Artikel aus rant

  • Der hundertste Post

    Vor 10 Monaten habe ich den ersten Artikel für dieses Blog geschrieben, und siehe da: Mit diesem sind es jetzt 100 Posts geworden.

    Das wäre ein guter Vorwand für ein paar Statistiken, aber da ich ja generell ein Feind von Metriken bin, die mensch ohne konkrete Fragestellung sammelt (das ist ein wenig wie beim statistischen Testen: Wenn du nicht von vorneherein weißt, worauf du testest, machst du es falsch), bestätige ich mir nur, dass meine Posts viel länger sind als ich das eigentlich will. Insgesamt nämlich habe ich nach Zählung von wc -l auf den Quelldateien fast 93000 Wörter in diesen Artikeln. Zur Fehlerabschätzung: xapian (vgl. unten) zählt nur 89000.

    Die Länge der Artikel ist nach wc-Wörtern so verteilt:

    Histogramm mit einem Klumpen zwischen 200 und 1000 und einem Outlier bei 3000

    Ich weiß auch nicht recht, warum ich mich nicht kürzer fassen kann. Oder will. Der überlange Post mit 3244 Wörtern ist übrigens der über die Konfiguration eines Mailservers – und das ist wieder ein gutes Beispiel für die Fragwürdigkeit von Metriken, denn erstens hat Englisch fast keine Komposita und ist von daher im Nachteil beim Wörterzählen und zweitens ist in dem Artikel ziemlich viel Material, das in Wirklichkeit Rechner lesen, und das sollte wirklich anders zählen als natürlichsprachiger Text.

    Na gut, und einem Weiteren kann ich nicht widerstehen: Wie viele verschiedene Wörter („Paradigmata“) kommen da eigentlich vor? Das ist natürlich auch Mumpitz, denn die Definition, wann zwei Wörter verschieden sind („die Token verschiedenen Paradigmata angehören“), ist alles andere als tivial. So würde ich beispielsweise behaupten, dass die Wörter Worte und Wörter praktisch nichts miteinander zu tun haben, während im Deuschen z.B. auf, schaute und aufschauen besser alle zusammen ein einziges Paradigma bilden sollten (zusammen mit allerlei anderem).

    Aber ist ja egal, sind ja nur Metriken, ist also eh Quatsch. Und es gibt die Daten auch schon, was für die Nutzung von und die Liebe zu Kennzahlen immer ein Vorteil ist. Ich habe nämlich den xapian-Index über dem Blog, und mit dem kann ich einfach ein paar Zeilen Python schreiben:

    import xapian
    db = xapian.Database("output/.xapian_db")
    print(sum(1 for w in db.allterms()))
    

    (Beachtet die elegante Längenbestimmung mit konstantem Speicherbedarf – db.allterms() ist nämlich ein Iterator).

    Damit bekomme ich – ich stemme nach wie vor nicht – 16540 raus. Klar, diese 16540 für die Zahl der verschiedenen Wörter ist selbst nach den lockeren Maßstäben von Metriken ganz besonders sinnlos, weil es ja eine wilde Mischung von Deutsch und Englisch ist.

    Um so mehr Spaß macht es, das mit den 100'000 Wörtern zu vergleichen, die schließlich mal im Goethe-Wörterbuch sein sollen, wenn es fertig ist. Eine schnelle Webrecherche hat leider nichts zur Frage ergeben, wie entsprechende Schätzungen für Thomas Mann aussehen. Einmal, wenn ich gerne Kennzahlen vergleichen würde…

  • Corona: Neue Filme, Alte Zahlen

    Weil sich sowohl bei Inzidenz als auch bei Altersstruktur der Corona-Meldungen gerade viel tut, habe ich meine beiden Coronafilme neulich neu rechnen lassen. Dabei habe ich beim Inzidenzfilm noch darauf verzeichtet, den Wertebereich über die 350 hinaus zu erweitern, auch wenn das bewirkt, dass sowohl der Kreis mit der höchsten Inzidenz gestern (Miesbach mit 715 Fällen/100'000) als auch der Kreis mit der 33st-höchsten und mithin nur halb so hohen Inzidenz (Ostallgäu mit 350/100'000) saturiert erscheinen.

    Irgendwas werde ich da bei der nächsten Aktualisierung tun müssen, denn, wie z.B. ich im September ausgeführt habe: eine 300-er Inzidenz bedeutet, dass es sechs Jahre dauert, bis alle mal SARS-2 hatten. Es wird im anderen Worten Inzidenzen in den Tausendern brauchen, wenn SARS-2 in nächster Zeit zu einem der anderen humanen Coronaviren werden soll, mit denen zu leben wir alle schon als Kinder schniefend gelernt haben.

    XKCD-cartoon

    Randall Munroe hat mir in der Woche mal wieder aus dem Herzen gesprochen. CC-BY-NC xkcd

    Schniefend, so wie ich jetzt, denn seit letztem Freitag habe ich meine erste richtige Erklältung seit Corona. Ich hatte ganz vergessen, wie doof sowas ist (und nein, ausweislich zweier Antigentests gleich am Freitag und dann am Montag nochmal ist es kein SARS-2). Schon deshalb habe ich gestern mit viel Interesse den Wochenbericht des RKI gelesen, in dem ja immer die Ergebnisse der Influenzasurveillance (Seite 13) berichtet werden. Über die Proben von an respiratorischen Infekten erkrankten Personen steht dort gestern:

    In der virologischen Surveillance der AGI wurden in der 43. KW 2021 in insgesamt 118 von 204 eingesandten Proben (58 %) respiratorische Viren identifiziert. Darunter befanden sich 61 Proben mit Respiratorischen Synzytialviren (RSV) (30 %), 31 mit Rhinoviren (15 %), 20 mit humanen saisonalen Coronaviren (hCoV) (10 %), acht mit SARS-CoV-2 (4 %), sechs mit Parainfluenzaviren (3 %) sowie eine Probe mit humanen Metapneumoviren (0,5 %). Influenzaviren wurden in der 43. KW 2021 nicht nachgewiesen.

    Wenn das irgendwie repräsentativ ist, habe ich eine gute Chance, dass meine derzeitige Pest RSV ist und ich den Rhinoviren Unrecht getan habe, wenn ich sie schon am Freitag mit den saftigsten Flüchen belegt habe. Tatsächlich habe ich aber schon vor dem oben gezeigten XKCD 2535 überlegt, wer mich da wohl gerade quält. Ich glaube jedenfalls, Randall Munroe ist gerade auch erkältet.

    Aber zurück zu meinen Überlegungen vom September: Ich hatte damals ja bejammert, dass wir seit Anfang der Pandemie, von steilen Inzidenzflanken nach oben (etwas niedrigeres int/inc) und unten (deutlich höheres int/inc) abgesehen, eigentlich immer so 20 SARS-belegte Intensivbettern pro Inzidenzpunkt (int/inc) hatten und das grob bedeutet, dass Inzidenzen über 300 ein Gemetzel werden.

    Ich muss leider sagen, dass sich das nicht wesentlich geändert hat. An der stark steigenden Flanke am 2.11.2020 lag int/inc nach RKI-Zahlen bei 2243 ⁄ 120 ≈ 19, derzeit, ebenfalls an einer stark ansteigenden Flanke ist das 2226 ⁄ 155 ≈ 15. Seufz.

    Etwas einschränkend dazu zwei Punkte:

    • Mein Plot neulich hat, wo verfügbar, mit Referenzdaten gerechnet, also, wo rekonstruierbar, den Ansteckungs- und nicht den Meldedaten. Damit kommt mensch für Anfang November 2020 auch auf ein int/inc von rund 15; mit den aktuellen Daten geht das aber nicht, einfach weil von den jetzigen Daten viele Daten aus der Zukunft fehlen, deren Referenzdaten irgendwann mal heute sein werden. Deshalb vergleiche ich hier ganz blind in beiden Fällen die instantanen RKI-Meldezahlen und vergesse meine raffiniertere Technik vom September.
    • Ein wesentlicherer Einwand ist, dass wir in diesem Jahr von einem weitaus höheren Sockel kommen und deshalb in Wirklichkeit die Flanke in der Intensivantwort wesentlich weniger steil ist als im letzten Jahr und sie wahrscheinlich auch in Zukunft vermutlich nicht gleich auf 20 oder sowas zurücklaufen wird, wenn die Inzidenzentwicklung abflacht.

    Das mag so sein, aber qualitativ ändert das alles nicht viel: Unser int/inc ist um mindestens eine Größenordnung zu groß, als dass „wir“ entspannt auf 1000er-Inzidenzen hinlaufen könnten; ob bei 300 (sechs Jahre bis zur Endemisierung) oder bei 500 (vier Jahre) Schluss ist, ist in dieser Betrachtung eher nebensächlich.

    Mein told you so (auch schon im Juli, vierter Absatz) wäre vielleicht befriedigender, wenn das auch im September nicht eigentlich jedeR gesagt hätte, der/die nicht woandershin geschaut hat (was bis neulich sehr populär war, und nur so ist irgendwie plausibel zu machen, warum es ausgereicht jetzt hektische Krisentreffen gibt). Andererseits hatte ich damals auch gesagt:

    wir dürften also, wenn nicht ein Wunder geschieht, in sechs Wochen, Mitte Oktober, deutlich über 4000 liegen und damit in der Gegend der Notbremsenbelastung rund um Neujahr 2021.

    – und damals geschah ein Wunder, denn aus mit dem Sommerreiseverkehr endete auch die damalige exponentielle Füllung der Intensivstationen mit SARS-2-PatientInnen; in DIVI-Zahlen aus den RKI-Tagesberichten:

    Steigende Kurve mit langem Atemholen zwischen Mitte September und Mitte Oktober

    Was zwischen Mitte September und Mitte Oktober – oder, unter der Annahme, dass die Intensivantwort zwei, drei Wochen verzögert auf ihre Ursachen kommt, einfach im September – anders war als davor und danach, das würde mich wirklich interessieren.

  • Whose Streets?

    Foto eines niederländischen Verkehrsschilds: Auto te Gast

    In den Niederlanden nicht überall Utopie: Der Mensch geht dem Auto vor.

    Neulich bin ich bei Dunkelheit über einen (relativ) einsamen Landwirtschaftsweg geradelt. Ein Auto kam mir entgegen und blendete irgendwann für einige Sekunden auf. Verunsichert habe ich nachgesehen, ob ich vielleicht vergessen hatte, mein Licht anzuschalten – aber nein, es war an.

    Als wir uns trafen, raunzte mich der Autofahrer – er hatte immerhin angehalten und sein Fenster heruntergelassen – an, mein Licht habe ihn geblendet. Nun bin ich recht pingelig, was meinen Lichtkegel angeht und bin daher sehr sicher, dass der Fahrer schlicht nicht an LED-Lichter gewöhnt war und er vergleichbar viel Streulicht aus Autoscheinwerfern als ganz natürlich hingenommen hätte.

    Aber das ist hier gar nicht mein Punkt. Mein Punkt ist, dass der Autofahrer zornig abgezischt ist, als ich ihm erklären wollte, wie er zu einem angemesseneren Ton finden könnte. Da das in den üblichen (un-)kommunikativen Situationen im motorisierten Individualverkehr auch sonst aus Zeit-, Geduld- und Hupgründen nicht klappt, will ich kurz eine kleine Fantasie schildern, die vielleicht road rage dieser Art mildern mag. Geheimplan: Die URL dieses Posts könnte ich vielleicht im Straßenverkehr schnell übergeben?

    Nur zu Gast

    Liebe AutofahrerInnen, stellt euch für einen Moment vor, ihr wärt in der Welt nur zu Gast. Wir anderen würden euch und eure tonnenschweren, lärmenden, rasenden und meist noch stinkenden Ungetüme nur aus freundlicher Nachsicht (und nicht wegen staatlicher Gewalt und lebenslanger Prägung) in unseren Städten akzeptieren. Stellt euch vor, ihr müsstet Danke sagen für unsere Bereitschaft, euch all den Platz in unseren Siedlungen einzuräumen, nur damit ihr rasen könnt. Stellt euch vor, ihr könntet nicht mit innerer Überzeugung mit euren parkenden Autos unsere Geh-, Fahr- und Spielfächen verstopfen und müsstet euch bei den Leuten entschuldigen, die den Platz eigentlich gerne nutzen würden.

    Könnt ihr das?

    Ihr sagt, das sei absurde Hippie-Träumerei? Nein, das ist es nicht. Die Auto-Gesellschaft ist nicht alt, und die ersten Autos hatten es nicht leicht auf Straßen, deren traditionelle NutzerInnen nicht immer einsahen, dass sie den Spielzeugen der Reichen auszuweichen hätten. Ohne ordentlich Nachhilfe durch die Vertreter der Reichen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ganz besonders geschickte Kampagnen der Auto-Industrie (cf. How the car industry outlawed crossing the road bei der BBC) hätte es so bleiben können wie zuvor.

    In Deutschland etwa haben Autos erst seit 1934 Vorrang auf den Straßen (cf. Geschichte der Straßenverkehrssicherheit in der Wikipedia). Noch so ein ärgerliches Erbe des Faschismus. Obwohl, na ja: an einem Gesetz von 1934 ist wohl wahrscheinlich schon vor der Machtübergabe gearbeitet worden. So oder so, die Straßen gehören hierzulande noch nicht mal 100 Jahre lang den Autos. Ob es eine große Kampagne „100 Jahre sind genug“ geben sollte?

    Während ich dann dem Autofahrer aus der Prä-LED-Zeit nachblickte, ist mir die andere Seite der Geschichte recht schlagartig bewusst geworden: Ich wurde von frühester Kindheit an darauf konditioniert, dass die Straße ein verbotener Raum ist, auf dem Menschen nichts verloren haben. Und so fahre ich auch jetzt noch so Fahrrad, als müsse ich mich entschuldigen, da zu sein. Konditioniert von Jahrzehnten wütenden Hupens suche ich Lücken, in denen ich den Autoverkehr möglichst wenig behindere, quetsche ich mich an Straßenränder, um Autos vorbeizulassen, husche ich über Bordsteine, um nur ja nicht „im Weg zu stehen“. Das Motto der Critical Mass, nach dem wir nicht den Verkehr blockeren, sondern wir der Verkehr sind, hatte ich oft im Mund. Aber, so ist mir an dem Abend klar geworden, im Kopf habe ich es nicht so recht.

    Ganz ehrlich: Ein wenig ärgert mich das schon, und ich bin offen neidisch auf die augenscheinlich felsenfeste Überzeugung des_der ideellen Gesamtautofahrenden, die Straße gehöre ihm_ihr.

