Tag Geschichte

  • Bertrand Russell und die Faulheit

    Als ich angefangen habe, an diesem Blog zu schreiben, wollte ich eigentlich regelmäßig über den Wahnsinn ranten, dass wir Unmengen Plunder und „Dienstleistungen“ herstellen, ohne die die Welt eigentlich besser wäre, und dafür sowohl uns selbst als auch den Planeten furchtbar stressen. Wenn ich jetzt sehe, was ich wirklich unter dem Tag Faulheit geschrieben habe: Am Schluss gab es doch immer andere Themen.

    Unterdessen war am 18. Mai der 150. Geburtstag von Bertrand Russell, von dem hier verschiedentlich schon die Rede war, allerdings eher im Zusammenhang mit seiner Philosophiegeschichte und weniger aufgrund seiner Arbeiten an den Grundlagen der Mathematik, seiner zähen Arbeit gegen religiösen Wahn oder seines pazifistischen Elans[1]; mit all dem hat mich Russell schon sehr lange begeistert.

    Erst im Portrait von Russell in SWR2 Wissen am 13.5. (Audio lohnt sich: Russell spricht selbst, Englisch und Deutsch!) jedoch erfuhr ich, dass er mal wegen Aufruf zu Widerstand gegen die Staatsgewalt im Gefängnis saß (zudem im Alter von 89 Jahren) – und, dass er schon 1932 die zornige Diatribe gegen den Unsinn exzessiver Lohnarbeit geschrieben hat, die ich für diesen Blog vorgesehen hatte.

    Sind wir 90 Jahren später klüger?

    Allerdings schrieb Russell seinen kleinen Aufsatz auf dem Höhepunkt der Großen Depression, also unter fantastischen Arbeitslosenraten, und so unterscheidet sich seine Analyse schon in vielem von meiner; der wichtigste Punkt wäre wohl, dass Russell in erster Linie die vorhandene Arbeit gleichmäßiger verteilen wollte, während ich, 90 Jahre später, überzeugt bin, dass die Gesamtmenge an Arbeit drastisch reduziert werden muss und kann, um den allgemeinen Wohlstand zu heben. Aber wir haben eben auch 90 Jahre Produktivitätssteigerung trotz Übergangs in die „Dienstleistungsgesellschaft“ hinter uns, und Russell konnte nichts von Indexfonds, Fidget Spinnern, SAP, SUVs, Nagelstudios, Bundesligafernsehen, Rechteverwertungsgesellschaften, Flimmerwände, TikTok und all dem anderen bunten Mist wissen, mit dem wir uns heute das Leben gegenseitig schwer machen.

    Russells Essay „In Praise of Idleness“ ist beim Web Archive zu haben (fragt mich nicht, wie das gerade mal 50 Jahre nach Russells Tod trotz Contentmafia zugeht; schlechter auf Deutsch), und wo ich ihn schon gelesen habe, möchte ich ein paar der schöneren Zitate hier versammeln, zumal seine Argumente inzwischen vielleicht unvollständig, sicher aber nicht falsch sind. Die Übersetzungen sind jeweils von mir.

    Russell fängt mit etwas an, das zwar zu lang ist, um ein gutes Gaffito zu machen, und vielleicht klingt „rechtschaffen“ („virtuous“) ein wenig angestaubt. Ich würde damit dennoch jeden Tag auf eine Fridays For Future-Demo gehen:

    Ich glaube, dass viel zu viel Arbeit getan wird in der Welt, und dass der Glaube, Arbeit sei rechtschaffen, unermesslichen Schaden anrichtet [...]

    Ursprüngliche Gewalt

    Im Weiteren leitet Russell die „Arbeitsethik“ in etwa dadurch ab, dass früher mal Krieger die Leute, die die Arbeit gemacht haben, nicht dauernd mit Gewalt zwingen wollten, sie zu füttern. Russell, der ja Kommunist gewesen war, bis er Lenin getroffen hat, waren gewiss die Parallelen zu Marx' ursprünglicher Akkumulation[2] bewusst; ich frage mich ein wenig, warum er darauf nicht wenigstens kurz anspielt.

    Und dann kommt seine scharfe Beobachtung, dass es während des ersten Weltkriegs mit all seiner völlig destruktiven Verschwendung den ArbeiterInnen im UK eigentlich besser ging als in Zeiten ganz normalen Wirtschaftens:

    Trotz all [der Verschwendung aufs Töten] war das generelle Wohlstandsniveau der ungelernten LohnarbeiterInnen auf der Seite der Alliierten höher als davor oder danach. Die tatsächliche Bedeutung dieser Tatsache wurde durch Finanzpolitik versteckt: Die Kriegsanleihen ließen es so aussehen, als würde die Zukunft die Gegenwart ernähren. Aber das ist natürlich unmöglich; ein Mensch kann keinen Brotlaib essen, der noch nicht existiert.

    Diese Argumentation zeigt in der anderen Richtung übrigens den Unsinn (oder die Fiesheit) kapitalgedeckter Rentenversicherungen: Wenn in 50 Jahren niemand mehr Brot backt, wird es für all das angesparte und zwischenzeitlich zerstörerische Kapital kein Brot zu kaufen geben – über diesen spezifischen Wahnsinn hatte ich es schon kurz im letzten April.

    In diesem speziellen Fall würde ich Russell allerdings fragen wollen, ob das ähnlich auch für die britischen Kolonien galt; einige indische Hungersnöte im Megaopferbereich fallen durchaus in die verschiedenen Kriegszeiten, und ich vermute, Russell sieht hier zu guten Stücken lediglich die während Kriegen erheblich größere Kampfkraft nicht allzu patriotischer Gewerkschaften reflektiert.

    Philosophie und Sklavenhaltung

    Wenig später folgt ein weiteres Bonmot, wenn Russell zunächst die immer noch herrschende Ideologie erklärt:

    Warum [sollten Leute ohne Lohnarbeit verhungern und die anderen furchtbar lang arbeiten]? Weil Arbeit Pflicht ist, und Menschen nicht im Verhältnis zu dem bezahlt werden sollen, was sie herstellen, sondern im Verhältnis zu ihrer Tugendhaftigkeit, wie sie durch ihren Fleiß unter Beweis gestellt wird.

    Das ist die Moralität des Sklavenstaates, angewandt auf Umstände, die völlig verschieden sind von denen, unter denen sie entstand.

    Ich merke kurz an, dass Russell als Philosoph dem antiken Sklavenstaat durchaus etwas abgewinnen konnte, denn ohne die Arbeit all der SklavInnen hätten Thales und Demokrit wohl keine Muße gehabt, ihren von Russell sehr geschätzten Gedanken nachzuhängen. Dabei ist er gar nicht so furchtbar darauf fixiert, dass die Leute in ihrer Muße dringend philosophieren[3] müssen:

    Es wird der Einwand kommen, dass, wenn auch ein wenig Muße angenehm ist, die Leute nicht wüssten, mit was sie ihre Tage füllen sollen, wenn sie nur vier Stunden von ihren vierundzwanzig arbeiten müssen. Soweit das in unserer modernen Welt wirklich zutrifft, ist es eine Verdammung unserer Zivilisation; es war jedenfalls in keiner vorherigen Epoche wahr. Es hat vor uns eine Fähigkeit gegeben für Freude und Spiel, die in gewissem Maß von unserem aktuellen Kult der Effizienz gehemmt wird. Der moderne Mensch denkt, dass es für jede Tätigkeit einen Grund außerhalb ihrer selbst geben müsse, dass Dinge nie um ihrer selbst willen getan werden dürfen.

    Die lahmeren Einwände gegen das bedingungslose Grundeinkommen kamen also auch damals schon. Ich stimme Russells Entgegnug aus diesem Absatz herzlich zu, auch wenn er wie ich auch nicht widerstehen kann, kurz darauf von einer generellen Begeisterung für Wissenschaft zu träumen:

    In einer Welt, in der niemand gezwungen ist, mehr als vier Stunden pro Tag zu arbeiten, wird jede Person, die die wissenschaftliche Neugier packt, sich dieser hingeben können, und alle MalerInnen werden malen können, ohne zu verhungern, gleichgültig, wie großartig ihre Bilder sein mögen.

    Nun… Bis zum Beweis des Gegenteils glaube ich fest daran, dass eine Gesellschaft mit minimalem Lohnarbeitszwang eine Gesellschaft von BastlerInnen und Amateurastronominnen sein wird. Schaun wir mal.

    Krieg ist viel Arbeit

    Ich kann dieses Best-of aus Russells Artikel nicht ohne seine Brücken zum Kriegführen beenden. Krieg erwähnt er, wenn er Techniken diskutiert, die die Übersetzung von Produktivitätsfortschritten in weniger Arbeit verhindern:

    Wenn sich alle diese Methoden als unzureichend herausstellen, machen wir Krieg; wir lassen ein paar Leute Explosivstoffe herstellen und ein paar andere diese zünden, ganz als wären wir Kinder, die gerade Feuerwerk entdeckt haben.

    Und dann sagt er in der Abteilung Utopie:

    [Wenn die Leute nicht mehr so wahnsinnig viel arbeiten,] wird der der Hunger nach Krieg aussterben, teils aus diesem Grund [weil die Leute netter und weniger misstrauisch wären] und teils, weil Krieg viel und schwere Arbeit mit sich bringen würde.
  • Aus der Geschichte lernen: Chios

    Landschaftsfoto: Felsen mit einzelnen Bäumen drin

    Für diese Landschaft haben sich Menschen 1822 in großen Mengen massakriert: Das Innere von Chios. CC-BY-SA FrontierNG

    Am 11. April gedachte das DLF-Kalenderblatt dem Massaker von Chios, das vor 200 Jahren den Höhe- oder eher Tiefpunkt einer jedenfalls rückblickend betrachtet völlig durchgeknallten Verkettung von Gewalttaten und Vergeltungsaktionen markierte.

