohin auch immer die Menschen sich umorientiert haben, sie sind dort nie angekommen.“

    Großartig.

    Wer das im Netz liest, verpasst allerdings die Punchline. Auf Papier steht der Artikel nämlich Rücken an Rücken mit der Anzeigenseite des Blattes, die dominiert wird von vier Stellenanzeigen der taz selbst. Eine Zeitung, würde mensch naiv erwarten, braucht vor allem Leute, die Artikel schreiben oder vielleicht auch mal korrekturlesen. Klar, Drucker oder Setzerinnen erwartet im Zeitalter langer Lieferketten sicher niemand mehr, aber das, was inzwischen Contentproduktion getauft wurde, das wird doch wohl schon noch im Haus gemacht[1]?

    Oder?

    Ein Kessel Ödnis

    Nun, die taz sucht im Einzelnen:

    1. „Co-Leitung der Anzeigenabteilung“. Ganz ehrlich: Niemand, genau niemand, will Anzeigen verkaufen müssen. Mensch belästigt Leute in anderen Firmen, um die eigenen LeserInnen zu belästigen. Einen deprimierenderen Job kann ich mir kaum vorstellen, vielleicht abgesehen von:
    2. „Print-Online-Akquisiteur*in“. Diese*r soll „kreative Vermarktungsansätze“ ausbrüten, also die anderen Firmen noch penetranter belästigen, vermutlich unter Versprechen, die LeserInnen zu wehrloseren Opfern von Marketingbotschaften zu machen. Gut, in Wahrheit wird sich die Kreativität in engen Grenzen halten sollen, zumal das Ding auf 2 Jahre befristet ist. Trotzdem: der zweite Job, der nichts mit der eigentlichen Aufgabe einer Zeitung zu tun hat.
    3. „Entwickler:in mit Schwerpunkt PHP und Datenbanken“. Immerhin: das dient irgendwo der Verbreitung der Artikel, ist also wenigstens etwas „mit Medien“. Allerdings: „es handelt sich hierbei nicht um Webentwicklung, sondern um die Aufbereitung und Bereitstellung unserer Verlagsprodukte für unsere Apps, als ePaper in verschiedenen Formaten und für unsere Syndikationen.“ Nun… „…produkte“. So richtig nach Zeitung klingt das nicht. Aber immerhin versteht bei der taz offenbar wer was von Computern, denn der/die BewerberIn sollte „gewohnt sein, mit GIT [sic!] und Debian-Paketen zu arbeiten”. Und ich muss offen gestehen: die Seite, über die die taz ihre PDFs und epubs verbreitet, ist klasse: einfach, offen, interoperabel, ressourcensparend. So soll sowas sein. Hoffen wir, dass der/die erfolgreicheR BewerberIn das nicht anfasst.
    4. Schließlich doch noch was, was nach Presse klingt: „Redakteur*in“. Aber dann kommt eine beunruhigende Qualifikation: „für digitale Themengestaltung“. Hu? „Digital“? Was soll diese Person tun? „[A]ktuelle Texte und Themen sowohl print als auch online optimal präsentier[en]“. Wieder keine Artikel schreiben, wieder keine Recherche, wieder keine Reflektion. Stattdessen: „Profunde Interred-Kenntnis“ (ich musste auch erst in der Wikipedia nachsehen: das ist ein proprietäres CMS. Igitt) und „Fähigkeit zur Nutzung weiterer Tools wie Datawrapper“ (das hat es nicht mal in die Wikipedia geschafft [Update 2022-09-19: @ulif@chaos.social hat nachrecherchiert – danke!]).

    Lauter Jobs, die doof sind, sich im Kern ums Belästigen verschiedener Leute drehen und jedenfalls wenig bis nichts mit der Aufgabe einer Zeitung zu tun haben, Informationen zu sammeln, zu verbreiten und einzuordnen: Ich finde es überhaupt nicht überraschend, dass sich für sowas niemand findet, solange die Leute nicht ganz existenziell bedroht sind. Dazu kommt: Würden die hier ausgeschriebenen Arbeiten nicht gemacht, wäre die Welt sicher nicht schlechter. Aber vielleicht besser.

    Bestimmt kommt aber nächste Woche schon wieder jemand und beklagt einen „Fachkräftemangel“. Statt nun das ganze eigentlich auf der Hand liegende Zeug mit sinnlosen Scheißjobs und mieser Behandlung zu erzählen, werde ich in Zukunft einfach meine Lieblingserklärung aus der Suhrmann-Glosse zitieren:

    Mit der Mär von beruflicher Neuorientierung vertusche die Deutschland GmbH nur die [Millionen von] Impftoten. [Der Arbeitsamts-Mitarbeiter] Mulde hakt ein. Wenn das stimme, wo seien dann die ganzen Toten geblieben? „Die wurden alle verbrannt, heimlich, deswegen war es im Sommer so heiß!“

    Zumindest kann mensch diesem Szenario im Vergleich nicht den Vorwurf machen, es sei <gnurk> unterkomplex.

    Nachtrag (2022-09-25)

    Irgendwer vom Neuen Deutschland, ähm, nd, liest hier offenbar mit, denn die inserieren in der aktuellen taz-Wochenendausgabe (hat da der/die AnzeigenaquisiteurIn ganze Arbeit geleistet?) selbst zwei Bullshit-Jobs:

    1. Mitarbeiter*in Social Media
    2. Mitarbeiter*in Marketing und Kommunikation

    Für das Analogon zu (2) der taz-eigenen Ausschreibungen von letzter Woche hat sich übrigens wahrscheinlich wer gefunden, denn die entsprechende Anzeige ist in dieser Woche weg. Um Anzeigenfuzzis auf verschiedenen Hierarchiestufen und PHP-Entwickler:in jedoch ringt die taz immer noch mit den Händen.