    Fantasie, gefährlich und schön

    Will ich meine Hasen-Philosophe im Hinblick auf Straßen ändern? Sollte ich einfach auch das Gefühl entwickeln, die Straße gehöre mir?

    Mal ganz abgesehen von generellen Erwägungen zu ethischen Dimensionen von „gehören”: ich fürchte, auf den realen Straßen würden solche Ansprüche schnell im Krankenhaus oder auf dem Friedhof enden; die Macht kommt schon lange nicht mehr nur aus den Gewehrläufen, sie chromblitzt längst auch von Stoßstangen.

    Aber eine schöne Fantasie ist es schon: Die Straßen den Menschen, nicht den Autos. Und da, so ist mein Eindruck, derzeit immer mehr Menschen Träume dieser Art träumen, ist die Rückkehr auf die Straße vielleicht auf Dauer auch keine Gewaltfrage mehr, über die mit Gewehrläufen oder Stoßstangen entschieden wird.

    Vielleicht haben das sogar schon früher mal viele geträumt. Irgendwo glaube ich gelesen zu haben, die französische Volksfrontregierung von 1936/37 habe zumindest in Paris eine grundsätzliche Vorrangregelung für FußgängerInnen beschlossen, und das sei von der folgenden Daladier-Regierung oder den deutschen Nazis zurückgenommen worden. Ich habe dafür im Netz leider keine Belege mehr gefunden. Wenn wer etwas Näheres dazu weiß, wäre ich dankbar für einschlägige Hinweise.

  • Patriotische Raison

    Die heutige Presseschau im Deutschlandfunk war mal wieder niederschmetternd.

    Zum Afghanistan-„Zapfenstreich“ gestern fällt der taz gerade noch ein, es sei „eher“ ein „Kuriosum“, während die anderen Blätter sich noch fester hinter ihrer Armee versammeln:

    • Es wäre in Afghanistan ja sonst noch viel schlimmer gewesen (Volksstimme); angesichts der tatsächlichen Verhältnisse ist das nur schwer vorstellbar: Geringer als in Afghanistan, 51.3 Jahre laut CIA World Factbook von 2016, ist die Lebenserwartung derzeit nur noch in zwei Staaten.
    • Soldaten – und nicht etwa ihre Opfer – seien „traumatisiert und physisch verletzt“ (Mitteldeutsche; den naheliegenden Schluss, die Bundeswehr, die dafür ja verantwortlich ist, aufzulösen, zieht sie natürlich nicht).
    • „gut gemeint“ (Nürnberger Nachrichten).
    • „Außen- und Sicherheitspolitik den nötigen Raum“ geben (Märkische Oderzeitung).
    Strammstehende und taktstockschwingene Soldaten

    Screenshots vom Zapfenstreich, Rechte fürs Rohmaterial hat die ARD.

    Au weia. Niemand möchte sich durch Stellen der offensichtlichen Frage als vaterlandsloser Geselle outen: „Was war denn das für ein bizarres Spektakel?“

    Strammstehen, Tschingdarassabum, bunte Kappen, Orden? Für Leute, die für die Regierung töten? Leute, es ist 2021. Es hat zwischendurch ein 20. Jahrhundert gegeben. Erinnert ihr euch?

    Den Auweia-Preis für den fürchterlichsten Kommentar räumt aber erneut die FAZ ab, wenn sie fordert:

    Nie wieder darf die ‚Parlamentsarmee‘ in eine Mission geschickt werden, in der sie mit ihrem Blut für die Unschärfe des Mandats und die Inkonsequenz, um nicht zu sagen: Feigheit der politischen Entscheider büßen muss.

    Das ist nur noch ein paar Millimeter von „im Felde ungeschlagen“ und dem Narrativ hinter der Dolchstoßlegende („die tapferen Jungs hätten den Feind schon platt gemacht, aber die Politiker...!“) entfernt. Wenn in dieser Umgebung dann noch Testosteron-Vokabeln wie „feige“ und „Entscheider“ auftauchen, schlägt mein persönliches Jetzt-Flucht-planen-o-Meter schon ziemlich deutlich aus.

  • Ach, Bahn, Teil 1: Captchas und Bodensee

    Alte Waggons und eine Dampflok

    Einen Vorteil hat die dysfunktionale Bahn: Mensch sieht etwas von der Welt, für mich und heute etwa dieses Stück Bahnromantik am Bahnhof von Rottweil.

    Ja, klar, es ist wohlfeil, über die Bahn zu ranten. Andererseits ist es auch unmöglich, mit der Bahn zu reisen und es nicht zu tun. Drum genehmige ich mir das gleich mal in mehreren Teilen. Wobei: Ich bin die Segnungen der Privatisierung nach meinen coronabedingten Zugpausen auch einfach nicht mehr gewöhnt. Vielleicht gibt es gar nicht mehr so viele weitere Teile von „Ach, Bahn“, wenn ich mich erstmal wieder in die Realitäten privatisierter Infrastruktur gefunden habe (vgl. auch Post-Wettbewerb).

    Sprinter und Antisprinter

    Ich fahre gerade von Heidelberg auf die Insel Reichenau. Das sind so etwa 200 Kilometer. Weil ich um 12 Uhr angekommen sein soll, musste ich in Heidelberg um 7:02 losfahren, fünf Stunden vorher. Ok, vielleicht sollen ja Leute eh nicht so viel durch die Gegend fahren, aber wenn ich gestern bei heise lese, die Bahn wolle „mit Inlandsflügen konkurrieren“ und hole künftig zwischen Berlin und Köln eine halbe Stunde raus: Nun, so sehr Flugzeuge viel Dreck und großflächig Lärm machen, das weit größere Problem sind immer noch Autos. In Konkurrenz zu denen werden netto fünf Stunden für 200 km, zumindest solange es Autobahnen gibt, nicht viele Leute auf die Schiene ziehen.

    Oder, in den Worten der taz zu den neuen Sprintern aus dem Heise-Artikel: „Dreimal täglich je Richtung fährt dann zum Beispiel ein Zug ohne Unterbrechung direkt von Berlin nach Köln. Pech gehabt, wenn man in einen Ort dazwischen will.“

    Ja, klar, die komplizierte und langsame Verbindung für mich und heute liegt bestimmt auch daran, dass derzeit die Schwarzwaldbahn nicht fährt. Oh Verzeihung, dass da Schienenersatzverkehr ist. Tja. Ich würde, dies bedenkend, als ein Infrastrukturziel vor dem Ausbau auf 350 km/h-Strecken vorschlagen: Möglichst viele Strecken so ausbauen, dass weitere Bauarbeiten ohne Schienenersatzverkehr und Zugverlegungen durchgeführt werden können. Das würde mir gerade als wichtiger Punkt erscheinen, um die Bahn als Autoalternative glaubhaft zu machen. Zugegeben, vielleicht erscheint mir dieser Punkt wichtiger als er ist, weil ich öfters in der weiteren Umgebung der Stuttgart 21-Katastrophe unterwegs bin. Dort nämlich litt tatsächlich die Mehrheit meiner Zugfahrten in den letzten 10 Jahre darunter, dass Züge, die meine Verbindung viel angenehmer gemacht hätten, baustellenbedingt nicht fuhren.

    Erlaubt mir kurz einen Extra-Nostalgie-Jammer bezüglich der speziellen Heidelberg-Bodensee-Relation: Ich bin alt genug, um mich an den Interregio zu erinnern, der einstmals direkt von Heidelberg nach Konstanz fuhr; ich weiß zwar nicht mehr, wie lang der wirklich brauchte, aber es wäre ja schon mal großartig, wenn ich nicht alle halbe Stunde wieder alles zusammenpacken und umsteigen müsste.

    Ach, Bahn. Sollten die Leute, die damals das Einstampfen der Interregios zu verantworten hatten, schon tot sein, hat der Teufel hoffentlich noch ein paar Grad draufgelegt in dem Teil der Hölle, in den sie gefahren sind.

    Von einem, der mit der Bahn-Webseite interagierte

    Ähnliche Wünsche hege ich im Hinblick auf die Leute, die derzeit an der Bahn-Webseite schrauben. Beim Buchen gestern: Ich logge mich auf bahn.de ein, gebe meine richtigen Credentials ein. Ein Captcha poppt auf. Ich soll nacheinander Fahrräder und Boote markieren. Ich überlege schon, einfach zu Hause zu bleiben, tue der Bahn aber trotzdem den Gefallen. Ich klicke mich zum Bezahlen durch, lasse dort meine gewohnte SEPA-Lastschrift angeklickt.

    Doch irgendwie mag die Bahn das nach nochmaligem Überlegen nicht mehr und schreibt auf der nächsten Seite in Rot: „Die folgenden Zahlungsmöglichkeiten bestehen für diese Reise“ (oder so ähnlich). Lastschrift ist jetzt ohne weitere Erklärung verschwunden. Nach einem tiefen Durchatmen wähle ich Kreditkarte. Ein paar Felder poppen auf, doch kann ich dort nichts eingeben (und, wohlgemerkt, das ist ein hundsordinärer Firefox, nicht mein üblicher Luakit; ich erwarte von der Bahn ja schon gar nicht mehr Browserunabhängigkeit). In einem Versuch, dem Bahn-Code eine zweite Chance zu geben, mache einen Reload. Eine kurze Fehlermeldung, und dann loggt mich der Bahn-Kram aus.

    Ich brülle laut und fluche, knirsche mit den Zähnen und fantasiere von Teufeln an großen Schaltpulten, die die Temperatureinstellung von „fies“ auf „jenseits der Spezifikation“ drehen. Ich wechsele auf einen fast unkonfigurierten, erweiterungslosen Chromium. N-n-n-n-och ein Captcha! Lokomotiven und Lkws dieses Mal. Ich bin jetzt noch heiser von der Fluchkaskade, die sich an dem Punkt meiner Kehle entrang. Immerhin ging vom Chromium aus die SEPA-Lastschrift. Warum auch immer.

    Captchas! C-a-p-t-c-h-a-s!

    For the record: Wenn du wem was verkaufen willst, dann verschwende nicht seine/ihre Zeit mit Captchas. Das ist wirklich ein No-no. Niemand will Objekt verhaltenspsychologischer Experimente sein, und auch nicht von Dingen, die so aussehen. Vielleicht kannst du deine NutzerInnen dazu bringen, da mitzumachen, wenn du so tust, als würdest du ihnen was schenken. Aber wenn sie dir Geld geben, dann musst du im Zweifelsfall Leute bezahlen, um Robots rauszufiltern (wenn es das schon brauchen sollte, was ich in den meisten Fällen bestreiten würde); zur allergrößten Not ist vielleicht noch eine knappe Texteingabe zur Robot-Abwehr („Textcha“) statthaft.

    Völlig absurd ist es natürlich, ein Captcha bei korrekt eingegebenen Credentials zu verlangen. Woher bitte sollten Robots die haben? Was denken sich diese Leute? Wenn das eine Abwehr von Clients sein sollte, die die (eingestanderenmaßen etwas mühsame) Interaktion mit der bahn.de-Webseite automatisieren: Öhm… Was genau wäre das Problem mit denen?

    Oh: Und wenn dich jemand auf so einen solchen Fehler hinweist (das habe ich in diesem Fall schon vor zwei Wochen per Mail an die Bahn-Kontaktadressee gemacht): Reagiere irgendwie. Ein „nur ein wenig Geduld, wir arbeiten an einer Fehlerlösung“ wäre zwar nicht optimal, ist aber immerhin besser als gar nichts. Überflüssig zu erwähnen, dass die Bahn für „gar nichts“ optiert hat.

    Auf der positiven Seite: Die Strecke zwischen Stuttgart und Singen ist hübsch, gerade hier in der Gegend von Horb. Ohne die Schließung der Schwarzwaldbahn hätte ich das wahrscheinlich nie gesehen.

  • Ad hominem

    Die Ideenwelt der repräsentativen Demokratie hat etliche Ungereimtheiten – was an sich nicht notwendig katastrophal[1] ist, siehe RiwaFiw. Speziell zu Wahlkampfzeiten muss ich aber doch manchmal meinen Kopf bis an die Grenze zum Schleudertrauma schütteln.

    Derzeit ist in Heidelberg etwa das hier plakatiert:

    Wahlplakat mit eigenartigem Brustportrait und einem Slogan

    Klar, mensch könnte das einfach mit „selbst schuld“ wegnicken und weiterfahren. Aber für mich will diese Sorte Plakat einfach nicht zusammengehen mit der öffentlichen Ächtung von Attacken auf die Person von KandidatInnen und PolitikerInnen („ad hominem“), und das nicht nur, weil das Plakat recht unbestreitbar eine ad hominem-Selbstattacke ist.

    Schön, das ad hominem-Tabu war schon immer mehr deklariert als gelebt (was gerade die zugeben müssen, die sich gerne öffentlich nach Herbert Wehner und Franz Josef Strauß sehnen), aber als normative Richtschnur des Handelns ist es im Wesentlichen unbestritten. Wenn also Kritik ad hominem nicht statthaft ist: Warum zeigt dann die Mehrheit der Wahlplakate „ernstzunehmender“ Parteien die Portraits der KandidatInnen und nicht etwa, sagen wir, eine politische Position oder wenigstens ein hübsches Bild zur Aufwertung des Straßenraums, Dinge jedenfalls, die anzugreifen nicht Tabu ist?

    Der „Digitalturbo“ im Plakat oben zählt übrigens mangels Bedeutung nicht als politische Position. „Digitalisierung“ ist Antisprache, versucht also aktiv, nichts zu sagen. „Turbo“ hingegen ist eine dämliche Autometapher, der positiv nur die radikale Selbstentlarvung zuzurechnen ist. Der Kluge führt unter dem Lemma Turbine aus:

    1. turbo (-inis) m. „Wirbel; alles, was sich im Kreis dreht“

    Ich erfinde das nicht.

    Eine politische Position, die tatsächlich etwas bedeutet, wäre etwa public money, public code gewesen, oder vielleicht „hohe Hürden bei Zugriff auf Tk-Bestandsdaten“ (cf. Post vom 2021-01-31). Doch, sowas passt auf ein Plakat, und mit etwas Mühe kriegt mensch auch Muggels erklärt, was das jeweils bedeutet. Allerdings müsste ich bei einem „Master of Public Policy“ (was Nusser ausweislich seiner Online-Biografie ist) zunächst noch überzeugt werden, dass der Kandidat tatsächlich Einsicht hätte in das, was er da sagen würde.