    Ich muss gestehen, dass mir die ganze Geschichte völlig neu war; in der Kürze beim DLF klang es für mich zunächst so, als habe der osmanische Sultan die Bevölkerung der reichen Ägaisinsel Chios ausradieren lassen, weil sie gegen ihre manifesten (ökonomischen) Interessen mit Aufständischen paktiert hatte, die wiederum zuvor andere Untertanen des Sultans massakriert hatten.

    Mir klang das nach einem guten Beispiel, wie das allseite Nachgeben gegenüber der autoritären Versuchung zu einer Spirale von Bestialität führt, bei der jede Seite die moralische Berechtigung, wenn nicht gar Verpflichtung fühlt, den Feind zu töten. Da der Abstand den Blick schärfen mag, der bei analogen Ereignissen in der Nähe derzeit ganz offenbar vielfach getrübt ist, habe ich mir heute den zugehörigen Wikipedia-Artikel zu Gemüte geführt.

    Die Vorgeschichte

    Sehr bemerkenswert fand ich schon mal, dass die Wikipedia für die Vorgeschichte auf den Frieden von Küçük Kaynarca verweist, den 1774 das osmanische Reich und Russland geschlossen hatten. Bemerkenswert ist das einerseits, weil es damals schon um die jetzt gerade wieder umstrittenen Gebiete ging: Russland hat sich in diesem Vertrag den Süden der späteren Ukraine einverleibt, die Krim – die für zehn Jahre noch als autonomes Khanat weiterexistierte – folgte 1783. Nach allem, was danach kam, von Krimkrieg über die Verheerungen des zweiten Weltkriegs bis zum jetzigen Stellvertreterkrieg: Was für eine geschundene Gegend.

    Andererseits war diese Niederlage des osmanischen Sultans offenbar ein Segen für jedenfalls nennenswerte Teile seiner Untertanenschaft. In den Worten der Wikipedia:

    Wie im Rest Griechenlands wuchs nach dem Friedensvertrag von Kutchuk-Kaïnardji 1774 der Wohlstand auf Chios.

    Das bezieht sich, wie gesagt, auf die Verliererseite des Russisch-Türkischen Krieges von 1768-1774. Erneut zeigt sich die alte Weisheit, dass es weit schlimmer ist, einen Krieg zu führen als einen zu verlieren.

    Das Verhängnis von Chios begann indes, auch recht typisch, mit Patrioten, und zwar in diesem Fall mit griechischen. Diese nämlich legten 1821 einen zünftigen Aufstand auf der Peloponnes hin, als viele der dortigen (osmanischen) Besatzungssoldaten andernorts gebraucht wurden, nämlich für Kämpfe innerhalb der osmanischen Elite und weil, ganz modern, russische Truppen in das noch osmanische Moldawien eingefallen waren.

    Der zünftige Aufstand schlug erwartungsgemäß schnell in Barbarei um. Die tapferen und frommen Freiheitskämpfer eroberten^Wbefreiten im Oktober 1821 die Provinzhauptstadt Tripoli (nicht zu verwechseln mit dem zuerst durch unsere Flugverbotszone befreiten und dann seit inzwischen einem Jahrzehnt glühend umkämpften libyschen Tripolis) und metzelten gegen 8000 der verbliebenen BewohnerInnen nieder – schon während der Belagerung hatte sich die Bevölkerung auf etwa 15000 halbiert. Immerhin sind wohl nicht alle anderen 15000 dem Krieg zum Opfer gefallen, einige haben rechtzeitig fliehen können.

    Eine weitere Weisheit: Wenn es nach Krieg riecht, verpiss dich rechtzeitig. In der jungen Welt gab es am Wochenende eine Geschichte, wie es ganz aktuell zugeht, wenn du das mit dem „rechtzeitig“ nicht hinbekommst.

    In Chios

    Aber dies ist ja eine Geschichte über Chios, eine vor 1821 in weitgehender christlicher Autonomie von achtzehn, großartiger Titel, Demogeronten für den Sultan regierten Insel nicht weit vor der Küste der heutigen Türkei.

    Die DLF-Erzählung einer durch Mastix-Produkion und -Handel reich gewordenen Gemeinde trägt wohl; jedenfalls hatten die Demogeronten schon im April 1821 klar angesagt, dass sie lieber Wohlstand als (nationalen) Aufstand haben wollen. Für solche Anliegen hatten die Patrioten von der Peloponnes wenig Verständnis. Ein „Admiral“ Iakovos Tombazis – bei einem derart jungen Aufstand dürfte so ein „Admiral“ ungefähr drei Jollen befehligt haben – landete auf Chios, zog mit seinen Leuten ein wenig herum, um die satt & glücklich-Bevölkerung dort zum Abfall vom Sultan und zur Unterwerfung unter die neue christlich-griechische Regierung zu bewegen. Chios ist die zehntgrößte Insel im ganzen Mittelmeer, so dass er dafür elf Tage brauchte. Dann verschwanden er und seine Leute wieder.

    Bekannte von Bekannten berichten von ähnlichen Stunts der aktuellen PKK im türkischen Kurdistan. Zumindest diese Bekannten von Bekannten hat das nicht zu Fans der PKK gemacht, denn die Reaktion der derzeitigen türkischen Regierung ist in etwa so wie die der damaligen. In den Worten der Wikipedia:

    Der Dīwān entsandte den Gouverneur Vehid-Pacha. Er richtete sich in der Festung von Chora ein. Um sicherzustellen, dass die Chioten sich ruhig halten, forderte er 40 Geiseln an (darunter den Erzbischof Platon Franghiadi, die Demogeronten und Mitglieder der wichtigsten Familien der Insel [...]).

    Klar: Das war auch völlig überflüssiger Terror. Anständige Leute tun sowas nicht. Aber wer könnte es, „denkt an Tripoli!“, dem armen Dīwān verübeln, wenn er den Aggressor in die Schranken weist? Dazu gehören natürlich auch Soldaten. Erwartbarerweise sorgten diese Soldaten mitnichten dafür, dass irgendwas besser wurde:

    Es handelte sich um wenig disziplinierte Soldaten, die von der Plünderungsmöglichkeit angezogen wurden. Sie kontrollierten die ländlichen Gebiete der Insel und verbreiteten dort Schrecken.

    So wurden die ChiotInnen, die sich anfangs aus guten Gründen aus der ganzen für sie völlig nutzlosen Frage raushalten wollten, ob sie nun aus dem fernen Konstantinopel oder aus dem noch ferneren Athen regiert werden sollten, allmählich doch zu PatriotInnen.

    Wirklich schlimm wurde es allerdings erst, als bewaffnete Patrioten aus Samos im März 1822 versuchten, die inzwischen wieder etwas menschlicher gewordene Militärherrschaft auf Chios durch Rumballern zu beenden. Fast 3000 christliche Soldaten landeten auf der Insel und zwangen die osmanischen Truppen zum Rückzug in die Burg der Hauptstadt Chora.

    Das Verhängnis patriotischer Erhebung

    An diesem Punkt wurden auch die BäuerInnen aus dem Inselinneren vom nationalen Taumel erfasst und bewaffneten sich, übrigens gegen das Flehen ihrer alten Lokalregierung, die ja immer noch in osmanischer Geiselhaft saß:

    Sie zogen mit Kreuzen und Ikonen durch die Straßen und sangen patriotische Lieder.

    Das konnte sich nun wiederum der Sultan nicht bieten lassen und schickte weitere Verstärkung nach Çeşme, gleich gegenüber von Chios. Am 11. April 1822 landeten ungefähr 7000 osmanische Soldaten auf der Insel – ihr merkt, wie sich auch die Zahlen immer weiter aufschaukeln –, und machen mit christlichen Soldaten wie BäuerInnen recht kurzen Prozess, zumal ersteren zwischendurch die Munition ausgegangen war.

    Es entfaltete sich ein Massaker, das das von Tripoli nochmal weit überbot. Die Bilanz der Wikipedia ist ähnlich düster wie die des DLF:

    Die Bevölkerung der Insel betrug Anfang 1822 zwischen 100.000 und 120.000 Menschen, davon 30.000 Einwohner in Chora. Es waren auch etwa 2.000 Muslime auf der Insel. Für die Zeit nach den Massakern wird meist die Einwohnerzahl von 20.000 genannt. [...] Die häufigsten Schätzungen nennen 25.000 Tote und 45.000 versklavte Menschen. 10.000 bis 20.000 sei die Flucht gelungen.

    Zwar hat so schnell niemand den Griechen Panzerhaubitzen geliefert, und so hatten sie rein materiell keine Möglichkeit zur weiteren Eskalation. Sie brachten aber in der nächsten Runde immer noch 2000 osmanische Soldaten um, als sie am 6. Juni 1822 – die Besatzung war wegen Zuckerfest vermutlich nicht gut beieinander – das osmaische Flaggschiff in der Bucht von Chora abfackelten. Die türkischen Truppen haben zur Vergeltung eine weitere, letzte Zerstörungstour über die Insel unternahmen, konnten da aber auch nicht mehr eskalieren, weil ja schon fast alle BewohnerInnen tot oder verschleppt waren.

    Alles umsonst

    Wofür sind die Leute alle gestorben? Aus heutiger Sicht wird wahrscheinlich niemand bestreiten, dass das alles Quatsch war. Für die Griechen bestand ihre „Freiheit“ aus einem bayrischen König, der „Griechenland“ zwar exzessiv „liebte“, 1862 aber von einem britischen Schiff evakuiert werden musste, weil seine Machtbasis komplett erodiert war und schon wieder Aufstand herrschte. Sein letzter Nachfolger schließlich ging 1968 unter, als er selbst einen Militärputsch plante, ihm andere Militärs aber zuvorkamen (die Ereignisse in der Wikipedia). Diese Militärs waren wiederum die, über die ich in meinem Filmtipp von neulich geschäumt habe.

