Artikel aus rant

  • Falsche Dichotomien

    Über den Köpfen von Demonstrierenden: Schneegestöber

    So sieht Engagement für Freiheit und Emanzipation aus: Im Schneegestöber demonstrierten die Menschen im Februar 2018 gegen die Militärs und Kriegsherren, die sich in der Münchner Edelunterkunft Bayrischer Hof zu ihrer „Sicherheitskonferenz“ getroffen haben.

    Seit dem Überfall auf die Ukraine grassiert das Aufziehen falscher Dichotomien (weniger elegant gesagt: sich angeblich ausschließender Alternativen) auch bei Menschen, die das vermutlich nicht im Rhetorikkurs gelernt haben und oft sogar guten Willens sind. Wer in den letzten Monaten normale Zeitungen oder Twitter gelesen hat, wird zumindest die folgenden Figuren gesehen haben (es gibt eine ganze Ecke mehr):

    • Entweder wir liefern Waffen oder wir unterstützen Angriffskriege (Quatsch: einfach mal selbst keine Angriffskriege und Drohnenballereien mehr machen und dann auf eine effektive Ächtung solcher Aktionen hinarbeiten wäre viel effektiver)
    • Entweder du bist für „uns“ oder du bist für Putin (Quatsch: Ich habe schon des Öfteren gegen Putin-Besuche demonstriert und bin dafür auch einmal im Auftrag von Olaf Scholz verprügelt worden; mensch kann prima gegen alle Sorten blutiger Hähne[1] sein)
    • Entweder lassen wir auf Russen schießen oder die Leute in der Ukraine werden alle getötet (Quatsch: Das russlandgefällige Janukowitsch-Regime war jetzt nicht klasse, aber ausweislich diverser Wahlen oder Leaks nicht qualitativ verschieden von den uns gefälligen Regimes von, sagen wir, Kutschma und Tymoschenko oder auch Poroschenko; es ist nach aller realistischen historischen Erfahrung völlig sicher, dass im Krieg viel mehr Menschen sterben und leiden werden als bei einem schnellen Regime Change, zumal wenn die regimechangenden Truppen dann nicht so ewig bleiben wie die unseren in Afghanistan und im Irak und/oder die Bevölkerung schnell aus dem Kriegsmodus herauskommt)
    • Entweder willst du Volk und Nation der Ukraine retten oder du willst die Leute in der Ukraine in Knechtschaft sehen (Quatsch: spätestens seit Brecht haben nette Menschen aufgehört, von „Volk“ zu reden, denn „Bevölkerung“ verhindert Fehlschlüsse, und spätestens seit dem 20. Jahrhundert sollte eigentlich Konsens bestehen, dass das mit den „Nationen“ eine eher bescheidene Idee war; mit der Verteidigung bzw. Erringung von Menschen- und Bürgerrechten haben Volk und Nation jedenfalls längst nichts mehr zu tun)
    • Entweder du schießt oder du tust gar nichts (Quatsch: Im Gegenteil ist eine geschichtliche Konstante, dass sozialer Fortschritt, der aus den Gewehrläufen kommt, nicht viel taugt und jedenfalls nicht lange anhält)

    Es lohnt sich grundsätzlich, aber ganz besonders bei all den kriegseuphorischen Äußerungen, auf solche falschen Dichotomien zu achten. Wie gesagt: Nicht alle, die sowas verwenden, sind im Bereich finsterer Rhetorik unterwegs. Aber wer in diesem Bereich unterwegs ist, verwendet sie fast immer. Mal sehen, ob ich den Fleiß habe, mehr unter dem Tag Dichotomien zu schreiben, den ich anlässlich dieses Posts angelegt habe

    Nachtrag (2023-04-01)

    Nee, habe ich wieder weggemacht, weil ich den Fleiß noch nicht hatte.

    Dennoch kann ich mich in der Kriegsfrage eigentlich nicht mehr groß über solche Tricks echauffieren, denn Kriegsbegeisterung hält erfahrungsgemäß selten lange an; ich bin eigentlich recht zuversichtlich, dass jedenfalls diejenigen neuen Fans der Panzerhaubitze, die noch etwas Herz und/oder Verstand haben, in recht absehbarer Zeit zu wieder etwas gewaltskeptischeren Positionen zurückkehren werden, ohne dass sich erst richtig viele Leute totschießen müssen.

    Was allerdings taz-Chefreporter (was immer das sein mag) Peter Unfried in der taz vom Samstag gebracht hat, hat mich dann doch schlucken lassen:

    Die Gewaltoption [konkreter weiter oben fomuliert: militärischer Massenmord] ist Voraussetzung einer freien und emanzipatorischen Zukunft.

    Ob es nun sinnvoll ist oder nicht, ich musste dem widersprechen, und die taz hat meinen Leserbrief heute auch abgedruckt:

    Peter Unfried will durch Militär eine freie und emanzipatorische Zukunft sichern. Das ist nicht nur absurd, ist doch der autoritäre Gewaltapparat Militär die Antithese zu Freiheit und Emanzipation. Es ist auch schlicht unhistorisch. Versammlungsfreiheit und Datenschutz, Wahlrecht und Atomausstieg, Streikrecht und straffreie Abtreibung, ganz besonders das Recht, nicht morden zu müssen, auch bekannt als Kriegsdienstverweigerung: Alles in der weiteren Umgebung von Freiheit haben Menschen ohne Militär – in Gewerkschaft, Blaustrümpfen oder Fridays for Future – gegen Menschen mit Militär – ihre Regierungen nämlich – erkämpft und tun es auch gerade jetzt überall Tag für Tag. Wenn Unfried hingegen seine Freiheit auf das Militär baut, hat er sie schon verloren.
    [1]

    Wer es nicht erkennt: Das bezieht sich auf ein sehr zeitgemäßes Lied der Brecht/Weill-Combo. Seit dem 24.8.2021 sind nun Brechts Werke endlich gemeinfrei, und so kann ich den mich immer wieder beeindruckenden Text bedenkenlos zitieren:

    Am Grunde der Moldau wandern die Steine
    Es liegen drei Kaiser begraben in Prag
    Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine
    Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

    Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
    Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
    Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
    Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

    Am Grunde der Moldau wandern die Steine
    Es liegen drei Kaiser begraben in Prag
    Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine
    Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
  • Vorbildliches Friedrichstadt

    Schwarzweißbild auf Tafel vor realen Häusern.

    In Friedrichstadt zeigen Tafeln gerne Fotos von um die 1900, die oft genug bis in Details wie Fenstersprossen dem aktuellen Zustand entsprechen. Dieser Post ist ein vorsichtiger Lobpreis einer solchen Praxis.

    Ich bin gerade im nordfriesischen Friedrichstadt, einem Städtchen nahe der Nordseeküste, das viele TouristInnen anzieht, vor allem wenn, wie jetzt gerade, das Wetter am Strand längere Aufenthalte dort eher unattraktiv macht. Diesen BesucherInnen wird Friedrichstadt gerne als „Stadt der Toleranz“ präsentiert. Angesichts einer jahrhundertelangen Präsenz pazifistischer und damit relativ sympathischer protestantischer Sekten wie der Mennoniten und Quäker ist das wahrscheinlich auch eine recht brauchbare Zuschreibung – gerade diese hatten mit weniger toleranten Obrigkeiten meist erhebliche Probleme.

    Ich allerdings finde das Nest aus anderen Gründen bemerkenswert, und das nicht nur, weil die Toleranz Grenzen hatte, die zumindest halbwegs aufgeklärten Menschen völlig albern erscheinen: Die Unitarier mussten zum Beispiel wieder gehen, was um so erschütternder ist, als sich diese von der christlichen Rechtgläubigkeit vor allem in der Zurückweisung des wahrscheinlich durchgeknalltesten aller Dogmen unterscheiden, nämlich der Trinität.

    Wir müssen uns Gott als Tafellappen vorstellen

    Ich kann nicht widerstehen: Als ich in der Grundschule war, erzählte uns der Dorfpfarrer original, mensch müsse sich die dreifaltige Gottheit vorstellen wie einen Tafellappen. Er nahm daraufhin so einen und faltete ihn an fünf Stellen so, dass vorne drei Falten rausguckten. Ein Tafellappen, drei Falten. Wer andere aus seiner Stadt wirft, weil sie so einen offensichtlichen Polit-Kompromiss[1] nicht glauben wollen, verdient einen Toleranzpreis vielleicht doch nur eingeschränkt.

    Nein, wirklich vorbildlich an Friedrichstadt ist die, trärä, Na… Na… na ja. Ich muss es ja doch irgendwann mal sagen: Nachhaltigkeit. Das Wort ist zwar inzwischen zu Heizmaterial für Dampfplauderer verkommen, aber an sich liegt es ja schon nahe, so leben zu wollen, dass das auch noch ein paar Jahrhunderte weitergehen kann. Die wichtigste Zutat dabei ist: Nicht (prozentual, also exponentiell) wachsen. Was um x% im Jahr wächst, verdoppelt sich nach ungefähr 75/x Jahren (oder so), und zehn Verdopplungszeiten entsprechen einer Vertausendfachung. Fast nichts auf dieser Welt kann sich vertausendfachen, ohne dass etwas gewaltig vor die Hunde geht.

    Friedrichstadt hat sich dem Wachstum in mancherlei Hinsicht beeindruckend entzogen. Herzog Friedrich III von Gottorf hat den Ort in den 1620er Jahren als künftiges Handelszentrum mit ein paar tausend EinwohnerInnen planen lassen. Derzeit, 401 Jahre Jahre nach der Gründung, leben so um die 2500 Menschen hier. Um die Größenordnungen zu betonen: Wer 400 Jahre Zeit hat, hat auch bei einer Verdoppelungszeit von 40 Jahren noch eine Vertausendfachung, und 40 Jahre Verdoppelungszeit entsprechend weniger als zwei Prozent Jahreswachstum.

    Fortzug in wirtschaftlich prosperierendere Gegenden

    Friedrichstadt aber wuchs zumindest in der Bevölkerung nicht. Die entsprechende Statistik aus der Wikipedia sieht als Spline-geglätteter (was das Loch nach dem ersten Weltkrieg überbetont) Plot so aus:

    Plot: Recht konstant bei 2500 verlaufende Linie mit einem jähen Anstieg in den 1940er Jahren und einem relativ steilen Rückgang danach.

    Der Berg in den 1940er und 1950er Jahren ist Folge des Zuzugs von Geflüchteten vor allem aus den von der Sowjetunion eroberten bzw. später kontrollierten Gebieten. Sein Abschmelzen führen die Wikipedia-AutorInnen auf den „Fortzug der Vertriebenen in wirtschaftlich prosperierendere Gegenden“ zurück.

    Auch wenn Bevölkerungsexport keine, hust, nachhaltige Strategie ist: Der Nettoeffekt ist eine konstante Bevölkerung, und bei recht maßvoller Entwicklung der Wohnfläche pro Mensch ist das auch im Stadtbild sichtbar, denn Friedrichstadt hat kaum Einfamilienhaus-Wüsten aus dem Auto-Zeitalter (auch wenn die Stadt, das Eingangsfoto zeigt es, der Automobilisierung nicht entgehen konnte).

    Doch auch wirtschaftlich hat sich nicht allzu viel getan: Eine Mühle, die Kölln-Flocken hergestellt hat (na gut, vielleicht auch anderen Kram für die Firma), ist 2001 wegen mangelnder Kapazität geschlossen worden – wo sie stand, ist heute ein Komplex von Spiel- und Bolzplätzen. Andere Industrie hat schon vorher aufgegeben.

    Und so lebt Friedrichstadt eben weitgehend von Tourismus. Es ist ja auch hübsch hier. Auch das würde ich jetzt nicht als „nachhaltig“ bezeichnen, zumal es ohne ein gewisses Niveau an industrieller Produktion nichts würde mit den fünf Stunden Lohnarbeit pro Woche. Aber dennoch ist es interessant, wie sich eine Stadt anfühlt, die 400 Jahre lang stagnierte, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln auch immer.

    Ich muss sagen: Mir gefällt es in Friedrichstadt.

    [1]Ich persönlich vermute ja, dass es, als beim Konzil von Nicäa die Trinität beschlossen wurde, ähnlich zuging wie während der marktradikalen Hochschul„reformen“ der 1990er und Nullerjahre („Bologna-Prozess“), als jedeR jedeN aufs Kreuz zu legen versuchte und das Ergebnis völlig dysfunktionaler Quatsch ist.
  • Velorution Aber Hallo

    Demo-Impressionen: Fahrrad mit Pappschild "Velorution jetzt", Fahrraddemo fährt auf eine Autobahnauffahrt

    Weil mir mein Pappschild „Velorution Aber Hallo“ im Fridays-for-Future-Stil so gut gefiel (bis auf die Klettbänder war alles recyclet), muss ich kurz von der Demo für den Fahrradschnellweg zwischen Heidelberg und Mannheim erzählen.

    Diese hat eine lange Tradition von inzwischen fast einem Jahrzehnt. Eine noch längere Tradition hat allerdings das Thema, nämlich (mindestens) eine Verbindung zwischen Heidelberg und Mannheim, auf der RadlerInnen nicht entweder ein einem Fort von rasenden Autos gequält werden oder im Übermaß Schnitzeljagd- und Querfeldein-Qualitäten benötigen. Seit größenordnungsmäßig 20 Jahren wird an dem Thema herumdiskutiert und -geplant, ohne dass etwas passiert wäre.

    Um die Sache etwas in Bewegung zu halten, veranstalten ADFC und Co jedes Jahr im Juli eine Raddemo von Heidelberg nach Mannheim. Ganz ehrlich ist es eigentlich immer darum gegangen, die bestehende A656 zu verwenden – diese Straße ist zwar nicht besonders schön, würde aber die technischen Voraussetzungen an einen Radschnellweg durchaus erfüllen. Soweit es mich betrifft, könnten sie das Ding für Autos sperren und es als Radschnellweg deklarieren: Wäre fürs Erste ok.

    In der Realität sind diese Demos natürlich nie auf einer, schauder, Bundesautobahn gefahren, jedenfalls nicht den ganzen Weg. Dieses Mal aber waren wir immerhin ein kleines Stück auf einer leibhaftigen Autobahn unterwegs, für vielleicht 500 Meter auf der A656 vor Mannheim, mit offiziellem Segen und von der begleitenden Polizei zelebriert wie ein Hochamt.

    Jaja, Velorution, der Übergang von einer Auto- in eine Fahrradgesellschaft, in der der Wahnsinn aus der Dystopie des Herrn Benz durch entspannte Mobilität und selbstbestimmten Umgang mit Verkehrstechnik ersetzt würde: die sieht anders aus. Aber vielleicht hat die Standpauke[1], die eine Vertretrin des Radentscheid Heidelberg den mitfahrenden Offiziellen (ja, der Heidelberger OB und der Mannheimer „Verkehrsbürgermeister“ sind tatsächlich die ganze Strecke mitgefahren) bei der Abschlusskundgebunge gehalten hat, diese ja vielleicht doch so weit beeindruckt, dass wenigstens zwei oder drei Parkplätze im nächsten Jahr verschwinden werden. Und das wäre ja schon mal ein Gewinn.

    Fahrräder auf einer autobahnähnlichen Straße, ein Anhänger mit Blumen

    So sieht Velorution aus: Menschen und Blumen auf der Autobahn.

    [1]Es war großartig: Während die Bürgermeister wieder davon geredet haben, dass es nur noch ein paar „Lückenschlüsse“ brauche, beschrieb die Rednerin die Untätigkeit der Verwaltungen und die düstere Realität, in der nicht ein Parkplatz weichen darf, während die Bürgermeister im Stil gescholtener Schulbuben danebenstanden. Sehr charmant und mit viel Applaus bedacht. Wenn das dem Apparat nicht etwas mehr Realitätssinn vermittelt…
  • Wifi im Metronom: Ui

    Screenshot: Etwas zerrupfte Felder einer einfachen Webseite

    Das Captive Portal im WLAN vom Metronom, gerendert in einem netsurf: Nicht perfekt, aber es funktioniert, ganz ohne Javascript und anderen Zauber.

    Ich sage ja nur ungern etwas Positives über Epiphänomene der Bahnprivatisierung, aber wo ich gerade in einem Metronom sitze und ich wiederholt über absurd komplexe Captive Portals geschimpft habe: Die Metronoms (bzw. ihr Dienstleister Icomera) machen das tatsächlich mal so, dass das halbwegs akzeptabel ist: Es funktioniert ohne Javascript und Local Storage, auch im netsurf (wenn auch interessanterweise nicht mit dillo; ich habe das nicht debuggt) und überträgt in restriktiv konfigurierten Browsern gerade mal 6 kiB für die Seite. Selbst ein webkit kommt, solange Javascript aus ist, mit rund 50 kiB raus.