    [1]Nun, in diesen Tagen würde ich der taz natürlich besonders die Beschäftigung eineR HistorikerIn ans Herz legen zur Untersuchung, wie es vergleichbar kriegsbegeisterten Blättern nach früheren Kriegen gegangen ist – und ob mensch zur Abwechslung mal nicht fünfzig Jahre verstreichen lässt vor der Einsicht, dass das ganze Sterben und die ganze patriotische Glut völlig umsonst waren. Aber das ist, das gebe ich zu, ein völlig utopischer Traum.
  • Schrödingers Pandemie

    Fußmatte mit Aufschrift „Maske auf/Verantwortung tragen“

    Fußmatte in meinem ersten Dienstreisehotel seit Februar 2020.

    Ich bin gerade auf dem Rückweg von meiner ersten ordentlichen (also: in Präsenz) wissenschaftlichen Konferenz „seit Corona“, und ich fühle mich aus der Perspektive der Sozialgeschichte aufgerufen, meine Eindrücke zum derzeitigen Umgang mit SARS-2 festzuhalten. Wer weiß, wer sich im nächsten Frühling noch an den derzeitigen Zustand der Gesellschaft erinnert?

    „Zustand“ ist dabei stark vom Zustandsbegriff der Physik inspiriert, eigentlich gar vom Quantenzustand, weshalb sich mir die Rede von „Schrödingers Pandemie“ aufdrängt, in einer popkulturellen Analogie zu Schrödingers Katze. Deren Leben wird, ich erwähne es kurz für Nicht-Link-KlickerInnen, in einer nicht sehr freundlichen Weise mit der Wellenfunktion eines radioaktiven Atomkerns verschränkt. Das Ganze findet in einer hinreichend von der Umwelt abgeschlossenen Kiste statt. Nach populären Interpretationen der Quantenmechanik sorgt das dafür, dass die Katze, solange niemand nachsieht, in einer Mischung aus den Zuständen lebendig oder tot existiert.

    Ein wenig so war meine Erfahrung mit SARS-2 während der letzten Tage – erst, wenn ich irgendwo war, konnte ich feststellen, ob ich in dem Zweig der Realität bin, in dem die Pandemie rum ist (ich nenne das ab hier P⁻) oder in dem, in dem sie es nicht ist (was ich kurz als P⁺ bezeichnen will).

    Das ging schon beim Bezug des Hotels los. Auf dem Weg dorthin habe ich mich gefragt, ob ich besser mit Maske reingehe – ist jedenfalls netter und rücksichtsvoller, auch wenn die Rezeptionssituation in kleinen Hotels, in denen alle halbe Stunde mal wer ankommt, so oder so wenig Übertragungsrisiko birgt – oder besser ohne – weil sich manche Leute in der Gastronomie von Menschen im P⁺-Zustand existenziell bedroht fühlen. Wenn es sachlich keinen großen Unterschied macht, bin ich in jede Richtung kompromissbereit.

    Diese Überlegungen waren unnütz, denn das Empfangspersonal erwies sich als eine Zehnertastatur für den Schlüsselkasten. Dieser war das alles ersichtlich egal. Ich blieb also im P⁻-P⁺-Mischzustand, bis ich die Hoteltür öffnete und die oben abgebildete Fußmatte vorfand. Ergebnis des Experiments für dieses Mal: Das Hotel ist in P⁺.

    Am Frühstücksbüffet stellte sich jedoch heraus, dass doch eher P⁻ gilt, denn ich fing ein paar befremdete oder genervte Blicke ein mit meiner einsamen Maske, und Abstand am Büffet war jedenfalls für etliche der anderen GästInnen keine erkennbare Priorität. Danach habe ich in den nächsten Tagen auch maskenlos gefrühstückt, denn ganz ehrlich: Wenn mensch am Tisch zwangsläufig ohne Maske dasitzt, ist sie auf dem Weg vom und zum Tisch auch unter Annahme von P⁺ nur dann geboten, wenn es eng wird, und das war in diesem Hotel leicht vermeidbar. Dennoch: die zweite Runde ging klar an P⁻.

    Das war auch daran zu erkennen, dass meine Mit-GästInnen den bei P⁺ gut nachvollziehbaren Wunsch der Hoteliers ignoriert haben, in den relativ engen Gängen zumindest eine OP-Maske zu tragen. Dieser generellen P⁻-Diagnose zuwider lief aber die per Aushang in den Zimmern verkündete Politik des Hauses, die tägliche „Reinigung“ zum „Schutz von Gästen und Personal“ nur noch auf (durch Aushang des inversen „Bitte nicht stören“-Schildes geäußerten) Wunsch vorzunehmen. Yes! Ich fand es schon immer unmöglich, mir von anderen Menschen das Bett machen zu lassen. Es lebe P⁺.

    Ähnlich Heisenberg-unscharf ging es bei der Konferenz selbst weiter. Die OrganisatorInnen „empfahlen“ auf ihrer Webseite, ganz P⁺, in Innenräumen und überhaupt, wo der Mindestabstand nicht gewahrt werden kann, FFP-2-Masken zu tragen. Ich fragte mich, wie unter diesen Umständen das Herzstück jeder wissenschaftlichen Konferenz, die Kaffeepause[1], wohl aussehen würde.

