Neun Monate Umwelt-CO2, Teil I: Taugen die Daten?

Im vergangenen Jahr habe ich meine CO₂-Messung am Balkon bis Mitte September laufen lassen, vor allem, weil ich sehen wollte, wie die Konzentrationen im Laufe der Zeit auf unter 300 ppm sinkt. So weit unten (relativ zum gegenwärtigen globalen Mittelwert von um die 400 ppm) lag zu meiner damaligen Überraschung die Konzentration mal ganz am Anfang meiner CO₂-Messungen, im September 2021. Ich hatte eigentlich erwartet, dass all das Grün im Sommer nach und nach auch in diesem Jahr dafür sorgen würde.

Daraus ist nichts geworden. Im Groben ist die CO₂-Konzentration über Frühling und Sommer 2022 konstant geblieben:

Plot: Kurve, die fast immer zwischen 400 und 500 ppm zittert. Auf der Abszisse die Zeit zwischen Ende Dezember 2021 und Mitte September 2022.

(Alle Plots in diesem Post von TOPCAT). Mag sein, dass es einfach zu trocken war in diesem Jahr – mag aber auch sein, dass meine ersten Experimente einfach in besonders frischer Luft stattfanden. Schließlich kämen natürlich noch Kalibrationsprobleme in Betracht; ich habe nicht versucht, meine Messungen mit denen anderer zu abzugleichen.

Der Negativbefund hat mich aber dazu gebracht, die Daten im Hinblick auf statistische und vor allem systematische Fehler genauer unter die Lupe zu nehmen. Darum geht es in diesem Post.

Zunächst stellt sich die Frage, ob die generelle Zittrigkeit der Kurve eigentlich Rauschen des Sensors ist oder etwas anderes – von Anfang an haben mich ja die teils erheblichen Konzentrationsschwankungen verblüfft. Nun: angesichts der hohen Korrelation benachbarter Messwerte kommen diese jedenfalls nicht aus statistischen Fehlern im Sensor. Ich greife mal den 26. Mai (einen Donnerstag) heraus:

Plot: Kurve, die ein wenig vor sich hin wackelt, bei der aber aber aufeinanderfolgende Punkte klar korreliert sind.

Wenn das Wackeln ein statistischer Fehler wäre, dann wäre die Linie, die ich durch die Punkte gemalt habe, völliges Gekrakel und nicht erkennbarer Verlauf. Ich will gerne glauben, dass da ein Rauschen irgendwo unterhalb von 10 ppm drin ist. Der Rest ist irgendein Signal.

Welcher Natur das Signal ist, ist eine Frage, die sich allenfalls mit dem ganzen Datensatz beantworten lässt. Angesichts der überragenden Bedeutung der Sonne für Physik und Leben auf der Erde geht der erste Blick auf der Suche nach systematischen Fehlern oder auch echter Physik bei solchen Zeitreihen erstmal auf die Tagesverläufe. Um da eine Idee des Verhaltens des ganzen Datensatzes zu bekommen, habe ich mir die Punktdichte in einem Plot von Tageszeit gegen CO₂-Konzentration angesehen (ich „falte auf den Tag“):

Plot: Heatmap, die bei 1.5e4 und 5.5e4 auf der Abszisse Bäuche hat

Die Abszisse hier verdient einen kurzen Kommentar: Sie zeigt den Rest bei der Division meiner Timestamps durch 84600, ausgedrückt in Stunden. Meine Timestamps sind in Sekunden, und 84600 ist einfach 24 mal 3600, also die Zahl der Sekunden an einem Tag. Mithin steht hier etwas wie eine Tageszeit.

Ganz so einfach ist das aber nicht, weil meine Timestamps immer in UTC laufen, während die Umgebung der Willkür der Zeitzonen unterworfen ist; die 15 auf der Abszisse entspricht also manchmal 16 Uhr bürgerlicher Zeit (nämlich, wenn die Umgebung MEZ hatte) und manchmal 17 Uhr (wenn ihr Sommerzeit verordnet war). Aber schon rein optisch liegt nicht nahe, dass viel mehr zu sehen wäre, wenn ich die politischen Kapriolen nachvollziehen würde, um so weniger, als die Sonne die ja auch nicht nachvollzieht.

Die Bäuche in der dunkleren Fläche, also einer besonders hohen Dichte von Punkten, entsprechen nun Tageszeiten, zu denen es häufiger mal hohe CO₂-Konzentrationen auf meinem Balkon gab. Das könnte ein Signal der Lüftung unserer Wohnung (oder vielleicht sogar der unserer Nachbarn) sein. Es ist aber auch plausibel, dass es der Reflex der Verkehrsdichte ist. Der Balkon befindet sich etwa 10 Meter über und 20 Meter neben einer recht viel befahrenen Straße, weshalb im September 2021 die Unsichtbarkeit der CO₂-Emissionen der Fahrzeuge mit meine größte Überraschung war. Mit hinreichend viel Statistik und Mitteln über hinreichend viele Wetterlagen zeigen sich die Autos (vielleicht) eben doch.