    Wenn das irgendwer von Icomera liest: Ziemlich großes Lob[1]! Wenn das hier jemand liest, der/die ein kommerzielles WLAN anbieten will, es aber nicht einfach ganz offen lassen will: Geht zu Icomera und sagt: „Ich will das, was die Metronoms bekommen haben“.

    Full Disclosure: Ich bin an sich ein zähnefletschender Feind von „Dienstleistern“ wie Icomera, habe aber ansonsten tatsächlich nichts mit denen zu tun.

    PS: Kein Licht ohne Schatten im Geschäft von IT-„Dienstleistung“: Icomera blockt leider Port 587, der inzwischen Standard fürs Maileinliefern ist. Ach, Icomera: Drängt die Leute doch bitte nicht noch mehr zu webmail (und gmail). Aber immerhin haben sie ssh offen gelassen, so dass halbwegs unproblematische Selbsthilfe möglich ist.

    [1]Für ganz großes Lob müsstet etwas zurückhaltenderes CSS verwenden oder zumindest den z-index eures Dialogs über den Footer heben.
  • Ach Bahn, Teil 7: Endlich ehrlich

    Mindestens seit letztem September bezahlt die Bahn das Unternehmen hcaptcha dafür, ihre KundInnen nach einer mysteriösen Systematik beim Einloggen recht regelmäßig mit minder unterhaltsamen Spielen zu belästigen: Fahrräder, Wasserflugzeuge, Busse anklicken, bis entweder die „KI“ von hcaptcha oder der/die geneigte BahnkundIn die Geduld verlieren. Gleichzeitig ging auch der Eingeloggt-bleiben-Mechanismus der Bahn-Webseite kaputt – jedenfalls verlangt sie seitdem bei jeder Buchung ein neues Login –, und so durfte ich bei im Schnitt zwei von drei Kartenkäufen stupide auf Bilder klicken. Wäre das ein Tierversuch, würde ich die Ethikkommission einschalten.

    Ich habe hier schon im letzten Oktober über diesen Mist gejammert und angemerkt, dass eine Anfrage, ob das so sein soll und wann es repariert wird, seit zwei Wochen unbearbeitet bei der Bahn lag. Seitdem habe ich immer mal wieder bei der Bahn nachgefragt und habe auch zwei oder drei Mal „Abgabeinformationen“ bekommen, die in etwa so aussahen:

    webkit-box-shadow: 0px 4px 8px #828282; /*webkit browser */-moz-box-shadow:
    0px 4px 8px #828282; /*firefox */box-shadow: 0px 4px 8px
    [... ~100 Zeilen so weiter]
    .NormaleTabelle-C{vertical-align:top;}
    .TableNormal-C{vertical-align:top;} Ihre Nachricht vom: 22. Oktober
    2021Unser Zeichen: 1-XXXXXXXXXXXX Sehr geehrter XXXXXXXXXXXXXXXXXXX,
    vielen Dank für Ihre E-Mail.  Den geschilderten Sachverhalt haben wir
    sorgfältig durchgesehen. Damit Ihr Anliegen umfassend bearbeitet und
    beantwortet wird, haben wir Ihr Schreiben heute an die zuständige
    Abteilung weitergegeben.Wir bitten Sie um Geduld und freuen uns, wenn
    Ihr Anliegen von der Fachabteilung zu Ihrer Zufriedenheit beantwortet
    werden kann.  Mit freundlichen Grüßen Ihr Team vom Kundendialog
    

    (die vergurkte Formatierung in der text/plain-Alternative der Bahn-Antworten hatte ich schon vor Monaten an die Bahn berichtet und im April etwas ausführlicher diskutiert; repariert ist natürlich nichts). Nennt mich naiv: Ich hatte wirklich ein wenig Hoffnung, dass die „Fachabteilung“ irgendwas schreibt wie „es gibt da App-Schurken, die dasunddas tun, und wir wissen uns gerade nicht anders zu helfen als mit Captchas“ oder irgendwas dergleichen.

    Das ist natürlich nicht passiert. Aber irgendeine nicht völlig inhaltsleere Antwort hätte ich schon gerne gehabt, und so habe ich trotz der Bitte um Geduld doch noch ein, zwei Mal geschrieben, wenn ich mal wieder irgendwelche Verkehrsmittel abklicken musste, damit die Bahn mir erlaubte, ihr Geld zu geben.

    Zuletzt habe ich am 24.6. Folgendes geschrieben:

    > versichern Ihnen, dass jedes Anliegen bearbeitet wird und bitten
    > Sie noch um ein wenig Geduld.  Sie erhalten eine Antwort, sobald
    > Ihr Antrag geprüft wurde.
    
    Hm... Bei drei Buchungen der letzten Zeit hatte ich wieder zwei Mal
    ein Captcha zu lösen (heute: Fahrräder).  Insbesondere hatte ich mich
    auch jedes Mal wieder neu einzuloggen.
    
    Zumindest eine Aussage darüber, ob das beabsichtigtes Verhalten ist
    oder ein Fehler wäre, finde ich, in den 10 Monaten seit meiner ersten
    Anfrage schon drin gewesen, oder?  *Soo* katastrophal kann doch das
    Anfragevolumen gar nicht sein, dass auf dieser Zeitskala niemand
    entscheiden kann, ob sich das so gehört oder ob es sich für mich
    lohnt, auf Fehlersuche zu gehen.
    
    > Link. P.S.: Für Ihre Anregungen, Lob und Kritik sind wir jederzeit
    > gern unter 030 2970 für Sie da. Sie erreichen uns rund um die Uhr
    
    Hmja... das hatte ich auch mal versucht, und die arme Mitarbeiterin
    konnte nichts tun außer mir anzubieten, mir die Nutzung einer App zu
    erklären, was beim vorliegenden Problem nun auch nur eingeschränkt
    nützlich war.
    

    Ich finde, nach Lage der Dinge ist das eine vertretbar freundliche und durchaus vernünftig formulierte Anfrage samt dem Angebot, ihre Javascript-Wüste zu debuggen, wenn das bereits vorher beschriebene Verhalten nicht beabsichtigt sein sollte.

    Was soll ich sagen? Das Ergebnis war die, so glaube ich, erste halbwegs ehrliche Antwort der Bahn, unter dem Betreff „Ihre Erfahrung mit der Deutschen Bahn“:

    -webkit-box-shadow: 0px 4px 8px #828282; /*webkit browser
    */-moz-box-shadow: 0px 4px 8px #828282; /*firefox */box-shadow: 0px
    [... >100 Zeilen so weiter wie gehabt...]
    .NormaleTabelle-C{vertical-align:top;} Ihre Nachricht vom: 24. Juni
    2022Unser Zeichen: XXXXXXXXXXXXXX Sehr geehrter XXXXXXXXXXXXXXXXXXX,
     herzlichen Dank für Ihr Schreiben vom 24. Juni 2022. Sie haben sich
    die Zeit genommen, uns von Ihren Beobachtungen und Erlebnissen zu
    berichten. Ihre Unzufriedenheit können wir gut nachempfinden. Wir
    bedauern, dass das Erlebte keinen guten Eindruck bei Ihnen
    hinterlassen hat. Unser Anspruch ist es, unsere Leistungen stetig zu
    verbessern.  Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten täglich
    daran, die Qualität und den Service auszubauen, die Verlässlichkeit
    sicherzustellen und die Verfügbarkeit und Aktualität von Informationen
    zu optimieren. Gerne stehen wir Ihnen für Ihre Fragen, Ihr Lob und
    Ihre Kritik zur Verfügung. Wir bitten Sie jedoch um Verständnis, dass
    wir von weiteren Stellungnahmen zu diesem Thema absehen. Für alle
    Anliegen zu anderen Themen stehen wir selbstverständlich zur
    Verfügung. Mit freundlichen Grüßen Ihr Team vom Kundendialog
    

    Zwar ist das erkennbar auch nur aus vorgefertigten Phrasen zusammengeklickter Nonsens, aber immerhin: sie geben ehrlich zu, dass sie „von weiteren Stellungnahmen zu diesem Thema“ absehen werden. Nun würde ich das „weiteren“ in der Formulierung bestreiten, und ich bleibe dabei, dass das für Leute, denen ich einige tausend Euro im Jahr gebe, eine etwas überarrogante Haltung ist. Ich möchte auch darauf bestehen, dass es wirklich nicht zu viel verlangt ist, von Captchas verschont werden zu wollen. Aber es ist viel besser als „Abgabeinformationen“ zu verschicken, die nie Konsequenzen haben – und bei denen das auch keineR erwartet.

    Tja, dann also hier in die Runde: Weiß jemand, ob es Absicht ist, dass mensch auf der Bahn-Webseite vor einer Buchung ausgeloggt wird? Und weiß wer, wie mensch die Chancen in hcaptchas Lotterie verbessert, ums Verkehrsmittelklicken herumzukommen?

  • Konferenzplattformen-Shaming

    In meinem Job hatte ich über die letzten Jahre reichlich Gelegenheit, mich über verschiedene Konferenzplattformen zu ärgern – und dabei gibt es weit Schlimmeres als indico, das dank CERN die meisten Konferenzen in meiner fachlichen Umgebung organisiert und auch schon reichlich Gelegenheit zum Kopfschütteln gibt. Jetzt gerade muss ich mich mit einer „Plattform“ auseinandersetzen, die mühelos den Klick-mich-weg-Preis für die grottigste Software ihrer Klasse abräumt: whova.com

    Das fängt dort an, wo die Tagesordnungs-Links nicht etwa auf das Programm der jeweiligen Session führen, sondern blind zu einem eingebetteten Zoom-Widget und hört noch lange nicht auf, wo die ProgrammiererInnen viel Mühe darauf verwenden, dass NutzerInnen die Zoom-Raumkennung nicht rauskriegen und so sowohl den proprietären Zoom-Scheiß und die murksigen Browser-Medien (im Gegensatz zum immerhin halbwegs ordentlich funktionierenden nativen Client) haben. Das Schlechteste aus allen Welten.

    Aber über sowas kann ich mich normalerweise nicht mehr aufregen[1]. Zur Tastatur greifen musste ich erst, als ich unvorsichtigerweise dem „Leaderboard“-Link in der Sidebar der Plattform folgte. Dabei zeigte sich folgendes:

    Screenshot eines Browserfensters: Eine Rangliste mit 308900, 211900 und 23400 Punkten an den ersten drei Plätzen.

    Ich habe ein wenig anonymisierend eingegriffen, weil ich Konferenzplattformen, aber keine Konferenzen oder Personen shamen will.

    Ich wollte meinen Augen nicht trauen: Diese Plattform will die TeilnehmerInnen mit albernen „Challenges“ und künstlichen Wettbewerben steuern? Nur der Klarheit halber: Das ist eine Konferenz mit lauter MoverInnen und ShakerInnen aus dem Wissenschaftsbetrieb, die endlos „Strategien“, „Nachhaltigkeit“ und, görks, „Innovation“ durchquirlen können. Solche Leute sollen wegen Fleißbienchen ihr Verhalten ändern? Tun die das am Ende gar?

    Wenn ich das richtig verstanden habe, werden folgende Dinge belohnt:

    • Add a topic or social group (20000 Punkte)
    • Suggest meet-ups (20000 Punkte)
    • Post a question in Session Q&A (10000 Punkte)
    • Recommend a conference (6000 Punkte)
    • Post a reply (500+ Punkte – wer entscheidet über das „+“?)
    • Share an article (500+ – und was ist, wenn die Urherberrechtspolizei kommt?)
    • Join a meet-up or share a ride (? Punkte)
    • Add 3 sessions to personal agenda (300 Punkte)
    • Beef up your profile (300 Punkte)
    • Say hi to someone in the attendee list (300 Punkte)
    • Post an Ice Breaker in the community board (? Punkte)

    „Hallo sagen“? Und das wird dann belohnt? Ich will mal hoffen, dass diese whova.com-Leute weit außerhalb der DSGVO-Jurisdiktion sitzen, denn mit welchem Buchstaben von Artikel 6 (1) sich so eine Datenverarbeitung begründen ließe, könnte ich mir auch mit starken bewusstseinserweiternden Substanzen nicht vorstellen. Und: Hat wirklich eine reale Person auf die „Congratulate“-Links geklickt? Wenn ja: Was ging derweil in deren Gehirnen vor? „Es könnte ja auch meine zweijährige Tochter sein, und mit meinem Lob verbessere ich ihren Wettbewerbswillen“?

    So entsetzt ich insgesamt über diesen Großangriff auf Menschenwürde und Vernunft bin, eine Frage drängt sich mir schon auf: Wenn die beiden „Leader“ jeweils zehn Mal mehr Punkte haben als die Person auf Platz drei: Sind das Beschäftigte, deren Job es ist, auf dieser Zumutung aus dem Webbrowser rumzuklicken? Oder sind es Leute, die ihren Computern beigebracht haben, Fleißbienchen für sie zu erklicken? Wenn Letzteres: Ist das stummer Protest oder demonstrative Selbstaufgabe?

    [1]Wobei: Ich habe ja nicht viel mit Jira zu tun, aber doch genug, um die Testimonials auf https://ifuckinghatejira.com/ mit grimmer Befriedigung zu lesen. Ganz so entspannt im Hinblick auf nervige proprietäre Software wie ich gerne wäre bin ich also doch nicht.
  • Ach Bahn, Teil 6: Vernünftiges HTML ist möglich

    Über absurd komplexe Captive Portals in öffentlichen WLANs, die insbesondere die Ausführung von Unmengen von Javascript erfordern – was besonders kitzlig ist, da in der Situation der Accesspunkt der ultimative Man-in-the-middle ist –, habe ich mich hier schon öfter geärgert. Was wäre so verkehrt an einer einfachen HTML-Seite, die kurz die Regeln erläutert, wenns dringend sein muss, noch ein Häkchen verlangt und sich ansonsten auf <input type="submit" value="Connect"/> (für Interoperabilität; ich selbst hätte auch nichts gegen ein <button>Connect</button>) beschränkt? Nebennutzen: Sowas abzuschicken wäre leicht automatisierbar[1].

    Stellt sich heraus: Wer auch immer diesen Mist bastelt, könnte auch anders. Jetzt gerade fahre ich – zum ersten Mal mit 9-Euro-Ticket[2] – in einem S-Bahn-Zug der Bahn und bin mit einem WIFI@DB-Netz verbunden. Beim Versuch, die nötigen Beschwörungen fürs Internet zu vollführen, kam eine ganz schlichte Meldung: „We are offline“, so schlicht, dass ich mir gleich den Quelltext angucken musste, und siehe da (ich habe ein paar Leerzeilen gekürzt):

    <html lang="de"><head>
        <meta http-equiv="Cache-Control" content="no-store">
        <meta http-equiv="Cache-Control" content="no-cache">
        <meta http-equiv="Pragma" content="no-cache">
        <meta charset="UTF-8">
        <meta name="viewport" content="width=device-width, initial-scale=1">
        <title>SRN Startseite</title>
        <link rel="stylesheet" href="scss/styles.css">
    </head>
    <body>
    We are offline...
    </body></html>
    

    Gut: Das Übertöten bei der Cache-Kontrolle ist nicht optimal, und auch nicht, dass englischer Text als Deutsch ausgezeichnet ist; generell wäre ich zwecks einfacher Parsbarkeit auch immer für XHTML zu haben, und wenn sie schon UTF-8 als Zeichensatz haben, sollten sie aus typografischen Gründen statt ... lieber … (alias U+2026) schreiben – aber anonsten: So kann modernes HTML („modern“ wg. des dämlichen viewport-metas) auch aussehen.

    Ach so: Das stylesheet gibt natürlich ein 404, und würde ich die Kennung meiner Netzwerkkarte nicht ohnehin auswürfeln, wäre nicht amüsiert, dass die URL, unter der der Kram ausgeliefert wird, genau diese Kennung enthält, aber verglichen mit den üblichen Javascript-Wüsten wäre das wirklich ein Fortschritt. Warum gehen Captive Portals nicht immer so?