    Dieses Grübeln gab ich spontan auf, als ich am Montag den Raum betrat, in dem die Auftaktzeremonie – eine Preisverleihung, über deren mit einer Überdosis unfreiwilliger Hybridkomik gewürzten Verlauf ich schweigen will – stattfand. Schon die Bestuhlung sprach P⁻, fettgedruckt und eigentlich mit Ausrufezeichen. Diese nämlich wäre mir schon vor Corona zu eng gewesen. Die Enge war zudem nicht mal ganz zwingend, denn es hätte schon noch unbestuhlten Platz im Raum gegeben, wenn auch nicht genug, um das ganze Ding angesichts der lausigen Lüftung in einer P⁺-Welt verantwortungsvoll laufen lassen zu können.

    Aber das war auch wurst, denn der anschließende Empfang mit Sekt und Schnittchen muss klar in einer P⁻⁻⁻-Welt stattgefunden haben: Die paar, die bei der Zeremonie noch der FFP-2-Empfehlung gefolgt waren, vergaßen diese zugunsten von Speis und Trank, während sie dicht gepackt in fensterlosen Räumen standen und sehr laut miteinander redeten. Eine Chorprobe ist im Vergleich eine aseptische Angelegenheit.

    Es war nachgerade bizarr, danach wieder in die P⁺-Welt der Straßenbahn zu geraten. Und ich war ehrlich überrascht, dass das Schnief- und Hust-Niveau gestern und heute lediglich deutlich erhöht war, nicht aber eine ganze Konferenz schon elend vor sich hinfieberte. Das wiederum werte ich als Indiz für eine P⁻-Welt, zumal informelle Plaudereien zeigten, dass wohl doch eine deutliche Mehrheit der Teilnehmenden „es schon hatten“.

    Das wäre auch zwanglos zu erklären, wenn diese nennenswert Präsenzlehre gehalten hätten und ihre Hörsäle ähnlich gut belüftet waren wie der große Hörsaal der gastgebenden Uni. Diese Einlassung ergibt sich aus meinen regelmäßigen CO₂-Messungen (als ordentlichen Proxy für die Aerosollast). Das Ergebnis in diesem großen Hörsaal war ernüchternd. Das Ding ist für 500 Menschen ausgelegt, und bei einer Auslastung von unter 20% ging die CO₂-Konzentration kontinuierlich vom Außenniveau von vielleicht 350 ppm bis auf über 1000 ppm hoch – innerhalb von weniger als einer Stunde. Das übersetzt sich zwanglos in „was an Aerosol drin ist, bleibt auch drin“. Dass die Lüftung beim Bau des Gebäudes so schlecht war, ist in ganz eigener Weise sprechend, denn im Bereich von 1000 ppm wirds nach meiner Erfahrung allmählich aufmerksamkeitsrelevant. Dass sie nach 30 Monaten Corona immer noch nicht besser ist, wäre, soweit es mich betrifft, Material für eine Sitzung des Uni-Senats.

    Und so bin ich bis zum Konferenzbankett am Mittwoch aus der P⁺-Welt (höchstens kurz und mit dichter FFP-2 durch den Raum mit dem Empfangsbüffet hechten) in die P⁻-Welt übergetreten und habe wie alle anderen ganz normal getafelt, in der festen Erwartung, dass ich bis jetzt im Zug noch nicht infektiös sein würde. Und morgen kann ich ja dann zurück nach P⁺ und brav in Isolation gehen. Aber: Wenn ich mir angesichts von realen Infektionsraten[2] von mindestens 1% beim Bankett kein SARS-2 eingefangen habe, dann müssen die Menschen im P⁻-Zustand wohl doch recht haben…

    [1]Für Menschen, die sowas noch nicht mitgemacht haben: Nein, das ist kein Witz. Das ist noch nicht mal milde Ironie.
    [2]Der aktuelle RKI-Wochenbericht schätzt aus SEED-ARE und GrippeWeb ab, dass zwischen 0.5 und 1.1% der Erwachsenen gerade SARS-2 mit Symptomen hat. Rechnet mensch großzügig, dass die Hälfte der Infektionen (mehr oder minder) asymptomatisch verlaufen, sind damit im Augenblick ein bis zwei Prozent der Menschen mehr oder weniger infektiös. Ob das nun P⁻ oder P⁺ ist, dürft ihr mich nicht fragen.
  • Maintaining Static Blogs Using git push

    local                server
    
    main  --- push --->   main
                            |
                            | (merge)
                            |
                            v
                       published --- make publish --->  nginx
    
    Fig 1.  Our scheme in classic ASCII art.
    

    In my post on how I'm using pelican – the static blog engine that formats this site –, I had described that on a make install, I would do a local build (make publish) and then rsync the result to the production site. Since about June, I no longer do that, because the way pelican works – it touches every generated file every time – is not a good match for rsync. With a growing site, this means a substantial amount of data (well: a few megabytes for me at this time) is being transferred. What's a few megabytes these days, you ask? Well, ever since UMTS has been shut down, on the road all I have is GPRS (i.e., 10 kB/s with a bit of luck), and then a few Megabytes is a lot.

    I hence finally changed things to benefit from the fact that I keep the text content in a version control system. For a post without media, all that needs to be transferred are a few kilobytes for a git push. Here is how that is done (assuming a Debian-like setup).

    First, unless your source directory already is under git version control, in there run:

    git init
    git add Makefile content plugins pelicanconf.py publishconf.py theme tasks.py
    git commit -am "Migrating into git"
    

    You will probably also want to have a .gitignore, and then probably several other files on top, but that's beside the current point.

    Two Repos, Two Branches

    The rough plan is to have a complete, checked-out git repository on the server side (ahem: see Figure 1). It is updated from your local repo through pushes. Since you cannot push into a checked-out branch, the server-side repository has a branch published checked out, while your authoring happens in the main (traditionally called master) branch. After every push, main is merged into published, and then pelican's site generation runs.

