• Kopfzahlen: Plastikproduktion

    Ein großer Haufen Plastikbecher auf einer gepflasterten Straße

    2014 in Lissabon: nach einer Nacht im Barrio Alto hat sich an der Straße ein Pfund Plastik gesammelt. Ihr guckt auf etwa ein Millardstel der gegenwärtigen Weltjahresproduktion.

    In der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell gab es am 2. März ein Segment mit einer Zahl, die ich im Kopf haben sollte: Die Weltproduktion von Kunststoffen liegt derzeit bei 460 Millionen Tonnen oder einer halben Gigatonne pro Jahr und hat seit dem Jahr 2000 um ziemlich genau den Faktor 2 zugenommen.

    In den Größenordnungen von Naturkatastrophen gesprochen braucht es 5⋅108  t ⁄ (25  t/Container), also 20 Millionen TEU-Container, um den ganzen Mist (von der Masse her) bewegt zu kriegen. Wenn das alles durch einen Hafen ginge, müsste da öfter als alle zwei Sekunden so ein Container randvoll mit Plastik rein bzw. raus.

    Mit der Annahme, dass Rohöl 1:1 in Kunststoff umgesetzt wird – (wahrscheinlich eher konservativ) – hat es 5⋅108  t ⁄ (5⋅105  t/Tanker), also überraschende 1000 große Supertanker gebraucht, um das Öl für das Zeug zu den Chemiefabriken zu bringen. Das sind sowas wie drei am Tag. Ganz ehrlich kommt mir diese Zahl enorm, fast unglaublich groß vor. Wahrscheinlich werden doch ganz schön viele der Fabriken durch Pipelines beliefert, zumal wohl auch Gas ein beliebter Ausgangsstoff für viele Kunststoffe ist.

    Mit den Kopfzahlen für Flächen geht noch eine andere Veranschaulichung, denn zufällig ist ja die Fläche der Erde auch so etwa 450 Millionen Quadratkilometer. Mithin produzieren wir für jeden Quadratkilometer Erdoberfläche ziemlich genau eine Tonne Plastik,für jeden Quadratkilometer Land gar drei Tonnen. Wiederum scheint mir das unglaublich viel.

    Um das weiter in Relation zu setzen: Kunststoffe wie Polyethylen haben ungefähr die Dichte von Wasser, also 1000  kg ⁄ m3, und Folie daraus ist etwas wie 0.01 mm oder 10 − 5  m dick (ich nehme mal dieses Angebot als repräsentativ). Weil die Dichte ρ gleich Masse m pro Volumen V und Volumen Fläche A mal Dicke b ist, kann mensch die mit einer Tonne PE-Folie bedeckbare Fläche zu

    A = (m)/(ρb) = (1000  kg)/(1000  kg/m3⋅10 − 5  m)

    und also 100'000 Quadratmetern ausrechnen (Gegenrechnung: ein Kilo Folie könnte so 100 Quadratmeter oder eine größere Wohnung abdecken; das klingt plausibel). Unsere Tonne Plastikfolie bedeckt von unserem Quadratkilometer immerhin ein Zehntel (bzw. zehn von den Hektaren aus den Flächen-Kopfzahlen, die mensch in zwei Minuten durchqueren konnte).

    Ist es tröstlich, dass wir auch bei der gegenwärtigen Plastikproduktion immer noch 10 Jahre bräuchten, bis wir den Planeten ganz in Frischhaltefolie eingewickelt hätten? Na gut, wenn wir das Meer unverpackt ließen, würden wir es auch in drei Jahren schaffen. Wir müssten nur den ganzen anderen Plastikquatsch für drei Jahre weiterwenden, um die Produktion für das große Verpackungsprojekt freizukriegen.

  • Cat Content für die Aufrüstung

    Zwei Kriegsfotos mit Katzen, montiert

    Bilder aus der Tagesschau vom 9.3.2022 und (Inset) aus der taz vom 14.3.2022: Cat content geht immer – leider offenbar auch, wenn patriotische Emotion Tötungshemmung überwinden helfen soll (Rechte bei der ARD bzw. der taz)

    Einem militanten Pazifist wie mir geht das Herz derzeit natürlich oft auf, da ja allenthalben Wladimir Putin heftig gescholten wird dafür, dass er für seine (und damit bis auf Weiteres auch die nationalen russischen) Interessen Menschen töten lässt – die Monströsität entsprechender Ideen hatte ich ja schon im letzten September und davor im Januar angeprangert.

    Leider schließt sich mein Herz dann allzu oft zumindest gegenüber weiten Teilen der öffentlichen Meinung wieder, denn fast immer geht der Ausdruck von Abscheu gegenüber dem Putin'schen Morden über in die Forderung, „wir“ (sc.[1] „unsere“ Regierung) müssten nun aber viel mehr tun, damit „wir“ dann auch besser für „unsere“ (sc. der Regierung) Interessen töten können. Und es sei nicht hinnehmbar, dass „wir“ (sc. die Bundeswehr) gerade nicht hinreichend gut töten könnten. Nur vorsorglich und nebenbei möchte ich zur Erzählung von der kaputten Bundeswehr gehöriges Misstrauen anmelden: if only it were true.

    Immerhin kommen diese Appelle an Wehr- und Tötungsbereitschaft derzeit noch oft im Flauschkostüm daher: es ist wirklich auffällig, wie viele Hunde und Katzen aus den aktuellen Kriegsbildern äugen. Die beiden Kitschbeispiele im Titelfoto sind wirklich nur zufällig aus einem großen Korpus gegriffen, auch heute sind in der taz wieder Bilder von ukrainischen Frauen, die Katzen tragen.

    Klar: Das ist mir viel lieber als harte Männer mit großen Knarren. Das Narrativ von „wir müssen die Tiere vor Putins Grausamkeit retten“ (und deshalb 100 Milliarden Sondervermögen fürs Töten einstellen) relativiert sich allerdings schon deshalb, weil ein jedenfalls vom Flauschfaktor her bemerkenswerter, in Wahrrheit aber sowohl menschen- als auch tierrechtlich ernster Skandal in den Cat Content-Medien im Wesentlichen untergegangen ist. Ich zitiere aus der Zeitung der Roten Hilfe 1/2022 (S. 23):

    Weil die Tierschutz-Hundeverordnung seit Jahresbeginn den Einsatz so genannter Zug- und Stachelhalsbänder verbietet, fürchten die Polizeien des Bundes und der Länder um ihre bei Demonstrationen, Fußballspielen usw. eingesetzten „Schutzhunde“ – sie werden sowohl in der Ausbildung als auch bei jährlichen Trainings mit solchen Halsbändern gequält, um im Einsatz auch beim Anziehen eines normalen Halsbandes in Erinnerung der Schmerzen Befehle auszuführen. Stellten einige Länder ihre Hunde kurzzeitig außer Dienst, suchen sie nun Wege, die Tiere weiter als Waffen abzurichten und einzusetzen. Berlin etwa sieht die Verordnung als nur Ausbildung und Training, nicht aber den Einsatz betreffend, Niedersachsen will im Bundesrat eine Tierquäl-Ausnahme-Erlaubnis für die Polizei erreichen. Brandenburg ignoriert die Verordnung komplett: Es sei nur verboten, Tieren „ohne vernünftigen Grund“ Schmerzen zuzufügen. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) fürchtet ohne Stachelhalsbänder gar „fatale Auswirkungen auf die innere Sicherheit“.

    Das Thema Rüstung für den Tierschutz hat Aspekte, die überraschen mögen. Ich bin auf einen Artikel aus dem lokalen Boulevardmedium hingewiesen worden, in dem steht:

    Unter dem schrecklichen Krieg in der Ukraine leidet nicht nur die dortige Zivilbevölkerung. Viele der Millionen flüchtenden Menschen haben ihre geliebten Haustiere wie Hunde, Katzen oder Frettchen dabei.

    Öhm… Frettchen? Stellt sich jedenfalls raus, dass das auch anderweitig ein Thema ist:

    Ukrainische Haustiere sind in bayerischen Flüchtlingsunterkunft neuerdings willkommen. […] Die Regierungen und Kreisverwaltungsbehörden wurden angewiesen, bei der Aufnahme von Haustieren ukrainischer Geflüchteter großzügig zu sein.

    […] Eigentlich seien die Unterkünfte nicht auf Haltung von Haustieren ausgelegt, erklärt das Ministerium. Aber ein Haustier könne eine wichtige Stütze nach Kriegserfahrung und Flucht sein. Man wolle Trennungen vermeiden.

    BR-Nachrichten

    Zu vergleichen ist das mit einem Urteil des VG Ansbach, AN 15 K 19.30225 vom (ausgerechnet) 20. April 2021, in dem das BAMF wie folgt paraphrasiert wird:

    In den Gründen zum ablehnenden Teil ist zusammengefasst ausgeführt, der Klägerin [eine Frau aus Syrien] stehe kein originärer Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 1 AsylG zu. Sie habe keine drohende oder bereits erlittene Verfolgung in ihrem Herkunftsland glaubhaft gemacht. Die Klägerin sei wegen der Kriegssituation ausgereist.

    Das Gericht (Ansbach ist übrigens seit Napoleon bayrisch) hat die Klage abgewiesen.

    [1]Für den Fall, dass die schöne Abkürzung „sc.“ nicht allen geläufig ist (ich musste auch über 30 werden, bis ich ihr endlich begegnet bin): Das steht für scilicet, und das wiederum für scire licet, was ich verwendungsgeschichtlich inspiriert und frei als „wie jedeR wissen dürfte” übersetzen würde. Mit anderen Worten ist das einsetzbar wie „d.h.“, nur vielleicht mit einem Unterton von „selbstverständlich“ oder so, und noch mit dem Bonus von „Latein, das nicht jede_r kennt“. Also: In jeder Richtung der Jackpot für bildungsbürgerliche Nerds.
  • Now on the Fediverse

    Mastodon logo

    AGPL (copyright)

    While I believe that RSS (or rather Atom a.k.a. RFC 4287) is a great standard for subscribing to media like blogs[1], I strongly suspect that virtually nobody pulls my RSS feed. I'm almost tempted to log for a while to ascertain that. Then again, just based on how few people still run RSS aggregators (me, I'm using a quick self-written hack based on python3-feedparser) I am already quite confident the RSS mainly sits idly on my server.

    At least outside of my bubble, I guess what RSS was designed for has been superceded by the timelines of Facebook, Twitter, and their less shopworn ilk. As a DIY zealot, of course none of that is an option for me. What is an option in this field (and what certainly can do with a bit more public attention) is what these days is commonly called the Fediverse, that is, various sites, servers and client programs in the rough vicinity of microblogging, held together by W3C's ActivityPub protocol.

    What this technobabble means in practice: If you already are in the Fediverse, you can follow @Anselm@social.dev-wiki.de and get a toot whenever I post something here (note, however, that most posts will be in German).

    If you're not in the Fediverse yet, well, choose a community[2] – if I had to choose again, I'd probably take a larger community, as that increases one's initial audience: other communities will, for all I understand, only carry your public toots (i.e., messages) if someone in them has subscribed someone from your community –, get a client – I'm using tootle as a GUI and toot for the CLI – and add my Fediverse id.

    To accomodate tooting about new posts, I have made two changes to by pelican tooling: For one, post.py3 now writes a skeleton toot for the new post, like this:

    with open("next-toot", "w", encoding="utf-8") as f:
      f.write(f"{headline} – https://blog.tfiu.de/{slug}.html\n#zuengeln\n")
    

    And I have a new Makefile target:

    toot:
      (cat next-toot; echo "Post?"; read x)
      toot post < next-toot
    

    In that way, when I have an idea what the toot for the article should contain while I'm writing the post, I edit next-toot, and after I've run my make install, I'm doing make toot to notify the Fediverse.

    A side benefit: if you'd like to comment publicly and don't want do use the mail contact below: you can now do that through Mastodon and company.

    [1]That it is a great standard is already betrayed by the fact that its machine-readable specification is in Relax NG rather than XML schema.
    [2]This article is tagged DIY although I'm not running a Mastodon (or other AcitivityPub server) instance myself because, well, I could do that. I don't, for now, because Mastodon is not packaged for Debian (and for all I can tell neither are alternative ActivityPub servers). Looking at Mastodon's source I can understand why. Also, I won't rule out that the whole Fediverse thing will be a fad for me (as was identi.ca around 2009), and if I bother to set up unpackaged infrastructure, I need to be dead sure it's worth it.
  • Alle Vöglein sind schon da

    Es ist Frühling! Ganz deutlich war das am Mittwoch, als ich im noch kahlen Wald unterhalb der Schauenburg stand und ganz hingerissen war von Zahl, Lautstärke und Veriantenreichtum der Äußerungen der dort ansässigen Vögel. Leider hatte ich nicht die Geistesgegenwart, das gleich aufzunehmen, und gestern war es schon nicht mehr ganz so aufregend. Dennoch mag das folgende einen Eindruck geben, wie es in dem Wald gerade tönt kurz vor Sonnenuntergang:

    Das starke Rauschen, das dem unterliegt, ist übrigens zu guten Teilen nichttechnisch: in der Nähe meines Aufnahmeorts rauscht gerade der Mantelbach, der, ebenfalls ganz in Frühlingsstimmung, im Augenblick richtig viel Wasser führt.

    Das Audio-Element sollte endlos laufen. Leider loopt jedoch zumindest der aktuelle Webkit nicht nahtlos, und beim Übergang auf die nächste Wiederholung ist ein deutliches Ploppen zu hören. Lokal habe ich ein shell-alias, mit dem ich die Nahstelle (jedenfalls bei Wiedergabe über die lausigen Lautsprecher in meinem Computer) nicht erkennen kann:

    alias ambient-voegel='mpv --quiet --loop-file=inf /pfad-zum/vogelkonzert.ogg'
    

    Erwähnen möchte ich noch, dass die Aufnahme alles andere als leicht war. Nicht etwa, weil es mit dem Gerät Probleme gegeben hätte, abgesehen davon, dass das ein einfaches Telefon ohne Windschutz war und deshalb auf externe Beschirmung angewiesen war:

    Foto: Altes Mobiltelefon in verrottendem Restbaumstamm

    Nein, das Problem war Zivilsationslärm, der die Vogelstimmen störte oder gar übertönte. Zuerst ist ein Hubschrauber durchgebrummt, dann klapperten die Hufe eines Freizeitpferdes auf dem asphaltierten Waldweg, und als die allmählich verklungen waren, dröhnte schon das nächste Flugzeug minutenlang durch den Himmel. Dabei ist das Tal gegenüber seiner näheren Umgebung sehr bevorzugt, weil es vom dauernden Lärm von A5, B3 und all den Ortsstraßen recht gut abgeschirmt ist.

    Dass mir all das Dröhnen – das ja sonst auch da ist – gestern auffiel, das muss wohl diese Achtsamkeit sein, von der ich in den letzten Jahren viel zu viel gehört habe. Und alles, was ich dafür gebraucht habe, waren zwei Mikrofone, ein Programm und der Wille, singende Vögel für trübere Zeiten zu konservieren. Ist das eine Marktlücke: Tagesseminar für nur 4000 Euro „Achtsamkeit lernen mit audacity“?

  • Neurasthenie und Post-Covid

    Neulich hatte ich es schon von der Russischen Grippe, einer Pandemie, deren große Wellen zwischen 1889 und 1895 rollten und die plausiblerweise die jüngste große Coronapandemie vor SARS-2 gewesen sein könnte (Forschung aktuell dazu). Zwischenzeitlich ist mir nun aufgefallen, dass es einen weiteren Datenpunkt für Parallelen zwischen der Russischen Gruppe und SARS-2 geben könnte: Die Neurasthenie.

    Bis zu dieser Einsicht hatte ich die aktuelle Einschätzung der Wikipedia geteilt:

    Neurasthenie gehörte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu den Modekrankheiten einer gehobenen Gesellschaftsschicht.

