Bertrand Russell und die Faulheit
Als ich angefangen habe, an diesem Blog zu schreiben, wollte ich eigentlich regelmäßig über den Wahnsinn ranten, dass wir Unmengen Plunder und „Dienstleistungen“ herstellen, ohne die die Welt eigentlich besser wäre, und dafür sowohl uns selbst als auch den Planeten furchtbar stressen. Wenn ich jetzt sehe, was ich wirklich unter dem Tag Faulheit geschrieben habe: Am Schluss gab es doch immer andere Themen.
Unterdessen war am 18. Mai der 150. Geburtstag von Bertrand Russell, von dem hier verschiedentlich schon die Rede war, allerdings eher im Zusammenhang mit seiner Philosophiegeschichte und weniger aufgrund seiner Arbeiten an den Grundlagen der Mathematik, seiner zähen Arbeit gegen religiösen Wahn oder seines pazifistischen Elans[1]; mit all dem hat mich Russell schon sehr lange begeistert.
Erst im Portrait von Russell in SWR2 Wissen am 13.5. (Audio lohnt sich: Russell spricht selbst, Englisch und Deutsch!) jedoch erfuhr ich, dass er mal wegen Aufruf zu Widerstand gegen die Staatsgewalt im Gefängnis saß (zudem im Alter von 89 Jahren) – und, dass er schon 1932 die zornige Diatribe gegen den Unsinn exzessiver Lohnarbeit geschrieben hat, die ich für diesen Blog vorgesehen hatte.
Sind wir 90 Jahren später klüger?
Allerdings schrieb Russell seinen kleinen Aufsatz auf dem Höhepunkt der Großen Depression, also unter fantastischen Arbeitslosenraten, und so unterscheidet sich seine Analyse schon in vielem von meiner; der wichtigste Punkt wäre wohl, dass Russell in erster Linie die vorhandene Arbeit gleichmäßiger verteilen wollte, während ich, 90 Jahre später, überzeugt bin, dass die Gesamtmenge an Arbeit drastisch reduziert werden muss und kann, um den allgemeinen Wohlstand zu heben. Aber wir haben eben auch 90 Jahre Produktivitätssteigerung trotz Übergangs in die „Dienstleistungsgesellschaft“ hinter uns, und Russell konnte nichts von Indexfonds, Fidget Spinnern, SAP, SUVs, Nagelstudios, Bundesligafernsehen, Rechteverwertungsgesellschaften, Flimmerwände, TikTok und all dem anderen bunten Mist wissen, mit dem wir uns heute das Leben gegenseitig schwer machen.
Russells Essay „In Praise of Idleness“ ist beim Web Archive zu haben (fragt mich nicht, wie das gerade mal 50 Jahre nach Russells Tod trotz Contentmafia zugeht; schlechter auf Deutsch), und wo ich ihn schon gelesen habe, möchte ich ein paar der schöneren Zitate hier versammeln, zumal seine Argumente inzwischen vielleicht unvollständig, sicher aber nicht falsch sind. Die Übersetzungen sind jeweils von mir.
Russell fängt mit etwas an, das zwar zu lang ist, um ein gutes Gaffito zu machen, und vielleicht klingt „rechtschaffen“ („virtuous“) ein wenig angestaubt. Ich würde damit dennoch jeden Tag auf eine Fridays For Future-Demo gehen:
Ich glaube, dass viel zu viel Arbeit getan wird in der Welt, und dass der Glaube, Arbeit sei rechtschaffen, unermesslichen Schaden anrichtet [...]
Ursprüngliche Gewalt
Im Weiteren leitet Russell die „Arbeitsethik“ in etwa dadurch ab, dass früher mal Krieger die Leute, die die Arbeit gemacht haben, nicht dauernd mit Gewalt zwingen wollten, sie zu füttern. Russell, der ja Kommunist gewesen war, bis er Lenin getroffen hat, waren gewiss die Parallelen zu Marx' ursprünglicher Akkumulation[2] bewusst; ich frage mich ein wenig, warum er darauf nicht wenigstens kurz anspielt.
Und dann kommt seine scharfe Beobachtung, dass es während des ersten Weltkriegs mit all seiner völlig destruktiven Verschwendung den ArbeiterInnen im UK eigentlich besser ging als in Zeiten ganz normalen Wirtschaftens:
Trotz all [der Verschwendung aufs Töten] war das generelle Wohlstandsniveau der ungelernten LohnarbeiterInnen auf der Seite der Alliierten höher als davor oder danach. Die tatsächliche Bedeutung dieser Tatsache wurde durch Finanzpolitik versteckt: Die Kriegsanleihen ließen es so aussehen, als würde die Zukunft die Gegenwart ernähren. Aber das ist natürlich unmöglich; ein Mensch kann keinen Brotlaib essen, der noch nicht existiert.