    A word of warning: these merges will fail when you force-push. Don't do that. If you do, you will have to fix the breakage on the server side, either by dropping and re-creating the published branch, or by massaging all places that a force-pushed commit changed.

    To set this up, on the web server do (adapting to your site and taste if you don't like the path):

    sudo mkdir -p /var/blog/source
    sudo chown `id -u` /var/blog/source # you'll be pushing as yourself
    cd /var/blog/source
    # create a git repo you can push into
    git init
    # go away from the main/master branch so you can push into it
    git checkout -b published
    

    Then, in your local git repository for the blog, add the repository you just created as a remote named prod and push the main branch (this assumes you have the main branch checked out):

    git remote add prod ssh://USER@SERVER.NAME//var/blog/source
    git push prod
    

    On the remote server, you are still on the published branch, and hence you will not see what you have just pushed. You have to merge main using:

    git merge main
    

    (or master, if that's still the name of your main branch). You should now see whatever you have put into your local git above. If that's true, you can say make publish and see your publishable site in the output subdirectory. If it's not true, start debugging by making sure your main branch on the server side really contains what you think you have pushed.

    Automating the Publication

    This completes the basic setup. What is still missing is automation. That we can do with a git hook (see the githooks man page for more information on that nifty stuff) that is installed on the server side into /var/blog/source/.git/hooks/post-update. This file contains a shell script that is executed each time commits are pushed into a repository once git has updated everything. In this case, it is almost trivial, except for some bookkeeping and provisions for updating the search engine (all lines with BLOG_ROOT in them; delete these when you have not set that up):

    #!/bin/sh
    # This hook merges the main branch, builds the web page, and does
    # housekeeping.
    #
    # This *assumes* we have the published branch checked out.  It should
    # probably check that one day.
    
    set -e
    
    unset GIT_DIR # this is important, since we're manipulating the
       # working tree, which is a bit uncommon in a post-update hook.
    cd ..
    BLOG_ROOT=/var/blog
    
    git merge master
    make publish
    BLOG_DIR=$BLOG_ROOT/source/output $BLOG_ROOT/media/cgi/blogsearch
    

    Do not forget to chmod +x that file, or git will ignore it.

    Again at the local side, you have to modify your install target so something like:

    rsync:
           # adapt the paths!
                  rsync --info=progress2 -av /var/www-local/blog-media/ blog.tfiu.de:/var/blog/media/
    
    install: rsync
                  -git commit -a
                  git push -u prod master
    

    (the - in front of the git commit is because git returns non-zero if there is nothing to commit; in the present case, you may still want to push, perhaps because previous commits have not been pushed, and hence we tell make to not bother about the status of git commit).

    With this path and the separate media directory still updated through rsync (cf. the previous post on this), an nginx config would have to contain lines like:

    location / {
      root /var/blog/source/output;
    }
    
    location /media/ {
      alias /var/blog/media/;
    }
    

    This setup has worked nicely and without a flaw in the past few months. It makes a lot more sense the my previous setup, not the least because any junk that may accumulate in my local output directory while I'm fooling around will not propagate to the published server. So: If you work with pelican or a similar static blog generator, I'd say this is the way to partial bliss.

  • Dialektik der Ökonomie

    Ich bin bekennender Skeptiker bezüglich allem, was sich Wirtschaftswissenschaft nennt (wobei ich die Verdienste einiger ihrer VertreterInnen um die angewandte Mathematik nicht leugnen will). Und ich wundere mich, warum das nicht viel mehr Menschen sind, sind doch die Vorhersagen, die aus dieser Ecke kommen, eigentlich immer im Einzelnen falsch („Wachstumsprognose nach unten korrigiert“). Tatsächlich kommen aber schon die qualitativen Aussagen offensichtlich nicht annähernd hin.

    Zu den zentralen Glaubenssätzen jedenfalls marktradikaler Ökonomie gehört ja, dass niedrige Zinsen Wachstum und Inflation steigen lassen und hohe Zinsen die Inflation eindämmen, aber das Wachstum abwürgen. Dieser Glaube ist sogar in vielen Geschichtsbüchern reflektiert, wenn etwa die Hochzinspolitik der späten Carter- und frühen Reagan-Jahre für die Überwindung der „Stagflation“ verantwortlich gemacht wird; glücklicherweise ist die (gegenwärtige) Wikipedia da etwas realistischer und benennt, was die eigentlichen Gründe der Inflation in den 1970er Jahren waren (nämlich die Stärke der OPEC; dazu wären noch Bankenspiele und starke Gewerkschaften zu nennen).

    Der Glaube an die Kraft des Zinssatzes ist offenbar durch keinerlei Tatsachen zu erschüttern, nicht einmal die Folgen der Nullzinspolitik der letzten zehn Jahre. Außer im schattigen Bereich von Immobilien, Aktien, Derivaten, Großkunst und Kryptogeld fanden diese nämlich nicht statt. Es gab weder nennenswerte Inflation noch nennenswertes Wachstum (allen Gottheiten sei dank – Zukunft hätte das eh nicht).

    Um so unverständlicher ist, dass Klemens Kindermann aus der Deutschlandfunk-Wirtschaftsredaktion (nun: vorher Handelsblatt) vorhin die EZB schalt, weil sie die Zinsen so lange niedrig ließ und deshalb Schuld habe an den hohen Inflationsraten im Euro-Raum. Wörtlich:

    Fehler Nummer 2: Allerspätestens seit Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine hätte das Ruder herumgerissen werden müssen. In den USA hat das die Zentralbank erkannt und massiv gegengesteuert.