    Wobei: ganz so einfach ist das natürlich auch nicht. Zieht mensch nämlich einfach irgendeine Webseite, kommt als Request Body des Redirects auf die obige schlichte Seite sowas hier:

    <HTML><BODY><H2>Browser error!</H2>Browser does not support redirects!</BODY>
    <!--
    <?xml version="1.0" encoding="UTF-8"?>
    <WISPAccessGatewayParam
      xmlns:xsi="http://www.w3.org/2001/XMLSchema-instance"
      xsi:noNamespaceSchemaLocation="http://www.wballiance.net/wispr_2_0.xsd">
    <Redirect>
    <MessageType>100</MessageType>
    <ResponseCode>0</ResponseCode>
    <VersionHigh>2.0</VersionHigh>
    <VersionLow>1.0</VersionLow>
    <AccessProcedure>1.0</AccessProcedure>
    <AccessLocation>CDATA[[isocc=,cc=,ac=,network=HOTSPLOTS,]]</AccessLocation>
    <LocationName>CDATA[[94800463058]]</LocationName>
    <LoginURL>https://www.hotsplots.de/auth/login.php?res=wispr&amp;uamip=192.168.44.1&amp;uamport=80&amp;challenge=7e9b9ebbcbaa23dcee39cd94b42695fd</LoginURL>
    <AbortLoginURL>http://192.168.44.1:80/abort</AbortLoginURL>
    <EAPMsg>AQEABQE=</EAPMsg>
    </Redirect>
    </WISPAccessGatewayParam>
    -->
    </HTML>
    

    Heilige Scheiße – HTML-Tags in Großbuchstaben und in einen HTML-Kommentar eingebettetes XML: da waren klare SpezialexpertInnen am Werk. Wenn die Leute, die sich das ausgedacht haben, das hier lesen: Ich mache zum Sonderpreis von 9 Euro eine Fortbildung in XML Namespaces und wie sie für so Zeug einzusetzen wären.

    Ansonsten sollte ich wahrscheinlich mal bei http://www.wballiance.net vorbeischauen; vielleicht lässt sich mit diesem Zeug ja irgendwas basteln, das die lästigen Vorschaltseiten, die sowas ausliefern, ganz ohne Javascript webzaubert?

    Nur nicht gerade jetzt, denn: We are offline....

    [1]Also gut: Was wäre verkehrt daran, den Captive-Portal-Scheiß ganz zu lassen?
    [2]Ich würde gerne sagen, dass ich extra zu dessen Erwerb zum Bahnhof Mainz Römisches Theater gefahren bin, denn das ist schon einer der schönsten Bahnhofsnamen der Republik, aber das wäre eine Lüge.
  • Der Oliv-Index

    Filmszene: Revue-Bühne mit Tänzerinnen und Sänger in Uniform und Monokel

    Die Staudte-Verfilmung von Klaus Manns Untertan (DDR 1951) illustriert die militarisierte Gesellschaft durch eine Revuenummer, in der Frauen mit Pickelhauben zu uniformiertem Gesang von der „Elite der Nation“ halb tanzen, halb marschieren. Olivindex: 1. (Rechte bei… na ja, wer immer den DEFA-Kram halt gekauft hat.)

    Wer in den frühen 1990er Jahren Filme wie Der Untertan oder, etwas leichtherziger, den Hauptmann von Köpenick gesehen hat, wird die Verehrung des Militärischen, die dort gezeigt wurde, für eine unfassbare historische Verirrung gehalten haben, eine Art kollektive Psychose, lächerlich und zugleich gruselig, aber jedenfalls vom anderen Ende der Geschichte.

    Dann kam die Zeitenwende; nicht etwa jetzt, sondern im Laufe der 1990er, in denen sich die Bundeswehr zurückrobbte an diverse Plätze an der Sonne, angefangen mit Jagdbombern, die im Januar 1991 US-Jets in der Türkei ersetzten, damit diese für die Wiedereinsetzung des Emirs von Kuwait töten konnten. Es folgten die ersten Truppen außerhalb des NATO-Gebiets in Kambodscha im Mai 1992, wo im Oktober 1993 auch der erste Held anfiel (for the record: Alexander Arndt), dann mit AWACS-Flügen über Jugoslawien und so weiter und so fort. Langsam, aber bestimmt überschritt das Militär immer wieder zuvor sicher geglaubte Grenzen. Der große Zusammenbruch, oder wegen mir die Zeitenwende, kam aber erst ganz am Ende der 1990er Jahre: Militärminister Rühe hatte noch 1997 verkündet, nie wieder dürfe ein Stiefel eines deutschen Soldaten in Jugoslawien auftreten. 1999 griff die Bundeswehr Serbien an und marschierte im Kosovo ein, geschmackloserweise gerade unter Verweis auf die Verbrechen der deutschen Großväter (die damals ja noch in großer Zahl lebten).

    Nach diesem Tabubruch schlichen sich Reden von Helden, Tapferkeit und Vaterland in immer mehr Salons, kehrte der Glaube zurück, Militär an sich und schon gar deutsches Militär könne irgendwo und schon gar im Ausland Zustände verbessern. Mit der schon aus fünf Schritt Entfernung offensichtlich dystopischen Erzählung vom R2P wurde ab 2005 aus dem „Können“ allmählich ein „Müssen“ – also: dort, wo es bequem war und gegen die richtigen Feinde ging.

    „Rohrkrepierer“ ist eine Diagnose – von Sprache

    Die Militarisierung des Diskurses fand nicht nur nach außen statt. Eines der exteremen Beispiele: 2005 sollte die Bundeswehr für die Polizei Zivilflugzeuge abschießen dürfen – was das Verfassungsgericht 2006 zum Glück nochmal einfangen konnte (vgl. Luftsicherheitsgesetz in der Wikipedia). Dass der Corona-Krisenstab einen General als Vorsitzenden bekam, war kurzfristig ein neuer Höhepunkt der Preußen-Renaissance. Wieder half das Glück der Zivilgesellschaft, denn dieses Gremium stellte sich schnell als Rohrkrepierer (um mich auch kurz an Militärsprache zu versuchen) heraus.

    Nach dem Umschlagen der jüngsten Aufrüstungsrunde (das verlinkte PDF ist von 2019; der Kram ist also nicht neu) in einen weiteren Krieg hat eine giftige Mischung aus Patriotismus und Militarismus wenigstens vorläufig die… unbestrittene Lufthoheit. Zeitweise waren und sind Kommentare, die sich positiv auf deutsche Eingriffe in Kriege bezogen, in der Presseschau im Deutschlandfunk in der breiten Mehrheit, während in der Tagesschau oft kaum ein Beitrag ohne Olivgrün daherkommt.

    Ein Thermometer fürs Kriegsfieber

    Auch ein erklärter Feind von Metriken wie ich kann an dieser Stelle nicht widerstehen. Es braucht eine Zahl zur Charakterisierung des gesellschaftlichen Kriegsfiebers[1]. Nun, hier ist meine Zahl: Der Oliv-Index. Der von heute ist 0.55, wobei 0 „alles zivil oder unpatriotisch“ und 1 „der Kaiser schickt seine Soldaten aus“ bedeutet. Etwas weniger blumig ist der Oliv-Index ist das Verhältnis der Zahl der patriotisch-militaristischen Kommentarauszüge zu allen, die an einem Tag in der Morgen-Presseschau des DLF zitiert werden.

    Balken in verschiedenen Schattierungen von oliv

    Der Olivgrün-Index zwischen siebtem und 21. Mai: Je oliver, desto höher das patriotisch-militärische Fieber im Blätterwald der Republik.

    Nachtrag (2022-06-09)

    Ich führe den Olivindex tatsächlich fort, und für eine Weile ist die aktuelle Lage jeweils am Fuß der Blogseiten. Und, jeweils aktuell, solange ich das Elend auswerte, hier:

    Viel mehr Balken in verschiedenen Schattierungen von oliv

    Ich habe das in den vergangenen zwei Wochen ausprobiert, schon, um zu sehen wie viele Zweifelsfälle es geben würde. Tatsächlich war es beispielsweise nicht immer einfach, die Kommentare zur Entthronung von Gerhard Schröder korrekt einzuordnen: Was davon war allgemeine patriotische Empörung, was davon Empörung über Vaterlandsverrat im Krieg? Und – nicht, dass das für den Oliv-Index eine Rolle spielen würde: Was war Abwiegelung aus Staatsraison, was Abwiegelung aus kühlem Kopf? Die naheliegende Position „wenn ihr ihn wegen Kosovo und Hartz IV, wegen Afghanistan und Riesterrente, wegen BamS und lupenreinen Demokraten nicht abgesägt habt, müsst ihr es jetzt auch nicht mehr machen“ kam leider nicht vor.

    Dennoch sind Zweifelsfälle nach meinem ersten Eindruck nicht furchtbar dramatisch. Ich würde vermuten, dass andere Menschen meine Scores innerhalb von vielleicht 10% reproduzieren würden.

    Wer das probieren will, ist herzlich eingeladen. Dazu könnt ihr meine codes.txt inspizieren und sehen, ob ihr meine Einschätzungen teilt, solange die Presseschauen nicht depubliziert sind (was derzeit leider sehr schnell geht). In so einem Code steht von links nach rechts jedes Zeichen für einen Kommentarauszug, von oben nach unten gelesen. Ein o steht für einen oliven, also patriotisch-militaristischen Artikel, ein Punkt für einen anderen.

    Ihr könnt auch das Programm, das die Plots macht, ziehen: olivin. Da dürfte sich in der nächsten Zeit noch das eine oder andere ändern, denn, das gebe ich gleich mal zu, ich hoffe, am Schluss etwas Ähnliches zu produzieren wie die längst zu Popkultur gewordenen Climate Stripes von Ed Hawkins. Nur eben, ich bin ja Optimist, als Illustration einer vielleicht wieder allmählich sinkenden Begeisterung für Militär und Vaterland.

    Nachtrag (2023-06-17)

    Nach über einem Jahr mit der DLF-Presseschau hat mich jetzt die Lust verlassen; die letzte Presseschau, die ich verdaut habe, ist die vom 20.5.2023. Hier sind die military stripes von damals:

    Viel mehr Balken in verschiedenen Schattierungen von oliv

    Verschiedene braune Bänder lassen sich den Ereignissen der Zeit zuordnen; so entspricht das starke Feature rechts von 2023-01-16 der Großaufregung für die Lieferung von Kampfpanzern aus der Produktion der Rüstungsschmieden Krupp^W Krauss-Maffei-Wegmann und Rheinmetall an die Regierung der Ukraine; die darauf folgende weiße Beruhigung illustriert, dass der militärisch-patriotische Komplex durchaus auch mal für ein paar Tage zufrieden sein kann.

    Aber erstens war die militärisch-patriotische Begeisterung schon im letzten Sommer insgesamt überschaubar, und zweitens artet das alles in Arbeit aus. Wenn aber wer mal mit inzwischen über einem Jahr DLF-Presseschauen spielen will (ich könnte mir z.B. vorstellen, dass ein darauf nachtrainiertes LLM ausgesprochen bizarre Sachen sagen würde), möge sich bei mir rühren.

    [1]Nun ja: Für die Leute, die die Metriken definieren, sind sie ja schon nützlich, denn natürlich wird mensch die so definieren, dass sie den eigenen Interessen dienlich sind. Insofern bin ich natürlich kein Feind von Metriken, die ich definiere.
  • Ach Bahn, Teil 5: Stuttgart 21

    Foto: Bahnaushang mit fast schon sarkastischer Umwegkennzeichnung

    Schon seit anderthalb Monaten müssen die Fahrgäste am Stuttgarter Hauptbahnhof den hier grün eingezeichneten Weg nehmen, um den Bahnhof Richtung Innenstadt und Nahverkehr zu verlassen, nach (realistischer) Bahn-Einschätzung ein Weg von fünf Minuten. Ich bin erstaunt, dass das bisher noch keinen Aufstand gegeben hat.

    Frage an Radio Eriwan: „Steht die Einundzwanzig in Stuttgart 21 für die Zahl der Jahre, die der Stuttgarter Hauptbahnhof kaputt sein wird oder für die Zahl der Minuten, die mensch braucht, um vom Bahnsteig an den Bahnhofsausgang zu kommen?“ Die Antwort: „Im Prinzip ja, aber in Wahrheit haben wir die Gesamtkosten für die öffentliche Hand in Milliarden Euro gemeint.“

    Ok: Die S21-Katastrophe ist zur Abwechslung nicht der Fehler der Bahn alleine. Das historische Faktum der Volksabstimmung, die das Immobilienspekulationsprojekt rund um den Stuttgarter Bahnhof abgesegnet hat, illustriert gewiss über die DB hinaus einige Grundprobleme der Abstimmungsvariante direkter Demokratie (die, nebenbei, die Entropieprobleme ihres repräsentativen Cousins teilt). Solange Menschen ein Wahnsinns„argument“ wie „wir haben schon zwei Millarden ausgegeben, jetzt müssen wir da auch durch“ kaufen, wird es mit so einer Abstimmerei nicht besser.

    Demokratietheoretisch noch kniffliger ist, dass hier in breiter Mehrheit Menschen, die selbst praktisch nie einen Bahnhof betreten („Autofahrer“) den NutzerInnen des Stuttgarter Bahnhofs mehr als ein Jahrzehnt auch nach Bahnmaßstäben allenfalls hinkenden Notfallbetriebs eingebrockt haben. Alle Auswege aus Problemen dieses Typs, die mir so einfallen, schweben irgendwo zwischen Ablismus und Aristokratie oder sprengen alle vernünftigen Konzepte von Gesellschaft; vermutlich ist das ein Zeichen, dass es echte Partizipation nur im Gespräch, nicht aber in der Abstimmung geben kann (was ich ja schon lange vermute).

    Baustellenaushang: "Zu den Zügen bitte die Halle verlassen"

    Mai 2022: Über ein Jahrzehnt nach der blutigen Räumung des Schlossgartens, damit es „endlich“ losgehen konnte mit dem Abbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs, markiert die Bahn: Wanderer, betrittst du den Bonatzbau, kehre einfach wieder um.

    Durchaus ein Fehler der Bahn ist aber, wenn zunächst für zehn Jahre die Gleise nur über zwei Brücken von vielleicht 200 Metern Länge mit dem Bahnhofsgebäude verbunden sind – war in dieser Grube wirklich so lange so viel zu machen? – und dann selbst diese beiden Brücken gleichzeitig abgerissen werden. Genau das ist aktueller Stand der Dinge, und der Weg Richtung Innenstadt verläuft jetzt über eine riesige Schleife von vielleicht einem halben Kilometer. Damit braucht es mindestens fünf Minuten von Bahnsteig zu Vorplatz und ÖPNV – was solide in der Größenordnung der Wege liegt, die ich überhaupt zurückzulegen habe, wenn mich ein gehässiges Schnicksal nach Stuttgart verschlägt. Das hätte mit etwas kundInnenfreundlicher Planung nicht sein müssen.

    Updates zu meinen übrigen Sorgen mit der Bahn: Keine. Ich weiß immer noch nicht, welche „Angriffe“ eigentlich durch hcaptcha abgewehrt werden sollen, habe keine Hinweise, wie ich nicht bei jeder Buchung wieder ein Captcha lösen muss (heute habe ich ca. 15 Flugzeuge angeklickt), und es gibt immer noch kein Signal der Bahn zur doch eigentlich sehr naheliegenden Forderung, entweder die Bahn-Bonus-App oder zumindest ihre API offenzulegen.

  • Ach Bahn, Teil 4: Werbschleicher

    Foto: Werbepost von der Bahn in rot, etwas größer als DIN C7.

    Das aktuelle „Einwilligungsmanagement“ der Bahn.

    Gestern habe ich Brief-Spam von der Bahn bekommen. Während meine Fragen zu frechen Captchas (Oktober 2021) und einer öffentlichen Entwicklung ihrer „BahnBonus App“ (neulich) immer noch auf sinnvolle Antworten warten und die Mails von der Support-Adresse immer noch einen komplett kaputten text/plain-Teil haben, schreibt die Bahn:

    Sie sind noch nicht zu unserer E-Mail-Kommunikation angemeldet.

    Äh… Was? Ihr habt mir doch euer Schreiben, nach der künftig Menschen, die den root-Account auf ihren Rechnern weder Apple noch Google geben wollen (nicht-technisch: „nicht smartphonieren“), auch per Mail geschickt? Nun, lesen wir weiter:

    Aber nicht nur mit der BahnBonus-App, sondern auch durch unsere E-Mail-Kommunikation bekommen Sie unsere Angebote immer und überall direkt auf ihr Smartphone.

    Ah ja. „Angebote” also. Dass die Bahn Werbung über ihre App ausspielen will, habe ich mir schon gedacht, denn, abgesehen vom (Meta-) Datensammeln: Was soll sonst schon der Vorteil der App-Infrastruktur sein gegenüber der alten Karte, die als Werbeträger, das gebe ich der Bahn gerne, nur recht eingeschränkt taugt?

    Was die Bahn hier probiert, heißt, so höre ich, in der Branche „Consent Management“, also das Erschleichen von Einwilligungen zu allerlei Datenverarbeitungen, die klar denkende Menschen ohne solches „Management“ durchweg ablehnen.