Zwei Eisschachteln beschwert mit einem rostigen Stahlriegel

Die Messanordnung; das wird für die Kalibration noch wichtig…

Wenn Effekte so sehr auf zusammengekniffenen Augen beruhen wie hier beim Tagesverlauf, hilft es nichts: Da braucht es einen zweiten Blick auf innere Korrelationen der Daten, um zu sehen, ob sich da schlicht systematische Fehler zeigen oder ob es wirklich die Autos sind. Klar: besser wäre es natürlich, mit bekannten Konzentrationen oder einfacher einem bekannt guten Messgerät zu kalibrieren, also zu sehen, welche Anzeige das Gerät für welchen wahren Wert hat.

Aber das ist aufwändig, und zumeist zeigen sich Systematiken mit ein paar plausiblen Annahmen („Modelle“) auch schon in den Daten selbst. Zur plausiblen Modellierung lohnt es sich, das Messprinzip des Geräts zu betrachten. Der Sensor ist im Groben eine Infrarot-Leuchtdiode, die in einem der Spektralbereiche sendet, in denen Kohlendioxid stark absorbiert (weswegen es ja den Treibhauseffekt macht). Das Signal wird dann von einer Fotodiode (oder etwas ähnlichem) aufgefangen, und die Schwächung des Signals ist ein Maß für die Konzentration von CO₂ zwischen LED und Fotodiode.

Allerdings sind alle Halbleiter temperaturempfindlich, und irgendwas, das im Infrarotbereich empfängt, wird schon zwei Mal viel Kalibration brauchen, um Temperatursystematik wegzukriegen. Mit Sicherheit tut die eingebaute Software schon viel in der Richtung. Aber ein Dichteplot zwischen Temperatur und Konzentration zeigt durchaus einen ganzen Haufen Struktur:

Dichtplot: Etwas wie Australien mit einem langen Schwanz nach Nordosten, dazu noch ein abgetrennter Schnips bei 50 Grad und 650 ppm.

Manches davon ist ziemlich sicher Physik, so insbesondere, dass die ganz hohen Konzentrationen bei niedrigen Temperaturen auftreten – das ist ein Jahreszeiteneffekt. Anderes ist ganz klar Instrumentensignatur, am klarsten das abgetrennte Schwanzende jenseits von 50 Grad Sensortemperatur. Offenbar[1] ist die Kalibrationskurve (also: Welches Signal von der Fotodiode soll bei welcher Temperatur welche CO₂-Konzentration ausgeben?) abschnittsweise definiert, und beim Abschnitt über 50 Grad wird sich wohl wer bei den Hundertern vertippt haben. Im Tagesplot entspricht dieses Schwänzchen übrigens dem abgesetzten Häubchen am Nachmittag.

Im Neunmonatsplot zeigen sich die Punkte dort in ein paar der Spitzen zwischen dem 18. Juli und dem 4. August, nur dass sie dort mit den „normalen“ Daten mit einer Linie verbunden sind und nicht als abgesetzt auffallen; Grundregel Nummer 312: Vorsicht beim Verbinden mit Linien. In einem Scatterplot, bei dem Punkte in dem abgetrennten Schwanzende rot gefärbt sind, sind die Unstetigkeiten (und mithin die Fehlkalibration des Geräts) offensichtlich:

Eine grüne Kurve mit Lücken.  Die Lücken sind jeweils Hauben in rot, die 100 ppm über den Enden der Lücken schweben.

In meinem Datensatz betrifft das 1027 von 724'424 Datenpunkten – eigentlich sollte ich die wegwerfen, aber wenn mensch einfach 100 von ihnen abzieht, kommen weitgehend glatte Kurven raus, und so wird das schon nicht völlig unvernünftig sein. Ich bin auch ganz glücklich mit meiner Erklärung des Vertippers bei der Hunderterstelle der abschnittsweise definierten Kalibrationskurve.

Mir gefällt aber auch die offensichtliche Korrelation von Temperatur und CO₂ zwischen 30 und 50 Grad nicht[2], die sich in der „Fahne nach Nordosten“ im T-Kalibrationsplot zeigt. Mein, na ja, Modell würde da keine Korrelation[3], also einen ebenen Verlauf geradeaus „nach Osten“ erwarten lassen.