    Für die Osmanen hat sich das auch nicht gelohnt, denn die Griechen gingen mit Chios im Westen ähnlich wie heute die aktuelle ukrainische Regierung mit russischen Massakern hausieren. Sie konnten viel Sympathie für diese Sorte „Freiheitskampf“ wecken und bekamen viel politische Unterstützung für ihre Sezession, die 1830 auch stattfand. Sicher weniger dramatisch für die Hohe Pforte: Leute wie Lord Byron[1] zogen „für Griechenland” in den Krieg und starben dabei. Chios selbst ging 1912 doch an Griechenland, noch bevor das osmanische System zum Ende des ersten Weltkriegs gänzlich implodierte.

    Und die Leute auf Chios? Also: die, die übrig geblieben sind? Nun, von den gut 100'000 BewohnerInnen aus dem Wikipedia-Zitat von oben ist Chios immer noch weit entfernt; gegenwärtig wohnen rund 50'000 Menschen auf der Insel.

    Ach weh. Wer aus der Geschichte nicht lernen will, wird immer wieder zehntausende Menschen in irgendwelchen mehr oder minder romantischen Anwandlungen von Patriotismus umbringen und, wenns ganz schlimm läuft, auch noch den Rest der Welt davon überzeugen wollen, dass das groß, wichtig und gut ist. Den Akteuren von 1822, die noch keine Wikipedia hatten, möchte ich das nicht vorwerfen, auch wenn sie mit etwas mehr Mühe bereits hinreichend viel Anschauungsmaterial aus der Geschichte hätten gewinnen können.

    Uns Heutigen – tja, wir haben die Wikipedia.

    [1]

    Zu Byron will ich euch die Worte von Bertrand …

  • Hatte Marc Aurel Bandwürmer?

    Foto: Konservierte Bandwürmer in hohen Glasbehältern

    Bandwürmer im großartigen Naturhistorischen Museum in Wien: Den besonders lange in der Mitte soll sich der Arzt wohl so zur k.u.k.Zeit selbst gezogen haben. Auch „bei uns“ hatten also selbst wohlhabende Menschen noch vor recht kurzer Zeit beeindruckende Würmer.

    In den DLF-Wissenschaftsmeldungen vom 15. Februar ging es ab Sekunde 50 um römische Archäologie mit Bandwürmern. Ich gestehe ja einen gewissen Römerfimmel ein, und ich fand zudem die Passage

    In römerzeitlichen Fundstätten auf Sizilien wurden mehrfach konische Tongefäße ausgegraben. Bisherigen Interpretationen zufolge wurden darin Lebensmittel gelagert.

    vielversprechend im Hinblick auf mein Projekt interessanter Selbstkorrekturen von Wissenschaft, denn die neuen Erkenntnisse zeigen recht deutlich, dass zumindest eines dieser Gefäße in Wahrheit als Nachttopf genutzt wurde. Und deshalb habe ich mir die Arbeit besorgt, auf der die Kurzmeldung basiert.

    Es handelt sich dabei um „Using parasite analysis to identify ancient chamber pots: An example of the fifth century CE from Gerace, Sicily, Italy“ der Archäologin Sophie Rabinow (Cambridge, UK) und ihrer KollegInnen (DOI 10.1016/j.jasrep.2022.103349), erschienen leider im Elsevier-Journal of Archeological Science. Ich linke nicht gerne auf die, zumal der Artikel auch nicht open access ist, aber leider gibts das Paper derzeit nicht bei der Libgen.

    Publikationsethische Erwägungen beiseite: Diese Leute haben einen der erwähnten „konischen Tongefäße” aus einer spätrömischen Ruine im sizilianischen Enna hergenommen und den „sehr harten, weißlichen Rückstand von schuppigem Kalk“ („very hard whitish lime-scale deposit“) am Boden des Gefäßes untersucht. Vor allem anderen: Ich hätte wirklich nicht damit gerechnet, dass, was in einem lange genutzten Nachttopf zurückbleibt, schließlich diese Konsistenz bekommt.

    Nie wieder Sandalenfilme ohne Wurmgedanken

    Aber so ist es wohl, denn nachdem die Leute das Zeug in Salzsäure aufgelöst und gereinigt hatten, waren durch schlichte Lichtmikroskopie (mein Kompliment an die AutorInnen, dass sie der Versuchung widerstanden haben, coole und drittmittelträchtige DNA-Analysen zu machen) haufenweise Eier von Peitschenwürmern zu sehen – und das halte auch ich für ein starkes Zeichen, dass reichlich menschlicher Kot in diesem Pott gewesen sein dürfte. Auch wenn, wie die AutorInnen einräumen, keine Kontrollprobe der umgebenden Erde zur Verfügung stand, ist es nicht plausibel, wie Eier in dieser Menge durch nachträgliche Kontamination in den „harten, weißen Rückstand“ kommen sollten.

    Römer hatten – das war schon vor dieser Arbeit klar – nicht zu knapp Würmer. Alles andere wäre trotz der relativ ordentlichen Kanalisation in größeren römischen Siedlungen höchst erstaunlich, da auch in unserer modernen Welt die (arme) Hälfte der Menschheit Würmer hat (vgl. z.B. Stepek et al 2006, DOI 10.1111/j.1365-2613.2006.00495.x). Dennoch guckt sich so ein zünftiger Sandalenfilm (sagen wir, der immer noch hinreißende Ben Hur) ganz anders an, wenn mensch sich klar macht, dass die feschen Soldaten und fetten Senatoren alle des öfteren mal Würmer hatten. Und auch Caesars Gallischer Krieg oder Mark Aurels Selbstbetrachtungen erhalten, finde ich, eine zusätzliche Tiefe, wenn mensch sich vorstellt, dass in den Gedärmen jener, die da Kriegspropaganda oder stoische Philosophie betrieben, parasitische Würmer mitaßen.

    Forschungsprojekt: Wurmbefall in Köln vor und nach 260

    Nun schätzen Rabinow et al allerdings, dass ihre Rückstände wohl in der Mitte des fünften Jahrhunderts entstanden. Damals hatte die römische Zivilisation und damit auch ihre Kanalisation wahrscheinlich auch in Sizilien schon etwas gelitten. Die Kölner Eifelwasserleitung etwa – die eingestandenermaßen technisch besonders anspruchsvoll war und in einem besonders unruhigen Teil des Imperiums lag – haben „Germanen“ schon im Jahr 260 zerstört, und sie wurde danach nicht mehr in Betrieb genommen, obwohl Köln bis weit ins 5. Jahrhundert hinein eine römische Verwaltung hatte.

    Ich persönlich wäre überzeugt, dass, wer mit der Rabinow-Methode an entsprechend datierbare Überreste heranginge, mit dem Jahr 260 eine sprunghafte Erhöhung der Verwurmung in Köln feststellen würde. Insofern: Vielleicht hatten Caesar und Mark Aurel, zu deren Zeiten der römlische Wasserbau noch blühte, ja doch nicht viel mehr Würmer als wir im kanalisierten Westen?

    Ach so: Das mit dem Irrtum – „nee, die Teile hatten sie für Essen“ – war so wild in Wirklichkeit nicht. Wie üblich in der Wissenschaft waren die Antworten auch vorher nicht so klar. Rabinow et al schreiben:

    A recent study of material at the town of Viminacium in Serbia, where over 350 identically deep-shaped vessels are known, was able to confirm at least 3 potential uses: storage for cereals or water, burial urns, and chamber pots […]. Chamber pots clearly were also sometimes put to secondary use, for example as a container for builder’s lime […], while vessels initially destined for other purposes may have been turned into chamber pots.

    Nun, dann und wann kommen sogar Wissenschaft und „gesunder“ Menschenverstand zu recht vergleichbaren Ergebnissen.

  • Klarsprache: Abwägungen

    Foto: Mahnwache in Boston, Umhängeschild: Stop Bombing Iraq

    Im September 2000, kurz vor dem Ende von Albrights Amtszeit und der Wahl von George W. Bush: Eine Mahnwache gegen das Embargo gegen den und das „Flugverbot“ (mit regelmäßigen Bombardements, daher das Plakat) über dem Irak an der Park Street Station in Boston, Massachussetts.

    In der Nachricht über den Tod der ehemaligen US-Außenministerin Albright am DLF heißt es, Joe Biden habe sie gewürdigt als „Vorkämpferin für Demokratie und Menschenrechte“. Das ist auf den ersten Blick bemerkenswert, weil sich doch noch viele Menschen an Albrights Interview im US-Politmagazin 60 Minutes aus dem Jahr 1996 erinnern, in dem der Interviewer fragte:

    Wir haben gehört, dass eine halbe Million [irakische] Kinder [infolge der westlichen Sanktionen] gestorben sind. Sehen sie, das sind mehr Kinder als in Hiroshima gestorben sind. Und, na ja, war es diesen Preis wert?

    In einem klassischen Fall von Klarsprache hat Albright geantwortet:

    Ich denke, das war eine sehr schwere Entscheidung. Aber wir glauben, dass es den Preis wert ist.

    (Übersetzung ich; Original z.B. bei der newsweek). In meiner Zeit in den USA – Albright war damals „meine“ Außenministerin –, war dieses „the price is worth it“ ein geflügeltes Wort, um bei Demonstrationen und Mahnwachen wie der oben im Bild die mörderische, zynische und verlogene Realpolitik zu kommentieren und Zweifel zu äußern, wenn Kriege mit „aber die Menschenrechte“ (Kosovo, Albright und Bundeswehr dabei) oder „wir verteidigen uns“ (Irak, Bundeswehr noch nicht und Albright nicht mehr dabei) rechtfertigt wurden.