    Da seine Parole leer ist: was eigentlich soll mensch kritisieren als das Restplakat, also das Bild? Wenn das Bild nur die Person zeigt, wird die Kritik notwenig ad hominem. Das ist besonders bitter, wenn der Kandidat aussieht, als habe er starke Schwierigkeiten bei der Ablösung von der Mutter (oder jedenfalls bei der Impulskontrolle). Hand aufs Herz: Wer hatte bei Nussers Foto nicht gleich das Bild im Kopf vom pummeligen Einzelgänger in der Schule, der Verachtung und Hänselei der Mitschülis jetzt durch Dampfplaudern im Machoclub FDP kompensiert? [Mitschülis von Nusser: wie irrig ist diese Fantasie?]

    Wer solche, eingestandermaßen üblen, Reflexe nicht haben will: Wie gesagt, thematische Bilder statt Köpfe auf Plakaten würden sich anbieten, bei der selbsternannten Wachstumspartei FDP vielleicht viele Autos und viel Beton oder so. Weniger ansprechend als die Portraits der KandidatInnen wird das in der Regel auch nicht sein, solange nicht gerade Rana Plaza oder Union Carbide in Bhopal als Symbole für die Segnungen des Freihandels herhalten müssten.

    Besser wärs aber wahrscheinlich, ganz auf Fotos zu verzichten, etwa nach US-Vorbild:

    Vorgarten mit Wahlschildern, auf denen nur Namen stehen

    Um euch die Arbeit zu ersparen, anhand der Namen herauszubekommen, wann und wo die Szene spielt: Das Foto entstand 2002 in Massachussetts, und die schon etwas extreme Botschaftsdichte mag damit zusammenängen, dass der Vorgartenbesitzer im liberalen Jamaica Plain Werbung für alle möglichen Kandidaten der Republicans machte. Mensch sieht: Rechte Trolle sind keine Erfindung des facebook-Zeitalters.

    So oder so: Wahlwerbung in den USA ist, soweit ich das sehe, immer noch, wenn Leute die Namen ihrer LieblingskandidatInnen in den Vorgarten stellen (ok, und am Straßenrand mit Namenschildern winken). Keine Fotos, keine leeren Slogans.

    Ich glaube ja, das ist weit mehr im Geist der repräsentativen Demokratie, bei der Menschen ja genau nicht etwa die wählen sollen, die aussehen wie sie selbst; von Lookismus-Prävention will ich gar nicht anfangen. Der größte Vorteil aber: ästhetische Tiefschläge wie der folgende aus dem Jahr 1998 unterbleiben:

    Wahlplakat von Karl A. Lamers
    [1]Nur zur Vorsicht sollte ich wohl sagen, dass ich damit natürlich mitnichten repräsentative Demokratie befürwortet haben will; eine dahingehende Beurteilung aus informationstheoretischer Sicht verspreche ich schon mal für demnächst.
  • Vom Töten und Massenschlachten

    Heute morgen hat der Deutschlandfunk das IMI-Urgestein Tobias Pflüger interviewt (Informationen am Morgen, 14.9.), und die Art, in der der Interviewende versucht hat, Tobias dazu zu bringen, sich für einen „Mangel“ an Bellizismus zu entschuldigen, war erwartbar empörend. Umgekehrt aber war Tobias schon sehr zahm, verglichen jedenfalls mit dem militanten Pazifismus, den ich von ihm eigentlich kenne; nun ja, er trat auch als stellvertretender Vorsitzender der Linken auf, und die will erkennbar regieren[1].

    Das – wie natürlich auch das ultrazynische Rührstück um die „Ortskräfte“, die die Bundeswehr aus dem gleichen Afghanistan „rettete“, in das die Regierung in den Vormonaten noch mindestens 167 Menschen abschieben hat lassen – wiederum gibt mir den Vorwarnd, endlich ein paar politische Gegenstücke zum Tucholsky-Klassiker „Soldaten sind [meinethalben potenzielle] Mörder“ zu formulieren, die ich schon lang irgendwo unterbringen wollte (auch wenn ich anerkenne, dass sie vermutlich nicht sehr originell sind und bestimmt schon oft ganz ähnlich von PazifistInnen, AnarchistInnen und anarchistischen PazifistInnen formuliert wurden; ich sollte vermutlich mehr von solchen Leuten lesen).

    Erste Behauptung: Eine Regierung, die sich ein Militär hält, will für die eigene Macht Menschen töten.

    Für den Fall, dass jemand das nicht unmittelbar offensichtlich findet, will ich ein paar Ableitungsschritte nennen. Erstens ist nämlich Militär schicht dafür da, Krieg zu führen oder Aufstände zu unterdrücken. Ich gebe zu, dass die Bundeswehr auch schon Dämme ausgebessert, Brunnen gebohrt, und in Impfzentren ausgeholfen hat. Sie war dabei aber immer ausnehmend schlecht, bis hin zur Unfähigkeit, die Impfunterlagen korrekt und halbwegs gestapelt zusammenzutackern. Das ist soweit erwartbar, denn sowohl das Rumgeballer als auch die Gehorcherei sind bei nichttödlichen Einsätzen klar störend. Wer Personal für „humanitäre“ Einsätze vorhalten will, würde selbstverständlich keine Gewehre und Waffen kaufen und viel Geld dafür ausgeben, den Leuten den Umgang damit (statt mit Baggern, Bohrern und Büroklammern) beizubringen.

    Mithin geht es beim Militär um Personal zum Bedienen von Kriegswaffen, und das heißt zum Führen von Krieg (bei der Aufstandsbekämpfung ist das der Sonderfall des Bürgerkriegs).

    Was aber ist Krieg? Krieg ist auf der einen Seite der Versuch einer Regierung, eine andere Regierung zu ersetzen, entweder durch sich selbst („Eroberungskrieg“) oder durch eine der eigenen Machtausübung weniger hinderliche („Nation Building“). Und entweder komplett oder nur in einem Teil des Machtbereichs der anderen Regierung.

    Auf der anderen Seite ist Krieg der Versuch einer Regierung, die eigene Macht gegen eine andere Regierung oder Teile der Bevölkerung (beim Bürgerkrieg) zu halten. Wie herum es im Einzelfall auch sein mag: Es geht allein darum, Macht auszuweiten oder zu erhalten.

    Selbst wenn mensch der eigenen Regierung wider jede Evidenz (die Bundeswehr hat derzeit in, wievielen?, zwanzig oder so, anderen Ländern Waffen) unterstellt, sie sei dabei in der Rolle der machterhaltenden, quasi verteidigenden Regierung: Sie könnte jede Menge Blutvergießen verhindern, wenn sie einfach zurücktreten würde und sagen, die „angreifende“ Regierung könne ja gerne versuchen, ob sie es besser kann. Es gäbe dann keinen Krieg, und ob die Regierungsführung am Boden wirklich wesentlich schlechter wäre, ist überhaupt nicht ausgemacht. Ich z.B. würde es wahrscheinlich begrüßen, wenn die Schweiz die Regierung in Baden übernehmen würde. Oder Luxemburg: soweit es mich betrifft, könnten die mich schon erobern, denn sooo viel unethischer und steuerparadiesiger als meine gegenwärtige Regierung sind die auch nicht, aber ich glaube, deren Sozialsystem macht schon ein wenig mehr her.

    Ach, wenn nicht gerade Macron regiert, würde jetzt auch ein Überfall aus Frankreich nicht offensichtlich zu einem Rückschritt führen, wenn die Machtübergabe hinreichend friedlich passiert. Ich versuche ohnehin im Augenblick, ein wenig Französisch zu lernen.

    Also: Regierungen, die ein Militär unterhalten, sagen damit klar an, dass sie für ihre Macht töten wollen. Auf jeden Fall mal die Soldaten der anderen Regierungen.

    Es kommt aber noch schlimmer: Wie ich in meinem Furor über die Weigerung der deutschen Regierung, dem Atomwaffenverbotsvertrag TPNW beizutreten, argumentiert habe, sind Kernwaffen nur einsetzbar, um Hunderttausende oder Millionen von Untertanen einer (na ja: in der Regel) anderen Regierung zu töten. Es gibt schlicht keine anderen glaubhaften Einsatzszenarien.

    Mithin ist, wer die Bombe werfen will, gewillt, für die eigene Macht Städte in Schlachthäuser zu verwandeln. Alle deutschen Regierungen meiner Lebenszeit waren ganz wild auf die „nukleare Teilhabe“ und hatten damit diesen Willen. Die zweite Behauptung, die ich hier machen will, ergibt sich damit unmittelbar: Wer in der BRD lebt, wird regiert von Menschen, die für ihre Macht Städte ausradieren werden.

    Es wäre also schon ein großer zivilisatorischer Fortschritt, wenn sich die nächste Regierung durchringen könnte zum Statement, sie könne sich schon vorstellen, zwecks Machterhalt ein paar hundert, tausend, oder zehntausend Menschen zu töten (also: sie löst die Bundeswehr nicht einfach auf, was natürlich der erfreulichste Ausgang wäre); der eigene Machterhalt würde aber doch nicht rechtfertigen, dutzendweise Städte einzuäschern (weshalb sie den Spuk der nuklearen Teilhabe beenden und dem TPNW beitreten würde).

    Ich wette dagegen.

    [1]Da ich wild entschlossen bin, niemals mit meiner Zustimmung regiert zu werden und also nie der künftigen Regierung meine Stimme geben will – das ist mir bisher auch nicht schwer gefallen –, konnte ich daher leider den Linken nicht meine Stimme geben. Repräsentative Demokratie ist schon manchmal kompliziert, denn im Parlament will ich die Linke selbstverständlich schon haben: Wo wären wir heute ohne ihre parlamentarischen Anfragen?
  • Die Intensiv-Antwort

    Ich habe ja immer noch nicht so recht meinen Frieden gemacht mit dem Schluss von 66 ist das neue 50 vom letzten Freitag, dass nämlich die Impfkampagne bisher fast keinen Unterschied macht für unsere Fähigkeit, hohe Inzidenzen – die wir praktisch sicher bald haben werden, wenn wir nicht wieder viel weiter zumachen als derzeit – zu ertragen, ohne dass die Intensivstationen zu einem Schlachtfeld werden.

    Die Frage lässt sich zurückführen auf: „Wie viele Intensivbetten waren eigentlich relativ zur jeweiligen Inzidenz durch SARS-2-Erkrankte belegt?“ (bei allen berechtigten Zweifeln an der zuverlässigen Messung letzterer). Diese Antwort der Intensivbelegung auf das Infektionsgeschehen – ich taufe es mal int/inc, weil ich zu faul bin, nachzusehen, wie die Profis das nennen – kriege ich mit dem Besteck vom Coronafilm-Post und meiner DIVI-Auswertung relativ schnell ausgerechnet, und wenn ich dann das Verhältnis von DIVI-Belegung (gezogen jeweils aus den RKI-Berichten der Zeit) zur bundesweiten Inzidenz (auf der Basis der Referenz-Daten des RKI) plotte, sieht das so aus:

    Ein großes Maximum im Juli 2021

    Ich habe die y-Achse wieder logarithmisch eingeteilt, in dem Fall nicht, weil ich irgendwelche exponentiellen Verläufe erwarten würde, sondern weil mir im Wesentlichen der Verlauf im unteren Teil des Wertebereichs am Herzen liegt.

    Das dominierende Feature Anfang Juli 2021 nämlich ist schnell erklärt: Hier waren die Inzidenzen sehr niedrig, die langwierigen Fälle blieben aber auf den Intensivstationen. Und so ging es bis zu 120 IntensivpatientInnen pro Punkt Inzidenz. Ähnlich reflektiert das zweithöchste Feature rund um den Februar 2021 lediglich die fallende Inzidenz und also quasi vorauseilend kleine Nenner zwischen zweiter und dritter Welle.

    Wenn mensch sich diese großen Features mal rausdenkt, kommt als Basis etwas heraus zwischen 20 und 40 Intensivpatient_innen pro Inzidenzpunkt während der Wellen. Mitte August, als die Inzidenzen kräftig anzogen, haben wir vielleicht auch mal 10 touchiert, was zu erwarten wäre, wenn die Basisrate 30 wäre und um die zwei Drittel der Leute geimpft sind. Angesichts der dramatischen Altersabhängigkeit der Hospialisierung von SARS-2 sind solche Überlegungen aber ohne demographische Betrachtungen unsinnig.

    Der Anstieg ganz am rechten Rand des Graphen dürfte übrigens zumindest in diesem Ausmaß ein Artefakt sein, denn ich rechne hier wie gesagt mit dem, was das RKI als Referenzdatum angibt (wo das Infektionsdatum das Meldedatum ersetzt, wenn das rauszukriegen ist), und es kann so sein, dass aus den letzten zwei Wochen Fälle in die weitere Vergangenheit gewandert sind, die, die sie in Zukunft aus der Gegenwart bekommen werden, aber noch nicht da sind; das würde die Inzidenz unterschätzen und mein int/inc überschätzen.

    Nehmen wir trotzdem an, wir hätten mit der derzeitigen Virenpopulation, Infektionsdemographie und Impfquote im Gleichgewicht 20 Intensivpatient_innen pro Indizenzpunkt. Wenn wir dann unter 6000 Intensivpatient_innen bleiben wollen, ist eine 300er-Inzidenz das äußerste, was mit viel Glück zu stemmen wäre. Wenn also nicht mein int/inc drastisch runtergeht – als Faustregel dürfte taugen, dass jede Halbierung des Anteils der ungeimpften Erwachsenen auch eine Halbierung von int/inc nach sich ziehen würde –, wird es noch lang dauern, bis die (relativ) strikte Kontrolle von SARS 2 aufhören kann.

    Eine 300er-Inzidenz in der RKI-Rechnung heißt ja, dass jede Woche 300 von 100000 Menschen SARS-2 hinter sich bringen. Bis dann alle mal SARS-2 hatten (und alle werden es irgendwann gehabt haben, dauerhaft sterile Impfungen gibts bei Atemwegserkrankungen nicht), dauert es logischerweise 100000/300, also gut 300 Wochen. Oder grob sechs Jahre.

    Sorry, liebe Ungeimpfte: so lange will ich echt nicht warten, bis ich nicht mehr an jeder Ecke damit rechnen muss, Namen und Geburtsdatum (im Impfzertifkat) von mir nicht annähernd kontrollierbaren Rechnern überantworten zu müssen.