    Die Werbepost von der Bahn ist mithin eine materielle Manifestation eines Cookiebanners. Liebe Bahn: Der aktuelle Kurs für das Erschleichen solcher Einwilligungen ist mindestens ein iPad-Gewinnspiel. Oder in meinem Fall: dass ich mit meiner Plastikkarte weiter einen warmen Ort mit sauberem Klo finde, wenn ich mal wieder auf einem größeren Bahnhof auf einen Zug warte, der grob in meine Richtung fährt.

    Aber all das hat auch eine positive Seite: offenbar gibts im Bahn-Werbecomputer kein Feld „angepisster Kunde, vorsichtige Ansprache“ – oder die Prozesse, es zu füllen, funktionieren nicht. Und das ist aus Datenschutzsicht auch schon was.

    Exkurs: Datenschutzaufklärung auch kaputt

    Oh, habe ich gerade „Datenschutz“ in einem Bahn-Zusammenhang gesagt? Dann kann ich nicht widerstehen, kurz von zwei Highlights meines Ausflugs auf die Datenschutzseite der Bahn zu berichten. Da stimmt nämlich schon im Hinblick auf die Rechtsgrundlagen ziemlich wenig (Stand April 2022). Ich will kurz zwei Beispiele geben.

    Die Bahn setzt ein bizarres Konglomerat von Tracking-Software ein (was den beruhigenden Schluss zulässt, dass sie wahrscheinlich sehr wenig mit den Ergebnissen machen, denn das Gesamtbild hinterlässt nicht den Eindruck, dass da wer weiß, was er_sie tut) und erklärt dazu:

    Die im Folgenden aufgeführten und von uns eingesetzten Tracking-Maßnahmen werden auf Grundlage des Art. 6 Abs. 1 lit. b) DSGVO durchgeführt und dienen der bedarfsgerechten Gestaltung und fortlaufenden Optimierung unserer Webseite.

    Buchstabe b in DSGVO Art. 6 (1) ist „Abwicklung eines Vertrages“. Wer mir erzählt, er könne mir nur dann ein Ticket verkaufen, wenn er Tealium, Adobe Analytics, Optimizely, Qualtrics, m-pathy und CrossEngage alle zusammen auf mich loslässt, hat allenfalls mein bitteres Lachen, anonsten aber die Nadel des Glaubwürdigkeits-o-meters am Nullanschlag verbogen.

    Nur zur Klarheit: eine Datenverabeitung, die sich auf Buchstabe b beruft, muss notwendig sein, der Kram muss also kaputt gehen, wenn sie nicht stattfindet. Das ist bei all den Trackern augenscheinlich unzutreffend, denn auf meiner Maschine zeigen fast alle zugehörigen Servernamen auf meine eigene Maschine oder die „Dienste“ sind anderweitig „geblockt“. Ich kann aber trotzdem buchen, von den Captcha-Belästigungen mal abgesehen.

    Allerdings: Schon der vorgeschobene Grund, „bedarfsgerechte Gestaltung“ (von der ohnehin keine Rede sein kann) hat ja mit der Vertragsabwicklung nichts zu tun. Vielleicht könnten in dem Zusammenhang „berechtigte Interessen“ (Buchstabe f) angeführt werden, mit der Vertragsabwicklung hat das jedenfalls nichts zu tun.

    Mit diesen berechtigten Interessen versucht es die Bahn ein wenig später, nämlich bei den Captchas (wo das nicht komplett abzustreiten wäre, auch wenn im konkreten Fall jede Verhältnismäßigkeit fehlt) und:

    Für Zwecke der Betrugsprävention verwenden wir die Technologie JSC-Tools der Risk.Ident GmbH (Am Sandtorkai 50, 20457 Hamburg). Dies dient Ihrem und unserem Schutz, um der missbräuchlichen Verwendung Ihres Zahlungsmittels zur Zahlung bei bahn.de/bahn.com vorbeugen zu können. Rechtsgrundlage hierfür ist Art. 6 Abs. 1 lit. f) DSGVO.

    Bei diesem Passus wollen Zweck – nämlich Schutz meines Zahlungsmittels – und Verarbeitungsgrund – Interessen der Bahn – recht offensichtlich nicht zusammengehen. Hier wäre ein Berufen auf Buchstabe b eventuell denkbar, weil im wilden Internet Zahlungen ohne Schutzzauber komplizierte Compliance-Probleme bereiten könnten. Das kann ich nicht beurteilen, denn weder weiß ich, welche Sorte Schutzzauber diese JSC-Leute machen noch muss ich – und dafür danke ich allen Gottheiten, die gerne Dankbarkeit hätten – Geld übers Internet eintreiben.

    Aber gut: Wer hätte schon erwartet, dass die Bahn im Datenschutz besser ist als im Zugbetrieb. Auch dort ist es ja gegenwärtig die Regel, dass, wenn ein Zug kommt, es fast immer ein anderer ist als angekündigt und auch dieser andere Zug irgendwie kaputt ist.

  • „Sackgasse Aufrüstung“ mit Jürgen Wagner

    Modern anmutendes Plakat: "Gold gab ich zur Wehr, Eisen nahm ich zur Ehr"

    Dass auch avantgardistisch orientierte Menschen im ersten Weltkrieg die große Knochenmühle mit ihrer Kreativität unterstützten, zeigt, so finde ich, dieses im Technischen Museum Wien ausgestellte zeitgenössische Plakat. Aber dazu später.

    Gestern war Jürgen Wagner von der großartigen Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Heidelberg und hat über „Krieg gegen die Ukraine – Russlands Krieg, die westliche Rolle und die Sackgasse Aufrüstung“ referiert (Ankündigung). In einer Zeit, in der praktisch keine öffentliche Äußerung ohne Schaum vorm Mund auskommt, war der im Groben ruhige Verlauf der Veranstaltung eine sehr willkommene Abwechslng. Aber gut, es konnten auch die meisten der (praktisch durchweg grauhaarigen) Anwesenden mit gutem Gewissen sagen: Wir waren gegen die Angriffskriege gegen Serbien, Afghanistan, den Irak, Libyen oder Efrîn auf der Straße – klar sind wir auch gegen den Angriff auf die Ukraine auf der Straße. Wer so viel Routine hat bei der Empörung gegen das staatliche Töten, hat vielleicht wirklich bessere Voraussetzungen, allzu überschäumender Erregung zu entgehen.

    Ich nehme ich an, dass Jürgens Online-Vortrag vom 28.3.2022 ziemlich genau dem entspricht, was er gestern erzählt hat, und so empfehle ich das jetzt mal ungesehen. Lohnend ist das unter anderem, weil Jürgen recht überzeugend eines der hässlicheren Narrative der letzten paar Wochen zerlegt: Dass es nämlich eine Appeasement-Politik gegeben habe und diese gescheitert sei, weshalb nun die Aufrüstung (und in der Konsequenz das Niederringen und -werfen des Feindes) alternativlos sei.

    Es hat seit 1990 keine „Appeasement“-Politik gegeben.

    Beide Teile dieses Narrativs sind Quatsch. Es hat nämlich schon mal keine Appeasement-Politik gegeben. Mal ganz davon abgesehen, dass eine Diffamierung von Entspannungs- und Kompromisspolitik als „Appeasement“ (und damit des Feindes als „Hitler“) an sich schon stark nach übler Demagogie schmeckt: „Der Westen“ hat seit der Niederlage der Sowjetunion konsequent die berühmten „roten Linien“ seiner (nicht nur russischen) Feinde überschritten und hat entsprechende Signale von diesen nonchalant ignoriert. Wer nicht Video gucken will, findet auch auf der Ukraine-Seite der IMI viel Material zu diesem Thema.

    Diese Frage ist durchaus relevant, denn: Zur Abwechslung mal nicht blind die eigenen nationalen Interessen durchsetzen wäre durchaus ein Modell für eine antiapokalyptische Außenpolitik nach dem jüngsten Krieg in Europa, gerade auch im Hinblick auf ein Einbremsen der zahlreichen vergleichbaren Gemetzel im globalen Süden.

    Was im Übrigen vom Appeasement-Narrativ zu halten ist, zeigt die Entwicklung der deutschen Kriegskasse:

    Seit der Eskalation um das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine stieg das Budget der Bundeswehr von 32,5 Mrd. Euro (2014) auf 46,9 Mrd. (2021) steil an – und das sind nur die offiziellen Zahlen, hinter denen sich noch einmal etliche Milliarden versteckte Militärausgaben verbergen (siehe IMI-Standpunkt 2019/058).

    Jürgen Wagner am 28.2.

    An gleicher Stelle macht Jürgen auch einen weiteren Punkt aus dem Vortrag gestern, und zwar einen, der eigentlich allem Aufrüstungsgerede ohnehin sofort den Boden entziehen sollte:

    Die NATO-Militärausgaben sind also heute bereits rund 18mal höher als die Russlands. Augenscheinlich haben die militärischen Ausgabensteigerungen bislang in keiner Weise zu mehr Sicherheit geführt, wie derzeit leider offensichtlich wird.

    Wer also immer meint, jetzt als Folge der Empörung über Putins Töten die „eigenen“ Fähigkeiten zum Töten ausbauen zu sollen, dürfen oder müssen, sollte besser glaubhafte Geschichten liefern, wie genau der russische Angriff auf die Ukraine nicht stattgefunden hätte, wenn „wir“, sagen wir, 20-mal mehr oder 30-mal mehr oder 100-mal mehr als „die Russen“ fürs Töten ausgegeben hätten. Szenarien, die mehr als 100-mal mehr fürs Militär ausgeben wollen als Russland, gelten nicht, denn das würde wahrscheinlich selbst unsere Volkswirtschaften überlasten, von den verheerenden Wirkungen auf den Rest der Welt ganz zu schweigen.

    Allerdings dreht sich die Spirale logisch und moralisch fragwürdiger Erzählungen im patriotischen Taumel weiter und lässt die behaupteten Sachzwänge der Tötungsmittelspirale inzwischen hinter sich.

    Die Auszeichnungen für das aktuell krummste „Argument“ muss wohl an Dominic Johnson gehen, der gestern in der taz in einem Kommentar mit dem eigenartig selbstbezüglichen Titel „Putins verquere Logik“ ein Aufrüstungsargument versucht, das, nun, verquer ist:

    Vielleicht hofft der russische Präsident, dass im Westen die üblichen Mahner weiter davor warnen, Russland zu „provozieren“ – so als ob Russland nicht schon unprovoziert schlimm genug agiert. Zu befürchten ist aber eher, dass diese Entwicklung gewollt ist. Putin zeichnet gegenüber dem russischen Volk ein Zerrbild des Westens als aggressive Kraft, die die russische Zivilisation im Namen der europäischen Liberalität zerstören will. Mit seiner Gewalt will er jetzt den Westen dazu bringen, diesem Zerrbild zu entsprechen – damit Russland als Führungsnation eines aggressiven „Antiwestens“ auftreten kann. Die Ukraine ist dafür Putins Fußabtreter.

    Gerade deswegen aber ist der Kurs, die Nato zu stärken, richtig und alternativlos.

    Kurz: „Unsere Aufrüstung ist gut für Putin. Lasst uns mehr aufrüsten!“ Und ich dachte, „wir“ sollten „Putin stoppen“?

    Vielleicht missverstehe ich Johnson aber auch. Ich komme ja schon bei der konventionelleren Begeisterung für Waffen und HeldInnen nicht recht mit, etwa wenn heute morgen in der DLF-Presseschau der Vorwurf des Münchner Merkurs wiederholt wurde:

    Schwere Waffen [...] will der Kanzler den heldenhaft gegen Putins Vernichtungsarmee kämpfenden Ukrainern weiterhin nicht liefern.

    Woher kommt so eine Denke, so eine Schreibe bei Leuten, die doch vor gerade mal acht Jahren mit einer Haltung von „bedauernswerte, verwirrte Schlafwandler” dem Kriegsgejubel und -kreditieren von 1914 gedacht haben?

    Wenn wir uns heute empören dürfen, jeden Kompromiss und jede Verhandlung ablehnen, dann durften es die Kaiser, Zaren, Könige und Präsidenten damals auch. Nicht vergessen: Die Zaren, Könige und Präsidenten waren mit Terroristen im Bund, die die geliebte Thronfolgerin für erhebliche Teile der heutigen Ukraine feige und brutal ermordet haben – von den imperialen Politiken überall in der Welt, die uns von unserem verdienten Platz an der Sonne fernhalten, mal ganz zu schweigen.

    Die Kaiser wiederum haben furchtbare Massaker bei ihren eigenen imperialen Abenteuern angerichtet und hielten große Teile ihrer Bevölkerung in bitterer Armut, während sie selbst in Saus und Braus lebten. Klar, dass das die Könige, Präsidenten und Zaren nicht hinnehmen konnten.

    Bullshit? Jaklar. Aber warum hören dann so viele Menschen bis hinein in die Linkspartei – für die ja der Burgfrieden quasi der Gründungsmythos ist – den heutigen Varianten solcher Erzählungen zu?

  • Ach Bahn, Teil 3: Ade, du schöne Lounge

    Heute morgen habe ich eine Mail bekommen, die ich zunächst für einen besonders dreisten 419 scam gehalten habe. Doch nein, der Absender und die Received-Header sahen alle glaubhaft aus. Die Bahn hat mir wirklich mitgeteilt:

    Um Ihre BahnBonus Statusvorteile nutzen zu können, ist ab dem 13.06.2022 die BahnBonus App erforderlich.

    und in den „FAQ“ (ich wette, dass einen ganzen Haufen davon nie ein realer Mensch gefragt hat, mal ganz zu schweigen von „frequently“) steht tatsächlich:

    Warum gibt es ab Einführung der Statuslevel die meisten Statusvorteile nur in der BahnBonus App?

    Der Wunsch nach digitalen Lösungen ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Die Änderungen ab 13.06.2022 werden diesem Wunsch gerecht, weswegen die Prozesse alle rein digital umgesetzt werden.

    Wie? Weil der „Wunsch nach digitalen Lösungen“ (vgl. Antisprache Digitalisierung) zugenommen hat, zwingt die Bahn Leuten „Smartphones“ auf? Leute haben gewünscht, dass sie noch mehr Zirkus machen müssen an den Lounge-Eingangskontrollen? Ich glaube kein Wort und rufe die Antisprache Innovation auf.

    Und, natürlich:

    Mit welchen Betriebssystemen kann die BahnBonus App genutzt werden?

    Bei iOS erfordert die BahnBonus App Version 14.0 oder höher. Bei Android erfordert die BahnBonus App aktuell Version 8.0 oder höher und ab Einführung der BahnBonus Statuslevel im Juni Version 9.0 oder höher.

    Nun ist die Teilnahme an Kundenbindungsprogrammen nichts, dessen mensch sich gerne bezichtigt und das vielleicht auch nicht ganz verträglich ist mit Bedenken bezüglich informationeller Selbstbestimmung. Bahn-Bonus, das will ich hier ganz schnell betonen, war meine einzige Sünde in dem Bereich[1]. Und ja, es ist ohnehin nicht sonderlich nett, in Lounges Kakao zu schlürfen, während die ungewaschenen Massen draußen am Bahnsteig frieren. Insofern will ich hier keine große Moral aufmachen.

    I like both kinds of operating systems: the one where Apple is root and the one where Google is root.

    Dennoch war ich immer gerne in den Lounges, schon, weil ich in keiner anderen Kategorie von Raum so oft zufällig auf Bekannte gestoßen bin. Auch wenn das wegen der kompromittierenden Natur des Eingeständnisses, dass mensch bei der Datensammelei Bahn-Comfort mitmacht, nicht immer ganz unbeschwert war, weine ich diesen Dingern schon eine Träne oder zwei nach. Und drum habe ich, auch wenn ich immer noch auf eine sinnvolle Antwort zu meiner Anfrage zu Captchas an die Bahn vom letzten Jahr warte, nochmal eine Mail an die Bahn-Kundenbetreuung geschickt:

    Date: Tue, 5 Apr 2022 08:31:05 +0200
    Subject: Charmeoffensive

    Hallo,

    Ich denke mal, Sie werden heute viele Mails dieser Art bekommen, aber ich denke, es kann nicht oft genug gesagt werden: Dass in Zukunft der Deal "Daten gegen Dienste" mit entweder Apple oder Google nötig sein soll, um in die Lounges zu kommen, ist sicher keine Charmeoffensive der Bahn, zumal im Hinblick darauf, dass VielfahrerInnen wahrscheinlich eher datenschutzbewusster sind als die Durchschnittsbevölkerung.

    Können Sie nicht wenigstens den Quellcode der "App" veröffentlichen, so dass Leute den Kram auch auf normale Rechner portieren können? Oder, wenn das eh nur eine dünner Lack über eine API sein sollte, das Zeug auch als normale Webseite anbieten?