    Damit meint er: sie haben die Leitzinsen erhöht. Nun: wenn das so ist, was war die Wirkung? Sehen wir bei aller Reserviertheit gegenüber der Kennzahl Inflationsrate mal auf Zahlen meinethalben von irgendeinem Datensammler: Inflationsrate USA 8.5%, Inflationsrate BRD 8.5% (für Juli).

    Wer erklären kann, warum HandelsblättlerInnen und ihre Adpeten diese Zinsgeschichte so unbeirrt auspacken, wenn doch ganz offensichtlich ist, woher die Preisentwicklung kommt – derzeit: diverse Schwierigkeiten im Chinageschäft und ein Stellvertreterkrieg von fast vietnamösen Ausmaßen[1] –: Für mich wäre der oder die einE heißeR KandidatIn für den Wirtschafts-„Nobelpreis”.

    [1]Der Vietnamkrieg ist in diesem Zusammenhang vor allem deshalb zu erwähnen, weil seine Kosten wesentlich zur Aufgabe des an sich halbwegs vernünftigen Bretton-Woods-Systems geführt haben. Die daraus resultierenden „freien“ Wechselkurse wiederum haben der Freihandelspolitik und dem ganzen Elend, das mit ihr einherging, nochmal einigen Extraschwung gebracht. Nun sind die tatsächlichen Kriegskosten in der Ukraine im Vergleich zu Vietnam ziemlich klein – es sind ja nicht unsere Jungs, die „den Russen“ da bekämpfen, und auch in Tonnage von Bomben und Entlaubungsmittel ist das noch eine andere Liga –, aber es wird trotzdem spannend, ob der patriotische Rückenwind noch für ein paar komforable neue Umverteilungprogramme reichen wird…
  • Das ist keine Schlange

    In einem deutlich reptilienorientierten Blog wie diesem habe ich die unabweisbare Verpflichtung, ein paar Sekunden eines Mitschnitts einer Begegnung am letzten Samstag unterzubingen:

    Was das so anmutig züngelt und schlängelt, ist jedoch keine Schlange. Es ist eine Blindschleiche. Also eine Schleiche, womit ihre Beinlosigkeit eher ein Zufall ist.

    Ihr könntet jetzt einwenden, dass das mit Schleichen und Schlangen völlig wertloses Wissen ist. Das ist es aber nicht.

    Stellt euch vor, ihr begegnet so einer Blindschleiche auf der Straße, und sie ist nicht dazu zu bewegen, sich vor herankommenden Autos in Sicherheit zu bringen, vielleicht, weil sie noch nicht hinreichend warm geworden ist. Wäre sie eine Schlange, könntet ihr sie am Schwanz packen und wegtragen. Also gut: vielleicht gibt es bei manchen Schlangen weitere Erwägungen, die das immer noch als einen eher begrenzt cleveren Plan qualifizieren könnten, aber die sind hier nicht mein Thema.

    Schleichen jedenfalls solltet ihr so nicht anfassen, denn sie werden wie Eidechsen ihren Schwanz abwerfen, wenn sie den Eindruck haben, dass sie jemand daran wegtragen will. Das tun sie so gerne, dass Linné sogar ihren zoologischen Namen, Anguis fragilis, zerbrechlich, danach gewählt hat. Anders als Eidechsen lassen sie ihn zudem nicht nachwachsen. In den Worten der Wikipedia:

    In manchen Populationen hat mehr als die Hälfte der Erwachsenen keinen vollständigen Schwanz mehr.

    All das war mir neu. Danke, Wikipedia. Und sagt, was ihr wollt: Taxonomie ist alles andere als ein Orchideenfach.

  • Bahnauskuft auf antiken Geräten – und auf Codeberg

    Foto: Altes Mobiltelefon mit Terminal, das eine etwas kryptische Bahnauskunft zeigt

    Bahnauskunft von 2022 auf einem Nokia N900 von 2009: Es braucht inzwischen etwas Mühe, um das gebastelt zu kriegen.

    Als die Bahn-Webseite nicht mehr ordentlich auf kompakten Browsern wie dillo funktionierte und auch nicht per WAP– also Mitte der 2010er Jahre –, habe ich mir ein ein kleines Skript geschrieben, das die wesentlichen Infos zur Zugauskunft aus dem HTML herausklaubte und dann in einem einfachen Kommandozeilen-Interface darstellte. Das war, worum es im letzten Sommer bei meinem Rant gegen Zwangs-Redirects umittelbar ging. Der weitere Hintergrund: Ich will Zugauskünfte von meinem alten Nokia N900 aus bekommen (und im Übrigen seit der Abschaltung von UMTS auch über eine 2G-Funkverbindung, also etwas wie 10 kB/s)[1].

    Nachdem das – jedenfalls nach Maßstäben von Programmen, die HTML auf Webseiten zerpflücken – überraschend lang gut ging, ist das im Rahmen der derzeitigen Verschlimmbesserung der Bahn-Seite neulich kaputt gegangen. Obendrauf ist die Javascript-Soße auf bahn.de damit so undurchsichtig geworden, dass mich die Lust, das Skript zu pflegen, sehr nachhaltig verlassen hat. In dieser Lage kam ein Vortrag über die Bahn-APIs, den jemand bei der Gulasch-Programmiernacht 2019 gehalten hat, gerade recht. Also: Das Video davon.

    In diesem Video habe ich gelernt, dass mein „unpromising“ im Rant vor einem Jahr,

    I know bahn.de has a proper API, too, and I'm sure it would be a lot faster if I used it, but alas, my experiments with it were unpromising [...],

    einen tiefen Hintergrund hat. Die Bahn hat nämlich keine API für die Fahrplanauskunft.