    Technics

    Der Code, der das erzeugt, ist nicht spannend; mit corona.py sieht die Inzidenzberechnung so aus:

    def get_incidences(tuples):
        """returns a mapping of dates to 7-day incidences from RKI tuples
        as yielded by corona.iter_counts.
        """
        tuples.sort(key=lambda r: r[0])
        incidences = {}
        queue = collections.deque([0], maxlen=7)
        cur_date = None
    
        for tup in tuples:
            if tup[0]!=cur_date:
                if len(queue)==7:
                    incidences[cur_date] = sum(queue)/830
                queue.append(0)
                cur_date = tup[0]
    
            queue[-1] += tup[2]
    
        incidences[cur_date] = sum(queue)/83e4
        return incidences
    
       with open(corona.DATA_DIR
              +"Aktuell_Deutschland_SarsCov2_Infektionen.csv") as f:
          all_rows = list(corona.iter_counts(f, True))
      incidences = get_incidences(all_rows)
    

    Das Zusammenfummeln mit den DIVI-Daten nimmt meine aus den RKI-Berichten gescreenscrapten Daten. Das ist an sich Quatsch, und ihr solltet die Daten einfach von der DIVI selbst ziehen, wenn ihr das reproduzieren wollt.

    Mit dem zusammengefummelten Daten (Spalten: Datum, int/inc, Intensivbelegung und referenzdatenbasierte Inzidenz) könnt ihr aber selbst Plots machen. Das Bild oben kommt aus diesem Gnuplot-Skript:

    set size ratio 0.375
    set key inside left top
    set xdata time
    set yrange [5:200]
    set ytics (10,22,47,100)
    set timefmt "%Y-%m-%d"
    set xrange ['2020-08-01':'2021-08-31']
    set logscale y
    set xtics format "%Y-%m-%d" time
    set term svg size 800,300
    set out "int-vs-inc.svg"
    plot "int-vs-inc.txt" using 1:2 with lines title "int/inc"
    

    ElektronikbastlerInnen werden die Ticks auf der y-Achse wiedererkennen. Logarithmen sind überall.

  • 66 ist das neue 50

    Ich sage es nicht gerne, aber: Entweder wir machen im Winter wieder einen Lockdown oder wir kriegen ein übles Gemetzel.

    Ich hatte ja schon im Januar erzählt, warum ich die Intensivbelegung für die aussagekräftigste Zahl halte, die in den RKI-Berichten vorkommt (natürlich mit dem Nachteil, dass sie für Echtzeitsteuerung nicht taugt, weil sie so weit nachläuft). Und die sieht seit ein paar Wochen übel aus, nämlich praktisch so wie im letzten Oktober:

    Im September 2021 siehts aus wie im Oktober 2020

    SARS 2-Intensivbelegung seit Mitte letzten Jahres in einem Log-Plot (also: exponentielle Entwicklung ist eine Gerade). Zur Verdeutlichung habe ich die Kurve seit diesem Juli nochmal weiß unterlegt neben die Gesamtkurve seit August 2020 gestellt: mensch sieht, wie sich die Verläufe ähneln, abgesehen von der höheren Ausgangsbasis in diesem Jahr. Die grüne Kurve ist übrigens die Zahl der invasiv Beatmeten. Sie hört mittendrin auf, weil der RKI-Tagesbericht die entsprechenden Daten nicht mehr berichtet hat.

    Die Verdopplungszeit ist derzeit so rund drei Wochen; wir dürften also, wenn nicht ein Wunder geschieht, in sechs Wochen, Mitte Oktober, deutlich über 4000 liegen und damit in der Gegend der Notbremsenbelastung rund um Neujahr 2021.

    In der Tat scheint es, als habe die Impfkampagne enttäuschend wenig Einfluss auf diese Zahlen. Heute ist die SARS 2-Intensivbelegung laut RKI-Bericht 1169 bei einer Inzidenz von 80. Eine vergleichbare Belegung war am 23.10.2020 mit 1121 bei einer Inzidenz von 60. Von einer Entkopplung der Intensivbelegung von der Inzidenz kann also keine Rede sein, und schon gar nicht vom „200 ist das neue 50“, das Gesundheitsminister Spahn vor ein paar Wochen wagte. Dazu kommt, dass die Dunkelziffer angesichts des immer noch relativ engen Testregimes in diesem Jahr vermutlich niedriger ist als letztes Jahr und mithin die damalige Inzidenz nach oben korrigiert werden müsste, um mit aktuellen Zahlen vergleichbar zu sein. Selbst ohne so eine Korrektur ist allenfalls 50 ⋅ (80/60) = 66 das neue 50.

    Warum kaum ein Impfeffekt sichtbar ist in diesen Zahlen: Tja, das ist eine spannende Frage, und ich bin neugierig auf Christian Drostens Kommentare dazu, wenn es heute abend wieder ein neues Coronavirus-Update gibt (endlich!). Mein persönlicher Verdacht ist etwas gruselig. Wahrscheinlich stimmen die anekdotischen Berichte, dass aus den Alten- und Pflegeheimen in den ersten drei Wellen kaum Menschen in Intensivstationen überwiesen wurden und sie in aller Regel einfach an Ort und Stelle starben. Die jüngeren Menschen hingegen, die es jetzt vermehrt erwischt (auch wenn der Altersmedian weniger schwankt als ich glaubte), erhalten vermutlich erheblich häufiger Intensivpflege. Ich bin nicht sicher, ob ich da ein „hoffe ich“ dazu schreiben möchte.

    Ohne einen „Delta-Effekt“ wird diese Erklärung jedoch nicht auskommen, denn von den rund 1000 relativ jungen Menschen, denen im letzten Juni bei Tönnies SARS-2 reingedrückt wurde, landeten, soweit ich weiß, keine auf Intensivstationen – und jedenfalls starben keine. Bei vor drei Wochen (als sich heute eingelieferte so plusminus angesteckt haben werden) rund 30000 RKI-aktiven SARS-2-Fällen und einer derzeit vermutlich mit der Tönnies-Belegschaft vergleichbaren Demographie dürften die Intensivstationen eigentlich nicht volllaufen, wenn das Virus nicht eine ganze Ecke fieser geworden wäre.

    Wie dem auch sei: Meine Hoffnung, dass mit jüngeren Kranken und vielen Geimpften höhere Inzidenzen ohne Gemetzel durchhaltbar sind, war klar unbegründet. Das aber macht erneute Notbremsen ab Oktober (und vielleicht schon früher) zu einer praktischen Gewissheit. Ich vermute stark, dass diese Geimpfte anfangs ausnehmen werden. Ich nehme keine Wetten an zur Frage, ob das ausreichen wird. So'n Mist.

  • Wenn LektorInnen schlafen

    Als jemand, dem es schon in der BRD zu frömmelnd zugeht, bin ich ziemlich sicher nicht in Gefahr, allzu große Sympathien für die neue afghanische Regierung („Taliban“) zu hegen. Und trotzdem schmerzt so gut wie die gesamte Berichterstattung über das Regime, gerade im Vergleich zum doch recht gemäßigten Umgang mit Saudi-Arabien. Dort nämlich geht es nach innen hin wohl ziemlich ähnlich zu, doch die Taliban führen immerhin keinen Krieg nach außen, schon gar nicht einen in der Liga des Gemetzels im Jemen.

    Aber selbst wenn sich JournalistInnen in patriotischer[1] Botmäßigkeit verpflichtet fühlen, den Krieg zu rechtfertigen, den unsere Regierungen mit breiter publizistischer Unterstütztung in den letzten zwanzig Jahren „am Hindukusch“ geführt haben: Wenigstens etwas Sorgfalt sollten sie walten lassen. Auf Seite 9 der taz vom 24.8.2021 ist das ganz offenbar nicht passiert. Während Finn Mayer-Kuckuk vierspaltig einen „Rückfall in den Handel mit Drogen“ drohen sieht, stellt der Agenturartikel in der fünften Spalte klar, dass bereits das von „uns“ befreite Afghanistan 85% des Weltbedarfs an Opiaten gedeckt hat:

    Oben: „Es droht ein Rückfall in den Handel mit Drogen“.  Unten: „Afghanistan produziert UN-Angaben zufolge rund 85 Prozent des weltweit hergestellten Opiums“

    Rechte bei der taz; hier verwendet unter… Satireprivileg?

    EinE gutE LektorIn hätte es gemerkt.

    Wo ich schon über Afghanistan spreche, möchte ich noch kurz ein Standbild aus der Tagesschau vom 28.8.2021 zeigen:

    Eingang zum „Hamid Karzai International Airport“

    Rechte wahrscheinlich bei der Tagesschau.

    Das entscheidende Detail hier ist: Das alte Regime war unbescheiden genug, den Flughafen nach dem immerhin noch lebenden und (z.B. nach der Lebenserwartung der Untertanen bemessen) gewiss nicht sehr erfolgreichen Ex-Präsidenten Hamid Karzai zu benennen. Nur mal so als ein Datenpunkt zur Erklärung, warum die Regierung, die „wir“ dort 20 Jahre lang installiert hatten, noch vor „unserem“ Abzug so ostentativ kollabiert ist.

    Zum Abschluss hätte ich einen Buchtipp in dem Zusammenhang: Cockburn, A. und St. Clair, J., 1998: „Whiteout: The CIA, Drugs, and the Press“, London, New York: Verso (verfügbar in der Imperial Library of Trantor). Der Guardian hat es damals rezensiert mit:

    A history of hypocrisy and political interference the like of which only Frederick Forsyth in a dangerous caffeine frenzy could make up.

    Dem kann ich zustimmen.

    [1]Wo ich es schon von Patriotismus habe, will ich einen Aufkleber lobend erwähnen, den ich neulich in Hamburg-Wilhelmsburg gesehen habe: „Wer als Patriot*in losläuft, kommt als Faschist*in an“. Wenn nur das Wetter nicht so lausig wäre in der Gegend – mensch könnte da fast hinziehen wollen.
  • Die Gewinne privatisieren, die Verluste sozialisieren

    Selbst die verbohrtesten Marktradikalen erinnern sich plötzlich an „die Gesellschaft“, wenn irgendwo Verluste drohen; die Privatisierung von Profiten (z.B. Mobiltelefonie oder Postdienst in Städten) bei Sozialisierung von Verlusten (z.B. Mobiltelefonie oder Postdienst auf dem Land) ist Grundpfeiler des „Neoliberalismus“[1].

    Ein schönes und halbwegs aktuelles (November 2019) Beispiel ist die „Mobilfunkstrategie“ des Bundes, der 1.1 Milliarden Euro ins Schließen von Funklöchern stecken will; vernünftig wäre ja, statt dreier löchriger privater ein flächendeckendes öffentliches Netz zu betreiben, bei dem die TelefoniererInnen in den Städten die am Land subventionieren würden. Aber das würde die religiösen Gefühle der Marktgläubigen verletzen. Das geht nicht.

    Das Prinzip der Sozialisierung von Verlusten hat heute morgen ein Jörg Asmussen, seines Zeichens „Hauptgeschäftsführer beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft” (was tut eigentlich ein Hauptgeschäftsführer, das ein Geschäftsführer nicht tut?), in entwaffnender Ehrlichkeit illustriert, als er in einem Deutschlandfunk-Interview erklärte:

    Um von hinten anzufangen: Ein Prozent der Gebäude ist in der Tat nicht versicherbar gegen Elementarschäden. Da muss man sicher eine gesamtgesellschaftliche Lösung finden. 99 Prozent sind versicherbar und, ich glaube, auch zu akzeptablen Kosten. [...] Das Ein-prozent-Problem ist in der Tat existent.

    Im Klartext: Mit 99% der Häuser können wir ein Geschäft machen – zumal wir bei denen ohnehin nur sehr selten bezahlen müssen –, das restliche Prozent – die nämlich, bei denen erwartbar Schäden eintreten, die Einzelpersonen regelmäßig überfordern – lohnt sich nicht für uns, die soll der Staat übernehmen. Klingt das nur in meinen Ohren so dreist?

    Wobei Versicherungen natürlich insgesamt so ein Thema sind. Das Land Baden-Württemberg zum Beispiel hat sich, als ich das letzte Mal damit zu tun hatte, grundsätzlich nicht versichert, und die Argumentation ging etwa so: Wir sind so groß, dass jede Sorte Schadensfall fast sicher auftritt. Damit kann uns aber eine Versicherung gar keine Wette gegen dessen Eintreten[2] anbieten, die für uns vorteilhaft ist. Daher gleichen wir solche Schäden lieber gleich intern aus. Das spart Geld, weil zwischen Geldquelle (Land BaWü) und Geldsenke (Land BaWü) nicht noch die Versicherung ihre Kosten und ihren Profit abschöpft.

    Das ist (modulo Bürokratiedefizite) exakt richtig: Versicherungen sind ganz schlicht eine kostspielige Art, Mängel im gesellschaftlichen Solidarsystem auszugleichen. Wenn das Land den Solidargedanken von seinem Apparat auf alle BügerInnen ausweiten würde, könnten wir einen Haufen Arbeitsplätze einsparen: Die von VersicherungsvertreterInnen, von den Leuten, die deren Werbung designen, die vieler der Leute, die die „Schadensregulation“ behandeln, die der Leute, die die hässlichen Versicherungs-Hochhäuser bauen und so fort.

    Zugegeben: Dieser klare Gedanke wird bei, sagen wir, Haftpflicht-Versicherungen in der Realität an sinnlosen, aber bis zum Ausbau des Bildungswesens wahrscheinlich unvermeidlichen Neid- und Missgunstdebatten („was muss der Typ auch heimwerken?“) scheitern. Speziell bei Naturkatastrophen ist das jedoch ersichtlich kein (großes) Problem: Die generelle Hilfsbereitschaft ist eigentlich immer so groß, dass der Staat in diesen Fällen weit besser und billiger arbeiten wird als Versicherungen, während zwischen Katastrophen keine Grundkosten für den Verkauf und die Verwaltung von Policen anfallen.

    Tatsächlich ist aber die Ablehnung, die 1% zu versichern, die es wirklich bräuchten, nicht nur frech, sondern auch ganz realistisch. Denn angenommen, wir haben die Fluten der letzten Wochen und noch einen Faktor 10 drauf – sowas kommt ganz sicher irgendwann, und wenn es ein explodierendes Eifelmaar ist: Selbst eine Allianz würde damit nicht fertig. Das kann nur eine Gesellschaft als Ganzes schultern, und das Aufräumen und Wiederaufbauen ist nicht durch Sparen und Kapitalanlage hinzubekommen. Sowas geht nur durch aktuelle Arbeitskraft und mithin dem, was bei der Rente „Umlageverfahren“ heißt.

    Die Versicherer können also mit größeren Naturkatastrophen gar nicht wirklich umgehen. Verlangt ja auch niemand, der/die ganz bei Trost ist. Nur sollen sie dann bitte auch nicht daran (und der Angst vor ihnen) verdienen wollen.