    Im Fin de Siécle schien es in der Tat zum guten Ton zu gehören,

    Erschöpfung und Ermüdung, die entweder durch eine zu geringe Belastbarkeit durch äußere Reize und Anstrengungen oder auch durch zu geringe oder zu monotone Reize selbst verursacht sein kann

    an den Tag zu legen. Florian Illies schreibt dazu in seinem Zeitportrait „1913 – der Sommer des Jahrhunderts“:

    1913 fasste man das zusammen unter dem Begriff: »Neurasthenie«. Spötter sangen: »Raste nie und haste nie, sonst haste die Neurasthenie«.

    Was aber, wenn „wir“ (also die, die sich in der Einschätzung „Modekrankheit“ gefielen) den Betroffenen unrecht getan haben? Was, wenn das in Wirklichkeit das Äquivalent von Long Covid, sagen wir Long Russische Grippe, also die neurologischen oder immunologischen Spätfolge einer im höheren Alter ersterworbenen Coronainfektionen war? Wenn, dann sollten wir nicht die Luft anhalten, bis das alles wieder vorbei ist, denn die Neurastheniewelle ebbte, soweit ich erkennen kann, ähnlich wie Thomas Manns Zauberberg[1] erst mit dem ersten Weltkrieg, zwanzig Jahre nach den großen Wellen, ab.

    Ich bereite mich jedenfalls schon mal vor, mal wieder meinen Hut essen zu müssen. Hat wer Hinweise auf ordentliche Literatur zu dem Thema?

    [1]Ich habe aus gegebenem Anlass nachgesehen: Mann erwähnt im ganzen Zauberberg keine Neurasthenie, obwohl das Topos eigentlich das ganze Buch durchzieht. Ob es daran liegt, dass das Buch zehn Jahre nach dem Ende seiner Handlung erschien und es nichts Anrüchigeres gibt als die Mode von gestern?
  • Lang lebe Small Data

    Zu den unerfreulicheren Begleiterscheinungen der Coronapandemie gehörte die vielstimmige und lautstarke Forderung nach „mehr Daten“, selbst aus Kreisen, die es eigentlich besser wissen[1]. Wie und warum diese Forderung gleich mehrfach falsch ist, illustriert schön ein Graph, der seit ein paar Wochen im RKI-Wochenbericht auftaucht:

    Dargestellt sind die Zahlen von „im Zusammenhang mit“ SARS-2 in deutsche Krankenhäuser aufgenommenen PatientInnen. Die orange Kurve entspricht dabei den „Big Data“-Zahlen aus der versuchten Totalerfassung – d.h., Krankenhäuser melden einfach, wie viele Menschen bei der Aufnahme SARS-2-positiv waren (oder vielleicht auch etwas anderes, wenn sie das anders verstanden haben oder es nicht hinkriegen). Die blaue Kurve hingegen kommt aus der ICOSARI-Surveillance, also aus spezifischen Meldungen über Behandlungen akuter Atemwegsinfektionen aus 71 Kliniken, die für Meldung und Diagnose qualifiziert wurden.

    Wären beide Systeme perfekt, müssten die Kurven im Rahmen der jeweiligen Fehlerbalken (die das RKI leider nicht mitliefert; natürlich zählt keines von beiden ganz genau) übereinanderlaufen. Es ist offensichtlich, dass dies gerade dann nicht der Fall ist, wenn es darauf ankommt, nämlich während der Ausbrüche.

    Eher noch schlimmer ist, dass die Abweichungen systematisch sind – die Entsprechung zu halbwegs vertrauten Messungen wäre, wenn mensch mit einem Meterstab messen würde, dessen Länge eben nicht ein Meter ist, sondern vielleicht 1.50 m. Nochmal schlimmer: seine Länge ändert sich im Laufe der Zeit, und auch abhängig davon, ob mensch Häuser oder Giraffen vermisst. Wäre der Meterstab wenigstens konstant falsch lang, könnte mensch die Messergebnisse im Nachhinein jedenfalls in gewissem Umfang reparieren („die Systematik entfernen“). Bei der Hospitalisierung jedoch wird keine plausible Methode die Kurven zur Deckung bringen.

    Das RKI schreibt dazu:

    Im Vergleich zum Meldesystem wurden hierbei in den Hochinzidenzphasen - wie der zweiten, dritten und vierten COVID-19-Welle - höhere Werte ermittelt. In der aktuellen fünften Welle übersteigt die Hospitalisierungsinzidenz der Meldedaten die COVID- SARI-Hospitalisierungsinzidenz, weil zunehmend auch Fälle an das RKI übermittelt werden, bei denen die SARS-CoV-2-Infektionen nicht ursächlich für die Krankenhauseinweisung ist.

    Die Frage ist nun: Welche Kurve „stimmt“, gibt also das bessere Bild der tatsächlichen Gefährdungssituation für das Gesundheitssystem und die Bevölkerung?

    Meine feste Überzeugung ist, dass die blaue Kurve weit besser geeignet ist für diese Zwecke, und zwar weil es beim Messen und Schätzen keinen Ersatz für Erfahrung, Sachkenntnis und Motivation gibt. In der Vollerfassung stecken jede Menge Unwägbarkeiten. Um ein paar zu nennen:

    • Wie gut sind die Eingangstests?
    • Wie konsequent werden sie durchgeführt?
    • Wie viele Testergebnisse gehen in der Hektik des Notfallbetriebs verloren?
    • Wie viele Fehlbedienungen der Erfassungssysteme gibt es?
    • Haben die Zuständigen vor Ort die Doku gelesen und überhaupt verstanden, was sie erfassen sollen und was nicht?
    • Wie viele Doppelmeldungen gibt es, etwa bei Verlegungen – und wie oft unterbleibt die Meldung ganz, weil das verlegende Krankenhaus meint, das Zielkrankenhaus würde melden und umgekehrt?

    Und ich fange hier noch gar nicht mit Fragen von Sabotage und Ausweichen an. In diesem speziellen Fall – in dem die Erfassten bei der Aufnahme normalerweise nicht viel tun können – wird beides vermutlich eher unwichtig sein. Bei Datensammelprojekten, die mehr Kooperation der Verdateten erfordern, können die Auswahleffekte hingegen durchaus auch andere Fehler dominieren.

    Erfasst mensch demgegenüber Daten an wenigen Stellen, die sich ihrer Verantwortung zudem bewusst sind und in denen es jahrelange Erfahrung mit dem Meldesystem gibt, sind diese Probleme schon von vorneherein kleiner. Vor allem aber lassen sie sich statistisch untersuchen. Damit hat ein statistisch wohldefiniertes Sample – anders als Vollerfassungen in der realen Welt – tendenziell über die Jahre abnehmende Systematiken. Jedenfalls, solange der Kram nicht alle paar Jahre „regelauncht“ wird, was in der heutigen Wissenschaftslandschaft eingestandenermaßen zunehmend Seltenheitswert hat.

    Wenn also wieder wer jammert, er/sie brauche mehr Daten und es dabei um Menschen geht, fragt immer erstmal: Wozu? Und würde es nicht viel mehr helfen, besser definierte Daten zu haben statt mehr Daten? Nichts anderes ist die klassische Datenschutzprüfung:

    • Was ist dein Zweck?
    • Taugen die Daten, die du haben willst, überhaupt dafür? („Eignung“)
    • Ginge es nicht auch mit weniger tiefen Eingriffen? („Notwendigkeit“)
    • Und ist dein Zweck wirklich so großartig, dass er die Eingriffe, die dann noch übrig bleiben, rechtfertigt? („Angemessenheit“)

    Ich muss nach dieser Überlegung einfach mal als steile Thesen formulieren: Datenschutz macht bessere Wissenschaft.

    Nachtrag (2022-05-16)

    Ein weiteres schönes Beispiel für die Vergeblichkeit von Vollerfassungen ergab sich wiederum bei Coronazahlen Mitte Mai 2022. In dieser Zeit (z.B. RKI-Bericht von heute) sticht der bis dahin weitgehend unauffällige Rhein-Hunsrück-Kreis mit Inzidenzen um die 2000 heraus, rund das Doppelte gegenüber dem Nächstplatzierten. Ist dort ein besonders fieser Virusstamm? Gab es große Gottesdienste? Ein Chortreffen gar? Weit gefehlt. Das Gesundheitsamt hat nur retrospektiv Fälle aus den vergangenen Monaten aufgearbeitet und ans RKI gemeldet. Dadurch tauchen all die längst Genesenen jetzt in der Inzidenz auf – als sie wirklich krank waren, war die Inzidenz zu niedrig „gemessen“, und jetzt halt zu hoch.

    So wurden übrigens schon die ganze Zeit die Inzidenzen berechnet: Meldungen, nicht Infektionen. Das geht in dieser Kadenz auch nicht viel anders, denn bei den allermeisten Fällen sind die Infektionsdaten anfänglich unbekannt (und bei richtig vielen bleibt das auch so). Wieder wären weniger, aber dafür sorgfältig und kenntnisreich gewonnene Zahlen (ich sag mal: PCR über Abwässern), hilfreicher gewesen als vollerfassende Big Data.

    [1]Vom Totalausfall der Vernunft etwa bei der Luca-App will ich gar nicht anfangen. Der verlinkte Rant von Fefe spricht mir ganz aus der Seele.

    Nachtrag (2023-02-08): Das sehe übrigens nicht nur ich so.

  • Menschliche Leistung: Hundertfünfzig Watt

    Ich bin gerade über einen Artikel in Spektrum der Wissenschaft 11/17 (leider Paywall) an das Paper „Hunter-Gatherer Energetics and Human Obesity” von Herman Pontzer und KollegInnen geraten (DOI 10.1371/journal.pone.0040503, open access). Darin geht es grob darum, dass JägerInnen, SammlerInnen und BäuerInnen ungefähr genauso viel Kohlenstoff verstoffwechseln wie StadtbewohnerInnen, und das, obwohl sich letztere natürlich deutlich weniger bewegen als die anderen. Diese Erkenntnis hätte mich jetzt noch nicht sehr begeistert, doch die folgende Grafik verdient jede Aufmerksamkeit:

    Punktwolke mit großer Streuung und nicht stark ausgeprägter Korrelation

    Energieaufwand pro Tag für westliche Menschen (grau), bolivianische BäuerInnen (blau) und afrikanische Jäger/Sammlerinnen (rot), aufgetragen über eine Art normiertes Körpergewicht. CC-BY Pontzer et al.

    Dieser Plot nimmt – nicht ganz absichtlich – meine Frage zur thermischen Leistung von Menschen auf. Damals war ich ja aufgrund der Messungen meines CO₂-Messgeräts im Büro darauf gekommen, dass ich für ungefähr 16 Watt CO₂ ausatme – das stellt sich, wie erwartet, als kräftige Unterschätzung heraus. Ich sollte das wirklich mal neu ausrechen, zumal ich die wirkliche Stoffwechselrate inzwischen auch besser einschätzen kann, weil mir der CO₂-Verlust durch Fenster, Türen und Blumen dank vieler Daten für den leeren Raum inzwischen gut zugänglich sein sollte.

    Aber das ist für einen anderen Tag. Heute lese ich aus der Grafik von Pontzer et al ab, dass ein Mensch wie ich (70 Kilo alles zusammen, davon vielleicht 20% Fett, also in der Grafik bei log(56) ≈ 1.75 zu suchen) so zwischen 3.3 und 3.6 auf der y-Achse liegt. Nach Delogarithmierung (also: Zehn hoch) würde ich demnach zwischen 2000 und 4000 Kilokalorien am Tag umsetzen. Mensch ahnt erstens, dass Fehlerbalken unter Logarithmierung zusammenschrumpfen – dass „3.3 bis 3.6“ in Wahrheit „innerhalb eines Faktors 2“ heißt, mag für logarithmenferne Bevölkerungsschichten überraschend sein – und zweitens, dass große Teile der Wissenschaft immer noch Einheiten aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts verwenden. Seit dessen zweiter Hälfte nämlich kommen Arbeit und Energie bei anständigen Leuten in Joule (einer Kalorie entsprechen 4.2 davon).

    Das führt auf meine Kopfzahlen für heute: Ein Mensch wie ich leistet etwas zwischen 8000 und 16000 Kilojoule am Tag. Hier will sich mensch übrigens die Spannbreite ganz definitiv mitmerken, und zwar als Gegengift zum „Tagesbedarf“, der auf jeder Lebensmittelverpackung aufgedruckt ist[1].

    Unter vielen guten Gründen für die Verwendung des Joule (statt der Kalorie) steht weit oben die Tatsache, dass mensch gleich auf Leistungen in Watt kommt (das ist nämlich ein Joule pro Sekunde). Wer im Kopf hat, dass ein Tag 86400 Sekunden lang ist, erhält meine Leistung in üblichen Einheiten zwischen den 100 und 200 Watt, zwischen denen ich im November-Post bedingt durch DuckDuckGo und meine grobe Erinnerung schwankte.

    Bemerkenswert an der Pontzer-Grafik finde ich noch die beiden Ausgleichsgeraden für westliche Männer (durchgezogen) und Frauen (gestrichelt). Ich habe ja schon immer große Zweifel an Gender-Unterschieden in vielen „Normalbereichen“ gehabt, die es für Tagesbedarfe und allerlei Laborwerte gibt; so war z.B. in meiner Zivildienstzeit der Normalbereich des Kreatininspiegels für Frauen eine ganze Ecke höher als für Männer, und ich bin immer noch fest überzeugt, dass das einen rein sozialen (Frauen trinken im Schnitt weniger, weil sie es meist deutlich schwerer haben, unbelästigt zu pinkeln) und keinen vertretbar als biologisch zu bezeichnenden Grund hat.

    Warum nun der Energieumsatz von Frauen steiler mit ihrer Masse wachsen sollte als bei Männern, warum sie ab einer Masse von vielleicht 75 Kilo (da würde ich die Mit-Fett-Masse des Schnittpunkts der Geraden sehen) dann sogar mehr leisten sollten als gleichschwere Männer, das leuchtet mir nicht ein – wie mir auch nicht einleuchtet, warum leichtere Frauen praktisch einen Faktor zwei weniger leisten sollten als gleichschwere Männer. Aber wer die Punktwolken mal qualitativ auf sich wirken lässt, wird ohnehin Zweifel an den Ausgleichsgeraden entwickeln.

    Tja: Mal sehen, wie sich das entwickelt, wenn die Systematiken von Pontzers Methode zur Bestimmung des Energieumsatzes (Leute trinken einen Haufen D₂-18O-Wasser, und mensch verfolgt, wie über die nächsten Tage Deuterium und der 18er-Sauerstoff im Urin runtergehen) etwas besser verstanden sind.

    Pontzer scheint jedenfalls bereit zu sein, irrtümliche Dogmen über Bord zu werfen. So ist er Mitautor einer Arbeit von Anna Warrener et al (DOI 10.1371/journal.pone.0118903), die seinerzeit (2015) auch breit durch die Presse ging. Das Paper zerstörte (nach meinem Eindruck als Laie in dem Feld) die lange quasi konkurrenzlose These, der doch sehr grenzwertig enge Geburtskanal menschlicher Frauen sei ein physiologischer Kompromiss, denn ein breiteres Becken würde sie beim aufrechten Gang behindern. So ein „lass uns das mal nachrechnen, auch wenn es ganz plausibel klingt“ ist für mich ein recht gutes Zeichen für ordentliche Wissenschaft besonders dann, wenn die plausible Vermutung nachher nicht rauskommt.

    [1]Wobei der „Tagesbedarf“ bei den „Kalorien“ nochmal besonderer Mumpitz ist: der „Brennwert“, der dort angegeben ist, ist genau das, ein Brennwert. Das Futter wird getrocknet und verbrannt, um auf „die Kalorien“ zu kommen. Am Beispiel von Holz oder Rohöl ist, glaube ich, gut einsichtig, dass das nur in Ausnahmefällen viel zu tun hat mit dem, was der menschliche Körper daraus an Bewegung oder Fett machen könnte. Sprich: Kalorienzählen ist schon von der Datenbasis her Quatsch.
  • Vom Nutzen der Diversität

    Dafür, dass ich das Buch „SARS from East to West“ als „unfassbar langweilig“ beschrieben habe, gibt es schon ziemlich viel her, denn nach meiner ersten Besprechung hat es mit den bekannten Szenarien ja schon einen zweiten Post abgeworfen. Und jetzt gleich noch einen. Wenn ich kurz drüber nachdenke – eigentlich ist das ein Kennzeichen von Wissenschaft: Weite Strecken von mühsamer Langeweile unterbrochen von aufregenden Erkenntnissen, die mensch unbedingt gleich mitteilen möchte. Hm.