    Schon etwas fassungslos,

    Ich weiß nicht, was die Bahn antworten wird (aber schon, was nicht: den tatsächlichen Grund dieses Stunts – während Corona waren die Lounges doch immer leer?), aber nach meinen bisherigen Erfahrungen kann ich zuversichtlich vorhersagen, mit was die text/plain-Alternative der Mail anfangen wird. Nämlich:

    -webkit-box-shadow: 0px 4px 8px #828282; /*webkit browser
    */-moz-box-shadow: 0px 4px 8px #828282; /*firefox */box-shadow: 0px 4px
    8px #828282;line-height:1.15;width:467.700pt; padding:0pt 42.550pt 0pt
    85.050pt ; background-color: #FFFFFF; margin:auto.header{
    padding-top:36.000pt ;}.footer{ padding-bottom:31.200pt ;}.page-content{
    position:relative;padding-top: 62.650pt ;padding-bottom: 70.900pt
    ;min-height:708.350pt; ;}del {text-decoration:line-through;color:red;}
    ins {text-decoration:none;} .Hyperlink-H{color:#0000FF;}
    

    Und noch viele Zeilen weiter so. Das ist übrigens schon seit Jahren in dieser Weise kaputt. Besonders mysteriös finde ich dabei ja, warum in diesem CSS-dump ausgerechnet eine Regel für das del-Element enthalten ist, dem ich, so glaube ich, in der Wildnis noch nie begegnet bin. Rätsel über Rätsel bei der Bahn.

    Nachtrag (2022-04-06)

    Ha! Ich hatte recht. Zur Illustration des Ausmaßes an Murks empfehle ich einen Blick auf den ganzen text/plain-Anhang des Bahn-Supports (scrollt ein Stück nach unten, da kommt wirklich auch etwas Nicht-CSS, wenn auch sehr kreativ geklebt).

    Ich habe kurz überlegt, ob ich das vielleicht nicht öffentlich machen sollte, weil es ja erstmal eine private Mail ist. Aber dann ist mir aufgefallen, dass da überhaupt nichts Privates drinsteht. Die Bahn ist ja auf keinen meiner Punkte eingegangen und hat nur „F“AQ-Punkte zusammengeklickt. Und eine Urheberrechtsverletzung kommt schon wegen mangelnder Schöpfungshöhe nicht in Frage.

    Hinweis an der Stelle: Haufenweise Plastik ließe sich wunderbar vermeiden, wenn der Quellcode offen wäre und damit die Menschen nicht unbedingt Betriebssysteme bräuchten, die auf ihrer aktuellen Hardware gar nicht laufen. Aber wem predige ich das?

    Die Antwort: 030 2970, wie in der Mail empfohlen. Oder eher: ich habe das gerade versucht, mitsamt einer Erörterung meines Captcha-Problems. Tatsächlich habe ich nach etwas Interaktion mit einem Computer und nur zwei Minuten Warteschleifenmusik einen Menschen am Telefon gehabt. Dieser war hörbar glücklich, „Ich schicke Sie mal kurz in die Mobilitätsabteilung“ seufzen zu können. Mit der Mitarbeiterin dort hatte ich dann jede Menge Mitleid, weil sie mir in keinem meiner Anliegen auch nur einen Millimeter weit helfen konnte, während ich mit ihrem mehrfachen Angebot, mich im Umgang mit dem DB-Navigator zu schulen, schon deshalb nichts anfangen konnte, weil dieser auf keinem meiner Rechner läuft (von meiner Abneigung gegen unpaketierte Software mal ganz abgesehen).

    Überrascht war ich über diesen Ausgang natürlich nicht. Aber wenn ich hier schon so wohlfeiles wie berechtigtes Bahn-Bashing betreibe, wollte ich es wenigstens versucht haben.

    [1]Also gut, wenn ich schon beichte, dann gleich richtig: ich habe auch mal versucht, hinreichend Schnipsel von Samba-Deckeln zu sammeln, um ein Schneidbrett mit Rapunzel-Logo zu bekommen. Das hat aber leider nicht geklappt.
  • Jede vierte Stimme nicht im Parlament vertreten

    Balkendiagramm mit Wahlergebnis

    Stimmenanteile der verschiedenen Listen bei der Wahl im Saarland gestern. Wahlbeteiligung: 61.4%. Rechte beim Saarland.

    Mensch muss meine informationstheoretischen Bedenken vom letzten Oktober im Hinblick auf die repräsentative Demokratie nicht teilen, um die 5%-Hürde wirklich befremdlich zu finden: Warum genau sollten „Minderheiten“, denen deutlich mehr als jedeR zwanzigste StaatsbürgerIn angehören kann[1], nicht im Parlament vertreten sein?

    Dies ist eine sehr ernste Frage, wenn wer „die Bevölkerung“ im Parlament „abgebildet“ sehen will. Hinter diesem Bild von der Abbildung steht die (sicher zutreffende) Prämisse, dass da eben nicht ein „Volk“ einen Willen hätte und per Wahl eine Art kollektive Sprecherin gefunden hätte. Nein, dieses Bild erkennt an, dass die Regierten ein mehr oder minder buntes Häufchen Leute sind, die sich über allerlei Fragen ziemlich uneins sind. Sollen zumindest die wesentlichsten ihrer Perspektiven im Parlament reflektiert sein (an der Stelle kommt übrigens der Einspruch der Informationstheorie, denn es wird sicherlich mehr als 20 relevantere Perspektiven geben), fällt mir wirklich keine plausible Begründung mehr ein, warum eine Initiative, zu der sich schon mal fünf von hundert Menschen verabreden können, nicht nur nicht an Regierung beteiligt sein, sondern nicht mal eine Stimme im Parlament haben soll.

    26% der Bevölkerung machen die absolute Mehrheit im Parlament.

    Ein weiterer Seiteneffekt der 5%-Hürde hat gestern im Saarland besonders zugeschlagen. Wer nämlich die Stimmen aller von ihr aus dem Parlament gekickten Parteien zusammenzählt, kommt auf 23% (es sei denn, die Grünen rutschen doch noch rein). Wie in der Überschrift gesagt: Fast jede vierte Stimme ist damit nicht im Parlament vertreten. Das ist mehr als die Hälfte des Stimmenanteils der SPD (26% der Bevölkerung, 43.5% der abgegebenen Stimmen) und damit einer (unter diesen Umständen) sehr komfortablen absoluten Mehrheit. Dieses Viertel der WählerInnen sehen die, von denen sie sich vertreten lassen wollten – die z.B. für sie Parlamentsanfragen hätten stellen können – nicht im Parlament.

    Das ist bitter, denn bei aller Kritik an der Sorte Parlamentarismus, bei der die Exekutive bei Strafe ihres Untergangs die Legislative immer an der kurzen Kandare halten muss, sind gerade die Mittel der Opposition – die Anfragen ganz besonders – ein wichtiges Mittel politischer Einflussnahme. Hier in Baden-Württemberg z.B. fehlt die Linke im Landtag schon, weil auf diese Weise bis heute unklar ist, welche Bomben und Panzerfäuste die Polizei gekauft (und gar eingesetzt?) hat, nachdem ihr das die vorletzte Verschärfung des Polizeigesetzes erlaubt hat; die SPD, die die Verschärfung damals mit den Grünen zu verantworten hatte, geriert sich in dieser Angelenheit immer noch auffallend exekutiv.

    Zum praktischen Ärger tritt, dass selbst bei der – eigentlich im Sinne der Partizipation ausgegangenen – letzten Prüfung von Sperrklausen vor dem Bundesverfassungsgericht (2BvE 2/13 u.a., 2014-02-26) in der Urteilsbegründung noch die reaktionäre Klamotte durchschien, die Parteienvielfalt in der Weimarer Republik habe den Faschismus ermöglicht. In Randnummer 54 schreibt das Gericht verklausulierend:

    Eine große Zahl kleiner Parteien und Wählervereinigungen in einer Volksvertretung kann zu ernsthaften Beeinträchtigungen ihrer Handlungsfähigkeit führen.

    Die darunterliegende Erzählung war schon bei der Einführung der 5%-Hürde in den 1950er Jahren eine ebenso abwegige Schutzbehauptung wie entsprechende Behauptungen zur Inflation: Wer das Paktieren des SPD-Reichspräsidenten mit den reaktionärsten Elementen einer ohnehin in weiten Bereichen noch vormodernen Gesellschaft bereits in der Gründungsphase des Staates ansieht, wird sich eher fragen, wie es die halbwegs liberalen Institutionen überhaupt bis zur Machtübergabe 1933 geschafft haben.

    Weniger und besser regieren ohne die 5%-Hürde.

    Klar dürfte „das Regieren“ etwas mühsamer werden, wenn die Bevölkerung im Parlament feinkörniger vertreten ist. Aber die ganze Geschichte mit Demokratie und Volkssouveränität wurde auch nicht gemacht, damit es eine konkrete Regierung einfacher hat. Entstanden ist sie als Reaktion auf Rabatz, der wiederum Folge war von regelmäßig katastrophalem Agieren von Regierungen, die autoritären Versuchungen zu sehr nachgegeben haben.

    Dass mehr Partizipation (oder, wenn ihr wollt, Demokratie) es Regierungen schwerer macht, über Einwände signifikanter Teile der Regierten hinwegzuregieren: das ist kein Bug, das ist ein Feature. Und wenn ihr mal darüber nachdenkt, was z.B. die Bundesregierungen der letzten 20 Jahre so beschlossen haben – mal angenommen, es wären nur die 10% konsensfähigsten Gesetze durchgekommen: Wäre das nicht eine viel bessere Welt?

    Immerhin öffnet das oben zitierte Karlsruher Urteil die Tür für Verbesserungen recht weit, wenn es in RN 57 heißt:

    Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden. Eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung kann sich ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Findet der Wahlgesetzgeber in diesem Sinne veränderte Umstände vor, so muss er ihnen Rechnung tragen.

    Zum Abschluss doch nochmal Informationstheorie: die 5%-Hürde beschränkt ja die Zahl der maximal im Parlament vertretenen Parteien auf 20 (und das auch nur theoretisch, denn die Bevölkerung müsste schon extrem gut geplant abstimmen, um jeder Partei gerade genau 5% der Stimmen zukommen zu lassen). Der Zweierlogarithmus von 20 ist 4.322. Zu deutsch: Mit der Hürde ist der Informationsgehalt der Wahlentscheidung hart auf gut 4 bit gedeckelt. Aua.

    [1]Bei 100% Wahlbeteiligung und universellem Wahlrecht sind 5% ein Mensch von 20. Bei 60% Wahlbeteiligung wie im Saarland und gleichmäßiger Wahlausübung wären es eineR von 12, der/die nach der 5%-Logik vernachlässigbar wäre. Da die Wahlausübung stark mit der Zugehörigkeit zu Interessengruppen (z.B. bei Kindern: 0% Wahlbeteiligung…) korreliert, können aber noch weit größere Teile der Bevölkerung durch die 5%-Hürde ausgeschlossen sein.
  • Klarsprache: Abwägungen

    Foto: Mahnwache in Boston, Umhängeschild: Stop Bombing Iraq

    Im September 2000, kurz vor dem Ende von Albrights Amtszeit und der Wahl von George W. Bush: Eine Mahnwache gegen das Embargo gegen den und das „Flugverbot“ (mit regelmäßigen Bombardements, daher das Plakat) über dem Irak an der Park Street Station in Boston, Massachussetts.

    In der Nachricht über den Tod der ehemaligen US-Außenministerin Albright am DLF heißt es, Joe Biden habe sie gewürdigt als „Vorkämpferin für Demokratie und Menschenrechte“. Das ist auf den ersten Blick bemerkenswert, weil sich doch noch viele Menschen an Albrights Interview im US-Politmagazin 60 Minutes aus dem Jahr 1996 erinnern, in dem der Interviewer fragte:

    Wir haben gehört, dass eine halbe Million [irakische] Kinder [infolge der westlichen Sanktionen] gestorben sind. Sehen sie, das sind mehr Kinder als in Hiroshima gestorben sind. Und, na ja, war es diesen Preis wert?

    In einem klassischen Fall von Klarsprache hat Albright geantwortet:

    Ich denke, das war eine sehr schwere Entscheidung. Aber wir glauben, dass es den Preis wert ist.

    (Übersetzung ich; Original z.B. bei der newsweek). In meiner Zeit in den USA – Albright war damals „meine“ Außenministerin –, war dieses „the price is worth it“ ein geflügeltes Wort, um bei Demonstrationen und Mahnwachen wie der oben im Bild die mörderische, zynische und verlogene Realpolitik zu kommentieren und Zweifel zu äußern, wenn Kriege mit „aber die Menschenrechte“ (Kosovo, Albright und Bundeswehr dabei) oder „wir verteidigen uns“ (Irak, Bundeswehr noch nicht und Albright nicht mehr dabei) rechtfertigt wurden.

    Im Rückblick würde ich die Bestürzung über das „it was worth it“ gerne relativieren. Albright war wahrscheinlich nach Maßstäben ihrer Zunft wirklich relativ deutlich orientiert auf Menschenrechte und Demokratie, denn sonst hätte sie diese Antwort vermutlich nicht gegeben und stattdessen dem Industriestandard folgend in eine andere Richtung losgeschwafelt[1]. Insofern verdient sie Anerkennung dafür, die Maßstäbe der Zunft der äußeren Sicherheit klar zu benennen, denn die erlauben nun mal, zur Durchsetzung von „nationalen“ Interessen massenhaft Menschen zu töten. Das einzugestehen ist, so glaube ich heute, ethisch gegenüber dem sonst üblichen Fast Talk deutlich zu bevorzugen.

    Albrights Klarsprache mahnt uns, dass auch Saktionen fürchterliche Folgen haben können und wir daher gute Gründe für sie einfordern sollen („nationale Interessen“ sollten für nette Menschen nicht in die Kategorie „gut“ gehören), und dass „unsere“ Regierungen ebenso bereit sind, für ihre Interessen zu töten wie alle anderen auch.

    Deshalb, um kurz in die Gegenwart zu schalten, muss der Schluss aus dem Ukrainekrieg eben radikale Abrüstung sein und jedenfalls nicht mehr Gewaltmittel für Menschen, die sich gegentlich „schwere Entscheidungen“ abringen, die Tote im Millionenmaßstab – es starben ja in den 90ern auch nicht nur die Kinder im Irak, ganz zu schweigen von der Hinführung auf den dritten Golfkrieg, an dem im Irak immer noch viele Menschen sterben – nach sich ziehen.

    [1]Damit sind Dinge gemeint wie „das sagen die Russen“, „Handelswege sichern“, „Verlässlichkeit im Bündnis“ oder viele ähnliche Platitüden, die längst auswendig kann, wer regelmäßig die Interviews in den DLF-Informationen am Morgen hört.
  • Neurasthenie und Post-Covid

    Neulich hatte ich es schon von der Russischen Grippe, einer Pandemie, deren große Wellen zwischen 1889 und 1895 rollten und die plausiblerweise die jüngste große Coronapandemie vor SARS-2 gewesen sein könnte (Forschung aktuell dazu). Zwischenzeitlich ist mir nun aufgefallen, dass es einen weiteren Datenpunkt für Parallelen zwischen der Russischen Gruppe und SARS-2 geben könnte: Die Neurasthenie.

    Bis zu dieser Einsicht hatte ich die aktuelle Einschätzung der Wikipedia geteilt:

    Neurasthenie gehörte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu den Modekrankheiten einer gehobenen Gesellschaftsschicht.

    Im Fin de Siécle schien es in der Tat zum guten Ton zu gehören,

    Erschöpfung und Ermüdung, die entweder durch eine zu geringe Belastbarkeit durch äußere Reize und Anstrengungen oder auch durch zu geringe oder zu monotone Reize selbst verursacht sein kann

    an den Tag zu legen. Florian Illies schreibt dazu in seinem Zeitportrait „1913 – der Sommer des Jahrhunderts“:

    1913 fasste man das zusammen unter dem Begriff: »Neurasthenie«. Spötter sangen: »Raste nie und haste nie, sonst haste die Neurasthenie«.

    Was aber, wenn „wir“ (also die, die sich in der Einschätzung „Modekrankheit“ gefielen) den Betroffenen unrecht getan haben? Was, wenn das in Wirklichkeit das Äquivalent von Long Covid, sagen wir Long Russische Grippe, also die neurologischen oder immunologischen Spätfolge einer im höheren Alter ersterworbenen Coronainfektionen war? Wenn, dann sollten wir nicht die Luft anhalten, bis das alles wieder vorbei ist, denn die Neurastheniewelle ebbte, soweit ich erkennen kann, ähnlich wie Thomas Manns Zauberberg[1] erst mit dem ersten Weltkrieg, zwanzig Jahre nach den großen Wellen, ab.

    Ich bereite mich jedenfalls schon mal vor, mal wieder meinen Hut essen zu müssen. Hat wer Hinweise auf ordentliche Literatur zu dem Thema?