    [1]Das steht hier in Anführungszeichen, weil der – ganz nebenbei von sehr autoritären HerrscherInnen wie Pinochet, Thatcher und Reagan durchgesetzte „Neoliberalismus“ dem zwar schon etwas ramponierten, aber an sich doch ganz akzeptablen „liberal“ einen wirklich hässlichen Klang gibt. Das ist übrigens eine interessante Sorte von missglückter Antisprache, die auch mal einer Untersuchung harrt.
    [2]Ja, eine Versicherungspolice kann sehr gut als Wette analysiert werden: Die Versicherung wettet, dass ein Ereignis nicht eintritt (z.B. ein Unfall bei einer Unfallversicherung; oder ein später Tod bei einer Rentenversicherung). Wenn sie gewinnt, streicht sie die Prämien ein. Verliert sie die Wette, muss sie die Versicherungssumme zahlen. In diesem Sinne wären Versicherungen, die einen großen Zirkus bei der Schadensregulierung machen, einfach schlechte Verlierer…
  • Sport ist rechts

    Die titelgebende These wirkt in dieser knappen und etwas apodiktischen Form vermutlich etwas steil, zumal blütenreine Linke wie Klaus Theweleit Fußballfieber gestehen und weniger prominente, aber nicht minder glaubhafte Linksradikale als Ultras hingebungsvoll Fahnen schwingen. Zwischen den sportlichen Großevents des Jahres – Männerfußball in Europa und Südamerika sowie die Olympiade – möchte ich dennoch gerne für sie argumentieren, engelszünglend eintretend für jedenfalls ein wenig ironische Distanz zu Leistungshunger und Hymnenkult.

    Zu meiner Untersuchung der These braucht es eigentlich nur eine Arbeitsdefinition von „links“ oder „fortschrittlich“. Spätestens seit der französischen Revolution hat sich da „den Grundwerten Freiheit, Gleichheit und Solidarität[1] zu gleichen Teilen verpflichtet“ bewährt. Vorsorglich: Natürlich gibt es vieles, das diese Grundwerte fast gar nicht berührt. Die Entscheidung zwischen Musik von Richard oder einem der Johann Sträuße zum Beispiel, oder die zwischen Toast- und Vollkornbrot. Das ist dann „unpolitisch“, jedenfalls, solange mensch nicht allzu tief bohrt.

    „Sport“ allerdings – im durch Sportfernsehen und -vereine bestimmten Sinn – kollidiert recht fundamental mit jedem einzelnen Grundwert. Das erklärt auch zwanglos, warum SportfunktionärInnen ziemlich durchweg rechts denken (Ausnahmen wie die Crew St. Pauli bestätigen die Regel eben durch ihre Exotik) und auch entsprechend organisiert sind. Mein Lieblingsbeispiel dafür bleibt Gerhard Mayer-Vorfelder, zu verschiedenen Zeiten seines Lebens DFB-Chef und persönlicher Referent des Nazirichters Filbinger.

    Gegen Freiheit

    Der erste Gedanke bei Sport vs. Freiheit könnten die vielen barocken Regeln der meisten Sportarten sein. Um mal eine Maßstäbe setzende Norm zu erwähnen: bis 2012 durften Frauen nur in Bikins mit auf ein paar Zentimeter begrenzter Breite des Beinstegs Beachvolleyball spielen (kein Scheiß). Aber nein, solange Menschen sich freiwillig auf Regeln einigen, wäre daran wenig zu kritisieren. Wo Menschen gezwungen werden, Sport zu treiben und die Regeln deshalb keine Gegenstände von Aushandlung mehr sind, ist das Problem nicht im Sport, sondern in den externen Zwangssystemen.

    Nein, wer über Freiheit und Sport nachdenken will, möge ans Heidelberger Neckarufer kommen, wenn gerade Rudertraining ist: Der Kasernenhofton der TrainerInnen lässt keinen Raum für Zweifel[2]. Das ist am Fußballplatz nicht anders als in der Gymnastikhalle oder im Schwimmbad: Der Ton ist immer der von Befehl und Gehorsam. Bei Mannschaftssportarten kommen auch mal zusätzliche Befehlsebenen hinzu, Kapitäne im Fußball etwa, die Gehorsam erwarten und im Zweifel durchsetzen müssen, wenn sie ihren Job behalten wollen.

    Der militärische Drill skaliert zu den bedrückenden Masseninzenierungen sich synchron bewegender TurnerInnen bei Feierlichkeiten autoritärer Regimes zwischen IOK und SED. Das hat, a propos Turnen, Methode; Turnvater Jahn war glühender Patriot und Militarist und verstand seine Turnerei durchaus als paramilitärisches Training mit dem Ziel der Ablösung der ja noch halbwegs fortschrittlichen Potentaten von Napoleons Gnaden durch – nun, de facto jedenfalls die erzreaktionären Regierungen des Vormärz.

    Gehorsam und Schleiferei als Antithesen zur Freiheit sind im Sport kein Einzelfall. Sie sind von Anfang an dabei und prägen das Geschehen um so mehr, je mehr etwas Sport (und nicht vielleicht Spiel, Spazierengehen, Wohinfahren, Beetumstechen, Staubwischen) ist.

    Gegen Gleichheit

    Zum Gegensatz von Sport und Gleichheit ist zunächst wegen Offensichtlichkeit nicht viel zu sagen: in praktisch jeder Sportart geht es darum, wer der/die „BessereN“ sind. Tatsächlich könnte der Wettkampf geradezu als Definition von Sport gelten: Es ist nicht sehr übertrieben, die Grenze zwischen auf Schlittschuhlaufen (kein Sport) und Eiskunstlauf (Sport) dort zu ziehen, wo RichterInnen mit ihren Zahlentäfelchen auftauchen und jedenfalls letztendliche AdressatInnen der Handlungen auf dem Eis sind.

    Wettbewerb charakterisiert Sport auch dann, wenn das private „Sport machen“ – joggen gehen, vielleicht auch mal in die Muckibude – davon eingestandenermaßen nur peripher betroffen sein mag. Selbst dabei scheint die Motivation allerdings oft genug in der Besserstellung in diversen Konkurrenzsituationen (im Zweifel bei der Brautwerbung) zu liegen.

    Sport als Verpackung für Wettbewerb hat übrigens Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft, beispielsweise wenn das positive Image von Sport über schräge Metaphern regelmäßig ansonsten offensichtlich schädliche Politiken („Exportweltmeister“ ist vielleicht das furchtbarste Beispiel) rechtfertigt.

    Die Übersteigerung von Ungleichheit ist der Heldenmythos, bei dem ein einzelner (meist) Mann alle anderen hinter sich lässt und breiteste Bewunderung erfährt. Selbst in China bin ich schon auf Franz Beckenbauer angesprochen wurden, und selbst wenn die Beatles nicht beliebter als Jesus sein sollten, Diego Maradona ist es garantiert. Diese Malaise des Sportbetriebs zumindest haben die ArbeitersportlerInnen während der Weimarer Republik erkannt. Diese betrieben damals im Fußballbereich eine breite alternative Liga gegen den bereits gewohnt rechtslastigen DFB und bemühten sich in der Berichterstattung um mehr Gleichheit:

    man lehnte den „Starkult“ ab, verweigerte „Rekordjagden“, wollte keine „Kanonenzuchtanstalt“ sein. Deshalb wurden viele Jahre gar keine Spielernamen veröffentlicht. In der Presse nannte man stattdessen z. B. „den Rechtsaußen“ oder „den Mittelstürmer“.

    Zu August Postler auf arbeitersport.de

    Empfehlen möchte ich in diesem Zusammenhang die SWR2 Wissen-Sendung vom 29.6.2012, aus der ich von der Existenz der Arbeiterfußball-Liga und ihren journalistischen Mindeststandards erfahren habe.

    All das hatte mit der Machtübergabe an die Nazis ein Ende, zumal sich der DFB bereitwillig gleichschaltete, wenn er schon 1933 erklärte:

    Wir haben mit den ganzen Sozialdemokraten und Kommunisten nichts zu tun und wir sorgen auch dafür, dass weder Juden noch Arbeiter-, ehemalige Arbeitersportler bei uns im Verband offiziell Mitglied werden.

    DLF vom 27.10.2018

    Dem Vorbild des Arbeitersports zu folgen wäre, so schlage ich engelszüngelnd vor, schon mal ein erster Schritt zur Entpolitisierung des Sports: Keine Namen, keine Nationen. Wer sich erinnert, wie Boris Becker quasi im Alleingang die Tennisclubs der Republik gerettet hat, mag sich fragen, wie viel „Breitensport“ ohne nationalen Enthusiasmus eigentlich übrig bleiben würde. Und was davon. Das dürfte dann der unpolitische Teil sein.

    Gegen Solidarität

    Was „Solidarität“ angeht, kann ich mir speziell von meinen Ultra-FreundInnen den empörten Einwand vorstellen: „Aber du hast ja gar keine Ahnung, wie toll der Zusammenhalt bei uns ist. Solidarischer gehts gar nicht.“

    Nun ja. In Abwandlung des Luxemburg-Klassikers ist dazu zunächst festzustellen, dass Solidarität immer die mit den anderen ist, also nicht mit den Leuten der eigenen Gruppe und schon gar nicht denen der eigenen „Nation“. Und dass Solidarität auf jeden Fall mal kritisch ist – Solidarität mit, sagen wir, Bahnchefs heißt eben nicht, bedingungslos zu rechtfertigen, was diese so tun, sondern zu kritisieren, wie sie, neben vieler anderer Menschenfresserei, Leute hinter Autotüren treiben. Das also, was Fangruppen zusammenhält, ist keine Solidarität, es ist Abgrenzung, es ist Gruppenidentität, also das, was so gut wie alle Massenverbrechen der Geschichte – Kriege, Pogrome, Unterdrückung – erst ermöglicht hat (vgl. in diesem Zusammenhang das Minimalgruppenparadigma).

    Solidarität ist genau das Gegenteil von der Bildung von Untergruppen, die sich zu be(wett)kämpfen haben, und sei es über die Ausdeutung von StellvertreterInnen wie in der Leichtathletik. Wer anfängt, Mannschaften zu bilden, wer anfängt, für, was weiß ich, Angelique Kerber zu fiebern, weil sie ja „zu uns“ gehört, hat angefangen, sich aus der Solidarität mit den „anderen“ zu verabschieden statt, wie es Gebot der Solidarität ist, weniger Othering (ist das noch ein populärer Begriff?) zu betreiben.

    Und nun?

    Nach all dem verwundert wohl nicht, dass sich so gut wie alle rechten Ideologeme recht direkt im Sport wiederfinden, von Nationalismus (die Hymnendebatten scheinen ja mal wirklich aus einem anderen Jahrhundert zu kommen) über Homophobie (eine kommerzielle Fußballseite dazu) bis Sexismus (selbst wenn mensch an zwei Geschlechter und das Wundermittel Testosteron glaubt, kann wohl niemand die Geschlechtertrennung beim Schießen plausibel machen).

    Heißt das, dass Linke besser nicht joggen sollten? Am besten jede Anstrengung meiden? Nö, sicher nicht. Es geht hier nicht um Fleißpunkte oder moralische Reinheit. Wer mag, darf ja auch an James Bond-Streifen Spaß haben, die vergleichbar viele rechte Ideologeme bedienen. Zumindest aber im Kopf sollte mensch schon haben, dass Sportkonsum schlüpfriger Boden ist – nicht umsonst fanden die ersten größeren Angriffe auf Geflüchtete in der „neuen“ BRD nach dem Endspiel der Männerfußball-WM 1990 statt.

    Wer selbst läuft oder tritt, ist vielleicht in geringerer Gefahr. Aber dennoch: im Hinblick auf die Welt nach uns wärs schon besser, die Alltagswege mit dem Fahrrad zurückzulegen und das Gemüsebeet zu hacken als mit dem Auto in den Wald oder die Muckibude zu fahren.

    Klar, die soziale Symbolik dabei muss mensch aushalten wollen: „Ist der so arm, dass er kein Auto hat?“ Dazu will ich abschließend kurz auf den Ursprung unseres modernen Sportbegriffs eingehen, soweit ich ihn überblicke. Die gehobenen britischen Kreise im 18. Jahrhundert nämlich kamen wohl zur Einsicht, es gehe nicht so ganz ohne Bewegung und Anstrengung. „Nützliche“ Bewegung, körperliche Arbeit zumal, würde aber den Verdacht erregen, mensch habe es nötig, sei also nicht wirtschaftlich erfolgreich, mit anderen Worten: arm.

    Sport wäre dann schon im Ursprung die Demonstration von Wohlstand, wichtiger: Nicht-Armut. Ich muss nicht körperlich arbeiten, ich habe immer noch genug Zeit, mich sinnlos auszutoben, aber auch die Disziplin, mich dabei klaren Regeln zu unterwerfen, und ich habe obendrein das Geld für die tollen Accessoires, die es für Sport X braucht. Wenn ich vor allem am Wochenende durch die Berge hier radele und die Ausrüstung vieler anderer RadlerInnen ansehe, gewinnt diese These massiv an Plausibilität, bis hin zu den Fahrrädern, die oft demonstrativ alltagsuntauglich sind. Die Nachricht scheint zu sein: „Ich habe natürlich wie jeder anständige Mensch ein Auto, dieses Ding hier ist für mich nur Sportgerät.“

    Die damit verbundene zusätzliche Warenproduktion schadet dann aber schon, der …

  • Klarsprache: Private Gewaltanbieter

    Beim Fegen heute morgen habe ich die DLF-Hintergrund-Sendung vom 26.6. über die Verschiebung vor allem westlicher Kriegsführung in private Unternehmen gehört. Und dabei ist mir aufgefallen, dass ich vielleicht gelegentlich mal auch über „Klarsprache“ schreiben sollte. Wo Antisprache Bedeutung annihiliert, bringt Klarsprache die Dinge auf den Punkt. In diesem Fall:

    Derzeit gibt es auf internationaler Ebene zwei Ansätze, das Verhalten privater Gewaltanbieter zu regulieren: Eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen bemüht sich schon länger um eine Konvention, die den Einsatz von Militärdienstleistern generell verbieten möchte. [Der andere ist das Montreux-Dokument]

    Mensch vergleiche: „privater Gewaltanbieter“ versus „Militärdienstleister“.

    Zugegeben, „Gewalt“ ist auch kein besonders klares Wort, es wird ja nun wirklich für alles und jedes eingesetzt, und insofern wäre etwas wie „Mordkommandovermittlung“ vielleicht noch etwas besser. Aber verglichen mit „Dienstleister“ – in dessen Wortfeld sich auch „haushaltsnahe Dienstleistung“ (wozu selbst Menschen in meinem Alter „Perle“ sagen und nicht peinlich finden, dass sie ihre Wohnung nicht selbst staubsaugen können) und „modernes Dienstleistungsunternehmen“ (so sah sich das Heidelberger Studierendenwerk) tummeln – doch von beeindruckender Deutlichkeit.

