Ich bin gerade auf dem Rückweg von meiner ersten ordentlichen (also: in
Präsenz) wissenschaftlichen Konferenz „seit Corona“, und ich fühle mich
aus der Perspektive der Sozialgeschichte aufgerufen, meine Eindrücke zum
derzeitigen Umgang mit SARS-2 festzuhalten. Wer weiß, wer sich im
nächsten Frühling noch an den derzeitigen Zustand der Gesellschaft
erinnert?
„Zustand“ ist dabei stark vom Zustandsbegriff der Physik
inspiriert, eigentlich gar vom Quantenzustand, weshalb sich mir die Rede
von „Schrödingers Pandemie“ aufdrängt, in einer popkulturellen Analogie
zu Schrödingers Katze. Deren Leben wird, ich erwähne es kurz für
Nicht-Link-KlickerInnen, in einer nicht sehr freundlichen Weise mit der
Wellenfunktion eines radioaktiven Atomkerns verschränkt. Das Ganze
findet in einer hinreichend von der Umwelt abgeschlossenen Kiste statt.
Nach populären Interpretationen der Quantenmechanik sorgt das dafür,
dass die Katze, solange niemand nachsieht, in einer Mischung aus den
Zuständen lebendig oder tot existiert.
Ein wenig so war meine Erfahrung mit SARS-2 während der letzten Tage –
erst, wenn ich irgendwo war, konnte ich feststellen, ob ich in dem Zweig
der Realität bin, in dem die Pandemie rum ist (ich nenne das ab hier
P⁻) oder in dem, in dem sie es nicht ist (was ich kurz als P⁺ bezeichnen
will).
Das ging schon beim Bezug des Hotels los. Auf dem Weg dorthin habe ich
mich gefragt, ob ich besser mit Maske reingehe – ist jedenfalls netter
und rücksichtsvoller, auch wenn die Rezeptionssituation in kleinen
Hotels, in denen alle halbe Stunde mal wer ankommt, so oder so wenig
Übertragungsrisiko birgt – oder besser ohne – weil sich manche Leute in
der Gastronomie von Menschen im P⁺-Zustand existenziell bedroht fühlen.
Wenn es sachlich keinen großen Unterschied macht, bin ich in jede
Richtung kompromissbereit.
Diese Überlegungen waren unnütz, denn das Empfangspersonal erwies sich
als eine Zehnertastatur für den Schlüsselkasten. Dieser war das alles
ersichtlich egal. Ich blieb also im P⁻-P⁺-Mischzustand, bis ich die
Hoteltür öffnete und die oben abgebildete Fußmatte vorfand. Ergebnis
des Experiments für dieses Mal: Das Hotel ist in P⁺.
Am Frühstücksbüffet stellte sich jedoch heraus, dass doch eher P⁻ gilt,
denn ich fing ein paar befremdete oder genervte Blicke ein mit meiner
einsamen Maske, und Abstand am Büffet war jedenfalls für etliche der
anderen GästInnen keine erkennbare Priorität. Danach habe ich in den
nächsten Tagen auch maskenlos gefrühstückt, denn ganz ehrlich: Wenn
mensch am Tisch zwangsläufig ohne Maske dasitzt, ist sie auf dem Weg vom
und zum Tisch auch unter Annahme von P⁺ nur dann geboten, wenn es eng
wird, und das war in diesem Hotel leicht vermeidbar. Dennoch: die
zweite Runde ging klar an P⁻.
Das war auch daran zu erkennen, dass meine Mit-GästInnen den bei P⁺ gut
nachvollziehbaren Wunsch der Hoteliers ignoriert haben, in den relativ
engen Gängen zumindest eine OP-Maske zu tragen. Dieser generellen
P⁻-Diagnose zuwider lief aber die per Aushang in den Zimmern verkündete
Politik des Hauses, die tägliche „Reinigung“ zum „Schutz von Gästen und
Personal“ nur noch auf (durch Aushang des inversen „Bitte nicht
stören“-Schildes geäußerten) Wunsch vorzunehmen. Yes! Ich fand es
schon immer unmöglich, mir von anderen Menschen das Bett machen zu
lassen. Es lebe P⁺.