    Was es aber stattdessen gibt: die HaFAS-API, auf die die Reiseplanung der Bahn-App selbst aufsetzt. Und es stellt sich heraus, dass Leute schon mit viel Fleiß ausbaldowert haben, wie die so funktioniert, etwa in pyhafas.

    Mit pyhafas kann ich all das schreckliche HTML-parsing aus dem alten bahnconn.py durch ein paar Aufrufe in pyhafas rein ersetzen. Aber leider: pyhafas ist echt modernes Python, und weil es viel mehr kann als es für bahnconn.py bräuchte, wäre das Rückportieren davon nach Python 2.5 ein ernsthaftes Projekt; mehr habe ich aber auf meinem N900 nicht. Außerdem bin ich bekennender Fan von ein-Modul-und-stdlib-Programmen: die brauchen keine Installation und laufen zudem mit allem, das irgendwie Python verdauen kann, also etwa auch jython oder sowas, was spätestens dann in Frage steht, wenn Abhängigkeiten C-Code enthalten.

    Deshalb habe ich aus pyhafas die Dinge, die bahnconn dringend braucht, abgeschaut und eine minimale, Python-2.5-verträgliche Implementation gebastelt. Das Ergebnis: ein neues bahnconn. Holt es euch, wenn ihr Bahnauskunft auf älteren Geräten haben wollt. Ich habe es jetzt nicht auf Atari TTs probiert, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es selbst da noch benutzbar ist.

    Codeberg

    Gerade, als ich den Code einfach wieder hier auf dem Blog abwerfen wollte, habe ich beschlossen, das könne ein guter Anlass sein, endlich mal einen zweiten Blick auf Codeberg zu werfen.

    Bisher habe ich nämlich für allen etwas langlebigeren oder größeren Code (also: nicht einfach nur am Blog abgeworfenen Kram), ganz DIY, ein eigenes Subversion-Repository betrieben. Was in den letzten Jahren neu dazukam, habe ich in git+ssh+cgit gesteckt.

    Natürlich hat das niemand mehr gesehen; nicht mal Suchmaschinen gucken mehr auf sowas, seit aller Code der Welt bei github landet. Deshalb, und auch, weil ich Monstren wie gitea und gitlab wirklich nicht auf meiner Maschine haben will (allerdings: cgit ist ok und würde für Publikation auf subversion-Niveau reichen), habe ich mich mit dem Gedanken, dass mein Kram auf einer öffentlichen Plattform besser aufgehoben sein mag, mehr oder minder abgefunden.

    Auf Github bin ich beruflich schon so viel zu viel unterwegs, und der Laden ist deutlich zu nah am Surveillance Capitalism. Zwar kenne ich hinreichend Projekte und Firmen, die ihnen Geld geben, so dass sie gewiss ein konventionell-kapitalistisches Geschäftsmodell fahren könnten; aber schon da fehlt mir der Glaube. Obendrauf hat mir Microsoft in meinem Leben schon so viel Kummer bereitet, dass ich ihnen (bzw. ihrem Tochterunternehmen) nicht noch mehr KundInnen zutreiben will.

    Codeberg, auf der anderen Seite, wird von einem Verein betrieben und macht generell vieles richtig, bis hin zu Einblendungen von Javascript-Exceptions (warum machen das eigentlich nicht alle?), so dass die Seite nicht einfach heimlich kaputt ist, wenn ich Local Storage verbiete (gitea, die Software, auf der Codeberg soweit ich sehe aufsetzt, kann leider immer noch nicht ohne).

    Von dem gitea-Krampf abgesehen hat gestern alles schön funktioniert, nichts an der Anmeldeprozedur war fies oder unzumutbar. Codeberg hat hiermit erstmal das Anselm Flügel Seal of Approval. Ich denke, da werde ich noch mehr Code hinschaffen. Und mal ernsthaft über Spenden nachdenken.

    [1]Janaja, und natürlich nervte mich die fette Bahn-Webseite mit all dem Unsinn darauf auch auf dem Desktop und auch schon vor der gegenwärtigen Verschlimmbesserung.
  • Abenteuer Irland: Kaputtes Drupal und eine Mail an die Datenschutzbehörde

    Als Reaktion auf meinen Hilferuf gegen Google hat @ulif@chaos.social getrötet:

    Vielleicht einfach mal unverbindlich bei der irischen "Datenschutzbehörde" nachfragen? Nicht als Beschwerde, sondern als einfache Anfrage. Denen müssen sie diese Daten ja eigentlich gemeldet haben.

    Na schön. Das könnte interessant werden. Das erste Ergebnis einer duckduckgo-Anfrage nach „data protection ireland“. führt gleich zur data protection commission (bzw. Choimisiún um Chosaint Sonraí), https://www.dataprotection.ie/, und ich bekomme beim Draufklicken original das hier:

    Screenshot einer Fehlermeldung, die von „inputted in the form“ spricht

    Keine GET-Parameter, kein POST-Payload, einfach nur https://www.dataprotection.ie/, und schon habe ich eine support ID. Oh wow. Interessanterweise ändert sich das auch nicht, wenn ich dataprotection.ie Javascript erlaube; mit einem Firefox (statt einem luakit) erscheint hingegen die Webseite, wie sich die Leute das wohl vorgestellt haben.

    Wie kommt das? Ich curl-e mal eben die Seite und sehe schon recht weit oben:

    <meta name="twitter:card" content="summary_large_image" />
    <meta name="twitter:site" content="@dpcireland" />
    <meta name="twitter:title" content="Homepage | Data Protection Commission" />
    

    und noch ein paar mehr Zeilen Twitter-Service. Diese Leute sollten dringend mal ihrem Kollegen in Baden-Württemberg zuhören.