  • Ich bin auch Hanna

    Seit ein paar Wochen schreiben zahlreiche Uni-Beschäftigte auf befristeten Verträgen über ihren alltäglichen Wahnsinn unter dem Twitter-Hashtag #ichbinhanna. Nun ist mir zwar ein offenes Netz wichtiger als diese eingestandenermaßen erfolgreiche Mobilisierung, und so werde ich nicht mittwittern. Aber ich finde es natürlich klasse, dass ein Thema, das mich seit Jahrzehnten umtreibt, mal wieder etwas Öffentlichkeit bekommt. Deshalb will ich hier ein paar vielleicht nicht ganz offensichtliche Aspekte beisteuern.

    Comic eines Beratungsgesprächs

    So stellt sich das BMBF den Umgang mit Befristungen vor. Links die „Hanna“, die im Befristungs-Werbevideo aus dem Hause Karliczek froh ihre „Karriere“ plant.

    Zunächst bin auch ich Hanna: meinen ersten Vertrag mit der Universität Heidelberg hatte ich 1993, damals als studentische Hilfskraft. Seit ich 2001 von meinen akademischen Wanderjahren zurückgekehrt bin, habe ich dort ununterbrochen jeweils dreijährige Arbeitsverträge als das, was heute in Baden-Württemberg akademischer Mitarbeiter heißt; zusammen komme ich auf ein gutes Vierteljahrhundert befristeter Verträge mit der Uni.

    Und auch wenn ich in all den Jahren mit wechselnder Intensität anstank dagegen, dass weniger als jedeR fünfte MitarbeiterIn in Forschung und Lehre an deutschen Unis einen ordentlichen (also unbefristeten) Arbeitsvertrag hat, versuche ich derzeit mit einiger Intensität, nicht verdauert zu werden. Klingt komisch, ist aber so, und Schuld hat: Der Rechnungshof von Baden-Württemberg, eine Festung von durch keinerlei Sachargumente zu erschütternden festen Glauben an das ganze Spektrum marktradikalen Unsinns.

    Dieser Rechnungshof hat nämlich vor Jahren festgestellt, dass an den Unis im Land viele akademische MitarbeiterInnen mit geringen Lehrverpflichtungen (oder, Gottseibeiuns, gar keinen) beschäftigt waren, während gleichzeitig Hilfskräfte aus den Reihen der Studierenden für Geld rekrutiert wurden, um Teile der Lehre – in Physik und Mathematik vor allem Übungsgruppen – abzudecken. Was ein gestandener Rechnungshöfer ist, kann da nicht zusehen, selbst wenn es nach Maßstäben der deutschen Akademia eigentlich ein prima System war: Die Übungsgruppen waren entspannte (weil normalerweise durch „Peers“ gehaltene) und produktive (weil die Leute, die den Kram erklärt haben, ihre eigenen Schwierigkeiten noch gut vor Augen hatten) Veranstaltungen, die engagierten Studis gleichzeitig die Möglichkeit gaben, erste Erfahrungen in der Lehre zu sammeln und ihr Studium fachnah zu finanzieren. Derweil konnten WissenschaftlerInnen auch an Unis relativ konzentriert forschen, wenn sie das wollten und es ansonsten mit der Lehre reichte (was in Heidelberg mit all den Forschungsinstitutionen in der Umgebung in vielen Fachbereichen nie ein Problem war).

    All das interessierte den Rechnungshof wenig, zumal ungefähr zu dieser Zeit die Urkatastrophe über die Unis hinwegrollte: Die autoritäre Umgestaltung, die reaktionäre WissenschaftspolitikerInnen gemeinsam mit den „Think Tanks“ diverser Content-Hersteller (allen voran natürlich Bertelsmann) unter dem Label „Bologna-Prozess“ vermarktet und durchgesetzt haben – ich habe damals so vergeblich wie eifrig dagegen gepredigt. Damit einher ging ein intensives Kontroll- und Prüfungsregime, dem auch die Übungsgruppen zum Opfer fielen: Was Studis darin tun, beeinflusst jetzt direkt ihre Abschlussnote (während es früher in der Praxis egal war; den Schein hat jedeR bekommen, der/die ihn wirklich wollte). Das hat die Veranstaltungen komplett umgedreht: Von realer und oft hocheffektiver Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten zu einem Instrument schulhafter Büttelei und intensiven Feilschens um halbe Punkte.

    In dieser Situation hat der Rechnungshof dem Wissenschaftministerium sehr nahegelegt, doch all die Leute, die es (also: aus Landesmitteln) bezahlt, für die Büttelei einzusetzen, für die Studis – es geht ja um, wow, Noten! – nicht mehr gut genug waren. Weil ich aber nicht bütteln will, nicht umsetzen, was ich jahrelang bekämpft habe, muss ich sehen, dass ich von Bundes- oder Europamitteln lebe, und weil aus solchen immer noch niemand feste Verträge machen will, heißt das: ich muss die Verdauerung dringend vermeiden. Irre? Klar. Nur, finde ich, nicht von meiner Seite.

    Andererseits bilde ich mir ein, dass ich als Computer-Zauberer mit Rücklagen auch dann keine materiellen Probleme haben werde, wenn das mit den Drittmitteln mal nicht klappen sollte. Das ist für viele andere anders, insbesondere, wenn plötzlich weitere Menschen materiell von ihnen abhängen. Diese Leute werden nicht lange in meinen Projekten arbeiten. Das, zusammen mit wild fluktuierenden Mitteln, die mich immer wieder zwingen würden, Leute, die dennoch bleiben wollen, gerade dann zu feuern, wenn sie gerade richtig angekommen sind (was ich eigentlich nicht kann – und so muss ich aufpassen, dass ich immer gerade genug Drittmittel nur für mich bekomme), ist das eigentliche Problem, das ich mit der Befristeritis habe: Mensch arbeitet fast permanent mit AnfängerInnen, und das tut keinem Projekt im Wissenschaftsumfeld gut.

    Ich wünsche also den #ichbinhanna-Leuten alles Gute. Auf ein paar großväterliche Feststellungen kann ich aber dennoch nicht verzichten:

    • Ohne eine entscheidende Rückverlagerung von wettbewerblich vergebenen Mitteln in verlässliche Etats der Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen wirds nicht gehen. Aus nur temporär verfügbaren Mitteln entstehen auch nach TzBfG keine Dauerstellen; dieses Gift ist längst aus den Hochschulen in die Restgesellschaft durchgesickert.
    • Würde diese Grundfinanzierung einfach nur an „die Unis“ gehen wie sie jetzt sind, würde sie genau an die Profen gehen, die die derzeitige Misere recht weitgehend zu verantworten haben und das Gewäsch aus dem Hanna-Video in ihrer breiten Mehrheit exakt so vertreten. Mit anderen Worten: um die Befristeritis zurückzudrängen, braucht es auch eine grundlegende Hochschulreform, die insbesondere Profen aus den Leitungsfunktionen nimmt und durch Menschen ersetzt, die wenigstens basale arbeitsrechtliche Instinkte haben. Extrapunkte, wenn dabei auch etwas Demokratisierung (also: Abbau von Leitungsfunktionen an sich) rauskommt.
    • KeineR der OrganisatorInnen des bestehenden Systems dürfte sich viele Illusionen gemacht haben darüber, wie beschissen das für die Betroffenen aussieht und wie kontraproduktiv für die Wissenschaft das alles ist. Wenn sich etwas ändern soll, wird es also mit freundlichen Petitionen und Hinweisen über Twitter nicht getan sein.

    Dieser letzte Punkt verdient noch eine Handvoll Worte mehr: Die klassische Aktionsform abhängig Beschäftigter ist der Streik, und ich behaupte kühn, dass es auch für uns Uni-Prekariat kaum ohne gehen wird. Sage keineR, es merke sowieso niemand, wenn er/sie streike: Allein das entschiedene Nein, das eine organisierte Arbeitsverweigerung den Hochschulen vorhält, wird diese – und in der Folge auch die Ministerien – bereits in Gang setzen. Sicher nicht beim ersten Mal, aber wenn so eine Mobilisierung über ein paar Jahre nicht verschwindet, wird die Hierarchie das nicht ignorieren – es geht ja schließlich um relevante Teile ihres eigenen Nachwuchses.

    Ein Streik gegen das WissZeitVG, gegen die Drittmittelisierung der Wissenschaft, gegen die autoritär geführte Profenhochschule: Das wäre ein politischer Streik, der in Deutschland verboten ist (kein Scheiß). So ein Verbot (mit der Folge u.a. fehlender gewerkschaftlicher Unterstützung) muss natürlich kein Hindernis sein, aber angesichts der totalen politischen Agonie des Uni-Mittelbaus in den letzten dreißig Jahren wäre es schon ein ziemlich großer Sprung von Null auf wilden Streik („accountancy to lion taming“).

    Vielleicht wäre ein vernünftiger erster Schritt doch erstmal der Beitritt zur GEW (auch wenn die manchmal nervt) und dann ein ganz ordentlicher, amtlicher Streik in Tarifangelegenheiten. Schon seit Jahrzehnten gibt es den Gedanken, für befristet Beschäftigte eine tarifliche Risikozulage von 10% herauszuverhandeln, was verglichen mit Hochschulreform, Bologna-Ende und Umsturz der Wissenschaftsförderung ein ganz realistisches Ziel ist – und vermutlich die Zahl allzu obszöner Befristungen schon ein wenig reduzieren würde. Das einzige, was es dafür braucht: Hinreichend viele streikbereite Mitglieder an den Hochschulen. Ohne die lachen die TVL-VerhandlerInnen der Gegenseite unsere TarifunterhändlerInnen nur aus.

    Also: Unsere Kraft ist die Gewerkschaft. Ganz klassisch.

  • Antisprache: Extremismus

    „Extremismus“ ist sozusagen die Mutter aller Antisprache, Sprache also, die entworfen ist für Kommunikation, die bei gelungenem Sprechakt bei den EmpfängerInnen Information zerstört statt bildet.

    Entsprechend viele haben sich um Abrüstung des Begriffs (und der verwandten „Hufeisentheorie“) bemüht. Schon 2007 etwa schloss sich die Grüne Jugend der damals populären Strömung „gegen jede Extremismustheorie“ an (Abschnitt 9.1 im damaligen Selbstverständnis) – gerade bei denen bemerkenswert, denn 14 Jahre später werden die Leute, die das damals geschrieben haben, allmählich in die Parlamente gekommen sein, die die Etats der Inlandsgeheimdienste („Verfassungsschutz“, VS) abnicken.

    Das ist relevant, denn ohne den VS gäbe es ziemlich sicher gar keinen „Extremismus“. Diese These ist weniger steil als sie klingt. Als ersten Hinweis biete ich mal, dass zu keiner Zeit mehr Gerede über „Extremismus“ im Blätterwald raunt als gerade jetzt, wo der Bundes-VS mal wieder seinen „Bericht“ (ich wollte nicht „Kampfschrift“ schreiben, aber Bericht ohne Anführungszeichen fand ich jetzt auch nicht treffend) vorgestellt hat.

    Tatsächlich haben mich schon neulich zwei Nachrichten inspiriert, endlich mal einen Antisprache-Post über das E-Wort zu schreiben. Erstens hatte der Deutschlandfunk am 9. Juni:

    Die russische Justiz hat mehrere Organisationen des inhaftierten Kremlkritikers Nawalny endgültig verboten. Ein Gericht in Moskau stufte die Vereinigungen als extremistisch ein.

    und dann, am 10. Juni:

    Das [hessische] Landeskriminalamt durchsuchte die Wohnungen und Arbeitsplätze von sechs Mitgliedern des Spezialeinsatzkommandos. [...] Ermittler waren den Angaben zufolge im Rahmen einer anderen Untersuchung zufällig auf die rechtsextremen Handynachrichten gestoßen.

    Was haben Nawalny und die hessischen Polizisten mit Nazineigungen gemeinsam? Gemeinsam mit, sagen wir, den Leuten, die den Weiterbau des offensichtlichen Irrsinnsprojekts A49 im Dannenröder Forst verhindern wollten und die auch unter dem Label „Extremismus“ in den Fokus der Geheimdienste wie unter Polizeiknüppel kamen?

    Nur eines: Sie sind den jeweiligen Regierungen ernsthaft unangenehm. Das, und nichts anderes, ist die eigentliche (für weiter unten: „wissenschaftliche“) Bedeutung von „Extremismus“.

    Gut, die meisten Leute, die von „Extremismus“ reden, geben sich große Mühe, von dieser Bedeutung abzulenken. Die sinnzerstörende Wirkung entfaltet das Wort tatsächlich nur, wenn das diffuse Grauen im Angesicht von Nazi-Polizisten, die quälen, wen sie als „Ausländer“ oder Linke einschätzen gegen die netten Leute vom Danni eingesetzt werden kann (oder halt, wenn ihr Putin seid, gegen Querulanten wie Nawalny). Und das ist wichtig, denn gerade die Danni-Leute (und in Russland wahrscheinlich eben auch eine Figur wie Nawalny) werden von allen außer den betonköpfigsten Schurken geliebt. Ohne den Aufruf von Bildern blindwütig mordender IS-Gläubischer (oder muttermordender Nazispinner aus Hanau) ist robuste staatliche Reaktion – sagen wir, wochen- (Danni), monate- (auch Danni) oder jahrelanges (Nawalny, nochmal Danni) Wegsperren – in solchen Situationen in der Öffentlichkeit schwierig zu verkaufen.

    Nettes und Fortschrittliches mit Fiesem und Reaktionärem verrühren und damit diskreditieren: Das ist die Nettowirkung des Extremismusbegriffs. Wenig überraschend kommt er genau aus der fiesen und reaktionären Ecke, nämlich aus den damals noch intensiv von Altnazis durchsetzten Verfassungsschutzbehörden. Anfang der 1970er Jahre machten sie sich erkennbar Sorgen, weil die allgemeine Sympathie für die unter anderem durch die aufkommenden Berufsverbote gepeinigten „Radikalen“ (so hießen die damals; vgl. Radikalenerlass) in dem Maß zunahm, wie die Avantgarde von 68 gesellschaftlicher Mainstream wurde. Da musste was Neues her, zumal der ähnlich verrührende „Totalitarismus“, der gegen realsozialistische Umtriebe noch prima – und noch dazu mit erheblicher Plausiblität – zog, für kiffende Blumenkinder und wenig später bunte HausbesetzerInnen offensichtlich nicht passte.

    Und so wurde der „Extremismus“ im Bericht des BfV von 1973 geboren – wobei ich vermute, dass es international Vorbilder gegeben haben wird. Wenn nicht, würde inzwischen sogar Wladimir Putin dem deutschen Inlandsgeheimdienst nachplappern. Ich kann gar nicht so genau sagen, warum ich diesen Gedanken besonders furchtbar finde.