    Im Rückblick würde ich die Bestürzung über das „it was worth it“ gerne relativieren. Albright war wahrscheinlich nach Maßstäben ihrer Zunft wirklich relativ deutlich orientiert auf Menschenrechte und Demokratie, denn sonst hätte sie diese Antwort vermutlich nicht gegeben und stattdessen dem Industriestandard folgend in eine andere Richtung losgeschwafelt[1]. Insofern verdient sie Anerkennung dafür, die Maßstäbe der Zunft der äußeren Sicherheit klar zu benennen, denn die erlauben nun mal, zur Durchsetzung von „nationalen“ Interessen massenhaft Menschen zu töten. Das einzugestehen ist, so glaube ich heute, ethisch gegenüber dem sonst üblichen Fast Talk deutlich zu bevorzugen.

    Albrights Klarsprache mahnt uns, dass auch Saktionen fürchterliche Folgen haben können und wir daher gute Gründe für sie einfordern sollen („nationale Interessen“ sollten für nette Menschen nicht in die Kategorie „gut“ gehören), und dass „unsere“ Regierungen ebenso bereit sind, für ihre Interessen zu töten wie alle anderen auch.

    Deshalb, um kurz in die Gegenwart zu schalten, muss der Schluss aus dem Ukrainekrieg eben radikale Abrüstung sein und jedenfalls nicht mehr Gewaltmittel für Menschen, die sich gegentlich „schwere Entscheidungen“ abringen, die Tote im Millionenmaßstab – es starben ja in den 90ern auch nicht nur die Kinder im Irak, ganz zu schweigen von der Hinführung auf den dritten Golfkrieg, an dem im Irak immer noch viele Menschen sterben – nach sich ziehen.

    [1]Damit sind Dinge gemeint wie „das sagen die Russen“, „Handelswege sichern“, „Verlässlichkeit im Bündnis“ oder viele ähnliche Platitüden, die längst auswendig kann, wer regelmäßig die Interviews in den DLF-Informationen am Morgen hört.
  • Jost Bürgi, der Sinus und Umberto Eco

    Kryptische, leicht mathematisch aussehende Zeicnung

    „Reimers' Diagramm“: Für 400 Jahre der einzige Hinweis darauf, wie Jost Bürgi wohl seine Sinustabelle berechnet hat. Nicht mal Kepler hat das Rätsel lösen können.

    Ein Geheimnis, das im antiken Griechenland ein wenig angekratzt wurde, über das dann Gelehrte in Indien und Arabien nachgedacht haben, für das in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein wandernder Schweizer Uhrmacher eine genial einfache Lösung fand, von der aber die Nachwelt nur ein paar kryptische Referenzen hat, bis ein unerschrockener Wissenschaftler in den Tiefen längst vergessener Bibliotheken ein Manuskript entdeckt, das des Rätsels Lösung enthält: Es gibt Geschichten, die klingen nach einem Roman von Umberto Eco (oder, je nach Temperament und/oder Geschmack, Dan Brown) und sind doch wahr.

    Auf die Geschichte von Jost Bürgis Sinusberechnung bin ich über die DLF-Sternzeit vom 27.2.2022 gekommen, und sie geht ungefähr so: Nachdem Hipparchos von Nicäa so um die 150 vdcE[1] nicht nur den ersten brauchbaren Sternkatalog vorgelegt, sondern auch die ersten ordentlichen Rezepte angegeben hatte, wie mensch für jede Menge Winkel den zugehörigen Sinus[2] ausrechnet, gab es zur Berechnung trigonometrischer Funktionen sehr lange nicht viel Neues.

    Klar, der große Ptolomaios, genau, der mit dem Weltbild, hat Hipparchos' Methode zur Berechnung des Sinus über regelmäßige Vielecke kanonisiert. In Indien gab es einige Fortschritte – etwa den Übergang von der Sehne zum Sinus –, in Arabien wurden verschiedene Ergebnisse zusammengetragen und systematisiert, aber immer war es eine mühsame, geometrisch insprierte, endlose Rechnerei.

    Und dann kommen wir in die frühe Neuzeit in Europa, genauer die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts. Kopernikus hat noch einmal ganz klassisch den Sinus mit Vielecken berechnet, während er die Konflikte zwischen Ptolomaios und der Realität untersuchte. In Italien macht sich allmählich Galileo bereit, die Physik als experimentelle Naturwissenschaft zu etablieren. Und in Kassel, beim wissenschaftsbegeisterten hessischen Landgraf Wilhelm IV, sammeln sich ein paar Mathe- und Astro-Nerds, die beim ebenso berühmten wie fiesen Tycho gelernt haben, unter ihnen Nicolaus Reimers, der das kryptische Bild über diesem Post veröffentlicht hat, vermutlich, weil er versprochen hatte, nicht mehr zu verraten.

    Bürgis geniale Methode

    Es weist auf ein Verfahren zur Berechnung von Werten der Sinusfunktion hin, das nichts mehr mit den umschriebenen Polygonen des Hipparchos zu tun hat. Sein Erfinder, der Toggenburger Uhrmacher-Astronom-Erfinder Jost Bürgi, hatte zu dieser Zeit ein großes Tabellenwerk vorgelegt, mit dem mensch auch ohne Taschenrechner rausbekommen konnte, wie viel wohl sin(27 32’ 16’’) sei[3]. Offensichtlich funktionierte die Methode. Doch hat Bürgi – Autodidakt und vielleicht etwas verschroben – die Methode nie richtig veröffentlicht, und so brüteten MathematikerInnen, unter ihnen wie gesagt Johannes Kepler, der immerhin die Sache mit den Ellipsenbahnen im Planetensystem rausbekommen hat, lang über der eigenartigen Grafik. Und kamen und kamen nicht weiter.

    Das war der Stand der Dinge bis ungefähr 2014, als der (emeritierte) Münchner Wissenschaftshistoriker Menso Folkerts im Regal IV Qu. 38ª der Universitätsbibliothek in Wrocław auf eine lange übersehene gebundene Handschrift stieß. Ein wenig konnte er ihre Geschichte nachvollziehen: Jost Bürgi persönlich hatte das Werk Kaiser Rudolf II – dem Mäzen von Tycho und Kepler – am 22. Juli 1592 (gregorianisch) in Prag übergeben, was ihm eine Zuwendung von 3000 Talern eingebracht hat. Ich habe leider nicht die Spur eines Gefühls, wie sich der Betrag mit modernen Drittmittelanträgen vergleicht. Die Form des Antrags jedenfalls ist aus heutiger Sicht als unkonventionell einzustufen.

    Das Werk fand seinen Weg in das Augustinerkloster im unterschlesischen Sagan (heute Żagań). Wie es dort hinkam, ist nicht überliefert, aber mensch mag durchaus eine Verbindung sehen zu Keplers Aufenthalt in Sagan in den Jahren von 1628 bis 1630. Vielleicht hat er das Buch ja nach seinen Diensten in Prag mitgenommen, auf seinen verschiedenen Wanderungen mitgenommen und schließlich selbst im Kloster gelassen? Aber warum hätte er dann über Bürgis Methode gerätselt?

    Wie auch immer: Im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses wurde das Kloster 1810 aufgelöst – ich stelle mir das ein wenig vor wie in Poes „Die Grube und das Pendel“ –, und der Bestand der Bibliothek fiel an die Universität Breslau, die wiederum nach dem zweiten Weltkrieg zur polnischen Uni Wrocław wurde.

    In diesem geschichtsträchtigen Manuskript erklärt Bürgi seinen Algorithmus. Dargestellt ist das in der Abhandlung von Folkerts et al (arXiv:1510.03180), in der sich auf den Seiten 11 und 12 auch die Auflösung für Reimers' Rätsel findet. Etwas schöner beschreibt das Verfahren Denis Roegel in seinem Aufsatz Jost Bürgi's skillful computation of sines. Dort wird auch Bürgis mutmaßliche Grundeinsicht besser erläutert, nach der der Sinus einfach das Ding ist, das, modern gesprochen, nach zweifacher Ableitung sich selbst (mal minus eins) ergibt. Das ist der mathematische Hintergrund dafür, dass folgendes Stück Python tatsächlich relativ schnell zu einer Tabelle der Sinuswerte von n im ersten Quadranten gleichverteilten Winkeln konvergiert:

    tot_sines = list(range(n+1))
    for iter_index in range(n_iter):
    
      intermediates = [tot_sines[-1]//2]
      for tot in reversed(tot_sines[1:-1]):
        intermediates.append(intermediates[-1]+tot)
    
      tot_sines = [0]
      for diff in reversed(intermediates):
        tot_sines.append(tot_sines[-1]+diff)
    
    return dict((k*math.pi/2/n,  v/tot_sines[-1])
      for k, v in enumerate(tot_sines))
    

    – es ist, glaube ich, unmöglich, zu verstehen, was hier passiert (und warum), ohne den Roegel oder zumindest den Folkerts gelesen zu haben. Aber ich könnte andächtig werden angesichts so simpler Manipulationen, die so schnell zu richtig vielen Stellen einer transzendenten Funktion wie des Sinus führen.