    Heute jedenfalls will ich auf eine Geschichte aus Kapitel 8 des Buchs hinweisen. In diesem beschäftigen sich Joan Deppa, Andrew Seaberg und Grace Han Yao (die die Arbeit an der „School of Public Communications“ in Syracuse, NY gemacht haben und danach Public Communications-Profin, Investmentheini und Marktforscherin geworden sind) mit dem öffentlichen Nachrichtenfluss im Verlauf der SARS-1-Pandemie von 2003. Während nämlich, wie neulich zusammengefasst, spätestens seit dem 1. März 2003 in Ostasien klar war, dass eine ungewöhnliche Krankheit umging, tauchten in „westlichen“ Medien (Deppa et al haben CNN, die New York Times und die Washington Post untersucht) die ersten „richtigen“ Geschichten zu SARS erst nach der weltweiten Warnung der WHO am 15. März auf, auf die Titelseite der NYT hat es SARS gar erst am 7. April geschafft.

    Als am 23.2.2003 die kanadische Touristin, die sich nahe dem Zimmer 911 angesteckt hatte, in Toronto landete, wussten aber dennoch KanadierInnen von SARS: In Vancouver und Toronto lebten schon damals viele Menschen, die sich mehr oder weniger als chinesische Expats verstanden und insbesondere chinesischsprachige Zeitungen mit chinesischen Meldungen lasen. Eine von ihnen war Agnes Wong, die in eben dem Krankenhaus arbeitete (dem Scarborough Grace), in das die Touristin eingeliefert worden war. Als sich deren Sohn am 7. März ebenfalls mit einer schlimmen Lungensymptomatik in der Notaufnahme vorstellte, erinnerte sich Wong an einen Artikel aus der in Toronto erscheinenden Sing Tao (eine der erwähnten Expat-Zeitungen), in dem über SARS-Fälle in Hong Kong berichtet worden war. Und dann ging es so weiter:

    Die ursprüngliche Diagnose des Patienten im Scarborough Grace-Krankenhaus war Tuberkulose gewesen [...] Wong jedoch verständigte die Nachtschwester und bat sie, die Reiseanamnese der Mutter des Patienten zu prüfen. Sie erfuhr bald, dass die Mutter in Hong Kong gewesen und krank zurückgekommen war. Wong drängte die Pflegekräfte, den ärztlichen Dienst zu verständigen. Und so, das jedenfalls ist die Darstellung des Fernsehsenders CBC und der Zeitung Toronto Star, wurde der erste Fall von SARS in Kanada gefunden.

    Sollte euch mal wer fragen, was die Sache mit der Diversität – die ja tatsächlich so oft in Reden von Marktradikalen vorkommt, dass mensch ins Grübeln kommen mag – soll: Vielleicht erinnert ihr euch an diese Geschichte.

    Und wo ich schon über das Buch schreibe, kann ich vielleicht noch einen schnellen Nachtrag zum bekannten Szenario-Post loswerden in dem ich ja spekuliert hatte, dass die Murdoch-Presse in Kanada ähnlich destruktiv agiert haben könnte wie Springer hier. In der Tat findet sich im siebten Kapitel des Buchs (das vor allem eine Verhältnismäßigkeitsabwägung der Isolationsmaßnahmen vornimmt) folgende Passage:

    Ganz besonders die konservative Presse spielte die Bedrohung durch SARS anfänglich herunter. Die Unterstellung war, alarmistische Berichterstattung über kleinere Probleme diene vor allem dazu, Zeitungen zu verkaufen und die Forschungsbudgets nordamerikanischer Universitäten zu erhöhen.

    Wie gesagt: Bekannte Szenarien.

  • Nicht schon wieder!

    Ich habe heute an einer Kundgebung, nun, gegen den Krieg in der Ukraine auf dem Heidelberger Uniplatz teilgenommen, und zwar so:

    DemoteilnehmerIn mit Schild: „1914 – 2022 – Nicht schon wieder Kriegskredite”

    Ich kann leider nicht sagen, dass ich mich in der großen Menge – es werden so um die 1000 Menschen gekommen sein – sonderlich wohl gefühlt hätte, schon, weil fast alle, die da waren, es im Januar 2020 nicht für nötig befunden hatten, gegen den unfassbaren, thematisch natheliegenden, jedoch die eigene Regierung angehenden Skandal auf die Straße zu gehen, dass „wir“ Nuklearwaffen einsetzen wollen. Jedenfalls waren wir bei der Demo damals vielleicht 20 Leute. Mir wäre schon etwas wohler, wenn zu beiden Anlässen je 500 gekommen wären.

    Unschön war aber vor allem, dass in den Redebeiträgen durchweg von der „Solidarität mit der Ukraine” die Rede war. „Solidarität” wird, auf Länder gerichtet, ein gefährliches Konzept, ganz genau wie bei einer Mischung mit „Volk“, zu dem Bertolt Brecht (der 1914 selbst noch patriotische, kriegsbegeisterte Gedichte geschrieben hatte – Besinnung ist wichtig) einst ausführte:

    Wer in unserer Zeit [ok, das war 1935] statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik. Das Wort Volk besagt eine gewisse Einheitlichkeit und deutet auf gemeinsame Interessen hin, sollte also nur benutzt werden, wenn von mehreren Völkern die Rede ist, da höchstens dann eine Gemeinsamkeit der Interessen vorstellbar ist. Die Bevölkerung eines Landstriches hat verschiedene, auch einander centgegengesetzte Interessen, und dies ist eine Wahrheit, die unterdrückt wird.

    Solidarisch will mensch also sein mit den Menschen in der Ukraine, und diese sollten im Augenblick vernünftigerweise mindestens ein gemeinsames Interesse haben: Der Krieg muss möglichst schnell aufhören. Ein im Wesentlichen unausweichliches Korollar davon ist: die Waffen müssen raus. Wer die Regierung stellt, ist demgegenüber ganz sicher sehr zweitrangig (und zudem Brechts entgegengesetzten Interessen unterworfen). In jedem Fall bleibe ich dabei, dass für eine Regierung kein einziger Mensch sterben sollte.

    Nur zur Klarheit, weil das Dementi des Putinverstehens ja derzeit zum guten Ton gehört: Mein Problem ist nicht das allgemeine Sentiment, dass Putin ein Schurke ist. Das ist er, und beileibe nicht nur, weil er einen Krieg angefangen hat. Um so mehr bleibt übrigens ein Imperativ, Edward Snowden die Rückkehr in eine etwas freiere Gesellschaft zu ermöglichen – dass „wir“ ihn in Russland verrotten lassen, ist niederschmetternde Undankbarkeit. Zum Krieg als Totalausfall der Zivilisation hatte ich mir in Töten und Massenschlachten schon einige Empörung von der Seele geschrieben, die ganz genau so natürlich auch russischen Potentaten und, igitt, Ex-Geheimdienstlern gilt.

    Mit dem durch die gegenwärtigen Medienlandschaft geprägten Gefühl, meine Pappe enthalte nicht genug derartiger Klarstellung, bin ich mit einigen Bedenken zur Kundgebung gegangen. Um so angenehmer war ich überrascht von der durchweg positiven Aufnahme meiner Parole vom „Nicht schon wieder Kriegskredite“: mehrere TeilnehmerInnen sind extra zu mir gekommen, um mir ihre Unterstützung auszusprechen, etliche haben Transpi-Portraits geschossen, einer hat sogar Szenenapplaus gegeben, nicht eineR hat nasegerümpft.

    Es ist beruhigend zu wissen, dass die Erinnerung an die Geschichte der Kriegskredite von 1914 noch vielfach wach ist, Und daran, wie sich SozialdemokratInnen (zu denen sich in der heutigen Wiederholung offenbar auch ziemlich viele LinksparteigängerInnen gesellt haben) diese damals durchaus nicht nur rein patriotisch zurechtlogen: „aber wir müssen uns doch wehren gegen das finstere, reaktionäre Zarenreich“, „…die Liberalen aus England, die uns unsere Sozialversicherungen wegnehmen wollen“. Das ist wieder ein Gesicht der autoritären Versuchung: „Wenns schon keine gute Lösung gibt, dann lasst uns wenigstens Gewalt versuchen“.

    Das ist, so viel lehrt die Geschichte, eigentlich immer falsch – Ausnahmen von dieser Regel sind so rar, dass sie wahrscheinlich niemand, der_die das hier liest, je erleben wird.

    [1]Ich kann der Beobachtung nicht widerstehen, dass sich „unsere“ und „ihre“ Operationen selbst im Timing ähneln. Wir: Separation des Kosovo mit dubiosen „Freiheitskämpfern“ 1999, diplomatische Anerkennung gegen den Willen der Gegenseite nach neun Jahren im Jahr 2008. Sie: Separation des Donbas mit dubiosen „Freiheitskämpfern“ 2014, diplomatische Anerkennung gegen den Willen der Gegenseite nach acht Jahren 2022.
  • Es war nicht die Inflation

    Im Hintergrund Politik vom 2.2.2022 am Deutschlandfunk war zu hören:

    [Die „Stabilitätsorientierung“ der Bundesbank] hat auch historische Gründe: Die Erfahrungen der galoppierenden Inflation zum Ende der Weimarer Republik prägen die Deutschen auch fast ein Jahrhundert danach noch.

    Das ist sachlich falsch. „Zum Ende der Weimarer Republik“ herrschte Deflation. In der Tat trug diese auch nach Einschätzung konservativer Wirtschafts„wissenschaftler“Innen ganz gewiss dazu bei, dass die Weltwirtschaftskrise im Gefolge des Schwarzen Freitags ein gutes (na ja, schlechtes) halbes Jahrzehnt anhielt. Es war diese Beobachtung, die John Maynard Keynes zu seiner nach Maßstäben der Disziplin erstaunlich vernünftigen Wirtschaftstheorie brachte und auch den New Deal in den USA inspirierte.

    Nun könnte mensch einen xkcd 386 aufrufen und weitergehen:

    Aber ganz so einfach ist es hier vielleicht doch nicht, denn es schwingt in der Aussage ein höchst destruktiver Subtext mit, in etwa „die Inflation hat Hitler gemacht“. Nein: Die galoppierende Inflation im deutschen Reich fand 1923 statt und hatte im Wesentlichen nichts mit Wirtschaftspolitik zu tun, dafür aber viel mit durchgedrehtem Nationalismus auf mehreren Seiten (vgl. Ruhrbesetzung). Danach kam zunächst die auch rückblickend jedenfalls kulturell erstaunlich liberale Zeit der „goldenen Zwanziger“, während der NSDAP und DNVP zusammen bei Wahlen so im Bereich der heutigen AfD abschnitten.

    Der Subtext von Faschismus-durch-Inflation ist an dieser Stelle fast sicher keine bewusste Manipulation, denn Brigitte Scholtis, die Autorin der Sendung, mag selbst Weltwirtschaftskrise und Inflation vermengt oder jedenfalls nicht darüber nachgedacht haben.

    Er ist dennoch ein Symptom für die bleibende Lüge der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die NS-Herrschaft war kein Unfall, keine Folge von „wachsender Zerrissenheit der Gesellschaft“ oder gar der bolschewistischen Sowjetregierung. Nein, sie war offensichtlich Folge der Tatsache, dass die Eliten der Weimarer Republik in Justiz, Polizei, Militär, Wirtschaft und zu guten Stücken auch Politik (nicht jedoch in der Kultur) in ihrer überwältigenden Mehrheit völkisch, nationalistisch, autoritär und jedenfalls rabiat antikommunistisch dachten. Sie teilten das NS-Programm – eingestandenermaßen fast durchweg mit weniger eliminatorischem Antisemitismus – von Anfang an. Das war und ist eine unbequeme Wahrheit für die Befreiten von 1945 und danach, die sich ja sehr häufig in der Tradition dieser Eliten sahen.

    Diese Wahrheit anzuerkennen würde helfen, solche scheinbar kleinen Fehler zu vermeiden – und auch ganz gewaltige Fehler wie die Extremismustheorie, die es ohne planmäßige Leugung dieser unschönen Geschichte vermutlich gar nicht gäbe.

  • Ein bekanntes Szenario

    Was die Submikrometer-Filtermasken nach N95 [in der EU: FFP2] angeht, illustriert dies viele der logistischen und planerischen Probleme, die die Antwort [auf den Krankheitsausbruch] im Großraum Toronto unterminierten. Unmittelbar nach dem Ausbruch war die Nachfrage nach Masken verständlicherweise groß; die kanadischen Lieferanten waren, da sie zuvor keinen Vorrat angelegt hatten, rasch ausverkauft. Krankenhäuser mussten sich bei ausländischen Herstellern vesorgen, aber wegen der weltweiten Bedrohung durch SARS war es sehr schwierig, Masken aus anderen Ländern zu beschaffen.

    Das ist kein Text von 2020. Dieser Text wurde (ausweislich der spätesten Zitate) kurz nach 2005 geschrieben und ist in dem 2011 erschienenen Band „SARS from East to West“ von Olsson et al enthalten, von dem ich letztes Wochenende erzählt habe. Wann immer ich eine hinreichende Bürokratesischtoleranz – wenn ihr die Textbeispiele hier modulo meiner Übersetzung bröselhölzern findet: der Rest des Buchs ist schlimmer – aufgebaut habe, gebe ich mir weitere Kapitel, und jetzt gerade habe ich Kapitel 6 gelesen. Darin beschäftigen sich Dan Markel und Christopher Stoney mit dem SARS-Ausbruch im Großraum Toronto, der Greater Toronto Area (GTA).

    Mensch sollte dabei im Kopf haben: Nach heutigen Maßstäben war der SARS-1-Ausbruch von 2003 winzig. Es gab nur zwischen Ende Februar und und Anfang Juli überhaupt Fälle außerhalb von Guangzhou, und in Kanada, dem mit Abstand am schwersten betroffenen Land im „Westen“, wurden am Ende 251 Fälle mit 43 Toten gezählt. Das ist, grob gesagt, ein zehntel Promille von SARS-2. Faktoren wie 10 − 4 illustriere ich immer gerne mit Zeit: Wenn SARS-2 ein Jahr ist, ist SARS-1 eine Dreiviertelstunde.

    Lokal allerdings kam es doch zu messbaren Inzidenzen, denn die große Mehrheit der kanadischen Fälle waren Folge der ursprünglichen Einschleppung aus Zimmer 911 und konzentrierten sich daher um Toronto herum. Trotz der dramatisch anderen Größenordnungen muss es sich nach Darstellung von Markel und Stoney dort ziemlich angefühlt haben wie in der BRD im März 2020, bevor der Podcast mit Christian Drosten online ging:

    Die Unfähigkeit, Information zutreffend und wirkungsvoll zu veröffentlichen, fachte Verwirrung und Panik an: War SARS infektiös oder nicht? Konnte man sich wie bei einer Erkältung anstecken oder nicht? War SARS unter Kontrolle oder nicht? Im Ergebnis wurden bei den täglichen Pressekonferenzen zu viele Meinungen über das aktuelle Geschehen öffentlich geäußert.