    Immerhin kommen aber keine Webfonts von Google, und es laufen auf den ersten Blick auch keine externen Tracking-Dienste („Analytics“). Aber ich finde kein Refresh-Meta oder etwas anderes, das erklären könnte, warum luakit diese eigenartige Fehlermeldung ausgeliefert bekommen könnte, während an curl und firefox recht anständige Antworten gehen.

    Leider macht auch dataprotection.ie die bedauerlichen Zwangs-Redirects auf https, so dass es nicht ganz einfach ist, zuzusehen, was mein Browser und der Webserver der IrInnen eigentlich miteinander ausmachen. Aber ich bin neugierig genug auf das, was da zwischen meinem Browser und dem dataprotection.ie-Server vorgeht, dass ich meinen mitmproxy auspacke und damit in die Kommunikation meines eigenen Computers einbreche[1].

    Auf diese Weise sehe ich meinen Request:

    GET https://www.dataprotection.ie/
    Host: www.dataprotection.ie
    Accept: text/html,application/xhtml+xml,application/xml;q=0.9,*/*;q=0.8
    User-Agent: Tracking is lame.
    Accept-Encoding: gzip, deflate
    Accept-Language: C
    Connection: Keep-Alive
    

    Ah… richtig… ich bin ein wenig gemein mit der Sprach-Aushandlung in meinem normalen Browser und frage die Webseiten nach der Sprache C (was weniger gemein ist als es scheinen mag, aber das ist ein längeres Thema). Ein schnelles Experiment bestätitgt, dass es das ist, was den Drupal (das ist das Programm, das deren Webseite macht) der irischen Datenschutzbehörde getötet hat.

    Wenn das noch oder wieder kaputt ist[2], wenn du das hier liest, ist eine einfache Kommandozeile, um das Problem zu reproduzieren:

    $ curl -s -H "Accept-Language: C" https://www.dataprotection.ie/ | head -5
    <!DOCTYPE html>
    <html lang="en">
    <head>
    <title> Website error notice | Data Protection Commission </title>
    </head>
    

    Aber egal, ich war ja eigentlich nicht hier, um Webseiten zu debuggen. Wichtig ist: Ich habe eine Mailadresse. Und das ist viel besser als das, was auf der normalen Webseite steht:

    Screenshot: Kontaktinformation für konventionelle Post, Twitter, Instagram (?) und Linkedin (?) – aber keine e-Mail.

    Echt jetzt? Papierpost ist ja schon noch sowas wie ein offener Standard, aber dann nur die proprietären, überwachungskapitalistischen Dienste Twitter, Instagram und Linkedin für Kontaktaufnahme anzubieten und nicht die offene Mail, das wäre auch für einen normalen Laden schon ein starkes Stück. Für eine Datenschutzbehörde… Na ja, ok, wir reden hier über die irische.

    Immerhin steht in deren data protection statement:

    If you wish to contact our Data Protection Officer in relation to the processing of your personal data by the Commission, you can do so by e-mailing dpo@dataprotection.ie.

    Schön: immerhin gibts da eine Mailadresse, bei der ich mich beschweren könnte, aber ganz ehrlich: Anständige DatenschützerInnen sollten da bitte noch einen PGP-Schlüssel dazuschreiben. Jaja, ich weiß: das hier sind die irischen…

    Ich sollte natürlich nicht so voreingenommen sein; nur weil die bisher ein Witz waren, heißt das ja nicht, dass sie das auch weiter sein werden, und so habe ich ihnen gerade eine Mail geschickt:

    Dear DPO,

    It seems your staff has already fixed it, presumably after I triggered some sort of alarm system while investigating the problem (in which case: apologies!), but your CMS until a few minutes ago produced error messages like the one on http://blog.tfiu.de/media/2022/ie-data-protection-breakage.png when queried with an

    Accept-Language: C

    header. I'm reporting this partly to make sure the apparent fix wasn't a fluke. If it wasn't: kudos to your operations people to have noticed and fixed the problem so quickly.

    While I'm here, can I also put forward the reason I'm contacting you in the first place?

    You see, I'm trying to get rid of a Google account I created perhaps 15 years ago. To do that, Google tells me to log in. When I try that, Google asks for the e-mail address associated to the account (which is <withheld here>), then for the password. After I've put that in, Google sends a mail to the account with a confirmation code, which is perhaps not entirely unreasonable given I've steered clear of Google services requiring authentication for many years.

    But even after entering that confirmation code, it will not let me in, requiring me to enter a telephone number. This is absolutely unreasonable, and I would be grateful if you could tell Google that much; given that Google does not know any telephone number associated to me, there is no way this information could fend off abuse. This is clearly a blantant attempt to skim off the extra piece of data.

    I would normally not be bothering you with this obvious imposition, though; I would have liked to first take this to Google's data protection officer. However, I was unable to locate contact information in Google's privacy statements (I was served the German version), which I claim is in open violation of GDPR Article 13. So, could you

    (a) tell Google to publish a proper e-mail contact address as part of their GDPR information? While I have to admit that the GDPR is not explicit about it, it is clear to me that Google's own web forms, in particular when they require Javascript and Captchas, or, even worse, a google id, are insufficient to fulfil Art 13 1 (b) GDPR.

    (b) meanwhile, provide me with the contact e-mail of Google's data protection officer so I can take my issue to them myself?

    Thanks,

    (not Anselm Flügel)

    Ich bin neugierig, wie es weitergeht. Lobend will ich schon mal erwähnen, dass der irische DPO offenbar keine automatisierten Empfangsbestätigungen („Wir werden uns Ihrem Anliegen so bald wie möglich widmen“) verschickt.

    Fortsetzung folgt. Voraussichtlich.