    Ein numerischer Traum

    Wie schnell das mit den vielen Stellen bei Bürgis Algorithmus geht, zeigt folgende Grafik:

    Heatmap, die recht gleichmäßig von Gelb nach Schwarz übergeht

    Hier läuft horizontal der Winkel – und der Algorithmus funktioniert wirklich nur, wenn das einen rechten Winkel einschließt –, vertikal die Iterationen von Bürgis Algorithmus. Die Farben entsprechen dem dekadischen Logarithmus der Abweichung der Bürgi-Ergebnisse von dem, was die Python-Standardbibliothek gibt, im Groben also die Zahl der Stellen, die der Algorithmus richtig hinbekommt. Mehr als 18 geht da schon mal nicht, weil die Zahlen von Python in 64-bittigen IEEE-Fließkommazahlen („double precision“) kommen, und mehr als 18 Dezimalstellen sind da nicht drin (in der Grafik steckt die Zusatzannahme, dass wir von Zahlen in der Größenordnung von eins sprechen).

    Mithin gewinnt der Algorithmus pro Iteration ungefähr eine Dezimalstelle, und das gleichmäßig über den ganzen Quadranten. DemoprogrammiererInnen: billiger kommt ihr, glaube ich, nicht an eine beliebig präzise Sinustabelle ran.

    Spannend fand ich noch die kleinen dunkelblauen Klötzchen ganz unten in der Grafik: Hier werden sich Bürgi und Python offenbar auf Dauer nicht einig. So, wie ich das geschrieben habe, würde ich fast eher Bürgi vertrauen, denn bei den Ganzzahlen, die da verwendet werden, kann eigentlich nichts schief gehen. Andererseits sind Fließkommazahlen eine heikle Angelegenheit, insbesondere, wenn es ums letzte Bit geht. Um mich zu überzeugen, dass es nur um genau jenes unheimliche letzte Bit geht, habe ich mir geschwind eine Funktion geschrieben, die die Fließkommazahlen vinär ausgibt, und der Code gefällt mir so gut, dass ich sie hier kurz zeigen will:

    import struct
    
    _BYTE_LUT = dict((v, "{:08b}".format(v)) for v in range(256))
    def float_to_bits(val):
      return "".join(_BYTE_LUT[v] for v in struct.pack(">d", val))
    

    Mit anderen Worten lasse ich mir geschwind ausrechnen, wie jedes Byte in binär aussehen soll (_BYTE_LUT), wobei die Python-Bibliothek mit dem 08b-Format die eigentliche Arbeit macht, und dann lasse ich mir die Bytes der Fließkommazahl vom struct-Modul ausrechnen. Der einzige Trick ist, dass ich das Big-end-first bestellen muss, also mit dem signfikantesten Byte am „linken“ Ende. Tue ich das nicht, ist z.B. auf Intel-Geräten alles durcheinander, weil die Bits in der konventionellen Schreibweise daherkommen, die Bytes aber (wie bei Intel üblich) umgedreht, was ein furchtbares Durcheinander gibt.

    Jedenfalls: Tatsächlich unterscheiden sich die Werte schon nach 20 Iterationen nur noch im letzten bit, was für 45 Grad alias π/4 z.B. so aussieht:

    45
      0011111111100110101000001001111001100110011111110011101111001101
      0011111111100110101000001001111001100110011111110011101111001100
    

    Ich lege mich jetzt mal nicht fest, was das „bessere“ Ergebnis ist; ich hatte kurz überlegt, ob ich z.B. mit gmpy2 einfach noch ein paar Stellen mehr ausrechnen sollte und sehen, welches Ergebnis näher dran ist, aber dann hat mich meine abergläubische Scheu vor dem letzten Bit von Fließkommazahlen davon abgehalten.

    Wer selbst spielen will: Meine Implementation des Bürgi-Algorithmus, der Code zur Erzeugung der Grafik und die Bitvergleicherei sind alle enthalten in buergi.py.

    [1]Das vdcE bringe ich hiermit als Übertragung von BCE, before the Christian era, in Gebrauch. Und zwar, weil v.Chr völlig albern ist (es ist ja nicht mal klar, ob es irgendeine konkrete Figur „Christus“ eigentlich gab; wenn, ist sie jedenfalls ganz sicher nicht zur aktuellen Epoche – also dem 1. Januar 1 – geboren) und „vor unserer Zeitrechnung“ ist auch Quatsch, denn natürlich geht Zeitrechnung (wenn auch mangels Jahr 0 etwas mühsam) auch vor der Epoche. „Vor der christlichen Epoche“ hingegen bringt ganz schön auf den Punkt, was das ist, denn die „Epoche“ ist in der Zeitrechnung einfach deren Nullpunkt (oder halt, vergurkt wie das alles ist, hier der Einspunkt).
    [2]Na ja, in Wirklichkeit hat er mit der Länge der Sehne gerechnet, die ein Winkel in einem Kreis aufspannt, aber das ist im Wesentlichen das Gleiche wie der Sinus, der ja gerade der Hälfte dieser Sehne entspricht.
    [3]Ich bleibe natürlich bei meiner Verurteilung …
  • Neurasthenie und Post-Covid

    Neulich hatte ich es schon von der Russischen Grippe, einer Pandemie, deren große Wellen zwischen 1889 und 1895 rollten und die plausiblerweise die jüngste große Coronapandemie vor SARS-2 gewesen sein könnte (Forschung aktuell dazu). Zwischenzeitlich ist mir nun aufgefallen, dass es einen weiteren Datenpunkt für Parallelen zwischen der Russischen Gruppe und SARS-2 geben könnte: Die Neurasthenie.

    Bis zu dieser Einsicht hatte ich die aktuelle Einschätzung der Wikipedia geteilt:

    Neurasthenie gehörte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu den Modekrankheiten einer gehobenen Gesellschaftsschicht.

    Im Fin de Siécle schien es in der Tat zum guten Ton zu gehören,

    Erschöpfung und Ermüdung, die entweder durch eine zu geringe Belastbarkeit durch äußere Reize und Anstrengungen oder auch durch zu geringe oder zu monotone Reize selbst verursacht sein kann

    an den Tag zu legen. Florian Illies schreibt dazu in seinem Zeitportrait „1913 – der Sommer des Jahrhunderts“:

    1913 fasste man das zusammen unter dem Begriff: »Neurasthenie«. Spötter sangen: »Raste nie und haste nie, sonst haste die Neurasthenie«.

    Was aber, wenn „wir“ (also die, die sich in der Einschätzung „Modekrankheit“ gefielen) den Betroffenen unrecht getan haben? Was, wenn das in Wirklichkeit das Äquivalent von Long Covid, sagen wir Long Russische Grippe, also die neurologischen oder immunologischen Spätfolge einer im höheren Alter ersterworbenen Coronainfektionen war? Wenn, dann sollten wir nicht die Luft anhalten, bis das alles wieder vorbei ist, denn die Neurastheniewelle ebbte, soweit ich erkennen kann, ähnlich wie Thomas Manns Zauberberg[1] erst mit dem ersten Weltkrieg, zwanzig Jahre nach den großen Wellen, ab.

    Ich bereite mich jedenfalls schon mal vor, mal wieder meinen Hut essen zu müssen. Hat wer Hinweise auf ordentliche Literatur zu dem Thema?

    [1]Ich habe aus gegebenem Anlass nachgesehen: Mann erwähnt im ganzen Zauberberg keine Neurasthenie, obwohl das Topos eigentlich das ganze Buch durchzieht. Ob es daran liegt, dass das Buch zehn Jahre nach dem Ende seiner Handlung erschien und es nichts Anrüchigeres gibt als die Mode von gestern?
  • Es war nicht die Inflation

    Im Hintergrund Politik vom 2.2.2022 am Deutschlandfunk war zu hören:

    [Die „Stabilitätsorientierung“ der Bundesbank] hat auch historische Gründe: Die Erfahrungen der galoppierenden Inflation zum Ende der Weimarer Republik prägen die Deutschen auch fast ein Jahrhundert danach noch.

    Das ist sachlich falsch. „Zum Ende der Weimarer Republik“ herrschte Deflation. In der Tat trug diese auch nach Einschätzung konservativer Wirtschafts„wissenschaftler“Innen ganz gewiss dazu bei, dass die Weltwirtschaftskrise im Gefolge des Schwarzen Freitags ein gutes (na ja, schlechtes) halbes Jahrzehnt anhielt. Es war diese Beobachtung, die John Maynard Keynes zu seiner nach Maßstäben der Disziplin erstaunlich vernünftigen Wirtschaftstheorie brachte und auch den New Deal in den USA inspirierte.

    Nun könnte mensch einen xkcd 386 aufrufen und weitergehen:

    Aber ganz so einfach ist es hier vielleicht doch nicht, denn es schwingt in der Aussage ein höchst destruktiver Subtext mit, in etwa „die Inflation hat Hitler gemacht“. Nein: Die galoppierende Inflation im deutschen Reich fand 1923 statt und hatte im Wesentlichen nichts mit Wirtschaftspolitik zu tun, dafür aber viel mit durchgedrehtem Nationalismus auf mehreren Seiten (vgl. Ruhrbesetzung). Danach kam zunächst die auch rückblickend jedenfalls kulturell erstaunlich liberale Zeit der „goldenen Zwanziger“, während der NSDAP und DNVP zusammen bei Wahlen so im Bereich der heutigen AfD abschnitten.

    Der Subtext von Faschismus-durch-Inflation ist an dieser Stelle fast sicher keine bewusste Manipulation, denn Brigitte Scholtis, die Autorin der Sendung, mag selbst Weltwirtschaftskrise und Inflation vermengt oder jedenfalls nicht darüber nachgedacht haben.

    Er ist dennoch ein Symptom für die bleibende Lüge der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die NS-Herrschaft war kein Unfall, keine Folge von „wachsender Zerrissenheit der Gesellschaft“ oder gar der bolschewistischen Sowjetregierung. Nein, sie war offensichtlich Folge der Tatsache, dass die Eliten der Weimarer Republik in Justiz, Polizei, Militär, Wirtschaft und zu guten Stücken auch Politik (nicht jedoch in der Kultur) in ihrer überwältigenden Mehrheit völkisch, nationalistisch, autoritär und jedenfalls rabiat antikommunistisch dachten. Sie teilten das NS-Programm – eingestandenermaßen fast durchweg mit weniger eliminatorischem Antisemitismus – von Anfang an. Das war und ist eine unbequeme Wahrheit für die Befreiten von 1945 und danach, die sich ja sehr häufig in der Tradition dieser Eliten sahen.