    Leider diskutiert das Buch nicht, was die Medien anschließend mit den Themen aus den Pressekonferenzen gemacht haben, denn ich wäre überrascht, wenn in Kanada die Murdoch-Presse nicht ähnlich verheerend gewirkt hätte wie hier die Springer-Presse. Die schlimmste Presse-Schelte, zu der sich die Autoren des Kapitels durchringen konnten, ist:

    Die sich aus den Schwierigkeiten bei der Informationsverbreitung ergebende Verwirrung und Fehlinformation verschäfte sich noch durch permanente Anfragen, 24 Stunden am Tag, Minute für Minute. Dies war eine wesentliche Behinderung der Bemühungen einer kleinen, überarbeiteten Belegschaft dabei, die zur Bekämpfung von SARS nötige epidemiologische Information zu sammeln, zu analysieren, zu interpretieren und zu verteilen.

    Auch das Lamento über schlechte EDV-Infrastruktur klingt wie vom letzten Jahr:

    Das Fehlen eines effektiven Überwachungssystems auf Provinz- wie gesamtstaatlicher Ebene, einer gemeinsamen Datenbank und eines gemeinsamen Informationssystems für meldepflichtige Infektionskrankheiten hat die Versuche unterminiert, Bedürfnisse zur Datensammlung zu befriedigen und die rasche Meldung von Infektionstätigkeit sowohl zwischen als auch innerhalb von Verwaltungseinheiten zu erleichtern.

    Tatsächlich hat jede der vier Public Health-Stellen innerhalb des Großraums Toronto ihr eigenes Erhebungssystem entwickelt und band sich fest an jeweils spezifische und unverträgliche Erhebungs- und Auswertungsmethoden, obwohl das erhebliche Probleme verursachte.

    Angesichts der mikroskopischen Zahlen frage ich mich ein wenig, wie diese Leute Zeit hatten, sich in ihre jeweiligen Systeme zu verlieben, denn bei allenfalls ein paar hundert Fällen insgesamt konnten diese ja wohl nicht viel genutzt worden sein; aber gut, wenn noch ein paar tausend Quarantänefälle dazu kommen…

    Vielleicht sind die kleinen Zahlen auch der Grund, warum dort nicht aufgefallen ist, was nach zwei Jahren SARS-2-Surveillance längst auf der Hand liegt: Wichtiger als die Totalerfassung und der rasche Umgang mit großen Datenmengen ist eine wohldefinierte Datenerhebung. Blind alle Fälle zählen („Inzidenz“) sagt ganz offenbar nichts, wie allein schon der Vergleich von diesem Januar (eigentlich ziemlich cool bei 1500/100'000) mit dem vor einem Jahr (ziemliches Gemetzel bei 250/100'000) zeigt. Um zu einer irgendwie sinnvollen Einschätzung des Geschehens zu kommen, braucht es zumindest noch Daten zu Vollständigkeit, Alters- und Sozialstruktur, Virusprofil, Impfstatus und Übertragungswegen, sehr wahrscheinlich noch deutlich mehr.

    Da eine Vollerfassung dieser Daten nicht nur praktisch unmöglich wäre, sondern auch ein Datenschutzalptraum würde, so dass wiederum viele Menschen – wahrscheinlich auch ich – das Ergebnis durch kleine Lügen unbrauchbar machen würden, wäre es rundherum viel hilfreicher, ein (relativ) kleines Sample zu ziehen, dessen Bias gut untersucht ist. Dieses könnte dann unter sorgfältiger Datenschutzkontrolle genau studiert werden, gerade im Hinblick auf die tatsächlichen Infektionsketten, deren Kenntnis ja z.B. zur Beurteilung der wirklich nützlichen „Maßnahmen“ letztlich entscheidend wäre. Das große Vorbild für eine hochnützliche „small data“-Operation in diesem Bereich ist die AGI-Surveillance, von der ich Ende Januar schon mal geschwärmt habe.

    Jedenfalls: irgendwas in der Art von „Wir saßen auf einem Berg schlechter Daten und hätten eigentlich einen Klumpen guter Daten gebraucht“ hätte ich halb erwartet, und das kommt bei Markel und Stoney nicht. Vielleicht wegen der kleinen Zahlen, vielleicht, weil meine Überlegungen im Public Health-Bereich nicht zutreffen, vielleicht, weil die Leute andere Sorgen hatten.

    Ein für PolitologInnen naheliegendes Thema für Sorgen könnten die länderfürstlichen Stunts sein, zuletzt spektakulär die faktische Aussetzung der Impfpflicht von Beschäftigten im Gesundheitswesen durch Markus Söder. Auch sowas gab es schon 2003 in Kanada:

    Unstimmigkeiten zwischen den Zuständigen auf Gemeinde- und Provinzebene führten auch zu Doppelungen von Verantwortlichkeiten und Aufgaben. [...]

    Daher blieb unbeanwortet, wer die verantwortlich war für: die Klassifikation eines Falls; die Erteilung von Anweisungen an Krankenhäuser; die Festlegung von Konsequenzen, wenn die Anweisungen nicht befolgt wurden; die Bestimmung, welche Daten von wem an wen übertragen werden müssen; die Definition, welche Daten in welchem Ausmaß und zu welchem Zweck zwischen öffentlicher Verwaltung und privaten ExpertInnen ausgetauscht werden dürfen; die Benachrichtigung von Verwandten, dass einE AngehörigeR als ein wahrscheinlicher Fall klassifiziert wurde; die Abwägung, ob Datenschutzrechte der Informationsweitergabe, die zur Kontrolle und Verhütung der weiteren Ausbreitung von SARS nötig war, entgegenstehen.

    Auch die verbreitete Erfahrung – gerade bei Lehrkräften an Schulen, aber auch unsere Vewaltung an der Uni hat häufig geseufzt –, nach der die Vorstellungen der Mächtigen, was nun gerade gelten sollte, wahlweise am Vorabend oder gar nicht ankamen, ist nicht neu:

    Tatsächlich wurden die Menschen, die an der Gesundheitsfront und/oder in Hochrisiko-Umgebungen, etwa Bildungseinrichtungen, Gemeindezentren, Altenheimen, kirchlichen oder privatwirschaftlichen Einrichtungen arbeiteten, nie direkt über wichtige Entwicklungen informiert.

    Nach all dem: Haben diese Untersuchungen der kanadischen Regierung geholfen, mit SARS-2 besser fertig zu werden als andere westliche Länder, die ja keine nennenswerten Erfahrungen mit SARS-1 hatten?

    Leider ist Kanada nicht von Aburto et al (vgl. Trifft die Menschen hart …

  • Heldin: Luise Zietz

    Das DLF-Kalenderblatt vom 27. Januar erinnerte an Luise Zietz, die 100 Jahre zuvor gestorben war. Zietz war die erste Frau im Vorstand einer deutschen Partei – der SPD, ab 1908. Der DLF-Beitrag berichtete auch:

    Während des Ersten Weltkriegs sprach sich Luise Zietz als Pazifistin gegen die Bewilligung von Kriegskrediten aus und wurde aus dem SPD-Parteivorstand geworfen.
    Altes Foto mit Personen drauf

    Luise Zietz neben Friedrich Ebert, im SPD-Parteivorstand von 1909; es ist Zietz hoch anzurechnen, dass sie nicht mehr neben Ebert stand, als dieser mit Wehrmacht und Freikorps die fortschrittlichen Aufstände am Anfang der Weimarer Republik niedermetzeln ließ (Quelle).

    Gerade dieser Punkt hat mir imporiert, zumal ich, bevor diese Sendung in meinem aynchronen Radio kam, den großen patriotischen Taumel in den Informationen am Morgen vom Dienstag miterleben musste. In diesem kamen, soweit ich ihn verfolgt habe, nur Leute zu Wort wie Jürgen Hardt (der immerhin nur die blinde Gewissheit des Patrioten an den Tag legte, „wir“ seien die Guten) oder wie Michael Gahler (der sich zu „totaler Kriegserklärung“ und „völkisch-faschistischem Verständnis“ verstieg – wo sind die Mahner gegen kreischkrumme Vergleiche, wenn mensch sie braucht?) – jedoch niemand, der_die mal über die Symmetrie der Situation geredet hat, dass „wir“ nämlich nicht nur aus russischer Sicht in etwa ebenso schurkig sind wie „sie“, und dass wirklich niemand die doofen Turf Wars zwischen verschiedenen Schurkengangs haben will. Dass die Moderatorin penetrant Bekenntnisse ausgerechnet zu Waffenlieferungen einforderte, tat ein Übriges: Ich sehnte mich intensiv nach aufrechten Pazifistinnen.

    Wie schön wäre es da gewesen, wenn es im SPD-Parteivorstand von 1914 wirklich eine gegeben hätte, die Liebknechts einsame Ablehnung der Kriegskredite – und es wird heute wohl niemand mehr bestreiten, dass er im ganzen weiten Reichstag der einzige war, der sich in dieser Sache vor der Geschichte nicht verstecken muss – unterstützte und dafür noch mit ihrem Amt bezahlt hat.

    Nun, wie die oben zitierte Kurzbiografie zeigt, war das leider nicht so:

    Zwar hatte Luise Zietz 1912 in ihrem Buch Die Frauen und der politische Kampf dazu aufgerufen, sich gegen den drohenden Krieg zu stellen, doch an der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz 1915 in Bern, die vom Parteivorstand nicht gebilligt worden war, nahm sie nicht teil. Im Laufe der ersten beiden Kriegsjahre scheint sich ihre Einstellung jedoch geändert zu haben. Sie äußerte sich seither deutlich kritischer zur Burgfriedenspolitik der SPD und stellte ihre Mitarbeit im Nationalen Frauendienst ein.

    Zietz war 1914 mit dem ganzen Parteivorstand im patriotischen Taumel und ist mit der SPD in den Krieg gezogen. Ich fühle mich fast versucht, ihre Wikipedia-Seite, die derzeit das verkürzte Narrativ des DLF übernommen hat, diesbezüglich zu verbessern. Aber immerhin hatte sie Augen im Kopf und ein Mindestmaß an Mitgefühl, und so hat sie schließlich ihren Fehler eingesehen. 1917 hat sie die USPD mitgegründet, was durchaus als erfolgreicher Beitrag zur Dämpfung von Patriotismus und mithin zur Verkürzung des Gemetzels gelten darf. Zudem hat sie später als USPD-Abgeordnete erfreulichen Klartext geredet, etwa als die Ebert-SPD von Mutterschutz und elementaren Beschäftigtenrechten bei Krankheit nichts mehr wissen wollte: „Kapitalsinteressen wurden höher bewertet als warmes Menschenleben“.

    Luise Zietzs anfängliche Unterstützung des ersten Weltkriegs ist schon ein wenig erschütternd, zumal sie vor der nationalen Erregung von 1914 offenbar recht vernünftige Ansichten zur Nation und dem Töten für diese geäußert hat. Aber die Demonstration, dass mensch sich von Kriegspolitik abwenden kann, dass mensch bereit ist, für die Einsicht in die eigene patriotische Verblendung auch einen Posten im Parteivorstand aufzugeben: Davon bräuchte es heute erneut viel mehr, hier bei „uns“ wie auch bei all den „sie“-s rund um den Globus. Weil Zietz diese Großtat 1917 hinbekommen hat, ist sie durchaus eine echte Heldin; vielleicht etwas gebrochen, aber doch Heldin.

  • Mutt says: “error encrypting data: Unusable public key”

    Today, I replied to an encypted mail, and right after the last “yes, go ahead, send this stuff already”, my mail client mutt showed an error:

    error encrypting data: Unusable public key
    

    Hu? What would “unusable” mean here? The message when all PGP keys are expired looks quite a bit different. And indeed, the key in question was not expired at all:

    $ gpg --list-keys person@example.net
    pub   rsa4096/0xDEEEEEEEEEEEEEEE 2015-03-21 [SCA] [expires: 2023-02-01]
          FINGERPINTWITHHELDFINGERPRINTWITHHELDFIN
    uid                   [  full  ] Person <person@example.net>
    

    – this should do for another year or so. Or should it?

    Feeding the message to a search engine brings up quite a few posts, most of them from times when keyservers would mess up subkeys, i.e., the cryptographic material that is used to actually encrypt stuff (as opposed to the main key that usually just authenticates these subkeys).

    This obviously did not apply here, since keyservers have long been fixed in this respect. But subkeys were the right hint. If you compare the output above with what such a command will output for the feedback key for this blog:

    $ gpg --list-keys zuengeln@tfiu.de
    pub   rsa3072/0x6C4D6F3882AF70AD 2021-01-28 [SC]
          60505502FB15190B10DBF1436C4D6F3882AF70AD
    uid                   [ultimate] Das Engelszüngeln-Blog <zuengeln@tfiu.de>
    sub   rsa3072/0x3FCFC394D8DF7140 2021-01-28 [E]
    

    you'll notice that the Person's key above does not have a sub line, i.e., there are no subkeys.

    How can that happen? Gnupg won't create such a thing without serious amounts of coercion, and such a key is largely useless.

    Well, it turns out it doesn't happen. The subkeys are there, gnupg just hides them because that's what it does with expired subkeys by default. If you override that default, you'll get:

    $  gpg --list-options show-unusable-subkeys --list-keys person@example.net
    pub   rsa4096/0xDEEEEEEEEEEEEEEE 2015-03-21 [SCA] [expires: 2023-02-01]
          FINGERPINTWITHHELDFINGERPRINTWITHHELDFIN
    uid                   [  full  ] Person <person@example.net>
    sub   rsa4096/0xEEEEEEEEEEEEEEEE 2015-02-01 [E] [expired: 2020-01-31]
    sub   elg4096/0xEEEEEEEEEEEEEEEE 2020-02-01 [E] [expired: 2022-01-31]
    

    So, that's the actual meaning of the error message about „Unusable public key“: “No usable subkey”.

    What's a fix for that? Well, for all I know you cannot force gnupg to encrypt for an expired key, so the way to temporarily fix things (for instance, to tell people make their keys permanent[1]) is to turn the clock. There's the nice program faketime that just changes the time for whatever runs below it. That's great because on modern computers, changing the system time has all kinds of ugly side effects (not to mention you'd have to kill the ntpd that your computer quite likely runs to keep your computer's clock synchronised with the rest of the world).

    Since I'm using mutt as a mailer, I'd use faketime like this:

    faketime 2022-01-31 mutt
    

    I'm fairly confident this would work with, say, thunderbird as well, though it might be a problem if the times of an X server and client are dramatically different.

    But that's really no substitute for an updated key: In most people's mailboxes, such mails will be way down in the swamp of rotting mails from one month ago[2] And mail servers sometimes refuse to transport mail that's so far from the past.

    Then again, to my own surprise, everytime I had to go to such extremes because I didn't have a non-expired key, the recipients eventually noticed.

    [1]Let me again advertise non-expiring keys. The main arguments for these are that (a) essentially nobody directly attacks keys, so it really doesn't matter if a key is used for a decade or more, and (b) PGP is hard enough for muggles even without auto-destructing keys. The net effect of expiring keys on privacy is thus negative, because they keep people off using PGP and even trying to understand crypto. And you can always revoke keys, in particular when we have educated people to now and then sync their keyring with keywervers.
    [2]As a side note: While inbox zero sounds to much like one of those market-radical self-improvement fads to me, I've been religious about less-than-a-page inbox for the past decade or so and found it did improve a relevant part of my life.
  • SARS-1 und das Zimmer 911

    Buchcover

    Ich lese gerade „SARS from East to West“, einen Sammelband von Artikeln zu den Ausbrüchen von SARS-1 zwischen 2002 und 2004, den Eva-Karin Olsson and Xue Lan 2012, also lang, bevor jemand etwas von SARS-2 ahnte, herausgegeben haben (ISBN 978-0-7391-4755-9, gibts auch in der Imperial Library). Es handelt sich wohl um eine Art Abschlussband eines wissenschaftlichen Projekts irgendwo zwischen Politologie, Zivilschutz und Militärforschung, das in einer Kooperation zwischen einigen schwedischen Regierungsstellen und einer Handvoll, nun, regierungsnahen Bildungseinrichtungen aus China bearbeitet wurde.