    Nachtrag (2022-08-31)

    Ich muss das Lob zurücknehmen. Es gab doch eine (halb-) automatisierte Empfangsbestätigung, abgeschickt um 14:47 Lokalzeit in Dublin. Für ein Verfahren, das nur auf Computer setzt, ist das eine komische Zeit bei einer Mail, die am Vorabend um 19:17 MESZ rausging. Wirklich gelesen hat die Mail aber auch niemand. Das weiß ich schon, weil sie mich mit „To Whom It May Concern“ anreden, aber auch wegen der angesichts meiner Anfrage widersinnigen Empfehlung, ich möge mich doch an den Datenschutzbeauftragten „for that organisation“ wenden.

    Weil Leute vielleicht später mal die Evolution des Kundendienstesisch des irischen DPO nachvollziehen wollen, belästige ich euch mit dem Volltext:

    To Whom It May Concern,

    I acknowledge receipt of your e-mail to the Data Protection Commission (DPC) .

    In line with our Customer Service Charter, we aim to reply to the concerns raised by you within 20 working days, though complex complaints may require further time for initial assessment. In doing so, we will communicate clearly, providing you with relevant information or an update regarding your correspondence.

    What can I do to progress my concern?

    In the meantime, if your concern relates to processing of your personal data by an organisation (a “data controller”), or you wish to exercise your data protection rights (for example, access, erasure, rectification), you may wish to contact the data protection officer for that organisation in writing in the first instance. You may wish to forward copies of all written exchanges with the data controller to the DPC if you remain dissatisfied with the response you receive from them. You should send this documentation to info@dataprotection.ie and include the above reference number.

    What if I have already contacted an organisation (“data controller”) about my concerns?

    If you have already exchanged written correspondence with the data controller, and have not included this information with your initial contact with the DPC, you should send this documentation to info@dataprotection.ie quoting the case reference shown above.

    What happens when I send the DPC additional correspondence or documents?

    Please be advised that the Data Protection Commission does not issue acknowledgements for each item of follow up or supplementary correspondence received, but this correspondence will be included on the file reference above and assessed alongside your initial concern. Once this assessment has been carried out, a substantive response will be issued to you in due course.

    This acknowledgement, and the reference number above, is confirmation that we have received your correspondence and that it will receive a response at the earliest opportunity.

    Yours sincerely,

    Alexandra X. [und noch ein Nachname]

    [Ein paar Footer-Zeilen]

    Is le haghaidh an duine nó an eintitis ar …

  • Google: Ohne Telefon kommst du hier nicht raus

    Vor ungefähr 15 Jahren habe ich unvorsichtigerweise einen Google-Account angelegt – ich habe selbst vergessen, warum. Heute morgen hat mich Google an diese Jugendsünde (immerhin aus Zeiten, als Google noch nicht ganz so finster war) erinnert, weil sie eine Bestätigung haben wollten, dass die Mail-Adresse, die ich damals verwendet habe, noch existiert (tut sie).

    Da ich an anmeldepflichtigen Google-Diensten genau gar kein Interesse habe, machte mich daran, den Account zu löschen. Und habe einen Haufen Zeit verschwendet, ohne irgendwohin zu kommen. Mit etwas Geduld habe ich zwar die leicht alarmistische Anleitung fürs Löschen bei Google gefunden. Dort heißt es nach viel Geschwätz:

    Schritt 3: Konto löschen [auf einer Seite, die „Google-Konto löschen“ überschrieben ist, ist es ja schon tapfer, dass das Schritt 3 ist]

    [...]

    Gehen Sie in Ihrem Google-Konto zum Abschnitt Daten und Datenschutz.

    Tja. Dafür müsste ich mich einloggen. Wenn ich das probiere, fordert Google zunächst einen per Mail versandten Bestätigungscode[1] und dann eine Telefonnummer, an die sie einen weiteren Bestätigungscode schicken wollen.

    Das wäre auch dann frech, wenn ihnen die Telefonnummer irgendeine Hilfe wäre, unberechtigte Löschversuche zu unterbinden. Aber das ist sie hier nicht, denn alles, was Google von mir hat, ist diese Mailadresse, und dass ich über sie verfüge, habe ich bereits durch den ersten Bestätigungscode nachgewiesen. Soweit es mich betrifft, ist Googles Verhalten hier von Phishing nicht unterscheidbar.

    Voll Zorn wäre ich nun gerne zum betrieblichen Datenschutzbeauftragten von Google gerannt; ich habe diese Woche noch nicht viel nichtssagendes Kundendienstesisch lesen müssen, und so denke ich, dass ich eine Antwort durchaus gleichmütig hätte ertragen können.

    Aber nein, Artikel 13 DSGVO, nach der zu einer Datenschutzerklärung gehört:

    1. gegebenenfalls die Kontaktdaten des Datenschutzbeauftragten,

    gilt augenscheinlich nicht für Google. Beschweren müsste ich mich über diesen Gesetzesverstoß (und natürlich auch darüber, dass Google das Löschen meines Accounts effektiv verweigert) bei der Aufsichtsbehörde, und das ist die irische Datenschutzbehörde – ein Witz in zwei Wörtern.

    Tja. Was tue ich jetzt? Ein Verwaltungsgerichtsverfahren ist mir ein seit Jahrzehnten toter Account auch nicht wert. Hat wer Ratschläge, wie ich diesen Google-Account trotzdem loswerde?

    So oder so bleibt mein dringender Ratschlag an alle, die sich über Kaltschnäuzigkeit dieser Größenordnung noch ärgern können: Finger weg von Google!

    [1]Schon das ist ja grenzwertig: Was ist denn, wenn ich die Mail-Adresse nicht mehr kontrolliere? Aber gut, das war jetzt nicht mein Problem.

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