    Bis heute wird „Extremismus“ als Konzept wie als Wort vom VS genährt. Die scheinbare Glaubwürdigkeit eines so eindeutig antisprachlichen und breit kritisierten Begriffs in der heutigen Zeit wird erzeugt von Männern wie Armin Pfahl-Traughber, Eckhard Jesse und Uwe Backes, die aus dem Umfeld von Geheimdienst und politischer Polizei in die Akademia aufgestiegen sind und dort VS-Berichte durch Zitate adeln – VS-Berichte, deren krudes politisches Gerüst sich umgekehrt auf die aggressive Scheinwissenschaft der genannten Herren (und noch einer Handvoll weiterer) aufbaut. Diese zirkuläre Legitimation funktioniert immerhin so gut, dass taz-Autor Volkan Ağar in der taz von heute dem Bundesinnenministerium vorwirft, der Bundeszentrale für politische Bildung vorgeschrieben zu haben, eine „wissenschaftliche Linksextremismusdefinition“ durch eine des VS zu ersetzen. Der „Wissenschaftler“, zu dessen Produkten übrigens BMI und Bildzeitung selbst die bpb zuvor genötigt hatten: Armin Pfahl-Traughber. Au weia.

    Wie geht es besser? Nun, wie immer: Hinschauen und sagen, worum es wirklich geht. Die PolizistInnen des Frankfurter SEK sind eklig nicht, weil sie der Regierung peinlich sind, sondern weil sie RassistInnen sind, autoritäre Positionen vertreten, vielleicht AntisemitInnen sind – wer weiß, nachdem ja statt konkreter Information bisher nur „Rechtsextremismus“ im Raum steht? Wäre es nicht wirklich hilfreich, wenn klar wäre, ob es da auch groben Sexismus geht, ob nur um den üblichen Autoritarismus („die Polizei sind die Guten“) oder ob dort auch preppermäßige Putschpläne ausgeheckt wurden?

    Fängt mensch an, solche Fragen zu stellen, zeigt sich auch bald, warum das autoritäre Establishment den „Extremismus“ so sehr präferiert gegenüber dieser Sorte von Hinschauen: Jemand wie Seehofer vertritt offensichtlich erznationalistische Positionen (wenn er sich etwa über Abschiebungen zum Geburtstag freut), Leute, die 2% des Bruttoinlandsprodukts fürs organisierte Töten ausgeben wollen, sind klar MilitaristInnen („Lasst uns Menschen töten, um meine Interessen durchzusetzen“), und wer meint, „Hasskriminalität“ durch mehr Befugnisse für die Polizei beikommen zu können, dürfte sehr offen für autoritäre Gedankengänge sein (eine wirksamere Alternative wäre z.B., die Bildzeitung unrentabel zu machen, die, soweit ich als Vertreter offener Standards das sehe, weit mehr für die Verbreitung von Hass tut als alle Facebook-Trolle zusammen). All diese Dinge sind kritikabel, sogar unappatitlich, führen bei konsequenter Umsetzung in gefährliche Nähe von Faschismus – und nichts davon bewegt sich irgendwo dort, wo der VS „Extremismus“ sieht.

    Die Leute im Danni hingegen wollen glaubhaft größtmögliche Befreiung vom Auto. Sowohl Befreiung als auch weniger Autos sehe wohl nicht nur ich sehr gerne. Und so geht das auch mit vielen anderen „Linksextremismen“: Von Deutsche Wohnen-Enteignung über die Auflösung von NATO und VS über entschlossenere Schritte gegen den Klimawandel und das Massensterben im globalen Süden bis zu grundsätzlicherer Kritik an unseren Produktionsweisen sind die meisten Anliegen sehr gut nachvollziehbar, immer mit dem Herz, sehr oft auch mit dem Hirn. Ohne „Extremismus“ bräuchte es Argumente gegen diese Anliegen. Und die sind entweder schwer zu ersinnen oder entlarvend für die Anliegen der Gegner.

    Ohne „Extremismus“ leben heißt mithin zu fragen, was Leute wirklich wollen und nachzudenken, wie weit das Freiheit, Gleichheit und Solidarität (oder was immer mensch nun als Leitplanken annimmt) voranbringt – oder die jeweiligen Gegenteile.

    Klar, das ist im Regelfall viel mehr Arbeit (insbesondere auch als der schlichte Verweis „vom VS beobachtet“), aber so ist das mit der intellektuellen Ehrlichkeit. Und genauso klar, häufig sind die Ergebnisse nicht so ganz eindeutig, wie etwa bei Alexei Nawalny. An sich mag mensch ja Sympathien hegen für Menschen, die Herr Putin anstrengend findet; ich fürchte aber, angesichts von Nawalnys tatsächlichen Überzeugungen, die kaum weniger autoritär wirken als die der KremlparteigängerInnen, bleibt allenfalls generelle Solidarität gegen Repression übrig als Motivation, ihm irgendwie beizuspringen.

    Nach diesen Worten ist ein Blick in die DLF-Presseschau von heute besonders ernüchternd: Selbst der Süddeutsche, deren Heribert Prantl sich nach dem Auffliegen des NSU den Forderungen nach Auflösung des VS angeschlossen hatte, gelingt allenfalls milder Spott im Angesicht überkritschen Masse von Antisprache im „Bericht“ des Inlandsgeheimdienstes. Alle anderen extremisieren („rechts wie links“ die beim Verbreiten von VS-Material unvermeidliche NOZ, „die Demokratie [und natürlich nicht wie schon seit Jahrzehnten Nichtkartoffeln, Punker und Penner] angegriffen“ beim Tagesspiegel, „Facebook, Telegram & Co [und selbstverständlich nicht Bildzeitung und VS selbst]“ als Jaucheschleudern bei der Südwest-Presse, „Militanz nimmt auch in der linksextremistischen Szene zu“ bei der Mitteldeutschen Zeitung) als gäbe es kein Morgen. Seufz.

  • Antisprache: Geistiges Eigentum

    taz-titelbild

    Der taz-Titel von gestern hat einen guten Teil der aktuellen Diskussion um „geistiges Eigentum“ nicht schlecht subsumiert.

    Ich mag ja hartherzig sein, aber mein größter Schmerz an der derzeit laufenden Diskussion um eine Aussetzung des Patentschutzes für SARS-2-Impfstoffe ist, dass mal wieder alle über „geistiges Eigentum“ (GE) reden. Das ist bitter, weil das Antisprache – also Sprache, die Bedeutung verschluckt statt trägt – ist, die selbst nach Maßstäben von Antisprache großflächig Schaden anrichtet, beginnend bei der Exklusion von Rechnerplattformen via DRM oder der Strom- und Bandbreitenverschwendung durch Streaming. Weit relevanter: ohne die durch den GE-Begriff angerichtete Verwirrung wäre das Massaker kaum vorstellbar, das unsere private Medikamentenproduktion vor allem außerhalb von Pandemiezeiten (ich erinnere nur kurz an den endlosen Skandal Tuberkulosetherapie) anrichtet.

    GE ist Antisprache, weil es so in etwa drei Rechtssysteme, die aus ganz unterschiedlichen Gründen geschaffen wurden, unter einem allgemein bekannten, aber unpassenden Begriff („Eigentum“) zusammenfasst und so zum Verschwinden bringt, wozu die drei Konzepte jeweils geschaffen wurden. Das wiederum ruiniert diese ursprünglich zumindest nachvollziehbaren Zwecke, bis praktisch nur noch „na ja, einer muss halt reich werden dabei“ übrig bleibt.

    Die drei Rechtsbegriffe sind Urheberrecht, Patentschutz und Markenschutz. Zumindest bei zwei davon fällt sofort auf, dass das mit dem „Eigentum“ nicht hinkommen kann, denn sie sind zeitlich befristet, während BGB-konformes Eigentum nur unter recht extremen Umständen verlorengeht, sondern per Erbrecht in gewissem Sinn perpetuiert wird (wozu auch einiges zu sagen wäre – aber es geht hier ja nicht um Eigentum). Beim Markenschutz sieht das anders aus – aber den können sie meinetwegen auch behalten, jedenfalls solange culture jamming nicht gleich ins Gefängnis führt.

    Urheberrecht

    Das Urheberrecht hat seine Wurzeln im 18. Jahrhundert, als sich Gesellschaften allmählich darüber verständigten, dass Kunst auch mal unabhängig von kirchlichen oder adligen MäzenInnen entstehen können soll. Dazu musste die Arbeit der KünstlerInnen in den damaligen (ja, na ja, leider auch den heutigen) Gesellschaften irgendwie entlohnt werden, was letztlich heißt: sie muss handelbare Waren hervorbringen. Bei Kultur, die in aller Regel mit relativ wenig Aufwand vervielfältigt werden kann, ist der übliche Weg zur Warenform die enge Kontrolle öffentlichen Zugangs. Das Urheberrecht ist nichts anderes als die staatliche Garantie auf die Durchsetzbarkeit so einer Kontrolle obwohl es einfach wäre, den Kram breiter verfügbar zu machen.

    Weil im 18. Jahrhunder noch keine Antisprache des Typs GE verwirrte, kam niemand auf die Idee, diese Garantie mit dem Eigentumsbegriff zu belasten. Im Gegenteil: Eben weil das Urheberrecht die Verfügbarkeit von Literatur, Musik und anderen Kulturgütern ohne physischen Grund beschränkt, war seine Befristung ganz zentral. Wenn der Zweck des Urheberrechts – die KünstlerInnen zu füttern – glaubhaft erfüllt war, wurden die Werke in die Gemeinfreiheit entlassen.

    Relativ klar sagt das die wohl älteste Urheberrechtsregelung, die noch in Kraft ist, nämlich Artikel 1, Abschnitt 8, Satz 8 der US-Verfassung. Danach hat das Parlament die Macht,

    To promote the Progress of Science and useful Arts, by securing for limited Times to Authors and Inventors the exclusive Right to their respective Writings and Discoveries.

    Die Antisprache GE versteckt, dass der Sinn des Urheberrechts einzig und allein war, den, na ja, „Fortschritt von Wissenschaft und nützlichen Künsten“ zu fördern, und dass sich die Zeit der Zugangsbeschränktung genau an der Erfüllung dieses Zwecks zu messen hatte.

    Dieser Gedanke ändert viel: Glaubt wirklich jemand, relevante Literatur würde geschrieben, hörbare Musik gemacht, weil jemand auf Gewinn in, sagen wir, fünf Jahren hofft? Hat Ray Davies das schöne Lied von der Village Green Preservation Society (das mir seit Tagen im Kopf herumspukt) aufgenommen, weil seine Töchter (und vor allem spotify) noch 70 Jahre nach seinem Tod die Einnahmen aus Zugangsbeschränkungen erhalten werden?

    Wer solche Fragen stellt, wird vermutlich auf vernünftige Schutzzeiten von fünf oder zehn Jahren kommen, aber ganz gewiss nicht auf die 70 Jahre nach dem Tod des/der SchöpferIn aus dem Micky-Maus-Schutzgesetz. Es ist dieser Diskurs, gegen den sich die Rechteverwerter und ihre ApologetInnen mit der Rede von GE immunisieren wollen.

    Patente

    Während Urheberrechte das Bruttosozialprodukt im Groben steigern (weil Leute Geld ausgeben müssen für Kram, den sie zumindest in Zeiten des Internet praktisch umsonst haben könnten), sind Patente in der Regel schlecht für die Möglichkeiten des individuellen Reichwerdens: wenn einE PatentinhaberIn auf den Rechten sitzt, wird irgendwas im Zweifel nur sehr eingeschränkt hergestellt und nur eine Person wird reich. Das mag diese Person beim Erfindungsprozess motivieren, aber langfristig geht das böse auf die Produktions- und damit Akkumulationsmöglichkeiten.

    Bei komplexen Produkten und Produktionsverfahren wären außerdem bei Schutzzeiten wie beim Urheberrecht so viele Patente zu berücksichtigen (heute noch etwa ein guter Teil dessen, was während des zweiten Weltkriegs erfunden worden ist – die ErfinderInnen sind ja oft noch keine 70 Jahre tot), dass der Kapitalismus zu einem knirschenden Halt kommen würde.

    Und so überrascht es nicht, dass Patente nur für 20 Jahre ab Anmeldung gelten. Warum das Copyright-„Eigentum“ viel heiliger sein soll als das Patent-„Eigentum“, ist nur durch Rekurs darauf erklärbar, dass es sich in keinem Fall um „Eigentum“ handelt, und ihre Grundlage ist genau nicht – wie beim Eigentum – ein staatlicher Schutz für die private Verfügungsgewalt über Gegenstände, die nicht einfach vermehrt werden können. Geht es beim Urheberrecht ums Füttern der AutorInnen, gehts es beim Patentschutz in erster Linie um die Veröffentlichung von Erfindungen, deren breiterer Einsatz sinnvoll sein könnte.

    Während aber viele (beileibe aber nicht alle) InhaberInnen von Urheberrechten diese befürworten, ist das bei Patenten ganz anders: Eigentlich alle, die mit Technik herumfuhrwerken und Dinge basteln, sind von Patenten schwer genervt. Und während das Urheberrecht mit dem Einkommen einiger der SchöpferInnen immer noch zumindest entfernt etwas zu tun hat, sind Patente jedenfalls in meinem Bereich heute klar schädlich für den „Progress of Science“ (oder meinetwegen „Technology“). Das mag im Kernbereichs des Maschinenbaus vielleicht etwas anders sein, aber generell wäre ohne die Antisprache über GE doch recht schnell die Frage nach einer massiven Einschränkung des Patentunwesens auf dem Tisch.

    So danke ich allen verfügbaren GöttInnen, dass meine Universität darauf verzichtet, „Erfindungen“ von mir patentieren zu wollen – das wäre nämlich ihr Recht, und gemessen an dem, was im Software- und Rechnerbereich patentiert wird, gäbe es da ganz gewiss auch genug (na gut: wenn nicht schon wer anders die naheliegende Idee des Tages mit einem breiten Patent erschlagen hätte). Diese Patentverfahren würden Unmengen an Zeit und Energie binden, ohne dass das irgendeinen (gesellschaftlichen) Nutzen hätte, ganz zu schweigen von der Mühe, die ich eigentlich auf die Prüfung verwenden müsste, ob irgendwas, das ich gerade schreibe, von irgendwem patentgeschützt ist; wenn Fortschrittsbalken und One-Click-Shopping patentfähig sind, könnte ich keine nichttriviale Funktion schreiben, ohne eine solche Prüfung durchzuführen.