    Das Ergebnis ist über weite Strecken unfassbar langweilig. Die AutorInnen beschäftigen sich seitenweise damit, welche Verwaltung wann mit welcher anderen geredet hat oder wer wann zurückgetreten ist oder wer vielleicht Gesichter verloren haben könnte. Manchmal habe ich mich gefragt, ob es Leute gibt, denen sowas ähnlich viel Freude macht wie AstronomInnen ihre Sterne – oder ob die Motivation, PolitologIn zu werden, vielleicht ganz anders aussieht als unser „ich will doch nur spielen“.

    Andererseits fühle ich mich gleich daheim, wenn das Buch den WHO-Mitarbeiter Peet Tüll wiedergibt. Dieser hat während des Ausbruchs mit der chinesischen Seite die Maßnahmen zur Bekämpfung der hochkochenden Epidemie diskutiert, wozu im Buch zu lesen ist:

    Treffen und Verhandlungen zwischen der WHO und ihren chinesischen Partnern waren entweder formell oder informell […] Formelle Verhandlungen waren zäh und hoch politisiert. […] Während der informellen Treffen waren die Chinesen zugänglicher. [Diese] drehten sich um Problemlösungen […] Wenn ein chinesischer Partner sich auf ein informelles Treffen einließ, änderte sich die Frage von einer politischen zu einer sachlichen.

    (Kapitel 5; Übersetzung von mir). Das deckt sich komplett mit meiner Erfahrung im (wie eben eingestanden durchaus anders gestrickten) Bereich der Astronomie: Je mehr Arbeitsebene, je weniger Management, desto produktiver. Was mal wieder die Frage aufwirft, warum daraus niemand die offensichtlichen Schlüsse zieht…

    Das Zimmer 911

    Richtig Neues habe ich aus der Chronologie des Ausbruchs gelernt. Verglichen mit SARS-2 war SARS-1 ja ein recht beschränktes Geschehen mit gut 8000 bestätigten Infizierten und knapp 800 auf SARS-1 zurückgeführten Toten[1], und so konnten Infektionsketten vielfach genau nachvollzogen werden. Die für mich Spannendste war die vom Zimmer 911 (das Schicksal ist numerologischen VerschwörungstheoretikerInnen ganz offensichtlich gewogen) im Hotel Metropole in Hong Kong ausging.

    Das ging so: Nachdem SARS-1 schon seit November 2002 im Hinterland von Hong Kong, der Provinz Guangdong, herumgegangen ist, reist am 21.2.2003 – ein Freitag – der 64-jährige Arzt Liu Janlun von dort nach Hong Kong und bezieht dieses Zimmer 911, um an einer Familienfeier teilzunehmen. Zunächst ist er etwas mit seinem Schwager in der Stadt unterwegs, verbringt dann aber einige Zeit im Hotel. Dort halten sich auch eine 78-jährige Touristin aus Toronto, ein 48-jähriger US-chinesisicher Geschäftsmann und drei junge Frauen aus Singapur auf. Genauer: Sie alle wohnen im 9. Stock des Metropole.

    Schon am nächsten Tag geht es Liu Janlun so schlecht, dass er ins Kwong Wah-Krankenhaus geht und, da er selbst vorher SARS-Fälle behandelt hatte, das Personal dort warnt, er könnte „eine sehr ansteckende Krankheit“ haben. Nach zehn Tagen Krankenhausaufenthalt, am 4.3., stirbt er an den Folgen seiner untypischen Lungenentzündung.

    Sein Schwager entwickelt bis zum Dienstag (25.2.) erhebliche Symptome einer Lungenerkrankung und begibt sich zunächst ebenfalls ins Kwang Wah-Krankenhaus. Er wird wieder entlassen, muss am 1.3. aber erneut aufgenommen werden und stirbt schließlich am 19.3. an SARS (das zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht als solches erkannt ist und auch nicht so heißt).

    Die kanadische Touristin fliegt am Sonntag zurück nach Toronto. In Kanada entwickelt sie recht bald Symptome und stirbt am 5.3. Fünf ihrer Familienmitglieder stecken sich an und werden in der Folge ebenfalls in Krankenhäuser aufgenommen. Das erste SARS-Todesopfer, das sich in Kanada angesteckt hat, ist der 44-jährige Sohn der Touristin.

    Auch der Geschäftsmann reist am Sonntag ab. Seine nächste Station ist Hanoi, wo er am 26.2. ins Französische Krankenhaus eingeliefert wird. Er braucht rasch Intensivbetreuung und wird am 5.3. zur Weiterbehandlung zurück nach Hong Kong in das Princess Margeret-Krankenhaus verlegt. Dort stirbt er am 13.3., offenbar, ohne weiteres Personal anzustecken. In Hanoi hingegen entwickeln bis zum 12.3. 26 MitarbeiterInnen des Krankenhauses SARS-Symptome, fünf sind zu diesem Stichtag in kritischem Zustand.

    In Hanoi ist ein Mitarbeiter der WHO, Carlo Urbani, auf den Fall aufmerksam geworden und meldet ihn eine Woche nach dem Freitagabend auf dem Gang im 9. Stock, also am 28.2., als möglichen Fall von Vogelgrippe an das WHO-Büro in Manila, was dort, so steht es in der Chronologie, einen „heightened state of alert“ auslöst.

    Urbani selbst untersucht noch für ein paar Tage in Hanoi die unbekannte Krankheit, bevor er am 11.3. zu einer Konferenz nach Bangkok weiterfliegt. Schon bei der Ankunft ist er so krank, dass er dort ins Krankenhaus eingewiesen wird. Er stirbt am 29.3., ebenfalls an SARS.

    Eine der drei jungen Frauen aus Singapur, die am Dienstag nach dem schicksalhaften Freitagabend dorthin zurückgekehrt ist, wird am folgenden Samstag mit einer schweren Lungenerkrankung in ein Krankenhaus in Singapur eingewiesen; auch die beiden anderen zeigen Symptome.

    Ein Arzt, der sie behandelt hat, fliegt am 15.3. über Frankfurt nach New York City. Da er kurz vor dem Abflug Krankheitssymptome angegeben hat, alarmieren die Behörden von Singapur die WHO, die veranlasst, dass der Arzt sowie seine Frau und seine Schwiegermutter in Frankfurt aus dem Flugzeug entfernt werden. Die Familie kommt dort in Isolation, so dass sogar die BRD ein wenig SARS abbekommt; SARS-1 beschränkte sich hier aber auf insgesamt 9 Fälle, die alle glimpflich ausgingen (zum Vergleich: In Kanada starben von 251 bekannten Infizierten 43).

    Die Wikipedia berichtet, dass 4000 SARS-Erkrankungen – und damit die Hälfte der bekannten Gesamtzahl – auf diesen Freitagabend im Metropole-Hotel zurückgehen. Diese Geschichte war den Leuten, die an der SARS-2-Prävention im März 2020 überlegten, sicher vertraut – und sie lässt mich etwas besser verstehen, warum sie Hotels so rasch runterfuhren und später zunächst eher wirr erscheinende Regeln (etwa „mindestens ein leeres Zimmer zwischen zwei vergebenen“) verhängten.

    Allerdings: SARS hätte es sicher auch anders aus Guangzhou herausgeschafft. So ist etwa am 8.3.2003 ein Fall in Taiwan aufgetreten, der sich direkt nach Guangdong zurückverfolgen ließ. Wahrscheinlich war es global gesehen sogar ein Glück, dass SARS-1 durch eine schnelle Ausbreitung in gesundheitlich gut überwachten Kreisen doch recht schnell auffiel.

    Der Erfolg jedenfalls, SARS-1 innerhalb von drei Monaten nach dem Übergang zur Pandemie tatsächlich „besiegt“ zu haben – um mal eines der dümmeren Wörter aus der Corona-Kommunikation aufzunehmen – dürfte wohl auch die sture Entschlossenheit der derzeitigen chinesischen Regierung erklären, SARS-2 aus dem Land zu halten. „Wir haben es schon mal geschafft, das geht bestimmt wieder“. Nun, das war sicher schon im März 2020 eine Illusion, und wahrscheinlich nicht nur, weil SARS-2 schon in der Wuhan-Variante doch regelmäßig ein paar Ecken übertragbarer zu sein scheint als SARS-1. Spätestens jetzt, bei einem Infektionsgeschehen vier Größenordnungen über dem von SARS-1, ist es absurd, anzunehmen, SARS-2 würde in absehbarer Zeit verschwinden.

    Wir haben jetzt fünf humane Coronaviren, und wer sich nicht über Nordkorea-Nivau hinaus abschotten will, wird sie früher oder später laufen lassen müssen. Insofern frage ich mich schon, wie sich die Regierung in Beijing sich das so vorstellt.

    Zur Laborhypothese

    Eine zweite SARS-Geschichte, von der ich vorher noch nichts gehört hatte, betrifft den Ausbruch genau dort, in Beijing, ein Jahr nach der Pandemie. Das SARS-1-Virus war wie gesagt schon im Juli 2003 wieder verschwunden, auch wenn im Januar 2004 in Guangdong nochmal zwei Fälle bekannt wurden – möglicherweise hatten sich diese erneut beim ursprünglichen Wirt angesteckt.

    Am 22.4.2004 (einem Donnerstag) berichtet jedoch das chinesische Gesundheitsministerium, es gebe einen SARS-Fall in Beijing, und fünf weitere Personen zeigten verdächtige Symptome. 171 Kontaktpersonen stünden unter Beobachtung. Am Freitag wird ein weiterer Fall und ein Verdachtsfall berichtet, dieses Mal aus der Provinz Anhui zwischen Beijing und Shanghai. Diese Fälle lassen sich offenbar auffällig nahe an ein Labor der chinesischen Gesundheitsbehörde CCDC zurückführen, so dass schon am folgenden Montag Vermutungen laut werden, die SARS-Viren seien bei einem Laborunfall übertragen worden.

    Die Behörden reagieren schnell und identifizieren Kontaktpersonen an den beiden Orten, was in Anhui auf bis zum folgenden Mittwoch auf 154 Menschen führt. Isolation und Quarantäne führen dazu, dass der letzte bekannte SARS-1-Fall überhaupt einen Monat nach dem Beginn des zweiten Ausbruchs, am 21.5.2004, aus dem Ditan-Krankenhaus entlassen wird. Insgesamt waren 2004 wohl um die 1000 Personen in Isolation und Quarantäne (wenn ich die Chronologie im Buch richtig lese).

    Am 1.7.2004 bestätigte der chinesische Gesundheitsminister Gao Quiang, der Ausbruch sei auf ein Labor der CCDC zurückzuführen gewesen. In der Folge trat der Direktor der CCDC, Li Liming, zurück, vier weitere hochrangige Mitarbeiter wurden entlassen.

    Ich muss sagen, dass ich die Laborhypothese zum Ursprung von SARS-2 im Vergleich zur sehr plausiblen Zoonose (ich bin immer noch leicht traumatisiert von einem Besuch in einem chinesischen Lebensmittel-Supermarkt, der auf den ersten Blick kaum von einem Zoo zu unterscheiden war) nie sonderlich überzeugend fand, auch wenn es schon ein komischer Zufall ist, dass der erste große Ausbruch ausgerechnet in so großer Nähe zum Wuhan Institute of Virology der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (CAS) stattfand. Aber das ist konsisitent mit dem generellen …

  • Eine Sturmfront zieht durch

    Gestern am frühen Abend ist auch bei uns das als „Zeynep“ durch die Presse ziehende Sturmtief angekommen. Ich hatte überlegt, meine CO₂-Messapparatur auf dem Balkon –

    Zwei Eisschachteln beschwert mit einem rostigen Stahlriegel

    (unter der einen Eisschachtel ist ein Raspberry Pi, unter der anderen das zyTemp-Gerät, und die sind getrennt, weil der Raspi durch seine Abwärme die Temperaturmessung sehr stören würde – abzubauen, denn die zwei Eisschachteln, die da den Regenschutz machen, könnten bei hinreichend starkem Wind durchaus die Kraft entwickeln, den Stahlriegel[1], der sie über der Elektronik festhält, wegzuheben. Nun, ich habe die Installation stehen lassen und bin jetzt froh drum, denn so konnte ich den dramatischen Temperatursturz über die stürmische Kaltfront hinweg live beobachten:

    Graph: Ein starker Abfall von 15 auf 8 Grad

    (Die Zeit läuft in UTC, der Sturm begann hier also ziemlich genau um 18 Uhr MEZ).

    Sieben Kelvin Temperatursturz in einer guten halben Stunde finde ich schon ziemlich sportlich. Stickstoff siedet bei normalem Luftdruck bei 77 Kelvin (oder ungefähr minus 200 Grad Celsius angesichts des absoluten Nullpunkts bei -273 Grad Celsius). Wenn das so weitergegangen wäre mit dem Temperaturabfall um 15 Kelvin pro Stunde, würden sich 14 Stunden später, also ungefähr gerade jetzt, die ersten Stickstoffpfützen bilden. Whoa.

    Was mich zur Überlegung bringt, wie wohl die Atmosphäre ausfrieren würde; der Siedepunkt von Flüssigkeiten sinkt ja mit abnehmendem Druck, und weil die Erdatmosphäre Stickstoff plus ein bisschen was ist, wird der Druck sofort dramatisch fallen, wenn er kondensiert. Daher wird der Stickstoff wohl schön langsam nach und nach runterregnen, ganz wie kurz vorher schon der Sauerstoff (der bei 90 Kelvin siedet, aber weil niemand freiwillig mit flüssigem Sauerstoff hantiert, hat dieser Wert weniger Kopfzahl-Potenzial, und „ein wenig über Stickstoff“ ist alles, was ich mir merke), dessen 23% (nach Masse, nach Volumen sind es 21%) ja auch schon ordentlich zum Luftdruck beitragen.

    Das ist beim Kohlendioxid anders: Es würde ohne nennenswerte Änderungen beim Luftdruck ausfrieren und bei knapp 200 Kelvin (oder -70 Grad Celsius) mit etwas Glück hübsche Flocken bilden (es kann erst bei Drücken von über 5 bar überhaupt flüssig werden) und friedlich ausschneien. Ich bin nicht sicher, ob das schon mal wer für den Mars ausgerechnet hat: Schneit es dort CO₂ oder friert es eher wie Reif aus?

    Aber ich schweife ab. Um halb sieben hatte sich gestern abend der rasche Temperaturabfall gefangen, und das ist der zweite bemerkenswerte Punkt: an der Stelle, also nachdem die Front durch war, sank der CO₂-Gehalt der Luft ziemlich schlagartig um 20 ppm oder fünf Prozent. Das finde ich fast noch bemerkenswerter, denn es heißt, dass an der Front selbst nicht viel Materieaustausch stattfindet.

    Dass sich Wetterfronten so ähnlich zu Schockfronten verhalten, war mir bisher nicht klar, und ich habe aus dem Stand keine gute Erklärung, warum das so sein sollte. So eine Wetterfront ist ja doch recht turbulent (kann ich noch aus frischer Erinnerung sagen) und definitiv weit im Unterschallbereich, anders als die Schockfronten bei uns in der Astrophysik, wo sie meist aussehen wie die Filamente, die das HST im Cygnus Loop aufgenommen hat:

    Feine Filamente vor Himmelshintergrund

    Liebe GeophysikerInnen oder MeteorlogInnen: Ich bin dankbar für Lesetipps.

    [1]Wer sich fragt, was das mal war: Kioske hatten (oder haben?) solche Stahltrümmer zum Beschweren von Zeitschriften; wenn sie noch aktiv sind, ist da eine Kunststoffhülle mit Werbung drumrum. Also: Augen auf bei Sperrmüll nach Kioskauflösungen, die Dinger sind wirklich praktisch.
  • Ameisen-Ambulanz in der Pandemie

    Foto

    Da helfen nicht mal mehr Ameisenarmeen: Ein Faultier in einem Cecropia-Baum. Von hier unter GFDL.