    [1]Ich habe aus gegebenem Anlass nachgesehen: Mann erwähnt im ganzen Zauberberg keine Neurasthenie, obwohl das Topos eigentlich das ganze Buch durchzieht. Ob es daran liegt, dass das Buch zehn Jahre nach dem Ende seiner Handlung erschien und es nichts Anrüchigeres gibt als die Mode von gestern?
  • Nicht schon wieder!

    Ich habe heute an einer Kundgebung, nun, gegen den Krieg in der Ukraine auf dem Heidelberger Uniplatz teilgenommen, und zwar so:

    DemoteilnehmerIn mit Schild: „1914 – 2022 – Nicht schon wieder Kriegskredite”

    Ich kann leider nicht sagen, dass ich mich in der großen Menge – es werden so um die 1000 Menschen gekommen sein – sonderlich wohl gefühlt hätte, schon, weil fast alle, die da waren, es im Januar 2020 nicht für nötig befunden hatten, gegen den unfassbaren, thematisch natheliegenden, jedoch die eigene Regierung angehenden Skandal auf die Straße zu gehen, dass „wir“ Nuklearwaffen einsetzen wollen. Jedenfalls waren wir bei der Demo damals vielleicht 20 Leute. Mir wäre schon etwas wohler, wenn zu beiden Anlässen je 500 gekommen wären.

    Unschön war aber vor allem, dass in den Redebeiträgen durchweg von der „Solidarität mit der Ukraine” die Rede war. „Solidarität” wird, auf Länder gerichtet, ein gefährliches Konzept, ganz genau wie bei einer Mischung mit „Volk“, zu dem Bertolt Brecht (der 1914 selbst noch patriotische, kriegsbegeisterte Gedichte geschrieben hatte – Besinnung ist wichtig) einst ausführte:

    Wer in unserer Zeit [ok, das war 1935] statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik. Das Wort Volk besagt eine gewisse Einheitlichkeit und deutet auf gemeinsame Interessen hin, sollte also nur benutzt werden, wenn von mehreren Völkern die Rede ist, da höchstens dann eine Gemeinsamkeit der Interessen vorstellbar ist. Die Bevölkerung eines Landstriches hat verschiedene, auch einander centgegengesetzte Interessen, und dies ist eine Wahrheit, die unterdrückt wird.

    Solidarisch will mensch also sein mit den Menschen in der Ukraine, und diese sollten im Augenblick vernünftigerweise mindestens ein gemeinsames Interesse haben: Der Krieg muss möglichst schnell aufhören. Ein im Wesentlichen unausweichliches Korollar davon ist: die Waffen müssen raus. Wer die Regierung stellt, ist demgegenüber ganz sicher sehr zweitrangig (und zudem Brechts entgegengesetzten Interessen unterworfen). In jedem Fall bleibe ich dabei, dass für eine Regierung kein einziger Mensch sterben sollte.

    Nur zur Klarheit, weil das Dementi des Putinverstehens ja derzeit zum guten Ton gehört: Mein Problem ist nicht das allgemeine Sentiment, dass Putin ein Schurke ist. Das ist er, und beileibe nicht nur, weil er einen Krieg angefangen hat. Um so mehr bleibt übrigens ein Imperativ, Edward Snowden die Rückkehr in eine etwas freiere Gesellschaft zu ermöglichen – dass „wir“ ihn in Russland verrotten lassen, ist niederschmetternde Undankbarkeit. Zum Krieg als Totalausfall der Zivilisation hatte ich mir in Töten und Massenschlachten schon einige Empörung von der Seele geschrieben, die ganz genau so natürlich auch russischen Potentaten und, igitt, Ex-Geheimdienstlern gilt.

    Mit dem durch die gegenwärtigen Medienlandschaft geprägten Gefühl, meine Pappe enthalte nicht genug derartiger Klarstellung, bin ich mit einigen Bedenken zur Kundgebung gegangen. Um so angenehmer war ich überrascht von der durchweg positiven Aufnahme meiner Parole vom „Nicht schon wieder Kriegskredite“: mehrere TeilnehmerInnen sind extra zu mir gekommen, um mir ihre Unterstützung auszusprechen, etliche haben Transpi-Portraits geschossen, einer hat sogar Szenenapplaus gegeben, nicht eineR hat nasegerümpft.

    Es ist beruhigend zu wissen, dass die Erinnerung an die Geschichte der Kriegskredite von 1914 noch vielfach wach ist, Und daran, wie sich SozialdemokratInnen (zu denen sich in der heutigen Wiederholung offenbar auch ziemlich viele LinksparteigängerInnen gesellt haben) diese damals durchaus nicht nur rein patriotisch zurechtlogen: „aber wir müssen uns doch wehren gegen das finstere, reaktionäre Zarenreich“, „…die Liberalen aus England, die uns unsere Sozialversicherungen wegnehmen wollen“. Das ist wieder ein Gesicht der autoritären Versuchung: „Wenns schon keine gute Lösung gibt, dann lasst uns wenigstens Gewalt versuchen“.

    Das ist, so viel lehrt die Geschichte, eigentlich immer falsch – Ausnahmen von dieser Regel sind so rar, dass sie wahrscheinlich niemand, der_die das hier liest, je erleben wird.

    [1]Ich kann der Beobachtung nicht widerstehen, dass sich „unsere“ und „ihre“ Operationen selbst im Timing ähneln. Wir: Separation des Kosovo mit dubiosen „Freiheitskämpfern“ 1999, diplomatische Anerkennung gegen den Willen der Gegenseite nach neun Jahren im Jahr 2008. Sie: Separation des Donbas mit dubiosen „Freiheitskämpfern“ 2014, diplomatische Anerkennung gegen den Willen der Gegenseite nach acht Jahren 2022.
  • Stahlhelmdiplomatie

    Was früher Kanonenbootdiplomatie war, hat sich heute offenbar zu Stahlhelmdiplomatie entwickelt. Einerseits, weil „wir“ welche in die Ukraine liefern, statt den Mist, den wir mit unserer Zündelei dort angerichtet haben, etwas zu entspannen. Andererseits, weil die Außenministerin – die „Chefdiplomatin“ also – sich ernsthaft martialisch in den Abendnachrichten zeigt, und zwar sozusagen vor der Haustür des aktuellen Erbfeinds Russland:

    Annalena Baerbock mit Stahlhelm in der Ukraine

    Beschnittener Screenshot aus der Tagesschau vom 8.2.2022: Außenministerin Baerbock beim Staatsbesuch in der Ukraine. Rechte bei der ARD.

    Wer das für Diplomatie hält, glaubt auch an die These von den Schlafwandlern. Was niemand tun sollte. Der erste Weltkrieg ist nicht ausgebrochen, er wurde gemacht. Von einer Öffentlichkeit (ich definiere das jetzt mal nicht näher; weite Teile der Presse gehörten und gehören da auf jeden Fall mal dazu), die Härte, Treue und Verlässlichkeit gefordert hat. Und von einer Regierung, die sich auch auch irgendwas wie vier Jahre in das Gemetzel hinein nicht geschämt hat, die Kriegsrhetorik vom August 1914 auf Wachstrommel zu bellen:

    Na ja, und so sieht es jetzt halt wieder aus. Leider oder zum Glück, so stelle ich gerade fest, depubliziert der DLF seine Presseschauen nach sieben Tagen (trotz allem: Buh!), so dass die übelsten Ausfälle jetzt schon wieder hinter Paywalls verschwunden sind, aber all das Gerede von „nicht zurückweichen“, „klare Kante gegen Russland zeigen“, „der Provokation entgegentreten“, Waffen liefern, Truppen schicken, härter drohen: So schnell kann es gehen zwischen dem zerknirscht-geschichtsklitternden Erinnerungsjahr 2014 und patriotischem Taumel nach der Mode von 1914.

    Dabei ist mir ja schon völlig unklar, was sich all die Russland-EntgegentreterInnen eigentlich als Ausgang der ganzen Angelegenheit vorstellen. Versteht mich nicht falsch: Es ist bestimmt kein Fehler, wenn ein augenscheinlich wirklich an Zauber, Auferstehung und heiligen Krieg glaubender Christ wie Achim Schönbach lieber nicht mehr die Marine befehligt. Aber wer Russland die Krim wieder abnehmen will, wird sich zwischen einer der folgenden Alternativen entscheiden müssen:

    1. Irgendeine russische Regierung gibt sie freiwillig ab. Die Frage beiseite, was sie dazu bewegen könnte, es wäre wohl das letzte, was sie täte. Weder das Militär noch große Teile der Bevölkerung würden das hinnehmen – das wäre nach übereinstimmenden Angaben von osteuropäischen KollegInnen und Ex-Studis in etwa so, als würde die BRD Mallorca, Helgoland und Sylt an Serbien übergeben. Also, so richtig, mit: Kein Urlaub mehr dort für Deutsche. Diese Alternative existiert mithin eigentlich nicht, und es bleiben realistisch nur die beiden anderen.
    2. Irgendwie zwingen „wir“ Russland ohne Krieg zur Aufgabe der Krim. Die Folge wäre ein Revanchismus in Russland, der garantiert die Größenordnung des Revanchismus in der Weimarer Republik angesichts von Versailles erreichen würde. Das wäre nicht nur für Russland furchtbar; mit Sicherheit wären damit alle Hoffnungen auf Ausgleich für die nächsten 30 Jahre futsch. Es gäbe auch praktisch sicher eine wild drehende Aufrüstungsspirale. Wer könnte es einer Bevölkerung, die mindestens ebenso patriotisch betaumelt ist wie „unsere“ verdenken, Russland nach so einer Nummer so stärken zu wollen, dass es eine solche Schmach nicht nochmal hinnehmen müsste? Gut, ich kann das, weil es klar durchgeknallt ist. Aber es ist nicht durchgeknallter das das, was „wir“ im Augenblick aufführen.
    3. Wir machen mal wieder einen Krimkrieg, weil der letzte so ein Höhepunkt der Zivilisation war. Tut euch den Gefallen und blättert ein wenig im verlinkten Wikipedia-Artikel. Wer sowas ernsthaft will, möge erstmal die wunderbaren Thursday Next-Bücher von Japer Fforde lesen – Hauptperson ist eine Veteranin eines in einer Alternate History eingefrorenen Krimkriegs – und sich danach bitte schleunigst auf den Weg zurück in Kreise zivilisierter Menschen begeben.

    Alle drei Alternativen sind offensichtlich Quatsch. Nichts davon ist auch nur im Entferntesten wünschbar. Mit welchen Gedanken im Kopf kann sich also irgendwer darüber erregen, wenn irgendwer anders – und sei es auch ein frömmelnder Marinechef – das Offensichtliche feststellt: Chruschtschows Laune von 1954, als er die Krim an die Ukraine übergab, war nie mehr als das, eine Laune (eines Diktators, Autokraten, oder wie immer das heute heißt, zumal) nämlich, und gewiss nichts, für das irgendwer sterben sollte.

  • PSA: Grobe Schnitzer beim Trauern

    Gestern um halb eins ist in Heidelberg ein Mann in einen Uni-Hörsaal gelaufen und hat mit einem Gewehr eine Frau erschossen, ist danach wieder rausgegangen und sich irgendwie selbst mit seiner Waffe umgebracht So ein Geschehen in einem Hörsaal, in dem ich vor vielen Jahren auch mal „Mathematische Methoden der Physik“ gehört habe, überhaupt, Leute mit Gewehren im botanischen Garten, in dem ich auch regelmäßig rumlaufe: Das lässt mich natürlich nicht kalt.

    Den bundesweiten Aufschrei, der folgte, finde ich allerdings angesichts der Wurstigkeit, wenn etwa Menschen überfahren werden, sich ohne Ballerei umbringen oder auf der Straße an genereller Verwahrlosung sterben, ziemlich unangemessen. Ich will mich jedenfalls nicht hinstellen und entscheiden, welcher Tod „überflüssiger“ oder „entsetzlicher“ war.

    Zum Glück muss ich das nicht. Ich könnte dazu den Mund halten. Der Rektor der Uni Heidelberg, das will ich gerne zugestehen, kann sich diesen Luxus nicht erlauben. Und so hat er rund fünf Stunden nach dem Ereignis eine Art Trauermail über den uniweiten Verteiler verschicken lassen. Es ist diese, die mich zu diesem Public Service Advisory bringt, denn der Rektor hat zwei Dinge getan, die in solchen Trauermails wirklich niemand haben will:

    1. Die Thoughts-And-Prayers-Phrase verwendet („Das Rektorat ist in Sorge um die Opfer und in Gedanken bei ihnen, ihren Freunden und Angehörigen”). Mal ehrlich: alle wissen, dass die Gedanken eines Rektorats, in dessen Uni gerade ein riesiger Polizei- und Presseauflauf stattfindet, überall sein werden, aber fast sicher nicht bei Freunden und Angehörigen von Opfern. Das ist wahrscheinlich noch nicht mal schlimm, denn die Betreffenden hätten auch dann nichts von diesen Gedanken (zum Glück hat das Rektorat auf „Gebete“ verzichtet), wenn sie bei ihnen wären. Klar ist ein wenig Lügen zum Trost erlaubt, aber bitte nicht mit einer Phrase, die so abgedroschen ist, dass sie sogar für Memes verbrannt ist.
    2. Die Mail von der Adresse kum@uni-heidelberg.de abgeschickt (ok, ich kann nicht genau sagen, ob das der Absender war, denn die Liste hat die Header weitgehend umgeschrieben, aber das Reply-to ist kum@). Kum wie „Kommunikation und Marketing“. Die Nachricht ist: Das ist ein Problem für unser Marketing, und da müssen wir mit Kommunikation Schaden begrenzen. Niemand erwartet, dass der Rektor Mail an rektor@ oder vielleicht eitel@ selbst liest – aber es würde die ganze Nachricht doch ein wenig authentischer wirken lassen, hätte er einen dieser Absender verwendet.

    Nun: Was mensch zum ersten Mal macht, vermurkst mensch. Hoffen wir, dass das Rektorat keine Übung in dieser Sorte Prosa bekommen muss.

  • Geschichte: Carl Benz bei Wilhelm I

    Schlechte Fotomontage: Ein Benz-Portrait in einer Versailles-Spiegelsaal-Variante

    Die Audienz des Herrn Benz (in weißer Uniform) wurde auch im Bild festgehalten.

    Bei Recherchen im Deutschen Nationalarchiv bin ich auf eine Mitschrift einer Art Ansprache – heute würde das wohl sales pitch genannt werden – gestoßen, die Dr. Carl Benz, Mannheim, Eigentümer der dortigen Fabrik für Maschinen zur Blechbearbeitung, gelegentlich einer Audienz bei Kaiser Wilhelm I am 23. Mai 1880 gehalten haben soll. Ich habe sie abgetippt und orthographisch aktualisiert:

    Hochgeehrte kaiserliche Majestät, allerdurchlauchtigste, großmächtigste, allergnädiste Hohheit etc pp,

    Erlaubt mir, Carl Friedrich Michael Benz, Absolvent der polytechnischen Hochschule zu Karlsruhe, Euch untertänigst einen Vorschlag zu unterbreiten, welcher einen ebenso ernsten wie drängenden Missstand aus der Welt zu schaffen verspricht. Namentlich sind nicht nur die Straßen der Hauptstadt Ihro Reiches verunziert von den Hinterlassenschaften zahlloser Rösser. Nein, diese sind in allen Städten wie Dörfern in Ihro Obhut ein beständiges Ärgernis, zu schweigen von den Gefahren, die von ihnen für das öffentliche Wohlbefinden ausgehen. So vergeht wohl kein Tag, ohne dass sich ein tapferer Offizier seine tadellose Uniform durch einen unbedachten Schritt, gar ein unwürdiges Ausrutschen, besudelt mit dem kreatürlichen Schmutz.

    Es wird Zeit, dieses Ärgernis aus der Welt zu schaffen. Ich bin dazu in der Lage, und zwar mittels meines patentierten pferdelosen Wagens, kurz, meines Motorwagens. Er vermag Menschen mit großer Geschwindigkeit zu bewegen, ohne dass dazu Pferde oder anderweitig die Straßen verunreinigende Tiere benötigt würden. Wird es erst genug von meinen Wagen geben, wird unser gütiger Herrscher Seine Städte nicht mehr wiedererkennen.

    Um diesen großen Schritt zur höheren Kultivierung des deutschen Volkes, ja, ich will der Hoffnung Ausdruck geben, der Völker des ganzen Erdenkreises, zu tun, werden nur einige kleine Erweise von Gunst und Gnade nötig sein, abgesehen von einer unbedeutenden Zuwendung aus der Privatschatulle Eurer Majestät. Zuvorderst müssten Majestät einige Aufwendungen für den Ausbau des Straßennetzes veranlassen.