    Diese Wahrheit anzuerkennen würde helfen, solche scheinbar kleinen Fehler zu vermeiden – und auch ganz gewaltige Fehler wie die Extremismustheorie, die es ohne planmäßige Leugung dieser unschönen Geschichte vermutlich gar nicht gäbe.

  • Heldin: Luise Zietz

    Das DLF-Kalenderblatt vom 27. Januar erinnerte an Luise Zietz, die 100 Jahre zuvor gestorben war. Zietz war die erste Frau im Vorstand einer deutschen Partei – der SPD, ab 1908. Der DLF-Beitrag berichtete auch:

    Während des Ersten Weltkriegs sprach sich Luise Zietz als Pazifistin gegen die Bewilligung von Kriegskrediten aus und wurde aus dem SPD-Parteivorstand geworfen.
    Altes Foto mit Personen drauf

    Luise Zietz neben Friedrich Ebert, im SPD-Parteivorstand von 1909; es ist Zietz hoch anzurechnen, dass sie nicht mehr neben Ebert stand, als dieser mit Wehrmacht und Freikorps die fortschrittlichen Aufstände am Anfang der Weimarer Republik niedermetzeln ließ (Quelle).

    Gerade dieser Punkt hat mir imporiert, zumal ich, bevor diese Sendung in meinem aynchronen Radio kam, den großen patriotischen Taumel in den Informationen am Morgen vom Dienstag miterleben musste. In diesem kamen, soweit ich ihn verfolgt habe, nur Leute zu Wort wie Jürgen Hardt (der immerhin nur die blinde Gewissheit des Patrioten an den Tag legte, „wir“ seien die Guten) oder wie Michael Gahler (der sich zu „totaler Kriegserklärung“ und „völkisch-faschistischem Verständnis“ verstieg – wo sind die Mahner gegen kreischkrumme Vergleiche, wenn mensch sie braucht?) – jedoch niemand, der_die mal über die Symmetrie der Situation geredet hat, dass „wir“ nämlich nicht nur aus russischer Sicht in etwa ebenso schurkig sind wie „sie“, und dass wirklich niemand die doofen Turf Wars zwischen verschiedenen Schurkengangs haben will. Dass die Moderatorin penetrant Bekenntnisse ausgerechnet zu Waffenlieferungen einforderte, tat ein Übriges: Ich sehnte mich intensiv nach aufrechten Pazifistinnen.

    Wie schön wäre es da gewesen, wenn es im SPD-Parteivorstand von 1914 wirklich eine gegeben hätte, die Liebknechts einsame Ablehnung der Kriegskredite – und es wird heute wohl niemand mehr bestreiten, dass er im ganzen weiten Reichstag der einzige war, der sich in dieser Sache vor der Geschichte nicht verstecken muss – unterstützte und dafür noch mit ihrem Amt bezahlt hat.

    Nun, wie die oben zitierte Kurzbiografie zeigt, war das leider nicht so:

    Zwar hatte Luise Zietz 1912 in ihrem Buch Die Frauen und der politische Kampf dazu aufgerufen, sich gegen den drohenden Krieg zu stellen, doch an der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz 1915 in Bern, die vom Parteivorstand nicht gebilligt worden war, nahm sie nicht teil. Im Laufe der ersten beiden Kriegsjahre scheint sich ihre Einstellung jedoch geändert zu haben. Sie äußerte sich seither deutlich kritischer zur Burgfriedenspolitik der SPD und stellte ihre Mitarbeit im Nationalen Frauendienst ein.

    Zietz war 1914 mit dem ganzen Parteivorstand im patriotischen Taumel und ist mit der SPD in den Krieg gezogen. Ich fühle mich fast versucht, ihre Wikipedia-Seite, die derzeit das verkürzte Narrativ des DLF übernommen hat, diesbezüglich zu verbessern. Aber immerhin hatte sie Augen im Kopf und ein Mindestmaß an Mitgefühl, und so hat sie schließlich ihren Fehler eingesehen. 1917 hat sie die USPD mitgegründet, was durchaus als erfolgreicher Beitrag zur Dämpfung von Patriotismus und mithin zur Verkürzung des Gemetzels gelten darf. Zudem hat sie später als USPD-Abgeordnete erfreulichen Klartext geredet, etwa als die Ebert-SPD von Mutterschutz und elementaren Beschäftigtenrechten bei Krankheit nichts mehr wissen wollte: „Kapitalsinteressen wurden höher bewertet als warmes Menschenleben“.

    Luise Zietzs anfängliche Unterstützung des ersten Weltkriegs ist schon ein wenig erschütternd, zumal sie vor der nationalen Erregung von 1914 offenbar recht vernünftige Ansichten zur Nation und dem Töten für diese geäußert hat. Aber die Demonstration, dass mensch sich von Kriegspolitik abwenden kann, dass mensch bereit ist, für die Einsicht in die eigene patriotische Verblendung auch einen Posten im Parteivorstand aufzugeben: Davon bräuchte es heute erneut viel mehr, hier bei „uns“ wie auch bei all den „sie“-s rund um den Globus. Weil Zietz diese Großtat 1917 hinbekommen hat, ist sie durchaus eine echte Heldin; vielleicht etwas gebrochen, aber doch Heldin.

  • Geschichte: Carl Benz bei Wilhelm I

    Schlechte Fotomontage: Ein Benz-Portrait in einer Versailles-Spiegelsaal-Variante

    Die Audienz des Herrn Benz (in weißer Uniform) wurde auch im Bild festgehalten.

    Bei Recherchen im Deutschen Nationalarchiv bin ich auf eine Mitschrift einer Art Ansprache – heute würde das wohl sales pitch genannt werden – gestoßen, die Dr. Carl Benz, Mannheim, Eigentümer der dortigen Fabrik für Maschinen zur Blechbearbeitung, gelegentlich einer Audienz bei Kaiser Wilhelm I am 23. Mai 1880 gehalten haben soll. Ich habe sie abgetippt und orthographisch aktualisiert:

    Hochgeehrte kaiserliche Majestät, allerdurchlauchtigste, großmächtigste, allergnädiste Hohheit etc pp,

    Erlaubt mir, Carl Friedrich Michael Benz, Absolvent der polytechnischen Hochschule zu Karlsruhe, Euch untertänigst einen Vorschlag zu unterbreiten, welcher einen ebenso ernsten wie drängenden Missstand aus der Welt zu schaffen verspricht. Namentlich sind nicht nur die Straßen der Hauptstadt Ihro Reiches verunziert von den Hinterlassenschaften zahlloser Rösser. Nein, diese sind in allen Städten wie Dörfern in Ihro Obhut ein beständiges Ärgernis, zu schweigen von den Gefahren, die von ihnen für das öffentliche Wohlbefinden ausgehen. So vergeht wohl kein Tag, ohne dass sich ein tapferer Offizier seine tadellose Uniform durch einen unbedachten Schritt, gar ein unwürdiges Ausrutschen, besudelt mit dem kreatürlichen Schmutz.

    Es wird Zeit, dieses Ärgernis aus der Welt zu schaffen. Ich bin dazu in der Lage, und zwar mittels meines patentierten pferdelosen Wagens, kurz, meines Motorwagens. Er vermag Menschen mit großer Geschwindigkeit zu bewegen, ohne dass dazu Pferde oder anderweitig die Straßen verunreinigende Tiere benötigt würden. Wird es erst genug von meinen Wagen geben, wird unser gütiger Herrscher Seine Städte nicht mehr wiedererkennen.

    Um diesen großen Schritt zur höheren Kultivierung des deutschen Volkes, ja, ich will der Hoffnung Ausdruck geben, der Völker des ganzen Erdenkreises, zu tun, werden nur einige kleine Erweise von Gunst und Gnade nötig sein, abgesehen von einer unbedeutenden Zuwendung aus der Privatschatulle Eurer Majestät. Zuvorderst müssten Majestät einige Aufwendungen für den Ausbau des Straßennetzes veranlassen.

    Natürlich werden meine Wagen gewisse gesetzliche Privilegien benötigen. Ihnen ist die Hälfte des Straßenraums für ihre Bewegung zu reservieren. Der Aufenthalt von Personen muss dort verboten werden. Vielleicht kann ihnen an einzelnen Stellen per Lichtzeichen das gelegentliche Betreten der Straßen Ihro Majestät kurzfristig gestattet werden. Ein weiteres Drittel der Wege und Plätze werden Ihro Untertanen nicht mehr betreten können, da ja die Motorwagen zu akkomodieren sind, während sie nicht fahren. Ich erwarte zuversichtlich, dass dem Gesinde auch nach diesen Anpassungen von Gesetz und Gebrauch hinreichend Raum verbleiben wird und es den kaiserlichen Privilegien für meine Motorwagen freudig und ohne Murren folgen wird.

    Ich erwähne beläufig, dass Jahr um Jahr einige tausend Flaneure und auch Insassen der Motorwagen bei allfälligen Kollisionen sterben werden. Unter den Überlebenden wird es fraglos zahlreiche Beschädigte geben, die, so steht zu befürchten, dem Ruhm des Vaterlandes nicht mehr im gewohnten Maße werden dienen können. Ich habe weiter überschlagen, dass einige weitere Zehntausende an feinem Staub und anderen Miasmen der Motorwagen zugrunde gehen werden, und noch einmal so viele an Lärm und dergleichen. Nun: Auch Pferde töten Menschen. Und fraglos sind dies sehr überschaubare Opfer im Vergleich zum reichlichen Nutzen und Gewinn, da unsere wunderbaren Städte von den dampfenden Hinterlassenschaften der Pferde befreit werden.