    In den Wissenschaftsmeldungen der Forschung aktuell-Sendung am Deutschlandfunk vom 4.1.22 gab es ab Minute 2:50 eine Geschichte einer doch sehr überraschenden Symbiose: Ameisen, so heißt es da, verbinden verletzte Bäume. Nun würde mich so ein Verhalten nicht völlig vom Hocker hauen – ich bin ja ein Feind der Soziobiologie und halte das „egoistische Gen“ für einen methodischen Fehler –, aber Krankenpflege ist schon innerhalb einer Spezies bemerkenswert (gibts bei Ameisen). Geht sie gar über Speziesgrenzen hinaus, weckt das schon meine Neugier. Darum habe ich mir das zugrundeliegende Paper rausgesucht: „Azteca ants repair damage to their Cecropia host plants“ aus dem Journal of Hymenoptera Research, Band 88, doi:10.3897/jhr.88.75855.

    Das erste, was auffällt, ist die Autorenliste: geschrieben haben das Ding Alex Wcislo, Xavier Graham, Stan Stevens, Johannes Ehoulé Toppe, Lucas Wcislo, und William T. Wcislo. Das sind einen Haufen Wcislos, und die Erklärung findet mensch in den Affiliations. William T. ist vom Tropeninstitut der Smithsonian Institution, alle anderen Autoren kommen von der International School of Panama – wo ein Forscher-Expat seine Kinder wohl hinschicken wird – beziehungsweise von der Metropolitan School in Panama.

    In diesem Licht bekommt die Eröffnung des Artikels einen ganz eigenen Charme, der in dem DLF-Kurzbeitrag ganz und gar fehlt (da war nur die übliche Rede von „den Forschenden“):

    One of us (AW) used a sling shot to shoot a clay ball (9 mm diameter) at high velocity through an upper internode of a large Cecropia tree, making clean entry and exit wounds. Within 24 hours both holes were nearly sealed. This anecdotal observation...

    Also: Da hat der kleine Nick^W^W der Sohn des Smithsonian-Biologen mit einer Zwille oder Steinschleuder rumgeballert und hat es geschafft, ein Loch durch ein Internodium, also so eine Art Zweig, zu schlagen; nun, tropische Bäume sind oft relativ weich. Der Lausejunge war aber Professorenkind genug, um genauer hinzuschauen und festzustellen, dass Ameisen am Loch rumlaufen und es offenbar zunähen.

    Daraufhin haben er, seine Freunde und sein Vater ein richtiges Programm aufgelegt, um aus der Anekdote etwas wie Wissenschaft zu machen. Sie haben dazu systematisch Löcher in rund zwanzig Ameisenbäume im Stadtwald („opportunistically selected“ schreiben sie) gebohrt, in denen Aztekenameisen Azteca alfari wohnten. Über deren Symbiose war bisher vor allem bekannt, dass die Bäume Ameisen schicken, wenn andere Tiere an ihren Blättern knabbern. Die Ameisen dürfen dafür in den erwähnten Internodien wohnen (die sind hohl und haben dünne Wände, damit die Ameisen leicht reinkommen) und bekommen darin sogar lecker Futter (na ja, im Zweifel Futter für ihre Blattläuse).

    Und dann haben die Schülis dokumentiert, was passiert. Das war nicht immer einfach, wie sie ehrlich berichten:

    But ants [also die Ameisen, die an einem Loch arbeiteten] were not marked so the total size of the repair force is unknown. […]

    We greatly thank the Cárdenas police patrols for allowing us to work safely outdoors during the early days of a pandemic, and tolerating our activity during severe restrictions on movement.

    Sie mussten sich auch auf junge Bäume beschränken, denn die Ameisen wohnen gerne so weit oben wie möglich und merken dann nicht mehr, was unten vor sich geht, während die Schülis nicht höher als zwei Meter kamen: „we selected internodes as high up as we could reach“.

    Die resultierende Beobachtung mochte dann schon wieder Material für die Ethikkommission sein, denn sooo viel anders als bei den ganz klassischen Begegnungen von Lausbuben und Ameisenhaufen ging es auch nicht ab, jedenfalls aus Sicht der Ameisen: Diese retteten erstmal ihre Brut, bevor sie tatsächlich recht oft und überzeugend die Bohrungen verschlossen. Dieses Gesamtbild aber lässt schon ahnen, dass sie eher ihren Bau reparierten als ihrem Baum medizinische Hilfe angedeihen ließen. Dafür spricht auch, dass der Baum im Anschluss ein eigenes Heilprogramm anwarf und die Wunde komplett mit eigenem Gewebe auffüllte.

    Andererseits: Vielleicht sehen wir hier gerade der Evolution zu, denn es könnte ja sein, dass Bäume, die Ameisen zu besserer medizinischer Versorgung anhalten – und das übliche survival of the fittest[1] würde jetzt dafür sorgen – auch deutlich besser leben als welche, die einfach nur ganz normale Baumheilung machen?

    Was es auch sei: ich war sehr angetan davon, mal ein paar Seiten aus dem Journal of Hymenoptera Research zu lesen. Dafür, dass es solche Publikationen gibt, liebe ich die Wissenschaft.

    [1]Nur zur Sicherheit: nicht des „strongest“ oder sowas.
  • Kopfzahlen: Vulkane, Massen, Volumen

    Foto einer Fumarole

    Meine tatsächliche Erfahrung mit vulkanischem Schwefel geht nicht weit über die paar Gramm hinaus, die die Solfatara an dieser Fumarole abgelagert hat.

    In Forschung aktuell vom 18.1. ging es um den Ausbruch des Hunga Tonga Hunga Ha'apai (spätestens seit dem Ausbruch des Eyjafjallajökull ist klar, dass viele Vulkane großartige Namen haben). Darin hieß es, dass bei der Eruption wohl um die 400'000 Tonnen Schwefeldioxid entstanden sind, und dass das nicht viel sei, weil ein wirklich großer Vulkanausbruch – als Beispiel dient der Pinatubo-Ausbruch von 1991 – 20 Millionen Tonnen Schwefeldioxid emittiert.

    Bei dieser Gelegenheit ist mir aufgefallen, dass mir diese 20 Millionen Tonnen spontan alarmierend wenig sagten. Und drum dachte ich mir, ich sollte mal ein paar Kopfzahlen zu eher großen Massen und – weil ein Kubikmeter Wasser eine Masse von einer Tonne hat, hängt das eng zusammen – Volumen sammeln.

    Einfach war noch, die 20 Megatonnen mit meiner praktischen Kohlendioxid-Kopfzahl von neulich, 2/3 Gigatonnen CO₂ pro Jahr aus der BRD, zu vergleichen. Nun ist SO₂ eine ganz andere Nummer als CO₂ (ich erinnere mich an atemberaubende Vulkanbesuche und den weit größeren Schrecken des Chemiepraktikums), aber als Vorstellung finde ich es hilfreich, dass so ein ordentlicher Vulkanausbruch in etwa so viel Schwefeldioxid freisetzt wie die BRD in zehn Tagen (nämlich: ein dreißigstel Jahr) Kohlendioxid.

    Was SO₂-Emissionen selbst angeht, sieht das natürlich ganz anders aus; laut einer Grafik des Umweltbundesamts hat die BRD am Höhepunkt der Saure-Regen-Bekämpfung 1990 lediglich knapp 6 Megatonnen pro Jahr emittiert, also rund ein Viertel Pinatubo, und ist jetzt bei einer halben Megatonne, also in etwa einem Hunga Tonga Hunga Ha'apai (der Name begeistert mich erkennbar). In diesem Zusammenhang gar nicht erwartet hätte ich, dass laut einer IMO-Studie von 2016 der Schiffsverkehr weltweit nur 10 Mt Schwefeldioxid emittiert haben soll, also kaum doppelt so viel wie die BRD 1990, und inzwischen, im Rahmen einer in einschlägigen Kreisen offenbar besorgt beäugten Initiative namens IMO 2020, noch eine ganze Ecke weniger emittieren dürfte.

    Nur vorsorglich: Wer den DLF-Beitrag gelesen hat, mag sich erinnern, dass der Pinatubo das Weltklima um ein halbes Kelvin abgekühlt haben wird. Die sechs Megatonnen Schwefeldioxid aus der 1990er BRD haben jedoch sicher nicht ein achtel Kelvin ausgemacht, und zwar, weil sie fast ausschließlich bodennah entstanden sind. Damit Schwefeldioxid ordentlich klimawirksam wird, muss mensch es in die Stratosphäre bringen. Das ist für einen zünftigen Vulkan kein Problem. Und wäre leider auch für Menschen möglich.[1]

    Wenn sich der Schwefel des Pinatubo wie im Foto oben niederschlägt, wie viel ist das dann? Nun, erstmal ist der Masseanteil von Schwefel im SO₂ recht leicht auszurechnen, denn üblicher Schwefel hat Atommasse 32, während Sauerstoff bei 16 liegt, zwei davon also auch bei 32. Damit ist die Hälfte der Masse von Schwefeldioxid Schwefel, und der Pinatubo hat 10 Megatonnen Schwefel ausgespuckt. Bei einer Dichte von 2000  kg ⁄ m3 (hätte ich geringer eingeschätzt, muss ich sagen) macht das 5⋅106  m3 aus und würde einen Würfel von (5⋅106)1 ⁄ 3 oder runden 170 Metern Kantenlänge füllen.

    Um so ein Volumen einzuordnen, erkläre ich nachträglich den Neckar-Abfluss aus dem Flächen-Post, 150 m3 ⁄ s im Jahresmittel, zur Kopfzahl. Dann entspricht der ganze Katastrophenschwefel des Pinatubo dem Wasser, das in 30 Kilosekunden (coole Einheit: gerade in der Röntgenastronomie wird die viel verwendet) oder knapp 10 Stunden durchläuft. Und das alles Schwefel. Whoa. Vielleicht nehmen wir doch lieber den nächstgrößeren Fluss:

    Foto: Rhein bei Köln

    Der Rhein bei Köln; als ich das Foto gemacht habe, wars eher heiß und Sommer, und so mag das sogar etwas weniger als Normalwasserstand sein.

    Im Rhein bei Köln fließen bei Normalwasserstand 2000  m3 ⁄ s (hatte ich nicht im Kopf, will ich mir als ein Dutzend Neckare merken), und da bräuchte der Pinatubo-Schwefel 2500 Sekunden oder eine Dreiviertelstunde. Immer noch beängstigend. Legen wir also nochmal eins drauf und nehmen den Amazonas. Der führt an der Mündung 70-mal mehr Wasser als der Rhein (was ungefähr 1000 Neckare wären). In dem wäre der Pinatubo-Schwefel in so etwa einer halben Minute durch. Puh. Aber auch nicht sehr tröstlich, denn, wie die Wikipedia ausführt, ist der Amazonas

    der mit Abstand wasserreichste Fluss der Erde und führt an der Mündung mehr Wasser als die sechs nächstkleineren Flüsse zusammen und ca. 70-mal mehr als der Rhein.

    Etwas anfassbarer, gerade für Menschen, die dann und wann im URRmEL sind, ist ein Transportcontainer. Die kurzen davon („TEU“) wiegen leer 2300 kg, voll fast 25 Tonnen und fassen[2] 33 m3. Unsere 5 Millionen Kubikmeter Pinatubo-Schwefel entsprichen also rund 150'000 solcher Container – oder rund 1000 ziemlich langen Güterzügen. Aber das Volumen wäre hier nicht mal das Problem: Angesichts des 25-Tonnen-Limits braucht es für die 10 Megatonnen Schwefel mindestens 400'000 Container (die nicht ganz voll sein dürfen).

    Für solche Containerzahlen braucht es Schiffe. Eines wie die Ever Given, die im letzten März im Suezkanal steckenblieb und vorher schon 2019 eine (liegende) Passagierfähre in Blankenese umgenietet hatte, trägt rund 20'000 TEUs. Für den Pinatubo-Schwefel bräuchte es mithin naiv gerechnet 20 Ever Givens[3].

    Beim Schiffgucken bin ich leider in der Wikipedia versunken. Als ich wieder rausgekommen bin, hatte ich albern viel Zeit mit der Liste der größten Schiffe verbracht und mir vorgekommen, mir als Kopfzahlen für große Massen die Titanic (50'000 Tonnen; moderne Kreuzfahrtschiffe oder Flugzeugträger kommen auch nur auf rund 100'000) und richtig große Tanker (500'000 Tonnen) zu merken, von denen entsprechend einer reichen würde für das angemessen verdichtete Schwefeldioxid vom Hunga Tonga Hunga Ha'apai. Und wo ich so weit war, habe ich festgestellt, dass ich die die 3000 Tonnen der großen Rheinschiffe aus meiner Kraftwerks-Abschätzung schon wieder vergessen hatte. Das erkläre ich jetzt auch zu einer Kopfzahl, im Hinblick auf die Sammlung, die ich demnächst anlegen werde.

    Während meiner Wikipedia-Expedition hat mich ein Artikel ganz besonders fasziniert: Fruchtsafttanker. Oh! Ein ganzes Schiff voll Orangensaft! Ein Paradies!

    Es gibt, so sagt die Wikipedia, „weltweit weniger als 20 Schiffe“, die als Fruchtsafttanker betrieben werden. Aber dafür trägt eines davon gleich mal über 10'000 Kubikmeter Saft. Dass es so etwas wirklich gibt, könnte mich glatt zum Kapitalismus bekehren.

    [1]Das heißt nicht, dass Seiteneffekte der Kohleverbrennung nicht doch kühlende Effekte gehabt hätten; vgl. etwa Klimawirkung von Aerosolen. Es gibt ernsthafte Spekulationen (die rauszusuchen ich jetzt zu faul bin), dass die CO₂-bedingte Erderwärmung erst ab den 1970er Jahren so richtig auffällig wurde, weil vorher erstaunliche Mengen Kohlenruß in der Atmosphäre waren Das große Fragezeichen dabei ist, ob dessen kühlende Wirkungen (Nebel- und Wolkenbildung) seine heizenden Wirkungen (etwa, indem er Schneeflächen verdreckt und damit ihre Albedo reduziert oder vielleicht sogar ähnliches mit Wolken anstellt) wirklich überwiegen.
    [2]Das Containervolumen ist über „Zwanzig Fuß mal ungefähr zwei Meter mal ungefähr zwei Meter als 2⋅2⋅20 ⁄ 3 oder rund 25 Kubikmeter so gut abschätzbar, dass ich da keine Kopfzahl draus machen würde.
    [3]In Wahrheit braucht es deutlich mehr als 20 Ever Givens. Als Tragfähigkeit des Schiffs gibt die Wikipedia nämlich 200'000 Tonnen (dabei ist mir wurst ob metrisch oder long), was bei 20'000 Containern bedeutet, dass ein Container im Schnitt nur 10 und nicht 25 Tonnen wiegen darf. Das reime ich mir so zusammen, dass einerseits auf diesen Schiffen vor allem 40-Fuß-Container fahren werden, die aber nur 30 Tonnen wiegen dürfen, also 2/3 der Maximaldichte der 20-Fuß-Container erlauben – und damit, dass in Containern normalerweise eher Stückgut ist, und selbst wenn an dem viel Metall sein sollte – ohnehin unwahrscheinlich in unserer Plastikgesellschaft – wirds normalerweise schwierig sein, das Zeug so eng zu packen, dass es am Schluss auch nur die Dichte von Wasser hat.
  • Wakealarm: Device or resource busy

    The other day I wanted a box doing regular (like, daily) file system backups and really not much else to switch off while idle and then wake up for the next backup. Easy, I thought, install the nvram-wakeup package and that's it.

    Alas, nvram-backup mumbled something about an unsupported BIOS that sounded suspiciously like a lot of work that would benefit almost nobody, as the box in question houses an ancient Supermicro board that's probably not very common any more.

    So, back to the roots. Essentially any x86 box has an rtc that can wake it up, and Linux has had an interface to that forever: Cat a unix timestamp (serialised to a decimal number) into /sys/class/rtc/rtc0/wakealarm, as discussed in the kernel documentation's sysfs-class-rtc file:

    (RW) The time at which the clock will generate a system wakeup event. This is a one shot wakeup event, so must be reset after wake if a daily wakeup is required. Format is seconds since the epoch by default, or if there's a leading +, seconds in the future, or if there is a leading +=, seconds ahead of the current alarm.