    Natürlich werden meine Wagen gewisse gesetzliche Privilegien benötigen. Ihnen ist die Hälfte des Straßenraums für ihre Bewegung zu reservieren. Der Aufenthalt von Personen muss dort verboten werden. Vielleicht kann ihnen an einzelnen Stellen per Lichtzeichen das gelegentliche Betreten der Straßen Ihro Majestät kurzfristig gestattet werden. Ein weiteres Drittel der Wege und Plätze werden Ihro Untertanen nicht mehr betreten können, da ja die Motorwagen zu akkomodieren sind, während sie nicht fahren. Ich erwarte zuversichtlich, dass dem Gesinde auch nach diesen Anpassungen von Gesetz und Gebrauch hinreichend Raum verbleiben wird und es den kaiserlichen Privilegien für meine Motorwagen freudig und ohne Murren folgen wird.

    Ich erwähne beläufig, dass Jahr um Jahr einige tausend Flaneure und auch Insassen der Motorwagen bei allfälligen Kollisionen sterben werden. Unter den Überlebenden wird es fraglos zahlreiche Beschädigte geben, die, so steht zu befürchten, dem Ruhm des Vaterlandes nicht mehr im gewohnten Maße werden dienen können. Ich habe weiter überschlagen, dass einige weitere Zehntausende an feinem Staub und anderen Miasmen der Motorwagen zugrunde gehen werden, und noch einmal so viele an Lärm und dergleichen. Nun: Auch Pferde töten Menschen. Und fraglos sind dies sehr überschaubare Opfer im Vergleich zum reichlichen Nutzen und Gewinn, da unsere wunderbaren Städte von den dampfenden Hinterlassenschaften der Pferde befreit werden.

    Ohne die Errungenschaft unnötig profanisieren zu wollen, darf ich in aller Kürze anmerken, dass meine Erfindung auch den Geldfluss in Ihro Gnaden Imperium beflügeln wird, da das fleißige Volk ein rundes Siebtel mehr wird arbeiten müssen für die Freude und Gnade, einen Motorwagen besitzen und bewegen zu dürfen. Ich kann indes bereits jetzt versprechen, dass sie das gerne tun werden, dass sie im Gegenteil heftig ringen werden dafür, mehr arbeiten zu müssen. Genauso werden sie ganz aus eigenem Willen ihre Kinder nicht mehr auf der Straße spielen lassen. Dies wird nicht nur das Unwesen der sprichwörtlichen Straßenjungen zu einem Ende bringen, es werden so auch weniger junge, vielleicht hoffnungsvolle Talente unter den Rädern meiner Motorwagen zermalmt.

    Um diese kleinen Preise können Ihro Untertanen dann täglich eine oder zwei Stunden in ihren Blechkäfigen verbringen und mit großer Anspannung durch Glasscheiben auf andere Untertanen blicken, die zumeist ebenfalls in Blechkäfigen dahinrasen. Es wird viel Ärger und Hader sein zwischen den Männern in ihren Käfigen, was gewiss überaus förderlich sein wird zur Ertüchtigung des Volkes im Wettstreit der Nationen und zur Vertiefung der Liebe des Volkes zu Ihro Majestät. Manchmal werden sie auch gar nicht dahinrasen, sondern in ihren Käfigen hintereinander stehen, ohne zu wissen warum. Auch das werden das willig hinnehmen, denn sie werden wissen: Der große Kaiser hat uns erlöst vom Pferdemist.

    Es könnte sein, dass dieses Dokument nicht ganz authentisch ist, denn Forschungs- und Industrieförderung im heutigen Sinn hat es damals noch nicht gegeben. Außerdem hat Benz wahrscheinlich nicht genau kommen sehen, was seine Erfindung in der Welt anrichten würde. Denn auch wenn er wohl kein sehr netter Mensch war, er hätte es andernfalls hoffentlich gelassen.

    In Wahrheit wird es wie so oft gewesen sein: Die allerabsurdesten Dinge haben sich in langen Entscheidungsketten entwickelt, in denen jede einzelne Entscheidung zumindest nachvollziehbar ist. Es hat ja niemand ahnen können, dass am Schluss etwas rauskommt wie unsere Autogesellschaft.

  • Variable Inflation

    Relativ parallel verlaufende Kurven

    Dieser Artikel hat nach langen Windungen leider keine Pointe. Und zwar im Wesentlichen wegen dieser Grafik, generiert vom Rechner für die persönliche Inflationsrate des statistischen Bundesamts. Siehe unten.

    Ich fletsche hier ja regelmäßig die Zähne in Richtung von allerlei Metriken, also Zahlen, die (meist) Unmessbares messen sollen und damit in aller Regel Politiken rechtfertigen, die schlecht sind für die, bei denen diese ankommen.

    Der ganz große Klassiker im Metrik-Geschäft ist das Bruttosozial- oder -inlandsprodukt (BSP bzw. BIP), dessen Wachstum im allgemeinen Bewusstsein als Synonym für wachsenden Wohlstand gilt, zumal in seiner Form als BIP pro Kopf. In Wirklichkeit versucht die Metrik zu messen, wie viele „Waren und Dienstleistungen“ (womit es schon losgeht: was ist das?) „hergestellt“ (realistisch: verkauft) werden, und zwar von StaatsbürgerInnen (BSP) oder innerhalb der Staatsgrenzen (BIP).

    Das Bruttosozialprodukt und der Krieg

    Dass das BIP wesentlich mit Wohlstand korreliert sei, ist offensichtlich falsch – selbst die Produktion von Wohlstandsvernichtern wie Autos und anderen Waffen erhöht das BIP –, und das wurde auch schon breit kritisiert. Der entsprechende Abschnitt in der Wikipedia ist nach Maßstäben diese Genres eher zahm.

    Diese Klarstellung im Hinblick auf Wohlstand ist wichtig, aber etwas unfair, denn, a propos Waffen: Historisch sollte das BSP das mit dem Wohlstand gar nicht machen. Besonders aufschlussreich in der Hinsicht fand ich einen Artikel in der taz vom 2.5.2015, der daran erinnerte, dass sich das BSP in seiner heutigen Form vom Gottseibeiuns der Marktradikalen, John Maynard Keynes, in einem Artikel mit dem sprechenden Namen How to Pay for the War ersonnen wurde und sich letztlich als Metrik der wirtschaftlichen Kriegsfähigkeit durchgesetzt hat. Die taz-Autorin Ulrike Herrmann implizierte 2015, dass das BSP dafür offenbar taugte, denn es hat ja die Keynes-Seite gewonnen – mehr kann mensch von einer Metrik nicht erwarten.

    Ich selbst glaube zwar nicht, dass BSP-Rechnungen auf Seiten der Nazis irgendwas am Kriegsverlauf geändert hätten, aber für meinen nächsten Gedanken will ich trotzdem mal annehmen, das BSP sei im zweiten Weltkrieg eine kriegsnützliche Metrik gewesen. Von dort aus möchte ich behaupten, dass es unter Bedingungen weitgehender reproduktiver Selbstbestimmung allenfalls noch sehr kurzfristig für die Bewertung der Kriegsfähigkeit taugt. Solange sich nämlich in Kriegen immer noch in erster Linie junge Leute (statt, sagen wir, Roboter) erschießen, braucht es für deren Führung hinreichend Nachwuchs. Den immer noch dominierenden Modus der Reproduktion, unbezahlte Arbeit von Müttern an ihren Kindern, erfasst das BIP jedoch nicht.

    Als das Konzept entstand, war die Vorstellung klarerweise, dass Frauen ganz von selbst Kinder kriegen und aufziehen. Das stimmt nicht mehr, und daher wäre mein Rat an die BIP-MacherInnen: Wenn euer BIP weiter wie gehabt funktionieren soll, müsst ihr auch die Herstellung von Kindern verrechnen.

    Tatsächlich wäre es überhaupt kein Stilbruch, sowas irgendwie ins BIP reinzufummeln. Denn natürlich weiß niemand, wie viel wirklich verkauft oder gar hergestellt (denkt an all die handgestrickten Babysachen, von denen keine Statistikbehörde je erfahren wird) wird, und die Grenze zwischen Ware und Nicht-Ware ist ziemlich beliebig. Gewiss, das Steueraufkommen ist ein brauchbarer Indikator, aber mehr eben nicht. Viele Variablen liegen zwischen dem und irgendwelchen Gesamtproduktions- oder Einkommensziffern. Auch auf der legalen Seite der Demarkationslinie zur Schwarzarbeit passiert viel Austausch, ohne dass davon irgendwer etwas mitbekommt.

    Mit solchen Gedanken im Kopf habe ich vor einiger Zeit GDP: A Brief but Affectionate History von Diane Coyle (Princeton 2014; gibts bei der Imperial Library of Trantor) mit viel Interesse gelesen. Darin geht es zum Beispiel um die Beliebigkeiten in den BIP-Berechnungen (englisch Gross Domestic Product oder GDP) – der Klappentext erwähnt Ausschläge von 60% über Nacht für Ghana –, ebenso wie über die historischen Diskussionen, was alles zum „Volkseinkommen“ gehören soll: Kriegsausgaben? Staatsausgaben überhaupt? Gesundheitsausgaben? Oder in dem Bereich vielleicht nur Pillen, nicht aber die Arbeit von ÄrztInnen? „Dienstleistungen“ (was immer das ist) an sich, und wenn ja, wie bewertet?

    Dennoch: Kopfzahlen

    Die tatsächlichen Regeln für die Berechnung von BIP-artigen Metriken sind also im Gegensatz zur munteren Betrachtung in der Wikipedia in weiten Bereichen biegsam. Zwar mag eine genaue und ehrliche Zweckbestimmung helfen, die eben aufgeworfenen Fragen, sagen wir, intersubjektiv zu beantworten, aber letztlich ist das Konvention, und selbst für das BIP in der Keynes-Definition ist da viel zu vereinbaren. Die international offenbar populärste Konvention stellt Coyle vor, namentlich das System of National Accounts, das sich in den vergangenen siebzig Jahren von fünfzig auf 722 Seiten aufgebläht hat.

    Das allerdings schafft schon wieder Beliebigkeit. Aus meiner Erfahrung mit 50-seitigen Standards, für die nach einer Weile Validator-Programme verfügbar wurden (und zeigten, dass notdürftig funktionsfähig aussehende Dienste voll mit Fehlern waren), kann ich zuversichtlich sagen: Solange es keinen rechnergestützten Validator gibt (und das ist hier bis zur Erfindung starker KI eigentlich undenkbar), sind 722 Seiten voll Regeln so gut wie überhaupt keine Regeln: Das System ist fast sicher in sich höchst widersprüchlich, und auch mit dem besten Willen (der nur bei wenigen Statistikbehörden und Ministerien vorausgesetzt werden darf) werden Menschen ständig Fehler machen.

    Wie auch immer: Als Kopfzahl ist es ja vielleicht trotzdem ganz nützlich zu wissen, dass das BIP der BRD laut IWF 2019 knapp 4 Billionen Dollar betrug, das der USA etwas über 20 Billionen Dollar und das eines ordentlichen und großen Trikontstaats wie z.B. Nigeria 500 Milliarden Dollar. Sicher sind diese verschiedenen Dollars nicht annähernd vergleichbar, aber die Zahlen taugen doch für schnelle Überschlagsrechnungen, wenn verkündet wird, der Börsenwert von Apple sei jetzt, was, zwei Billionen Dollar (etwa: die AktionärInnen von Apple könnten für ein halbes Jahr die BRD leerkaufen und Nigeria für vier Jahre), oder wenn die Frage ist, wie viel der Bund mit einem Bundeshaushalt von (außerhalb von Corona) 350 Milliarden Euro an „den Märkten“ reißen kann – natürlich immer mit der Maßgabe, dass über Messfehler, Umrechnungen, Inflationsanpassung und so fort da schnell ein Faktor zwei dabei ist.

    Persönliche Inflation

    Der größte Unsicherheitsfaktor innerhalb der Serie einer Behörde wird wahrscheinlich die Inflationsanpassung sein, angefangen dabei, ob sie vorgenommen wurde oder nicht. Erstens ist sie ein exponentieller Effekt. Nehmen wir mal an, dass die Inflationsrate im Schnitt bei den 2% pro Jahr liegt, die diverse Zentralbanken gerne hätten, und dass sie tatsächlich ein Maß ist, wie viel mensch so kaufen kann. Nach der Königsformel „Verdoppelungszeit ist 75 Zeiteinheiten[1] durch prozentuale Rate“, liegen inflationsbereinigte und rohe BIPs schon nach 37 Jahren um einen Faktor zwei auseinander.

    Nun liefert aber auch eine Bereinigung um Inflation und Währungseffekte kaum Zahlen, die mit Erfahrungen von Konsummöglichkeiten korrelieren. Seht etwa die nach PPP bereinigten historischen Vergleichswerte zum BIP an: Es ist abwegig, dass sich irgendeine Sorte von „gefühltem“ Konsum für der BRD zwischen 1990 und 2019 von 1437 auf 4672 Milliarden Äquivalent-Euro verdreifacht haben soll. Wer damals schon gelebt hat, wird sich erinnern, dass sich – abgesehen davon, dass es noch keine SUVs und nur wenig Mobiltelefone gab – das allgemeine Konsumniveau hier im Land nicht wesentlich geändert hat.

    Zweitens also ist die Inflation selbst eine wacklige Größe, womit ich endlich zum Link komme, der mich zur vorliegenden Diatribe inspiriert hat, weil ich ihn verkopfzahlen wollte: Labournet berichtet, dass rund die Hälfte der 8.4 Millionen MieterInnen in deutschen Großstädten mehr als 30% ihres Einkommens für Miete augeben müssen. Das fand ich schon für sich relevant, ich wollte aber vor allem den Punkt machen, dass solche Leute bei explodierenden Mietpreisen eine weit höhere Inflation haben werden als Menschen, die keine Miete zahlen müssen.

    Da VermieterInnen in der Regel eher reich und MieterInnen in der Regel eher arm sind, bedeuten Mieten, die stärker steigen als die Inflation, eine Art kalte Umverteilung von unten nach oben bei gegebenem BIP (ob pro Kopf oder anders). Die Inflationsschätzung basiert ja auf einem Warenkorb, den das statistische Bundesamt (Destatis) zusammenstellt, und wenn Leute viel mehr für Miete ausgeben als im Warenkorb repräsentiert und die Mieten viel stärker steigen als die Preise im Rest des Warenkorbs, ist ihre „persönliche Inflation“ viel höher als die Zahl aus den Nachrichten. Die BIP-pro-Kopf-Metrik nicht nur wegen ungleicher Einkommensverteilung zweifelhaft, sondern auch, weil sie obendrauf noch eine innere Kaufkraftkorrektur bräuchte.

    Das hatte ich nun auf der Basis der rasant steigenden Mieten illustrieren wollen und habe auf den Seiten des Statistischen Bundesamts herumgestöbert, um mein Gefühl zu erhärten, dass Mieten weit über der Inflation steigen. Das Gefühl hat seine Grundlage in meinem persönlichen WG-Zimmer-Index für Heidelberg. Ausweislich durchschnittlicher Aushänge würde ich für 1990 den mittleren Kurs etwa bei 150 Euro sehen, inzwischen eher bei 500 Euro (unter Annahme der DM-Euro-Konversion von 2001). Die Mieten hätten sich also in dreißig Jahren also gut verdreifacht, was einer Verdopplungszeit von 18 Jahren oder einer jährlichen Inflation von 75/18, also 4% entspricht; die berichtete Inflation lag in der Zeit von kurzen Phasen abgesehen jedoch deutlich unter 2 Prozent.

    Nun, es stellt sich raus: Das Konzept der je nach sozialer Schicht verschiedenen Inflationsrate illustriert das Amt selbst recht schön und bietet sogar einen Rechner für die persönliche Inflationsrate an – Kompliment an dieser Stelle dafür, dass da ein SVG-Download angeboten wird (wie überhaupt die Webseite den Eindruck hinterlässt, dass hier Leuten mit Verstand und Spaß bei der Sache relativ freie Hand gelassen …

  • Ach, Bahn, Teil 2: Maustracking ist Quatsch

    Screenshot: Blockiertes Javascript auf bahn.de

    F12 in den üblichen Browsern führt auf verschiedene Sorten von „Web-Inspektoren“. In deren „Network“-Tabs könnt ihr die Flügel'sche Metrik bestimmen: Wie viele Dateien von wie vielen Hosts zieht so eine Seite? Die Bahn-Seite schneidet dabei nicht gut ab, nicht zuletzt aufgrund des nutzerInnenfeindlichen Javascripts, das der Screenshot zeigt.