Ähnlich Heisenberg-unscharf ging es bei der Konferenz selbst weiter. Die
OrganisatorInnen „empfahlen“ auf ihrer Webseite, ganz P⁺, in Innenräumen
und überhaupt, wo der Mindestabstand nicht gewahrt werden kann,
FFP-2-Masken zu tragen. Ich fragte mich, wie unter diesen Umständen das
Herzstück jeder wissenschaftlichen Konferenz, die Kaffeepause,
wohl aussehen würde.
Dieses Grübeln gab ich spontan auf, als ich am Montag den Raum betrat,
in dem die Auftaktzeremonie – eine Preisverleihung, über deren mit einer
Überdosis unfreiwilliger Hybridkomik gewürzten Verlauf ich schweigen
will – stattfand. Schon die Bestuhlung sprach P⁻, fettgedruckt und
eigentlich mit Ausrufezeichen. Diese nämlich wäre mir schon vor Corona
zu eng gewesen. Die Enge war zudem nicht mal ganz zwingend, denn es
hätte schon noch unbestuhlten Platz im Raum gegeben, wenn auch nicht
genug, um das ganze Ding angesichts der lausigen Lüftung in einer
P⁺-Welt verantwortungsvoll laufen lassen zu können.
Aber das war auch wurst, denn der anschließende Empfang mit Sekt und
Schnittchen muss klar in einer P⁻⁻⁻-Welt stattgefunden haben: Die
paar, die bei der Zeremonie noch der FFP-2-Empfehlung gefolgt waren,
vergaßen diese zugunsten von Speis und Trank, während sie dicht gepackt
in fensterlosen Räumen standen und sehr laut miteinander redeten.
Eine Chorprobe ist im Vergleich eine aseptische Angelegenheit.
Es war nachgerade bizarr, danach wieder in die P⁺-Welt der Straßenbahn
zu geraten. Und ich war ehrlich überrascht, dass das Schnief- und
Hust-Niveau gestern und heute lediglich deutlich erhöht war, nicht aber
eine ganze Konferenz schon elend vor sich hinfieberte. Das wiederum
werte ich als Indiz für eine P⁻-Welt, zumal informelle Plaudereien
zeigten, dass wohl doch eine deutliche Mehrheit der Teilnehmenden „es
schon hatten“.
Das wäre auch zwanglos zu erklären, wenn diese nennenswert Präsenzlehre
gehalten hätten und ihre Hörsäle ähnlich gut belüftet waren wie der
große Hörsaal der gastgebenden Uni. Diese Einlassung ergibt sich aus
meinen regelmäßigen CO₂-Messungen (als ordentlichen Proxy für die
Aerosollast). Das Ergebnis in diesem großen Hörsaal war ernüchternd.
Das Ding ist für 500 Menschen ausgelegt, und bei einer Auslastung von
unter 20% ging die CO₂-Konzentration kontinuierlich vom Außenniveau von
vielleicht 350 ppm bis auf über 1000 ppm hoch – innerhalb von weniger
als einer Stunde. Das übersetzt sich zwanglos in „was an Aerosol drin
ist, bleibt auch drin“. Dass die Lüftung beim Bau des Gebäudes so
schlecht war, ist in ganz eigener Weise sprechend, denn im Bereich von
1000 ppm wirds nach meiner Erfahrung allmählich aufmerksamkeitsrelevant.
Dass sie nach 30 Monaten Corona immer noch nicht besser ist, wäre,
soweit es mich betrifft, Material für eine Sitzung des Uni-Senats.
Und so bin ich bis zum Konferenzbankett am Mittwoch aus der P⁺-Welt
(höchstens kurz und mit dichter FFP-2 durch den Raum mit dem
Empfangsbüffet hechten) in die P⁻-Welt übergetreten und habe wie alle
anderen ganz normal getafelt, in der festen Erwartung, dass ich bis
jetzt im Zug noch nicht infektiös sein würde. Und morgen kann ich ja
dann zurück nach P⁺ und brav in Isolation gehen. Aber: Wenn ich mir
angesichts von realen Infektionsraten von mindestens 1% beim
Bankett kein SARS-2 eingefangen habe, dann müssen die Menschen im
P⁻-Zustand wohl doch recht haben…