Soweit das Modell zutrifft, ist die ganze Steigung nur eine weitere Fehlkalibration der Temperaturabhängigkeit der Photodiode. Mithin sollte mensch wahrscheinlich oberhalb von 30 Grad etwas wie (T − 30) ⁄ 20⋅50  ppm (weil: über die 20 Grad oberhalb von 30 Grad Celsius geht die Fahne um rund 50 ppm nach oben) abziehen. Gegen Ende des Posts erwähne ich, warum ich die Korrektur am Ende auf (T − 25) ⁄ 25⋅80  ppm erweitert habe.

Zur näheren Untersuchung habe ich die Punkte aus der Fahne in einer normalen CO₂-Zeitreihe rosa eingefärbt, die Temperatur dazugeplottet und bin dabei zunächst auf ein Ereignis gestoßen, das mir sehr merkwürdig vorkam:

Zwei Kurven.  Oben CO2, wo aus einer pinken Basis plötzlich ein grüner Gipfel rauswächst, unten die Temperatur, bei der sich nichts tut.

Ich habe immer noch keine Ahnung, was hier passiert ist: Wenn nicht einfach nur das Instrument durchgedreht ist, dann muss von irgendwoher ein Schwung kohlendioxidreiche Luft gekommen sein, die aber an der Temperatur unter der Eisdose nichts geändert hat. Wenn der Spike von einer Wohnungslüftung käme, wäre das sehr seltsam, denn wenn die Leute die Fenster zu hatten – und nur dann hätte sich CO₂ anreichern können – wäre die Luft innen je nach Bauphysik fast sicher kühler oder wärmer gewesen als draußen. Hm. Mein bestes Angebot: Luft ist ein schlechter Wärmeleiter, und welches Lüftchen auch immer hier wehte, hat den sonnenbeschienenen Sensor einfach nicht kühlen können.

Ach so: die Kurve ist beim Ergeignis grün, obwohl sich an der Temperatur nichts geändert hat, weil bei den hohen CO₂-Konzentrationen die ensprechenden Punkte aus der kleinen Nase über der Nordost-Fahne im T-Kalibrationsplot zu liegen kommen. Pink ist aber nur gemalt, was in der Fahne selbst ist.

Fruchtbarer ist die Betrachtung des parallelen Verlaufs von CO₂ und Temperatur zwischen 13 und 16 Uhr. Diese Parallelität besteht tatsächlich nur für die pinken Punkte. Es gibt keine plausible Physik, die CO₂ und Temperatur (auf diesen Skalen) gleich schwingen lassen würde. Wenn ich mit meiner Augenmaß-Kalibrationsfunktion von oben korrigiere, verschwindet dieses Signal auch tatsächlich fast vollständig:

Zwei Kurven wie eben, nur ist dieses Mal oben co2-(temp-30)/20*50 geplottet, und der parallele Verlauf der beiden Kurven ist auch wirklich fast weg.

Beachtet die obere Achsenbeschriftung; das ist die Nachkalibration, die ich zunächst angebracht habe; mit meiner verbesserten Nachkalibration ab 25°C bleibt etwas mehr Signal übrig:

Zwei Kurven wie eben; die rekalibrierte, die jetzt wieder irgendwas im Rhythmus der Temperatur macht.

Dass die Flanken des „Störsignals“ jetzt steiler sind, finde ich eher beruhigend, denn ich glaube, dass das etwas mit direkter Sonneneinstrahlung zu tun hat (die die Infrarotdiode ganz bestimmt stört), und Licht und Schatten gehen natürlich viel schneller als die Erwärmung von Luft und Gerät. In der Tat würde Streulicht von der Sonne so tun, als käme etwas mehr Licht beim Sensor an, als wäre also etwas weniger CO₂ im Strahlengang. Wenn ihr scharf schaut: im Plot sieht es aus, als sei die CO₂-Schätzung niedriger, wenn die Temperatur ansteigt (also vermutlich die Sonne schien) und höher, wenn sie das nicht tat. Wäre das hier Wissenschaft, müsste ich dieser Spur genauer nachgehen. So, wie es ist, kann ich zufrieden sein, dass ich Systematiken sehe, die aber erkennbar nicht sehr groß sind und noch dazu physikalisch plausibel.