    Wieder mal habe ich auf bahn.de eine Fahrkarte gekauft, und wieder hakte es an vielen Ecken. Immer noch hat der Server darauf bestanden, ich sei eingeloggt (und hat mir nicht die Möglichkeit gegeben, mich einzuloggen), hat mir aber nicht meine Buchungs-Voreinstellungen („eine Person mit Bahncard 50“) angeboten, hat wieder ganze Seiten mit je nur einer einzelnen Frage ausgeliefert, hat kaputte Zahlungsoptionen angeboten, quittierte einen Browser-Reload mit hartem Ausloggen („fang einfach nochmal an“) und verlangte von mir ein Login beim Kartenkauf, obwohl es mich ja die ganze Zeit schon als eingeloggt geführt hat. Immerhin – niemand soll sagen, ich würde nur motzen – war das Captcha vom letzten Herbst endlich weg (eine Reaktion auf meine diesbezüglichen Mails aus dem Herbst-Blogpost habe ich natürlich nie bekommen).

    Jedenfalls reichen eigentlich ein, zwei Transaktionen auf bahn.de locker, um einige (modulo Ökonomie) leicht zu behebende Usability-Schwächen zu finden. Aber gut: Gerade bei Webseiten bin ich ja schon froh, wenn sie wenigestens ihre Quirks behalten und nicht alle paar Wochen wieder was anders (zumeist: anders kaputt) ist. Ich erwähne das alles überhaupt nur, weil bahn.de in meinem Browser mal wieder so hakelig war, dass ich nachgesehen habe, wessen Javascript mir die Bahn neben ihrem eigenen (das dürfen sie ausführen) noch andrehen will. Unter den geblockten Quellen befand sich ein Laden namens m-pathy.com. Dessen Homepage (kleines Lob am Rande: das geht, ohne Code von m-pathy.com auf der lokalen Maschine laufen zu lassen) radebrecht mit Deppen-Leerzeichen:

    m-pathy UX Insight G4 macht sichtbar, was Ihre Kunden erleben.

    Unsere Analyse Lösung ermöglicht die Auswertung tausender feingranularer Interaktionsdaten aus Mausspuren, Touch-Gesten, Klicks und Formularinteraktionen.

    Das Ergebnis sind belegbare und priorisierbare Handlungsempfehlungen für die Optimierung Ihrer klassischen oder mobilen Webseite.

    Also: Die Bahn sammelt und verarbeitet Daten über meine Mausbewegungen (na ja, natürlich nicht über meine, weil das Javascript dieser Leute bei mir nicht läuft, aber von fast allen anderen ihrer KundInnen), um so zu tun, als würde sie ihre Webseite „optimieren“.

    Da die Usability der Webseite zumindest in meinem „Erleben“ spürbar abgenommen hat – vor allem wohl wegen der Förderung von „Partnerangeboten“ und anderen Marktingkrams, aber seis drum –, würde ich schließen, dass „m-pathy UX Insight G4“ schlicht nicht funktioniert. Ok: Kann sein, dass die hautnahe Bespitzelung der NutzerInnen durch die Bahn funktioniert und sich eben nur niemand um „belegbare und priorisierbare Handlungsempfehlungen“ kümmert. Dann könnte die Bespitzelung aber auch unterbleiben, oder? Oder sind die Zwecke der Bahn ganz andere als die bei m-pathy angegebenen? Allein, mir würden da nicht viele einfallen. Was bitte soll aus meinen Mausbewegungen über der Bahn-Webseite für die Bahn schon folgen?

    Einfach mal offen (also: ohne Fragebogen) mit 10 oder 50 NutzerInnen der Webseite reden und ihnen zuhören wäre ganz klar gigantisch viel datensparsamer und, so bin ich sicher, auch erheblich wirksamer, wenn die Bahn die Seite wirklich verbessern wollte.

    Liebe Bahn, darf ich euch noch einen Neujahrsvorsatz vorschlagen? Es wäre: Buchen ohne Javascript, vielleicht sogar mit einem lokalen, Debian-paketierbaren Programm, das auf einer wohldokumentierten API aufsetzt.

  • Keine Vollendung

    Vor gut 30 Jahren hat der Bundestag beschlossen, mit der Regierung nach Berlin umzuziehen. Es setzte sich damals ein Antrag durch, der von Willy Brandt und Wolfgang Schäuble unterstützt wurde – wie so oft hatte der Patriotismus großzügig weltanschauliche Differenzen zugekleistert.

    Der Titel des siegreichen Antrags von 1991: „Vollendung der inneren Einheit Deutschlands“.

    Diese „Sternstunde des deutschen Bundestags“ (Bundestagsverwaltung) kommentiert das SARS-2-Cornavirus am 23.12.2021 wie folgt:

    Deutschlandkarte mit Inzidenzen: die alten Grenzen sind unschwer sichtbar

    Aus: RKI-Bericht von heute, Rechte beim RKI

    Wer sich nicht mehr erinnert: vgl. Wikipedia.

  • Antisprache: Chancengleichheit

    Foto: Schriftzug

    Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit am Rathaus des fünften Pariser Arrondissements. Ok, die „Brüderlichkeit“ sollte heute besser „Solidarität“ sein. Klar ist aber: Mit „Chancengleichheit“ in der Losung wäre das 1789 nichts geworden.

    Ein Klassiker der Antisprache – Wörtern, die von normalen Wörtern übertragene Information zerstrahlen wie Antimaterie normale Materie – ist „Chancengleichheit”. Seit meinem Schurken und Engel-Post, der eine reale Chancengleichheit modelliert hat, hatte ich immer mal diskutieren wollen, warum das eine sehr unrealistische Annahme war. Jetzt ist ein guter Anlass dafür da – siehe unten.

    Zunächst aber will ich meine Fantasie loswerden, wie zwei gewissenlose Werbefuzzis die Chancengleichheit ausgekocht haben:

    A: „Die Leute finden es irgendwie doof, dass ein Vorstand so viel kostet wie 1000 Leute, die die Arbeit machen [ok: Als dieses Gespräch stattgefunden haben könnte, war der Faktor vielleicht 100]. Wir müssen was tun.“

    B: „Da springen wirklich ein paar Knallköpfe rum, die finden, alle sollten gleich viel verdienen. Haha. Wo kämen wir denn da hin? Also: Erstmal müssen wir denen klarmachen, dass Gleichheit totaler und fieser Quatsch ist.”

    A: „Das ist einfach: Lass uns von Mao-Einheitskleidung erzählen. Das wird unser claim: Gleichheit ist eintönig!“

    B: „Genau! Und nicht die Gewalt, die die krassen Eigentumsunterschiede aufrechterhält, ist Zwang, nein, es wäre total fieser Zwang, wenn die Reichen nicht mehr die anderen für sich arbeiten lassen dürften. Gleichmacherei! Das wäre die üble Bevormundung, das ist mal klar.“

    A: „Aber… die Leute werden es immer noch doof finden, dass der Vorstand hässliche Protzbauten bauen lässt und endlos in der Welt rumjettet, während die Zeitungsausträger noch nicht mal Mindestlohn [ups: den hat es in der Geburtsstunde der Chancengleichheit in der BRD noch nicht gegeben] kriegen.“

    B: „Ah bah. Denen müssen nur eben bescheidstoßen, dass sie selbst schuld sind. Wäre der Zeitungsausträger halt auch Vorstand geworden. Er hätte ja die Chance gehabt. Vor allem die Chance, sich andere Eltern auszusuchen.“

    A: „Chance… Chance… Ich habs: Wir sagen »Chancengleichheit«. Damit ist ein bisschen von der Gleichheit drin, die die Leute ja immer irgendwie gerecht finden, aber noch der letzte Hirni versteht, dass es ihm nur deshalb dreckig geht, weil er seine Chancen verplempert hat.“

    B: „Brilliant. Mit ein bisschen Glück glauben sie sogar so arg dran, dass sie versuchen, ihren Kindern die Chancen, haha, wirklich zu geben, und wir können noch einen 1a Bildungsmarkt aufmachen. Heia Bruttosozialprodukt!“

    Also gut, ich kann jetzt nicht versprechen, dass das Gespräch genau so stattgefunden hat, vielleicht irgendwann in den 70ern. Ich finde das aber ziemlich plausibel. „Chancengleichheit“ ist jedenfalls ein zutiefst reaktionäres Konzept, das einerseits Ungleichheit legitimiert und andererseits Armen die Schuld an ihrer Situation zuschiebt.

    Ein Moment der Überlegung entlarvt diesen Begriff sofort: Niemand kann sich irgendwelche Verhältnisse vorstellen, in denen die Tochter eines armen, strukturell analphabetischen Paars auch nur irgendwie vergleichbare „Chancen“ hat wie der Sohn des Klischee-Paares aus Prof und Anwältin. Nicht auf Bildung, nicht auf ordentlich bezahlte oder gar halbwegs befriedigende Jobs, nicht auf eine Machtposition und auch nicht auf einen Sitzplatz in der Oper. Und selbst wenn sie die Chance hätte: würde das die dramatischen Unterschiede bei Existenzsicherheit, Lebenserwartung, Stinkigkeit der Jobs rechtfertigen, die wir in unserer Gesellschaft haben?

    Für mich ganz zweifellos: Würde es nicht. Die Ungleichheit ist das Problem, nicht irgendwelche Gemeinheiten, die ein paar Privilegierten ein Abo auf die Sonnenseiten (für irgendwelche vielleicht seltsamen Begriffe von Sonne) geben. Die zentrale Antisprachlichkeit von Chancengleichheit besteht im Versuch, das Gleichheitsgebot zu diskreditieren und zu demontieren. Demgegenüber fast schon verzeihlich wäre der innere Widerspruch, dass eine Gleichheit von Chancen überhaupt nur bei halbwegs gleicher gesellschaftlicher Teilhabe, also mindestens sozialer Gleichheit, vorstellbar ist. Etwas gedrechselt: die Chancengleichheit hat paradoxerweise die Gleichheit, deren Fehlen sie legitimieren würde, zur Voraussetzung.

    Natürlich bin ich nicht der erste, dem das auffällt, und so ist übers letzte Jahrzehnt oder so die „Chancengerechtigkeit“ populär geworden, vermutlich zunächst aus dem Gedanken heraus, Arme müssten gerechtigkeitshalber halt mehr Chancen bekommen als Reiche, damit es am Schluss „gerecht“ zugeht, ein wenig im Stil der affirmative action.

    Leider hilft das fast nichts. Auch die Chancengerechtigkeit legitimiert jede Ungleichheit („du hattest deine gerechte Chance und hast sie nicht genutzt“) und schiebt die Schuld für individuelles Elend nur noch mehr den Armen zu („wir haben dich ja sogar extra gefördert, aber dann hast du nur handygedaddelt und RTL 2 geschaut“).

    Nein: die richtige Forderung ist die nach Gleichheit, und erfreulicherweise hat die GEW im Gastkommentar der Erziehung und Wissenschaft 11/2021 Christian Baron das auf den Punkt bringen lassen:

    Die Formel muss also lauten: Erst die Umverteilung, dann die Bildung. Oder anders gesagt: Ein Goethe-Gedicht kann Wunder bewirken. Essen kann man es aber nicht. Anstatt Bildung als Weg aus der Armut zu verkaufen und ihr damit einen rein nutzenmaximierenden Ballast aufzuladen, sollte die Politik lieber dafür sorgen, dass kein Mensch mehr in Armut leben muss.

    Nur wäre die GEW nicht die GEW, wenn nicht in der gleichen Ausgabe das kritisierte Konzept im Titel eines Artikels auftauchen würde: „20 Jahre PISA: Schlusslicht in Sachen Chancengleichheit“. Nee: Nur, weil ein Hochamt der Metrik- und Marktreligion wie PISA für eine Weile mal Argumente für eigenen Interessen liefert (oder zu liefern scheint), ist das noch lang kein Grund, den Mist zu verwenden. Oder gar, die damit transportierte Antisprache gegen die eigenen LeserInnen einzusetzen.

  • Fortschritt statt Demokratie

    Demo-Szene: Die Polizei kickt Leute weg

    Meine bisher engste Begegnung mit Olaf Scholz: Ich bin der Mensch in Gelb mit dem Knüppel im Rücken. Die Herren mit den Helmen hat Olaf Scholz geschickt. Bildrechte: ARD.

    Der Vertrag, über den die künftigen Koalitionsparteien derzeit befinden, verballhornt das (ohnehin mit Glaubwürdigkeitsproblemen behaftete) Brandt-Motto „Mehr Demokratie wagen“ zu „Mehr Fortschritt wagen“ – das ist ohne großen Zwang zusammenziehbar zu „Fortschritt statt Demokratie“ als Motto der künftigen Scholz-Regierung.

    Das finde ich angesichts meiner bisherigen Erfahrung mit Scholz sehr naheliegend. Der körperlich eindrücklichste, quasi tuchfühlendste Teil dieser Erfahrungen ist im Bild oben zu sehen. Wir sind im Juli 2017, Hamburg wird von Olaf Scholz regiert. Im Wesentlichen die ganze Stadt ist gegen den von Scholz eingefädelten Gipfel der G20. Mag sein, dass er in dieser Situation keine andere Wahl hatte, als die willkürlichen und teilweise erschreckend gewalttätigen Einsätze der Polizei unter seinem Innensenator Andy Grote[1] bedingungslos zu unterstützen. Aber wahrscheinlich fand er sie gut. Bis heute jedenfalls war von ihm keine Distanzierung oder gar Entschuldigung zu hören.

    Bevor ich wie auf dem Bild oben Bekanntschaft mit einigen Scholz'schen Knüppeln machte, hatte die Polizei ein Protestcamp in Entenwerder geräumt, und zwar trotz eines diese Räumung untersagenden Gerichtsurteils. Gegen diesen dicken Stinkefinger in Richtung der G20-GegenerInnen ebenso in Richtung dessen, was sonntags als Rechtsstaat gelobt wird, hatten sich vielleicht tausend Leute auf einer Wiese versammelt, darunter ich und auch ein paar der aus Entenwerder Vertriebenen mitsamt ihren Zelten.

    Dann kam Polizei. Viel Polizei. Und prügelte die Leute vom Platz, ohne jeden erkennbaren Grund, sieht mensch davon ab, dass Scholz und Grote schlicht keine Störung ihrer Machtdemonstration dulden wollten. Und was als eine Machtdemonstration soll so ein Gipfel gleich neben einer, ach ja, Herzkammer des Linksradikalismus in der BRD – der Austragungsort Messehallen liegt gleich neben dem Karo-, und das wiederum gleich neben dem Schanzenviertel – denn wohl sein?

    So ging es weiter: Die Eröffnungsdemo („Welcome to Hell“) hat die Polizei von vorne in einer Straßenschlucht angegriffen – mit dem spätestens nach über anderthalb Jahren Maskenpflicht bei Versammlungen schier unfassbar dämlichen Vorwand, ein paar der TeilnehmerInnen hätten sich vermummt. Dass die zwischen drei Meter hohen Mauern und dem Rest der Demo eingeklemmten Menschen nicht angefangen haben, im Love-Parade-Stil panisch zu fliehen, finde ich bis heute bemerkenswert. Die Besonnenheit der Demonstrierenden hat, rückblickend betrachtet, die Köpfe von Scholz und Grote gerettet, denn Dutzende Zertrampelte wären nach dieser katastrophalen Polizeitaktik dann noch nicht durchgegangen.

    Diese Rettung dankten sie, indem sie am Folgetag am Rondenbarg nicht nur einen Demozug mit wirklich bemerkenswert brutaler Gewalt plattmachen ließen, sondern die Opfer des Einsatzes auch noch unter haarsträubenden Vorwürfen verfolgten und verfolgen – inklusive der Schikane, die auf viele Termine angelegten Verfahren selbst für Minderjährige in Hamburg laufen zu lassen, so dass Leute, die gerade noch in die Schule gegangen wären, mehrmals wöchentlich etwa auch aus Baden-Württemberg dorthin hätten fahren müssen. Immerhin ist aus der Schikane nicht viel geworden, wenn auch vor allem, weil die Justiz mit Corona nicht gut zurecht gekommen ist. Sollten die Rondenbarg-Prozesse nun doch wieder aufgenommen werden, dürften wohl auch die jüngsten Angeklagten mit der Schule fertig sein. Immerhin.

    Und damit sind wir zurück in der Gegenwart. In der ein Soldat den Corona-Krisenstab führen soll. Das hat, nach dem eben erzählten, aus meiner Sicht dem jede Menge innerer Logik. Der Menschenrechts-Record der kommenden Regierung wird jedenfalls absehbar kaum besser werden als der der Schröder-Administration.

    [1]Ja, genau der Grote, der neulich auch Menschen willkürlichen Hausdurchsuchungen unterworfen hat, ganz offenbar nur, um sein Mütchen zu kühlen („Pimmelgate“).

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