    That doesn't tell the full story, though. You see, I could do:

    BACKUP_AT="tomorrow 0:30"
    echo `date '+%s' -d "$BACKUP_AT"` > /sys/class/rtc/rtc0/wakealarm
    

    once, and the box came back, but when I then tried it again, the following happened:

    echo `date '+%s' -d "$BACKUP_AT"` > /sys/class/rtc/rtc0/wakealarm
    bash: echo: write error: Device or resource busy
    

    Echoing anything with + or += did not work either; I have not tried to ascertain why, but suspect that's functionality for more advanced RTC chips.

    Entering the error message into a search engine did bring up a lkml thread from 2007, but on lmkl.iu.edu the thread ends with an open question: How do you disable the wakealarm? Well: the obvious guess of echo "" does not work. My second guess, however, did the trick: You reset the kernel wakealarm by writing a 0 into it:

    echo 0 > /sys/class/rtc/rtc0/wakealarm
    

    – after which it is ready to be written to again.

    And now that I've written this post I notice that the 2007 thread indeed goes on, as on narkive, and a bit further down, Tino summed up this entire article as:

    Please note that you have to disable the old alarm first, if you want
    to set a new alarm. Otherwise, you get an error. Example:
    
    echo 12345 > /sys/class/rtc/rtc0/wakealarm
    echo 0 > /sys/class/rtc/rtc0/wakealarm
    echo 23456 > /sys/class/rtc/rtc0/wakealarm
    

    Ah well. Threading is an important feature in mail clients, even if they're just archives.

  • Stahlhelmdiplomatie

    Was früher Kanonenbootdiplomatie war, hat sich heute offenbar zu Stahlhelmdiplomatie entwickelt. Einerseits, weil „wir“ welche in die Ukraine liefern, statt den Mist, den wir mit unserer Zündelei dort angerichtet haben, etwas zu entspannen. Andererseits, weil die Außenministerin – die „Chefdiplomatin“ also – sich ernsthaft martialisch in den Abendnachrichten zeigt, und zwar sozusagen vor der Haustür des aktuellen Erbfeinds Russland:

    Annalena Baerbock mit Stahlhelm in der Ukraine

    Beschnittener Screenshot aus der Tagesschau vom 8.2.2022: Außenministerin Baerbock beim Staatsbesuch in der Ukraine. Rechte bei der ARD.

    Wer das für Diplomatie hält, glaubt auch an die These von den Schlafwandlern. Was niemand tun sollte. Der erste Weltkrieg ist nicht ausgebrochen, er wurde gemacht. Von einer Öffentlichkeit (ich definiere das jetzt mal nicht näher; weite Teile der Presse gehörten und gehören da auf jeden Fall mal dazu), die Härte, Treue und Verlässlichkeit gefordert hat. Und von einer Regierung, die sich auch auch irgendwas wie vier Jahre in das Gemetzel hinein nicht geschämt hat, die Kriegsrhetorik vom August 1914 auf Wachstrommel zu bellen:

    Na ja, und so sieht es jetzt halt wieder aus. Leider oder zum Glück, so stelle ich gerade fest, depubliziert der DLF seine Presseschauen nach sieben Tagen (trotz allem: Buh!), so dass die übelsten Ausfälle jetzt schon wieder hinter Paywalls verschwunden sind, aber all das Gerede von „nicht zurückweichen“, „klare Kante gegen Russland zeigen“, „der Provokation entgegentreten“, Waffen liefern, Truppen schicken, härter drohen: So schnell kann es gehen zwischen dem zerknirscht-geschichtsklitternden Erinnerungsjahr 2014 und patriotischem Taumel nach der Mode von 1914.

    Dabei ist mir ja schon völlig unklar, was sich all die Russland-EntgegentreterInnen eigentlich als Ausgang der ganzen Angelegenheit vorstellen. Versteht mich nicht falsch: Es ist bestimmt kein Fehler, wenn ein augenscheinlich wirklich an Zauber, Auferstehung und heiligen Krieg glaubender Christ wie Achim Schönbach lieber nicht mehr die Marine befehligt. Aber wer Russland die Krim wieder abnehmen will, wird sich zwischen einer der folgenden Alternativen entscheiden müssen:

    1. Irgendeine russische Regierung gibt sie freiwillig ab. Die Frage beiseite, was sie dazu bewegen könnte, es wäre wohl das letzte, was sie täte. Weder das Militär noch große Teile der Bevölkerung würden das hinnehmen – das wäre nach übereinstimmenden Angaben von osteuropäischen KollegInnen und Ex-Studis in etwa so, als würde die BRD Mallorca, Helgoland und Sylt an Serbien übergeben. Also, so richtig, mit: Kein Urlaub mehr dort für Deutsche. Diese Alternative existiert mithin eigentlich nicht, und es bleiben realistisch nur die beiden anderen.
    2. Irgendwie zwingen „wir“ Russland ohne Krieg zur Aufgabe der Krim. Die Folge wäre ein Revanchismus in Russland, der garantiert die Größenordnung des Revanchismus in der Weimarer Republik angesichts von Versailles erreichen würde. Das wäre nicht nur für Russland furchtbar; mit Sicherheit wären damit alle Hoffnungen auf Ausgleich für die nächsten 30 Jahre futsch. Es gäbe auch praktisch sicher eine wild drehende Aufrüstungsspirale. Wer könnte es einer Bevölkerung, die mindestens ebenso patriotisch betaumelt ist wie „unsere“ verdenken, Russland nach so einer Nummer so stärken zu wollen, dass es eine solche Schmach nicht nochmal hinnehmen müsste? Gut, ich kann das, weil es klar durchgeknallt ist. Aber es ist nicht durchgeknallter das das, was „wir“ im Augenblick aufführen.
    3. Wir machen mal wieder einen Krimkrieg, weil der letzte so ein Höhepunkt der Zivilisation war. Tut euch den Gefallen und blättert ein wenig im verlinkten Wikipedia-Artikel. Wer sowas ernsthaft will, möge erstmal die wunderbaren Thursday Next-Bücher von Japer Fforde lesen – Hauptperson ist eine Veteranin eines in einer Alternate History eingefrorenen Krimkriegs – und sich danach bitte schleunigst auf den Weg zurück in Kreise zivilisierter Menschen begeben.

    Alle drei Alternativen sind offensichtlich Quatsch. Nichts davon ist auch nur im Entferntesten wünschbar. Mit welchen Gedanken im Kopf kann sich also irgendwer darüber erregen, wenn irgendwer anders – und sei es auch ein frömmelnder Marinechef – das Offensichtliche feststellt: Chruschtschows Laune von 1954, als er die Krim an die Ukraine übergab, war nie mehr als das, eine Laune (eines Diktators, Autokraten, oder wie immer das heute heißt, zumal) nämlich, und gewiss nichts, für das irgendwer sterben sollte.

  • Werkstattbericht: Kohlendioxid auf dem Balkon

    Im November hatte ich mich gefragt, was wohl die recht deutlichen Spitzen der CO₂-Konzentration auf meinem Balkon verursachen mag, die sich da immer mal wieder zeigen. Um Antworten zu finden, habe ich seit Ende Dezember eine längere Messreihe laufen lassen und derweil vierstündlich Windrichtungen von der Open Weathermap aufgenommen. Das, so hoffte ich, sollte zeigen, woher der Wind weht, wenn die Konzentration auffällige Spitzen hat.

    Leider gibt ein schlichter optischer Vergleich von Konzentration (oben) und Windrichtung (unten; hier als Cosinus, damit das Umschlagen von 0 auf 360 Grad nicht so hässlich aussieht) nicht viel her:

    Zwei unterbrochene Kurven, die jeweils recht munter vor sich hinwackeln

    CO₂-Konzentration auf meinem Balkon und Windrichtung für Heidelberg aus der Open Weathermap zwischen Ende Dezember 2021 und Anfang Februar 2022. Die Lücken ergeben sich aus fehlenden Daten zur Windrichtung.

    Tatsächlich hilft es ein wenig, wenn mensch das anders plottet. Unten bespreche ich kurz das Programm, das Wind- und CO₂-Daten zusammenbringt. Dieses Programm produziert auch folgenden Plot in Polarkoordinaten:

    Scatterplot in Polarkoordinaten: Im Wesentlichen ein oranger Ring

    CO₂-Konzentration auf meinem Balkon gegen meteorologische Windrichtung (also: Herkunft des Windes, hier gezählt ab Nord über Ost, so dass das orientiert ist wie eine Landkarte) und farbkodierte Windgeschwindigkeit (in Meter pro Sekunde). Das ist ein PNG und kein SVG, weil da doch viele Punkte drauf sind und Browser mit so großen SVGs immer noch ins Schlingern kommen.

    Ich hatte mich seit einem Monat auf diesen Plot gefreut, weil ich erwartet habe, darin eine ordentliche „Beule“ zu sehen dort, wo die CO₂-Emission herkommt. Gemessen daran ist wirkliche Ergebnis eher ernüchternd. Dort, wo ich die Abgasfahne des Großkraftwerk Mannheim sehen würde, etwas unterhalb der 270°-Linie, ist allenfalls ein kleines Signälchen und jedenfalls nichts, was ich wirklich ernst nehmen würde.

    Etwas deutlicher zeichnet sich etwas zwischen 280 und 305 Grad ab, also Westnordwest. Das könnte die Ladenburger Chemieindustrie oder die BASF in Ludwigshafen sein; zu letzterer haben die kritischen Aktionäre im letzten Jahr angesagt, sie emittiere als Konzern 20 Megatonnen Kohlendioxid im Jahr. Wenn, was nicht unplausibel ist, die Hälfte davon am Standort Ludwigshafen anfällt, würden sich diese 10 Mt ganz gut vergleichen mit den 8 Mt, die ich neulich fürs Großkraftwerk gefunden hatte – die Abschätzung von dort, so eine Abgasfahne könne durchaus die Konzentrationsspitzen erklären, kommt also auch für die BASF hin. Allerdings wird deren Emission angesichts des riesigen Werksgeländes natürlich auch verteilter sein…

    Also: Überzeugend ist das alles nicht. Ein anderes Feature ist jedoch schlagend, wegen weniger Übermalung – die bei beiden Plots ein echtes Problem ist; nächstes Mal muss ich mit halbtransparenten Punkten arbeiten – noch mehr, wenn ich den Polarplot „ausrolle“, also den Winkel von unten nach oben laufen lasse:

    Scatterplot kartesisch: ein starker dunkler Klops bei 230 Grad

    In dieser Darstellung fällt ins Auge, dass die CO₂-Konzentration bei starken (dunkle Töne) Südwest- (um die 225°) -strömungen recht drastisch fällt. Das passt sehr gut zu meinen Erwartungen: Südwestwind schafft hier in der Rheinebene Luft durch die Burgundische Pforte, hinter der im Mittelmeerraum auch jetzt im Winter eifrig Photosynthese stattfindet. Wer drauf aufpasst, sieht die Entsprechungen auch im Polarplot von oben, in dem dann sogar auffällt, dass reiner Südwind gelegentlich noch besser photosynthetisierte Luft heranführt, auch wenn der Wind nicht ganz so stark bläst.

    Demgegenüber ist mir eigentlich alles, was sich im nordöstlichen Quadranten des Polarplots (und hier zwischen 0 und 90 Grad) abspielt, eher rätselhaft. Der doppelseitige Sporn bei genau 90 Grad ist vermutlich auf Datenmüll der Wetterstation zurückzuführen: Wahrscheinlich hat die einen Bias, der bei wenig Wind diese 90 Grad ausspuckt. Selbst nach meiner Interpolation (vgl. unten) ist das noch zu ahnen, wenn mensch die Verteilung der Geschwindigkeiten insgesamt (in rot) und die der Geschwindigkeiten rund um einen auffälligen Hügel rund um 90° Windrichtung herum (in blau) ansieht:

    Zwei Histogramme über Geschwindigkeiten, bei dem das blaue nur im linken Bereich ist

    Die elegante Schleife, die von (0, 500) über (70, 540) nach (90, 510) führt und die im Polarplot ganz alleine außen vor sich hinläuft, dürfte ziemlich sicher teils physikalisch sein. Dass das da so einen Ring macht, dürfte zwar ein Artefakt meiner gewagten Interpolation sein (vgl. Technics). Der Anstieg als solcher und wohl auch die grobe Verortung dürften aber ganz gut hinkommen. Sieht mensch sich das im zeitlichen Verlauf an, entspricht die Schleife der höchsten Spitze in der ganzen Zeitreihe.

    Nur leider ist im Nordosten von meinem Balkon nicht mehr viel: Ein paar Dutzend Häuser und dann der Odenwald, also für fast 10 km nur Bäume. Na gut, und ein Ausflugsrestaurant.

    Die aus meiner Sicht plausibelste Interpretation für diese Stelle basiert auf der Beobachtung, dass in der fraglichen Zeit (am 10.1.) wenig Wind wehte, die Temperaturen aber ziemlich niedrig lagen. Vielleicht schauen wir hier wirklich auf die Heizungen der Umgebung? Der Schlot unserer lokalen Gemeinschafts-Gasheizung ist in der Tat so in etwa im Nordosten des Balkons – und vielleicht wurde ja sonst nicht so viel geheizt?

    Technics

    Die wesentliche Schwierigkeit in diesem Fall war, dass ich viel engmaschiger CO₂-Konzentrationen (alle paar Minuten) habe als Windrichtungen (bestenfalls alle vier Stunden), und zudem viele Windrichtungen aus welchen Gründen auch immer (offensichtlich wäre etwa: zu wenig Wind) fehlen. Auf der positiven Seite erzeugt mein Open Weathermap-Harvester weathercheck.py eine SQLite-Datenbank, so dass ich, wenn es nicht furchtbar schnell gehen muss, recht bequem interessante Anfragen laufen lassen kann.

    Mein Grundgedanke war, die beiden einem CO₂-Wert nächsten Wind-Werte zu bekommen und dann linear zu interpolieren[1]. Das ist schon deshalb attraktiv, weil die Zeit (als Sekunden seit 1.1.1970) als Primärschlüssel der Tablle deklariert ist und deshalb ohnehin ein Index darauf liegt.

    Dabei sind aber je nach Datenverfügbarkeit ein Haufen Fälle zu unterscheiden, was zu hässlichen if-else-Ketten führt:

    def get_for_time(self, time, col_name, default=None):
      res = list(self.conn.execute(f"SELECT timestamp, {col_name} FROM climate"
        " WHERE TIMESTAMP BETWEEN ? AND ?"
        " ORDER BY ABS(timestamp-?) LIMIT 2",
        (time-40000, time+40000, time)))
    
      if len(res)!=2:
        if default is not None:
          return default
        raise ValueError(f"No data points close to {time}")
    
      elif abs(res[0][0]-time)<200 and res[0][1] is not None:
        return res[0][1]
    
      elif res[0][1] is None or res[1][1] is None:
        if default is not None:
          return default
        raise ValueError("One or more limits missing.  Cannot interpolate.")
    
      else:
        t1, v1 = res[0]
        t2, v2 = res[1]
        return (v1*(t2-time)+v2*(time-t1))/(t2-t1)
    

    Die Fallunterscheidung ist:

    1. Es gibt überhaupt keine Daten innerhalb von einem halben Tag. Dann kann ich nur einen Fehler werfen; zumindest in unseren Breiten sind Windrichtungen eigentlich schon über kürzere Zeiträume hinweg nur lose korreliert.
    2. Innerhalb von 200 Sekunden der gesuchten Zeit gibt es einen tatsächlichen Messwert, und dieser ist nicht NULL. Dann gebe ich den direkt zurück.
    3. Einer der beiden Werte, die um die gesuchte Zeit herum liegen, fehlt (also ist NULL). Dann kann ich nicht interpolieren und muss wieder einen Fehler werfen. Hier wäre es nicht viel unplausibler als die Interpolation, wenn ich einfach einen nicht-NULL-Wert nehmen würde; aber es wäre doch nochmal ein Stückchen spekulativer.
    4. Ansonsten mache ich einfach eine lineare Interpolation.