Insgesamt würden die Werte bei extremen Temperaturen bei weiteren Analysen wohl keine große Rolle spielen, aber wenn die Dinge schon so komisch aussehen, wollte ich sie zumindest in dem Maße, in dem es offensichtliche Probleme gibt, provisorisch reparieren. Dazu habe ich dieses Programm geschrieben:

# A quick hack for ad-hoc recalibration of *my* co2 meter:
# (a) above 50 C, it rather consistently reports 100 ppm too much
# (b) above 25 C, there is a systemantics of (temp-25)/25*80
# Of course, all completely ad-hoc.
#
# This does stdin to stdout and expects whitespace-separated time, co_2, temp

import sys

def recalibrate(in_file, out_file):
    # Copy header
    for ln in in_file:
        if ln.startswith("#"):
            out_file.write(ln)
        else:
            break

    # Comments over, must be the column names
    out_file.write(ln)

    parsers = (float, int, float)
    for ln in in_file:
        t, co_2, temp = (f(v) for f,v in zip(parsers, ln.split()))
        if temp>49.925:
            co_2 -= 100
        if temp>25:
            co_2 -= int((temp-25)/25*80)

        out_file.write(f"{t} {co_2} {temp}\n".format(t, co_2, temp))


if __name__=="__main__":
    recalibrate(sys.stdin, sys.stdout)

Die seltsame 49.925 (statt 50) ist die empirische Grenze, ab der das Gerät die 100 ppm aufschlägt. Dieser Fehler ist so deutlich (und seine Fehlkorrektur hat so deutliche Spuren), dass ich keine Zweifel habe, da das Richtige zu tun. Die lineare Temperaturabhängkeit ist viel analoger und weit weniger zwingend. Das zeigt sich auch in dem, was mit dieser Nachkalibration aus dem T-Kalibrationsplot wird:

Dichteplot: Eine viel ebenere Verteilung von Punkten.

Es ist ziemlich offensichtlich, dass am heißen Ende immer noch nicht alles perfekt ist; zumindest die Über-50-Grad-Werte bräuchten klar einen weiteren temperaturabhängigen Korrekturterm. Aber das sind so wenig Punkte, die dürfen meinethalben schon krumm sein. Im Rest sind oberhalb von 20 Grad Temperatur und CO₂ schon ganz brauchbar dekorreliert: die Daten werden so jedenfalls besser sein als vorher.

An dieser Stelle ist mir mein 26-Mai-Plot eingefallen. Was wäre, wenn die merkwürdigen Schwingungen am Nachmittag auch nur Temperatureffekte wären? Das ist vor allem deshalb plausibel, weil ungefähr um die Zeit die ganze Installation Sonne abbekommen haben wird. Tatsächlich ist das so, und ich habe ein wenig gefummelt, um auch das wegkalibriert zu kriegen. Das war mein Grund, schon bei 25 Grad mit der Korrektur anzufangen.

Mit einer einfachen linearen Funktion über den Bereich 25 bis 50 Grad sind die Schwinger aber nur ein wenig zu dämpfen. Ich wollte aber andererseits mein Modell auch nicht komplizierter machen (cave Overfitting), und so ist es bei der kleinen Ausweitung der Nachkalibration geblieben.

Damit sieht der 26.5. jetzt so aus (oben rekalibriert, Mitte wie aus dem Gerät, unten Temperatur):

Drei Zeitreihen: die obere schwingt ein bisschen weniger wie die beiden unteren.

Nicht schön, aber mit systematischen Fehlern der Größenordnung 10 ppm werde ich leben können. Wer es besser machen will: Ich glaube, meine Rohdaten enthalten keinen nennenswerten personenbeziehbaren Daten von irgendwem. Insofern: Bitteschön.

[1]Wieder mal wäre es klasse, wenn es nicht diesen Unfug von „Geschäftsgeheimnissen“ gäbe und Leute einfach immer ihren Quellcode mitveröffentlichen müssten: Dann müsste ich darüber nicht spekulieren, sondern könnte nachsehen.
[2]Korrelationen zwischen CO₂-Konzentration und Temperatur sind natürlich immer unangenehm, klar, aber hier dann doch in einem anderen Sinn.
[3]Eine gewisse reale Korrelation zwischen Temperatur und Konzentration wäre aber z.B. zu erwarten, wenn wir ein stärkeres CO₂-Signal in der Tageszeit hätten. Wäre z.B. das CO₂ in der Nacht gegenüber dem Tag deutlich erhöht – und weil Bäume in der Nacht CO₂ ausatmen, hätte ich das erwartet – müsste es eine negative Korrelation von Temperatur und CO₂ geben, weil es in der Nacht ja fast immer kälter ist als am Tag. Mit etwas zusammengekniffenen Augen könnte mensch so etwas in zwischen 10 und 20 Grad („Frühlingsnächte“) im T-Kalibrationsplot erkennen. Aber nein, überzeugend ist das so erstmal nicht.

Zitiert in: Neun Monate Umwelt-CO₂, Teil II: Hochpass, Tiefpass, Spektrum

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