    Ohne die Errungenschaft unnötig profanisieren zu wollen, darf ich in aller Kürze anmerken, dass meine Erfindung auch den Geldfluss in Ihro Gnaden Imperium beflügeln wird, da das fleißige Volk ein rundes Siebtel mehr wird arbeiten müssen für die Freude und Gnade, einen Motorwagen besitzen und bewegen zu dürfen. Ich kann indes bereits jetzt versprechen, dass sie das gerne tun werden, dass sie im Gegenteil heftig ringen werden dafür, mehr arbeiten zu müssen. Genauso werden sie ganz aus eigenem Willen ihre Kinder nicht mehr auf der Straße spielen lassen. Dies wird nicht nur das Unwesen der sprichwörtlichen Straßenjungen zu einem Ende bringen, es werden so auch weniger junge, vielleicht hoffnungsvolle Talente unter den Rädern meiner Motorwagen zermalmt.

    Um diese kleinen Preise können Ihro Untertanen dann täglich eine oder zwei Stunden in ihren Blechkäfigen verbringen und mit großer Anspannung durch Glasscheiben auf andere Untertanen blicken, die zumeist ebenfalls in Blechkäfigen dahinrasen. Es wird viel Ärger und Hader sein zwischen den Männern in ihren Käfigen, was gewiss überaus förderlich sein wird zur Ertüchtigung des Volkes im Wettstreit der Nationen und zur Vertiefung der Liebe des Volkes zu Ihro Majestät. Manchmal werden sie auch gar nicht dahinrasen, sondern in ihren Käfigen hintereinander stehen, ohne zu wissen warum. Auch das werden das willig hinnehmen, denn sie werden wissen: Der große Kaiser hat uns erlöst vom Pferdemist.

    Es könnte sein, dass dieses Dokument nicht ganz authentisch ist, denn Forschungs- und Industrieförderung im heutigen Sinn hat es damals noch nicht gegeben. Außerdem hat Benz wahrscheinlich nicht genau kommen sehen, was seine Erfindung in der Welt anrichten würde. Denn auch wenn er wohl kein sehr netter Mensch war, er hätte es andernfalls hoffentlich gelassen.

    In Wahrheit wird es wie so oft gewesen sein: Die allerabsurdesten Dinge haben sich in langen Entscheidungsketten entwickelt, in denen jede einzelne Entscheidung zumindest nachvollziehbar ist. Es hat ja niemand ahnen können, dass am Schluss etwas rauskommt wie unsere Autogesellschaft.

  • Joe Hills Asche und die bessere Zukunft

    „I dreamed I saw Joe Hill last night, alive as you and me“ – so fängt ein Klassiker des Arbeiterlieds an, der mich spätestens bei „And smiling with his eyes,/ says Joe, what they could never kill/ went on to organize“ immer sehr ergriffen hat, auch in seinen Aktualisierungen wie etwa I dreamed I saw Judi Bari last night von David Rovics.

    Was ich nicht wusste: In das Bewusstsein der (halbwegs) modernen Linken hat das Lied Joan Baez gebracht, als sie es beim Woodstock Festival aufführte. Trivia? Klar. Noch viel mehr davon habe ich gestern gehört, als der Deutschlandfunk-Freistil vom 12.12.2021 („Die Asche von Joe Hill”) in meinem asynchronen Radio drankam.

    Diese Sendung hätte ich offen gestanden als außerhalb der Grenzen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks liegend eingeschätzt. Einerseits, weil es um grenzwertig kannibalistische Praktiken geht – allerdings stark grotesk-gutgelaunte (lest zumindest mal die Zusammenfassung). Das ist nicht anders zu erwarten, da Abbie Hoffman im Spiel ist, der schon mal als Angeklagter in Richterroben auflief, sich mit dem Stinkefinger vereidigen ließ und wesentlichen Anteil hatte, dass um ein Haar ein Schwein US-Präsidentschaftskandidat (statt des heute zu Recht vergessenen Hubert Humphrey) geworden wäre.

    Andererseits finde ich die Sendung doch recht DLF-mutig, weil sie am Ende schon nachgerade revolutionär wird. Schon die Beschreibung der blutigen Repression gegen die Wobblies in den USA bereitet auf klare Worte vor:

    Mit dem Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg erlebten die Wobblies eine brutale Verfolgung. Sie wurden als unpatriotisch gebrandmarkt [ich hoffe doch: zu Recht!], viele wurden verhaftet, einige gelyncht, manche verließen das Land.

    Dies ist natürlich auch eine Erinnerung daran, dass es schlicht keine größere Katastrophe gibt als Kriege und es wirklich Zeit wird, auch im Interesse des liberalen Rechtsstaats endlich Schluss zu machen mit all dem Militärquatsch.

    Vor allem aber schließt der Film mit der Sorte revolutionärem Optimismus, der mir in der derzeitigen radikalen Linken eigentlich fast überall fehlt. Ich mache ja die generelle Miesepetrigkeit, Coolness und Belehrsucht in unseren Kreisen schon etwas mitverantwortlich dafür, dass „konservative“ bis faschistische Gedanken in erstaunlich vielen Studihirnen (und, schlimmer noch, unter weniger Privilegierten) Raum greifen.

    Wie viel hoffnungsvoller klingt, womit Otis Gibbs die HörerInnen aus der Sendung entlässt (Übersetzung des DLF; das Original, wo ich es hören kann, scheint mir noch eine Spur ergreifender):

    Ich habe ein sehr gutes Gefühl, was die Zukunft angeht, und ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sehr gute Sachen in Amerika passieren. Jetzt lastet noch eine Dunkelheit auf uns allen, und ich spüre sie wie jedeR andere auch. Aber ich treffe auch Menschen, die einem Mut machen, und sie sind alle jung. Sie sind Idealisten. Wir müssen nur diese schreckliche Zeit, in der wir leben, überleben, bis die jungen Leute das Ruder übernehmen und die Welt zu einem viel besseren Ort machen.

    So ganz von selbst wird das wohl nicht gehen, aber es ist jedenfalls der viel bessere Ansatz als… na ja, wie ich gerade damit zu hadern, dass unser schnarchiger DGB beängstigend nahe dran ist an der One Big Union, die Joe Hill und die Wobblies mal im Sinn hatten. Jaja, ich hadere ja schon nicht mehr.

  • Keine Vollendung

    Vor gut 30 Jahren hat der Bundestag beschlossen, mit der Regierung nach Berlin umzuziehen. Es setzte sich damals ein Antrag durch, der von Willy Brandt und Wolfgang Schäuble unterstützt wurde – wie so oft hatte der Patriotismus großzügig weltanschauliche Differenzen zugekleistert.

    Der Titel des siegreichen Antrags von 1991: „Vollendung der inneren Einheit Deutschlands“.

    Diese „Sternstunde des deutschen Bundestags“ (Bundestagsverwaltung) kommentiert das SARS-2-Cornavirus am 23.12.2021 wie folgt:

    Deutschlandkarte mit Inzidenzen: die alten Grenzen sind unschwer sichtbar

    Aus: RKI-Bericht von heute, Rechte beim RKI

    Wer sich nicht mehr erinnert: vgl. Wikipedia.

  • Keine Mauern mehr

    Das, was in Heidelberg wohl als „Heimatzeitung“ zu bezeichnen ist, die Rhein-Neckar-Zeitung, hat es in die heutige Deutschlandfunk-Presseschau geschafft, und zwar mit folgender patriotischen Erbauung:

    Es [was „es“ ist, bleibt im DLF-zitierten Kontext unklar] sollte auch Ansporn sein, diese Republik als den Idealzustand zu sehen. Wir leben im besten aller bisherigen deutschen Staaten – das bedeutet nicht, dass man ihn nicht verbessern kann. Aber Mauern müssen keine mehr eingerissen werden.

    Nun...

    Polizeigeschützte Mauer

    Der Abschiebeknast von Ingelheim, Stand 2009. Und auch wenn diverse Regierungen in Rheinland-Pfalz diese Mauern schon mal einreißen wollten, ist da zumindest bis 2019 nichts draus geworden.

  • Kurze Biographien

    Ich lese gerade recht viele der Biographien der Menschen, an die in Heidelberg Stolpersteine erinnern, und dabei ist mir eins ganz besonders aufgefallen: In dieser Zeit war die Ehe offenbar in der Regel das effektive Ende des erzählenswerten Lebens einer Frau.

    Während es nämlich durchaus viele bunte und schon rein vom Text her lange Biographien unverheirateter Frauen gibt – ich erwähne hier nicht erschöpfend Johanna Geißmar, die Schwestern Hamburger, Leeni Preetorius oder natürlich Elise Dosenheimer –, beschränken sich die Geschichten von verheirateten Frauen praktisch durchweg auf geboren, geheiratet, Kinder gekriegt (oder nicht) – und dann entweder deportiert und ermordet oder eben geflohen. Das geht so von den eher wohlhabenden Hochherrs über die kleinbürgelichen Deutschs bis hin zu den intellektuellen von Waldbergs und ändert sich allenfalls für die Sozialdemokratin Käthe Seitz. Bei den meisten der Biographien ist es eher noch ärger als bei diesen Beispielen.

    Nun ist es wahrscheinlich, dass in dem Befund etwas historigraphischer Bias reflektiert ist (also: Was wird überliefert?). Andererseits hat eine Ehe die Möglichkeiten von Frauen tatsächlich drastisch eingeschränkt, bis hin zu Trivialitäten wie einer Kontoeröffnung, und die praktische Erwartung war wohl in aller Regel, dass sie in ihren ehelichen Pflichten aufgingen.