Diese Argumentation zeigt in der anderen Richtung übrigens den Unsinn (oder die Fiesheit) kapitalgedeckter Rentenversicherungen: Wenn in 50 Jahren niemand mehr Brot backt, wird es für all das angesparte und zwischenzeitlich zerstörerische Kapital kein Brot zu kaufen geben – über diesen spezifischen Wahnsinn hatte ich es schon kurz im letzten April.
In diesem speziellen Fall würde ich Russell allerdings fragen wollen, ob das ähnlich auch für die britischen Kolonien galt; einige indische Hungersnöte im Megaopferbereich fallen durchaus in die verschiedenen Kriegszeiten, und ich vermute, Russell sieht hier zu guten Stücken lediglich die während Kriegen erheblich größere Kampfkraft nicht allzu patriotischer Gewerkschaften reflektiert.
Philosophie und Sklavenhaltung
Wenig später folgt ein weiteres Bonmot, wenn Russell zunächst die immer noch herrschende Ideologie erklärt:
Warum [sollten Leute ohne Lohnarbeit verhungern und die anderen furchtbar lang arbeiten]? Weil Arbeit Pflicht ist, und Menschen nicht im Verhältnis zu dem bezahlt werden sollen, was sie herstellen, sondern im Verhältnis zu ihrer Tugendhaftigkeit, wie sie durch ihren Fleiß unter Beweis gestellt wird.
Das ist die Moralität des Sklavenstaates, angewandt auf Umstände, die völlig verschieden sind von denen, unter denen sie entstand.
Ich merke kurz an, dass Russell als Philosoph dem antiken Sklavenstaat durchaus etwas abgewinnen konnte, denn ohne die Arbeit all der SklavInnen hätten Thales und Demokrit wohl keine Muße gehabt, ihren von Russell sehr geschätzten Gedanken nachzuhängen. Dabei ist er gar nicht so furchtbar darauf fixiert, dass die Leute in ihrer Muße dringend philosophieren[3] müssen:
Es wird der Einwand kommen, dass, wenn auch ein wenig Muße angenehm ist, die Leute nicht wüssten, mit was sie ihre Tage füllen sollen, wenn sie nur vier Stunden von ihren vierundzwanzig arbeiten müssen. Soweit das in unserer modernen Welt wirklich zutrifft, ist es eine Verdammung unserer Zivilisation; es war jedenfalls in keiner vorherigen Epoche wahr. Es hat vor uns eine Fähigkeit gegeben für Freude und Spiel, die in gewissem Maß von unserem aktuellen Kult der Effizienz gehemmt wird. Der moderne Mensch denkt, dass es für jede Tätigkeit einen Grund außerhalb ihrer selbst geben müsse, dass Dinge nie um ihrer selbst willen getan werden dürfen.
Die lahmeren Einwände gegen das bedingungslose Grundeinkommen kamen also auch damals schon. Ich stimme Russells Entgegnug aus diesem Absatz herzlich zu, auch wenn er wie ich auch nicht widerstehen kann, kurz darauf von einer generellen Begeisterung für Wissenschaft zu träumen:
In einer Welt, in der niemand gezwungen ist, mehr als vier Stunden pro Tag zu arbeiten, wird jede Person, die die wissenschaftliche Neugier packt, sich dieser hingeben können, und alle MalerInnen werden malen können, ohne zu verhungern, gleichgültig, wie großartig ihre Bilder sein mögen.
Nun… Bis zum Beweis des Gegenteils glaube ich fest daran, dass eine Gesellschaft mit minimalem Lohnarbeitszwang eine Gesellschaft von BastlerInnen und Amateurastronominnen sein wird. Schaun wir mal.
Krieg ist viel Arbeit
Ich kann dieses Best-of aus Russells Artikel nicht ohne seine Brücken zum Kriegführen beenden. Krieg erwähnt er, wenn er Techniken diskutiert, die die Übersetzung von Produktivitätsfortschritten in weniger Arbeit verhindern:
Wenn sich alle diese Methoden als unzureichend herausstellen, machen wir Krieg; wir lassen ein paar Leute Explosivstoffe herstellen und ein paar andere diese zünden, ganz als wären wir Kinder, die gerade Feuerwerk entdeckt haben.
Und dann sagt er in der Abteilung Utopie:
[Wenn die Leute nicht mehr so wahnsinnig viel arbeiten,] wird der der Hunger nach Krieg aussterben, teils aus diesem Grund [weil die Leute netter und weniger misstrauisch wären] und teils, weil Krieg viel und schwere Arbeit mit sich bringen würde.