    NULL-Werte machen die Dinge immer komplex. Aber wenn ihr euch überlegt, wie viel Stress sowas ohne SQL wäre, ist das, finde ich, immer noch ganz elegant. Im echten Code kommt noch etwas Zusatzkomplexität dazu, weil ich Winkel interpolieren will und dabei immer die Frage ist, wie mensch die Identität von 360 und 0 Grad einrührt.

    Eine vorsorgliche Warnung: aus der Art, wie ich den Spaltennamen hier reinfummele, folgt, dass, wer den Parameter kontrolliert, beliebiges SQL ausführen kann. Sprich: wer diesen Code irgendwie Web-zugänglich macht, darf keine unvalidierte Eingabe in col_name reinlassen.

    Eingestandenermaßen ist diese Sorte von datenbankbasierter Interpolation nicht furchtbar effizient, aber für die 100000 Punkte, die ich im Augenblick plotten will, reicht es. Siehe: Den Code.

    [1]Klar: Windrichtungen über Stunden linear zu interpolieren ist in den meisten Wetterlagen eher zweifelhaft. So, wie ich meine Plots mache, ist es aber nicht wesentlich verschieden davon, die Punkte über den Bereich zu verschmieren. Das wiederum wäre konzeptionell gar nicht so arg falsch.
  • Antisprache: Innovation, Teil 1

    Foto: Jede Menge Autofelgen

    Alufelgen für Autos: Ist das Innovation oder kann das weg?

    Mag „Chancengleichheit“ auch der Klassiker der Antisprache sein: „Innovation“ verdient jedenfalls einen Großpreis fürs Lebenswerk. Der Grundtrick dabei ist, menschenfeindlichen Quatsch gegen Kritik zu immunisieren, indem er als neu und schon von daher nützlich und gut – das ist der antisprachliche Subtext der „Innovation“ – hingeredet wird. Kritisiert dennoch jemand, kann im Wesentlichen jeder Mumpitz verteidigt werden mit dem Argument, ewig Gestrige hätten ja schon das Rad oder das Buch oder Antibiotika verdammt.

    Das ist Antisprache, denn natürlich ist es vernünftig, bei irgendwelchen Plänen oder Techniken erstmal zu überlegen, ob sie überhaupt einem nachvollziehbarem Zweck dienen könnten und dann, ob dieser Zweck in einem irgendwie erträglichen Verhältnis zum Dreck steht, den das Zeug macht. Dass es gelegentlich wirklich nützliche Erfindungen gibt (Rad, Buch, Antibiotika, LED-Scheinwerfer am Fahrrad), bedeutet nicht, dass solche Überlegungen irgendwie rückwärtsgewandt sind. Im Gegenteil. Ohne sie bekommen wir noch regelmäßiger Mist wie, sagen wir, Stuttgart 21 oder gar die Autogesellschaft. Ich gebe zu, dass „Technikfolgenabschätzung“ klingt wie ein sonnengebleichter Bürokratenfurz. Aber es ist trotzdem keine schlechte Idee.

    Demgegenüber kann „Innovation” auf eine etwas befremdliche Weise durchaus unterhaltsam werden, etwa wenn mit ernstem Gesicht so offensichtlich absurdes Zeug vorgetragen wird, dass ich den Verdacht von Kommunikationsguerilla kaum vermeiden kann. Ein gutes Beispiel für diese Kategorie (vielleicht unfreiwillig) kenntlicher Antisprache war Teil der CES-Berichterstattung in Forschung aktuell vom 8. Januar.

    Darin versucht Mary Barra, Vorstand von General Motors, ab Minute 4:20 ihr „softwaredefiniertes“ Auto mit folgenden Beispielen schmackhaft zu machen (Übersetzung DLF):

    Das macht es Kunden möglich, die Software ihres Fahrzeuges zu aktualisieren und neue Inhalte drahtlos herunterzuladen. [...] Die Technik ermöglicht es beispielsweise, eine Softwareoption herunterzuladen, um die Beschleunigung des Fahrzeugs zu erhöhen.

    Wow. Die Updateritis muss, wenn mein weiteres soziales Umfeld nicht komplett exotisch ist, so in etwa der unpopulärste Aspekt der „Digitalisierung“ überhaupt sein. Das zu ermöglichen (und damit: zu verlangen, denn was ins Netz kann, muss für rasche Bugfixe geplant werden) soll jetzt ein Argument sein, sich eine „Innovation“ einzutreten?

    Der zweite Teil von Barras Sales Pitch ist eigentlich noch wilder: GM hat ja meine Sympathie, wenn es seine Fahrzeuge per Computer runterregelt. Aber so offen zugeben, dass sie planen, künstlich verschlechterten Kram zu verkaufen – denn mal ehrlich: solange mensch keinen neuen Motor runterladen kann, sind die Extra-PS, die ein Download liefern kann, in einem bereits ab Werk ordentlich designten System eher dürftig –, um obendrauf den KundInnen Freischaltungen für Krempel anzudrehen, den sie eigentlich schon bezahlt haben: das ist schon stark.

    Hätte Frau Barra das in einem Beichtstuhl gesagt, hätte ihr nach so offenen Bekenntnissen Absolution erteilt. Wenn sie hinreichend viel Reue gezeigt hätte.

  • Inlining xs:include in XML Schema

    Screenshot: Fragmented XSD schema

    Please don't do it like this: for users of a schema, having to pull it in a dozen fragments is just pain and no gain. See below for a program that lets you heal this particular disease.

    While I'm a big fan of XML – which is governed by a very well-written standard and is (DTDs aside) about as easy to process as something context-free can be –, I have always been a lot more skeptical about XML Schema, which is horrendously complex, has a few nasty misfeatures[1] and generally has had a major role in giving XML a bad name.

    But well, it's there, and it won't go away. That ought to be reason enough to not encumber it with further and totally avoidable pain. As, for instance, splitting up a single schema into fragments of a couple of lines and then using xs:include liberally to re-assemble the fragments at the client side. Datacite, I'm looking at you. Regrettably, they're not the only ones doing that. And as opposed to splitting a domain mapping into different schemas – which might improve re-usability, this lexical splitting really helps nobody except perhaps the authors.

    The use of xs:include is a pain in particular when one tries to implement redistributable validators, as these then need to keep a lot of files in a defined hierarchy. Just pointing to the vendor's site is not an option, because the software would hit that every time it validates something, which is, if nothing else, a privacy and stability problem.

    Well, today I had another case of XSD splititis, and this time it was bad enough that I decided to merge the fragments. I had expected people had written “inliners” expanding xs:include in XSDs into standalone XSDs. After all, it's basically a lexical thing (well, excepting namespace mappings and perhaps re-indentation). Five minutes of operating a search engine didn't bring up anything, though, and so I wrote a quick cure: expand-xsd-include.py.

    I'll be the first to admit that it is a hack at this point, mainly because I blindly discard the root tags for the included documents. That's wrong because these might add or, worse, change the mapping from prefixes to XML namespaces. In its current state, this will fail badly if included documents use different or extra mappings and declare them in the root element; declarations further down are ok.

    Another problem resulting from keeping namespace processing off on the parser is that I hardcode the prefix for the XSD schema to xs. If your schema uses something else, change XSD_PREFIX in the script.

    Mending these deficiencies wouldn't be an undue effort, and if you have XSDs that need it, let me know and I'll do proper namespace processing. Or perhaps, in addition, teach the thing to pull the input files via http. Meanwhile, I suspect that the large majority of atomised XSDs can be merged with this code, and so I thought I might as well put it online in its slightly embarrassing shape.

    Let me know if you use it. And if you distribute fragmented XSDs: Why not use the script to assemble your XSD before publishing it?

    [1]The worst XSD misfeature IMHO are the namespaced attribute values; where XML has been designed to be parsable without external DTDs (ok, not generally, but under well-defined conditions, and it's been a long time since I saw a document that didn't meet those), parsing results with namespaced attribute values depend on whether or not the parser knows the XSD. And that would even be bad without the ugly schemaLocation hacks in both schema and schema instance.
  • Relevante Personalien

    Demo-Foto: Schild "Solidarität mit Florida-Rolf" und eine GEW-Fahne

    Eine regierungskritische Studidemo 2003 in Frankfurt: „Solidarität mit Florida-Rolf“ klingt lustig, war aber eine beißende Kritik an Durchsetzung von Sozialabbau mittels populistischer Hetze, die damals (und zumindest noch in die ersten Hartz-Gesetze hinein) ein die Bildzeitung, Rot-Grün und die DGB-Spitze einschließender Mainstream war.

    Hatte ich mich gestern noch lustig gemacht darüber, dass Personalien derzeit in den Nachrichten vor heißen Corona-Stories laufen, lese ich heute von einer, die ich doch weit vorn in eine Nachrichtensendung gesetzt hätte: Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird Yasmin Fahimi neue Vorsitzende des DGB.

    Nun ist es (nicht nur) in Gewerkschaften ganz normal, dass sich mit jeder Hierarchiebene die zahmen, karriereorientierten, konservativen Personen anreichern[1]. Die Causa Fahimi ist jedoch so extrem, dass die taz zu loben ist für die Platzierung von Anja Krügers treffendem Kommentar auf der ersten Seite der taz vom Donnerstag. Auch ich als mäßig aktives GEW-Mitglied kann diese Geschichte allenfalls mit einer guten Lupe von einer schleichenden Selbstentleibung des DGB zu unterscheiden.

    Dass die IG BCE, innerhalb des DGB an reaktionärer Gesinnung nur noch von der Gewerkschaft der Polizei überboten, jetzt nochmal den DGB-Vorsitz übernimmt, und dann noch mit einer rechten SPDlerin, das ist ein offener Affront gegen alle, die in den Gewerkschaften eine Wiederholung der Katastrophe von 2002 verhindern wollen. Damals hielten die DGB-Gewerkschaften weitgehend ruhig, als Rot-Grün einen auch im Rückblick atemberaubenden Abbau von sozialen Rechten und Möglichkeiten betrieb, mit absehbaren Folgen für die Motivation der Mitgliedschaft wie auch die politische Orientierung von Menschen, die eigentlich gewerkschaftlich organisiert sein müssten und jetzt stattdessen AfD wählen (ich habe dafür immer noch keine bessere Umschreibung gefunden als „Turkeys voting for Christmas“).

    Ein vergleichbarer Angriff auf soziale Rechte wird vermutlich auch von der gegenwärtigen Regierung kommen. Dochdoch, es gibt schon noch einiges zu demontieren in den Überresten des Sozialstaats. Wenn der DGB im Kampf gegen diese Demontagen mit dem Gesicht einer SPD-Jasagerin dasteht, ist das der Königsweg. In die Irrelevanz.

    Und das ist auch dann keine gute Nachricht für die Einzelgewerkschaften, wenn in denen bereits jetzt meist nur Augenrollen kommt, wenn wieder Leute für irgendwelche DGB-Gremien gesucht werden. So hatte sich Joe Hill die O.B.U. nicht vorgestellt.

    [1]Vgl. auch Schurken und Engel. Entgegen dem dort simulierten Konkurrenzprinzip kann ich im Gewerkschaftsfall aber aus erster Hand berichten, dass die Reproduktion des Schurkigkeitsgradienten im Wesentlichen durch eine Art Kooptation passiert, bei der jeweils in der höheren Ebene arbeitende FunktionärInnen sich ihren Nachwuchs sorgfältig und listenreich aus den niedrigeren Ebenen handverlesen und dabei Menschen präferieren, deren Politikverständnis nicht zu weit von dem ihren abliegt. Diese Personen dann auch durchzusetzen ist einfach, weil verständlicherweise kaum mehr jemand Lust hat auf Gewerkschaftsarbeit, also alle froh sind, wenn sich überhaupt irgendwer findet.
  • SARS-2 ist in etwa fertig

    Ich beobachte derzeit fasziniert die Reihenfolge der Beiträge in Nachrichtensendungen. Wir haben Corona-Zahlen, die noch vor zwei Monaten helle Panik ausgelöst hätten – 200000 gemeldete Neuinfektionen am Tag, eine bundesweite 7-Tages Inzidenz über einem Prozent –, und entsprechende Meldungen kommen zumindest bei ARD und DLF, wenn überhaupt, weit hinter Mumpitz wie der Frage, ob wohl ein Herr Merz oder ein Herr Brinkhaus der CDU-Fraktion im Bundestag vorsitzen wird (mal ehrlich: Wer wirds merken?).

    Aber vielleicht ist das auch besser so; denn auch wenn sich das derzeitige Tempo wahrscheinlich noch nicht durchhalten lässt, wenn sich die Altersverteilung der Infizierten nach oben verschiebt, mag es sein, dass es ohne grobe Notbremsen gerade jetzt geht, und wenn der nächste Winter halbwegs normal laufen soll, sollten wir auch gar nicht so arg einbremsen (und auch nicht im Interesse der 70-Jährigen).

    Gestern allerdings hätte es eine spektakuläre Nachricht gegeben, die ich ganz vorne in meine Sendung gepackt hätte, wenn ich Redakteur wäre: Mit Omikron ist SARS-2 in gewissem Sinn fertig. Woher ich das weiß? Nun, meine Lieblingsrubrik im RKI-Wochenbericht kommt schon seit langem von der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI; ich hatte die schon mal zitiert), die Woche um Woche berichtet, was so umgeht an Erregern von Atemwegserkrankungen. Im Bericht von gestern findet sich das auf Seite 14, und da steht:

    In der virologischen Surveillance der AGI wurden in KW 3/2022 in insgesamt 66 von 112 eingesandten Proben (59 %) respiratorische Viren identifiziert. Darunter befanden sich 23 Proben mit SARS-CoV-2 (21 %), 15 mit humanen saisonalen Coronaviren (hCoV) (13 %), zwölf mit Rhinoviren (11 %), elf mit humanen Metapneumoviren (10 %), jeweils drei Proben mit Parainfluenzaviren (3 %) bzw. mit Respiratorischen Synzytialviren (RSV) (3 %) sowie eine Probe mit Influenzaviren (1 %).

    Das ist spektakulär, weil, wenn ich nichts übersehen habe, nie zuvor während der ganzen Pandemie SARS-2 in den Infektionszahlen unsere gewohnten humanen Coronaviren überholt hat.

    Und es heißt ziemlich sicher: SARS-2 ist jetzt bis auf einen kleinen Faktor so gut an den Menschen angepasst, wie das Coronaviren halt können – die anderen vier hatten ja schon mindestens hundert Jahre Zeit für ihre Optimierung (der jüngste könnte seit 1889 umgehen; zumindest vermuten viele Leute, die Russische Grippe könne die letzte wirklich tödliche Coronapandemie vor SARS-2 gewesen sein), und wenn SARS-2 in deren Liga aufgestiegen ist, wird es wohl keine weltbewegenden Erfindungen mehr machen können; in diesem Sinne wäre es, na ja, „fertig“.

    Mensch könnte spekulieren, SARS-2 könne einen Vorteil haben, weil es für die meisten Menschen hier immer noch neu ist, während sie die anderen vier schon aus dem Kindergarten kennen. Per Bauchgefühl bezweifele ich den Vorteil allerdings, denn die vielen Geimpften – und niemand ist gegen eines der anderen Coronaviren geimpft – machen es SARS-2 vermutlich ziemlich ähnlich schwer wie die vorhergegangenen Infektionen den anderen.

    Zum Schluss nochmal Fanpost an die AGI: Ich halte das für hochrelevante Forschung mit minimalem Eingriff in die Privatsphäre von Kranken, small data im besten Sinn (wobei ich zugebe, dass mir das noch besser gefallen würde, wenn das Sample etwas größer wäre; in Zeiten wie diesen sollten sich doch 500 bis 1000 Proben finden). In meiner Fantasie sind die AGI-Leute und ihre Sentinelpraxen so wie die Waldläufer im Herrn der Ringe, die durch die Wildnis ums Auenland streichen und, ohne dass es viele merken, die Augen offen halten. Helden!

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