    Was mich daran gerade wirklich verblüfft: Gemäß praktisch der gesamten Literatur (in der es wenig Schlimmeres zu geben scheint als „alte Jungfer“ zu werden) und auch anekdotischer Überlieferung war die Heirat, die „gute Partie“ wesentlichstes Lebensziel der breiten Mehrheit der Frauen von damals. Klar, auch da dürfte die Geschichtsschreibung etwas verzerren. Ganz gegen die tatsächlichen Erzählungen von damals dürfte sie aber nicht stehen.

    Doch wahrscheinlich sollte ich mich nicht sehr wundern. Denn auch heute gibt es offenbar einen relativ breiten gesellschaftlichen Konsens für Dinge, die ganz offenbar im Konflikt mit den Interessen der allermeisten Mitglieder des Gesellschaft stehen: Autopolitik natürlich (will eigentlich wirklich irgendwer täglich Stunden in einem stinkenden Blechkäfig verbringen und endlos Krach machen?), oder die Privatisierung der Rentenversicherung (die für eine deutlich ungleichere Verteilung des für Alte bereitgestellten gesellschaftlichen Reichtums und ansonsten über Quatsch-Investments der Rentenfonds noch für Shopping-Malls überall sorgt), oder halt den ganz fundamentalen Wahnsinn, bei dem der Abbau von Arbeitsplätzen („weniger Leute müssen ihre Zeit mit Zeug verbringen, den sie gar nicht tun wollen“) als gesellschaftliche Katastrophe empfunden wird.

    Oh, falls das nicht offensichtlich ist: Klar kann es eine persönliche Katastrophe sein, gefeuert zu werden. Solange aber vorher und nachher gleich viel hergestellt wird, gilt das nur, weil wir die Warenverteilung an Lohnarbeit gekoppelt haben, und das ist eine Wahl, die wir als Gesellschaft auch anders vornehmen können. Und sollten, in Zeiten, in denen die Produktion so wenig Arbeit braucht, dass, wie David Graeber so treffend beobachtet, Bullshit Jobs die Regel geworden sind.

  • Wie aus dem 18. Jahrhundert

    Ich bin ja bekennender Leser von Fefes Blog, und ich gebe offen zu, dass ich dort schon das eine oder andere gelernt habe. Zu den für mich aufschlussreichsten Posts gehört dieser aus dem September 2015, der mir seitdem nicht mehr aus dem Sinn gegangen ist, und zwar wegen der Unterscheidung zwischen Kulturen der Ehre (die mensch sich verdienen und die mensch dann verteidigen muss) und denen der Würde (die mensch einfach hat).

    Der Rest des Posts ist vielleicht nicht der scharfsinnigste Beitrag zur Identitätsdebatte, und klar gilt auch Robert Gernhardts „Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv“ weiter, aber der zentrale Punkt ist: Artikel 1 Grundgesetz ist eine Befreiung von dem ganzen Unsinn von Ehre und insofern ein großer Schritt in die Moderne. Das ist mir so erst damals im September 2015 klar geworden.

    Und seitdem habe ich mich um so mehr gewundert über den Stellenwert, den „Gesicht nicht verlieren“ in „der Politik“ (und das schließt schon Bezirksvorsitzende von Gewerkschaften ein) immer noch hat. Wo außerhalb der Krawattenliga gibt es sonst noch „Ehrenerklärungen“ wie neulich bei der CDU (von vor 20 Jahren ganz zu schweigen) oder kräuseln sich nicht die Zehennägel, wenn jemand wie Westerwelle weiland verkündete: „Ihr kauft mir den Schneid nicht ab“?

    Um so mehr war ich angetan, als zumindest Angela Merkel diese Logik des 18. Jahrhunderts gestern durchbrochen hat und einfach mal „ich hab Scheiße gebaut“ gesagt hat. Und es tröstet etwas, dass zumindest die heutige Presseschau in weiten Teilen nicht das unsägliche Genöle von Vertrauensfragen aus dem Bundestag gestern reflektiert.

    Andererseits: Keine Presseschau ohne fassungsloses Kopfschütteln, wenn nämlich die Süddeutsche schreibt:

    Hätte die Bundesregierung stattdessen selber genug Impfdosen geordert, und zwar nicht zuletzt bei Biontech im eigenen Land, dem Erfinder des ersten Corona-Vakzins, befände sich Deutschland jetzt nicht am Rande der Hysterie.

    Hätte die Süddeutsche gesagt: „dafür gesorgt, dass so oder so alles, was an Abfüllkapazität da ist, anfängt, Impfstoff abzufüllen, sobald absehbar ist, dass es mit der Zulassung was wird“ – ok, das wäre ein Punkt. Das augenscheinlich auch im Ernstfall herrschende Vertrauen in „den Markt“ ist natürlich böser Quatsch. Aber auch überhaupt nichts Neues. Und die Süddeutsche sitzt in dem Punkt in einem Glashaus mit ganz dünnen Scheiben.

    Aber sie redet auch vom „ordern“, was im Klartext heißt: „wir wollen schneller geimpft sein als die anderen“ – das ist, noch klarerer Text, anderen Leuten den Impfstoff wegnehmen. Meinen die Süddeutschen das ernst?

    Ich bin ja ohnehin in den letzten Wochen in der unangenehmen Situation, meine Regierung zu verteidigen. Das habe ich, glaube ich, noch nie gemacht. Aber im schwierigen Lavieren zwischen autoritärem Durchgriff – etwa, alle Leute bei sich zu Hause einsperren – und einem Laissez-Faire, das vermutlich fast eine halbe Million Menschen in der BRD umgebracht hätte, sieht es fast so aus, als hätte der Gesamtstaat (zu dem ja auch Landesregierungen und vor allem Gerichte gehören) so ziemlich den Punkt erwischt hat, den „die Gesellschaft“ sonst auch akzeptiert.

    Warum ich das meine? Nun, so sehr ich gegen Metriken als Bestimmer politischen Handelns bin, gibt die Mortalitätskurve doch eine Idee davon, welche Kompromisse wir eingehen. Das RKI veröffentlicht jeden Freitag so eine, und die im Bericht vom letzten Freitag sieht so aus:

    Mortalitätskurven 2017-2021

    In Worten: Die Gesamtsterblichkeit war im Corona-Jahr nicht viel anders als sonst auch, nur kam der Grippe-Peak halt schon im November und Dezember statt erst im Januar und Februar. Und da wir ja wegen der Grippe in „normalen“ Jahren auch nicht alle das Winterende in Isolation verbringen, war das Level an Isolation und Shutdown, das wir am Ende hatten und das SARS-2 zur Vergleichbarkeit gezähmt hat, offenbar im Sinne „der Gesellschaft“ gewählt.

    Klar: Das hat so wohl niemand geplant. Dass es aber so rausgekommen ist, dürfte nicht einfach nur Zufall sein. „Schwarmintelligenz“ wird den Grund sicher nicht treffen. Aber irgendwas, das nicht furchtbar weit davon weg ist, dürfte die Ähnlichkeit der Kurven wohl schon erklären. Vielleicht: Das, was bei uns von Gewaltenteilung noch übrig ist?

    Ansonsten bereite ich mich schon mal aufs Verspeisen meines Hutes vor, wenn die „dritte Welle“ jetzt doch noch für einen schlimmen Mortalitätspeak sorgt.

  • Ein Jahr ohne Terry Jones

    Heute vor einem Jahr ist Terry Jones gestorben (habe ich auf sofo-hd erfahren). Allein für die Regie beim ewigen Klassiker Life of Brian gedenke ich seiner gerne. Wofür ich ja jetzt dieses Blog habe.

    Die 1a Blasphemie, die Alien-Szene, die scharfsichtige Darstellung OECD-kompatibler Pädagogik („So 'eunt' is...?“ mit einem Schwert am Hals) und die gekonnte Verarbeitung der abgedroschenen Klischees der Historienschiken rund um Ben Hur würde eigentlich schon für eine Aufnahme des Films in den Olymp großer Kunst reichen.

    Vor allem aber sollte der Film Pflichtlektüre linker Aktivist_innen sein. Wer nämlich lange genug in linken Grüppchen unterwegs war, wird in eigentlich jeder Szene Vertrautes erblicken, ohne das wir, glaube ich, alle schon ein ganzes Stück weiter wären. Der blinde Hass zwischen Judean People's Front und People's Front of Judea, das „this calls for... immediate discussion“ statt einfach mal vor die Tür zu gehen (und der folgende Paternalismus), der zumindest mal alberne Versuch, patriotische Gefühle für eine (vielleicht) fortschrittliche Idee einzuspannen („What have the Romans ever done for us?“), das gegenseitige Abmetzeln über Fragen, die sich vernünftige Menschen gar nicht stellen würden („we were here first“ unter Pilatus' Palast), sinnlose Opferbereitschaft aus einem Bedürfnis nach größtmöglicher Reinheit heraus („We are the Judean People's Front. Crack suicide squad.“ vor dem Massenselbstmord), die große (autoritäre) Versuchung, einer „Bewegung“ anzugehören („Yes, we are all different!“) und so fort: Fast alles, was es an Irrsinn gibt, der (glücklicherweise nicht nur) fortschrittliche Kämpfe lähmt, findet sich in diesem Film.

    Mein Tipp: Jeden Karfreitag mal reinschauen.

    Was ich bisher nicht wusste: Den Film gibts überhaupt nur, weil Ex-Beatle George Harrison eingesprungen ist, als die ursprüngliche Produktionsfirma nach dem Lesen des Skripts den Geldhahn zugedreht hatte (vgl. rational wiki, der noch ein paar weitere Geschichten dazu hat).

    Die Welt ist klein.

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