    Was ich natürlich nicht tue, und daher kommt dann auch mein Dank an höhere Wesen sowie mein weites Umfeld für ihr Desinteresse an Patenten, ganz speziell den Leuten, die in den Ministerien über meine Projektförderung entscheiden. Die Zeitersparnis, den Patentquatsch komplett ignorieren zu können, wäre sicher allen Software-Menschen zu wünschen, und entsprechend ist mir keineE ProgrammierIn bekannt, der/die nicht z.B. die Kampagne gegen Softwarepatente der FSFE wenigstens wohlwollend zur Kenntnis nehmen würde.

    Im Pharmabereich ist der Schaden durch Patente vielleicht nicht ganz so gut erkennbar, wenn auch das Missverhältnis zwischen hunderten von Statinzubereitungen, die westliche KundInnen mit aller Gewalt übergeholfen bekommen, und dem oben erwähnten Massensterben an Tuberkulose ohne nennenswerte private Anstrengungen zu dessen Milderung nicht nur mich zornig macht.

    Da hilft die Gebetsmühle des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller, der Patentschutz sei notwendig zur Entwicklung neuer Medikamente, wirklich nicht. Zunächst lehrt ein kurzer Blick in PubMed – was zweifellos die Forschung im medizinischen Bereich besser abbildet als irgendetwas anderes –, dass publikationswürdige Forschung zu Krankheiten und ihrer Heilung fast ausschließlich mit öffentlichem Geld stattfindet. Sucht nach irgendeiner Krankheit und schaut euch die Affiliations der ersten paar Arbeiten an: Wenn da überhaupt irgendwo privates Geld vorkommt, sind es gemeinnützige Stifungen wie der Wellcome Trust, die die Forschungen ganz sicher nicht wegen der Aussicht auf künftige Patenteinnahmen finanzieren – oder vielleicht noch Leute, die aus der Privatindustrie über ihre letzten Forschungen an Unis und Instituten berichten.

    Erst bei den klinischen Studien kommen die Unternehmen ins Spiel, und auch dann wird in aller Regel noch reichlich öffentliches Geld zugeschossen, etwa über die Kliniken, die die Studien mittragen. Aber gerade dieses System ist besonders kaputt, da trotz öffentlich finanzierter Beteiligung (die dann nicht selten durch Schweigeabkommen – Non-Disclosure Agreements – gebunden ist) fast nur positive Studien veröffentlicht wurden (und eigentlich immer noch werden), was wiederum die Grundlagen der Testtheorie aushebelt und so selbst die gut gemachten Studien entwertet.

    Innerhalb des gegenwürtigen Systems versprechen Studienregister ein wenig Abhilfe. Viel besser wäre jedoch eine staatlich finanzierte Zentralstelle, die solche Studien mit gleichbleibender Abdeckung, Sorgfalt und Publikationsdichte durchführt. Und das gilt selbst dann, wenn diese Zentralstelle am Ende nach dem Vorbild von RKI oder PEI eher nur so halb funktionieren würde. Dann würde natürlich auch noch das letzte irgendwie glaubhafte Argument für die Alimentation der Pharma-Unternehmen durch Patente wegfallen.

    Die Antisprache vom GE ist eine Immunisierung der Industrie gegen solche wirklich nicht fernliegenden Ideen. Was für ein historischen Unglück, dass die Piratenpartei weiland mit dem Thema „geistiges Eigentum ist ein ekliger Kampfbegriff“ überhaupt nicht in die Öffentlichkeit gekommen ist. Das könnte natürlich durchaus mit dem Geschäftsmodell großer …

  • Wenig Neues unter der Sonne

    Eine Hebamme bringt ein Neugeborenes mit Hörnern

    Fantasien zu Impfwirkungen aus dem frühen 19. Jahrhundert (Quelle).

    Im immer wieder großartigen Public Domain Review – den ich schon deshalb mag, weil fast alles ohne Javascript geht – war neulich ein Essay über das Georgian Britain’s Anti-Vaxxer Movement von Erica Eisen; es geht um frühe ImpfskeptikerInnen, und ich fand schon bemerkenswert, wie sehr sich die Motive damalis und der heute ähneln.

    Teils ist das ganz verständlich, weil etwa die Funktionsweisen von Religion historisch ziemlich konstant sind. Insofern wundert die Konstanz des Arguments über Impfen als Interferenz mit Gottes Plan nicht:

    The Small Pox is a visitation from God, but the Cow Pox is produced by presumptuous man: the former was what heaven ordained, the latter is, perhaps, a daring violation of our holy religion.

    —William Rowley, Cow-Pox Inoculation: No Security Against Small-Pox Infection (London: J. Barfield, 1805), 11.

    Umgekehrt ist erschütternd, dass die (zumindest im Fall von SARS-2) offensichtliche Abwägung zwischen möglichem Schaden und manifestem Nutzen häufig immer noch so auszugehen scheint wie unter Verhältnissen, die Eisen so beschreibt und in denen das tatsächlich ganz anders hätte sein können:

    These concerns were not allayed by the poor sanitation and medical standards that sometimes characterized the public vaccination hospitals created to serve Britain’s urban poor: at such places, the vaccines made available to patients often came not directly from cows but from the pustules of vaccinated children in the area, who may or may not have received a thorough medical check before being lanced for their “donation”. As a result, parents were not wholly unjustified in their fears that an injection meant to ward off one deadly disease might simply lead to their child being infected with another one.

    Keine Überraschung ist dabei natürlich die Beständigkeit von Armut als größtem Risikofaktor; zur der modernen Form berichtete neulich der Deutschlandfunk:

    Wo Menschen in beengten Wohnverhältnissen lebten, sei die Gefahr sich anzustecken größer als im großzügig angelegten Einfamilienhaus, sagte er in einer Landtagsdebatte in Düsseldorf. Der CDU-Chef und Unions-Kanzlerkandidat verwies dabei auf das Beispiel Köln, wo im Stadtteil Chorweiler die Inzidenz bei 500 und in Hahnwald dagegen bei 0 liege.

    Aber die wirklich beeindruckenden Parallelen liegen in völlig abseitigen Fantasien über mögliche Impfwirkungen und die Motivationen dahinter: Die gehörnten Neugeborenen aus dem Eingangsbild treffen sich da gut mit den Chips von Bill Gates, und die Angriffe aufs klare Denken gehen auch ganz regelmäßig über imaginierte Bedrohngen von Kindern, etwa im Eingangsbild oder wenn pockennarbige Monstren sie in kleine Minotauren verwandeln

    Insofern: Ein wirklich lohnender Artikel mit, wie üblich beim PDR, vielen schönen Bildern.

  • Wie im Klischee

    Das Bild der EU als „Friedensmacht“, die allenfalls mit etwas Geld die Verhältnisse in der Welt milde verbessert, war natürlich schon immer Quatsch. Die Rücksichtslosigkeit, mit der Kommission und Rat rassistische und neokoloniale Agenden mit Gewalt durchsetzen („gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitk“ oder GASP) sah jedoch zu Zeiten der Lomé-Abkommen durchaus deutlich harmloser aus (wobei auch diese viele Millionen Menschenleben erheblich verkürzt haben dürften [1]).

    Die GASP nun verbindet sich derzeit sehr direkt mit der blutigen Migrationspolitik der EU, beispielsweise im Aufbau von Return Case Management-Systemen. Das sind Verfahren, die der EU Zugriff auf Repressionsdatenbanken der Herkunftsländer von Geflüchteten geben. Damit auch die Regierungen der Herkunftsländer etwas davon haben, finanziert die EU wo nötig deren Auf- und Ausbau, inklusive Vollerfassung der Fingerabdrücke der Bevölkerungen.

    Wie das genau aussieht, und wie nebenbei der sicherheits-industrielle Komplex der EU gefüttert wird, hat im letzten November Privacy International (PI) am Beispiel des Senegal dokumentiert: ein Laden namens Civi.Pol, angesiedelt zwischen Rüstungsindustrie sowie französischem Geheimdienst und Innenministerium, baut eine Fingerabdruckdatenbank für sowohl die dortige Regierung als auch das EU-Deportationsmanagement.

    Nachtrag (2024-02-25)

    Nur, damit keine Zweifel bestehen über die Natur der Regierung, die die EU da aufrüstet: In der taz vom 14.2.2024 wird aus dem Senegal berichtet:

    „Anfangs haben sie gegen Demonstrierende Tränengas eingesetzt, heute sind es echte Kugeln.“ Dann fällt ein Name: Alpha Yoro Tounkara. Der Geografie-Student ist eines der drei Todesopfer der Niederschlagung der Proteste am vergangenen Freitag und ein Freund von Ndeye Magatte Seck

    PI hat den Artikel sehr treffend mit diesem offizielle Pressefoto der EU illustriert:

    Ndiaye und Avramopoulos dinieren

    Bildrechte beim Audiovisual Service der Europäischen Kommission; Nutzung für Zwecke der Verbreitung EU-bezogener Information.

    Hier trifft sich der Außenminister des Senegal, Mankeur Ndiaye, mit dem Migrationskommissar der EU, Dimitris Avramopoulos, und schon auf den ersten Blick ist klar, wer hier wem etwas erklärt, wer finster gucken darf und wer lächeln muss, und dass hier Anweisungen in kleinem Rahmen erteilt werden, die die Öffentlichkeit nichts angehen. Es ist auch kein_e Protokollführer_in in Sicht.

    Das Bild ist von 2016; vermutlich ging es bei diesem Gespräch also nicht direkt um den von PI diskutierten Deal. Dass aber die EU meint, ihre Verhandlungen mit Ländern im globalen Süden so illustrieren zu müssen und zu können, das ist zumindest in meiner Welt schon in sich ein Skandal.

    [1]Literaturtipp dazu: Brigitte Erler, Tödliche Hilfe, Freiburg 1985. Leider auch nicht in der Imperial Library of Trantor.
  • 35 Jahre Tschernobyl

    Sonne hinter Kühlturm

    Noch ein Grund, warum kleine AKWs stinken: Nicht mal klasse Kühltürme (wie den hier in Biblis) gibts mehr.

    Unter den deutschsprachigen Fortune Cookies von Debian sind jede Menge Witze des Typs „Wenn Microsoft Autos bauen würde… müssten wir alle auf Microsoft-Benzin™ umsteigen“ oder ”…würden die Warnlämpchen für Öl, Batterie, Benzin, und Motorschaden durch ein einziges »Genereller Auto-Fehler«-Lämpchen ersetzt.“

    Da wirkt es schon etwas befremdlich, wenn ausgerechnet Bill Gates jetzt Atomkraftwerke bauen will, und zwar jede Menge davon. Sein Laden Terrapower [Vorsicht: CPU-intensive Webseite] versucht, mit dem üblichen Marketing-Dummschwätz („Best-in-class talent“ – wer denkt sich sowas aus? Und meint, auch nur irgendwer würde da nicht nur die Augen verdrehen?) Schmelzsalzreaktoren wieder aus der Kiste klar schlechter Ideen rauszuziehen.

    Wer sich das bei Terrapower verlinkte Interview mit Gates [Vorsicht: Link zu youtube] ansieht, versteht vielleicht, weshalb er da alle Vernunft fahren lässt: Er hat genug Herz, dass ihm die Nöte der ärmeren Hälfte der Welt nicht ganz gleich sind, aber er glaubt zu sehr an Markt und Kapitalismus, um einzusehen, dass es diesen Leuten nicht wegen mangelnder Produktion dreckig geht, sondern wegen Markt, Eigentum und Ungleichheit, gerade auch im Zugriff auf Bildung und Produktionsmittel (sagen wir: der Boden, der entweder unsere Schweine oder ihre Bäuche füttert). Und so kommt er auf den Trichter, dass billigere Energie doch bestimmt den Kapitalismus auf eine weniger menschenfresserische Route bringen müsste.

    Obwohl ich Gates also durchaus halbwegs guten Willen unterstelle, kommt er doch wieder nur mit dem Unsinn, mit dem die Bombenbauer schon in den 50ern versuchten, ihren Atomstaat zu verkaufen (damals heiß das „electricity too cheap to meter“[1]):

    This is just like a candle. Our flame is taking the normal, depleted Uranium, the 99.3% that's cheap as heck and there's a pile of it sitting in [Paducah?], Kentucky that is enough to power the United States for hundreds and hundreds of years. You're taking that and you're converting it to [leicht verschämt] Plutonium, and you're burning that, and we have super-high power densities, we have, you know, total fail... fail-safe. Any reactor that a human has to do something... that's a little scary. [Audio]

    „Total fail-safe“ vom Microsoft-Vordenker und Vater des legendären Webservers IIS hat natürlich nochmal einen besonderen Geschmack, etwa angesichts der Exchange-Katastrophe, von der ich neulich am Rande gestreift wurde. Und dann sollen die Menschen draußen bleiben und... nun, wen genau die nötige Wartung machen lassen? Microsofts Roboter? Und das alles in den Ländern, in denen die vier Milliarden Ärmsten wohnen?

    Das ist so offensichtlich absurd, dass ich mich frage, warum Gates es überhaupt sagt.

    Nur ist das nicht das Thema.

    Wer über Atomkraft nachdenkt, sollte zumächst beim prinzipiellen Alptraum jeder Sorte Technik anfangen: Eine Kettenreaktion ist zunächst immer höchst instabil, denn ein Neutron muss dabei immer ganz genau ein weiteres Neutron erzeugen. Ist es auch nur ein Hauch weniger, geht der Reaktor exponentiell aus. Ist es ein Hauch mehr, geht der Reaktor exponentiell durch. Das ist, ganz prinzipiell, nichts, womit mensch basteln möchte, und das Gegenprinzip zu Gates' „fail safe“.

    Dass herkömmliche (langsame Uran-) Reaktoren überhaupt beherrschbar sind, liegt an einer Laune der Natur, nämlich einer sehr schmalen Neutronen-Absorptionslinie des Uran-238 gerade im Bereich von „thermischen” Neutronen (also welchen mit ein paar hundertstel eV). Nimmt nämlich die Reaktionsrate eines solchen Reaktors zu, wird er heißer, die Linie verbreitert sich thermisch, es kommt zu mehr Absorption von Spaltneutronen, die Reaktionsrate nimmt ab. Nimmt dagegen die Reaktionsrate ab, wird die Linie thermisch schmaler, die Absorption nimmt ab, die Reaktionsrate steigt wieder ein wenig.

    Das ist der wesentliche Grund, warum Brennstäbe ausgewechselt werden lange bevor alles U-235 gespalten ist und weshalb die Wiederaufbereitung schon vor der Zulassung von Mischoxid-Brennelementen (die Plutoium enthalten) nicht völlig unplausibel schien: Irgendwann muss mensch wieder U-238 in die Brennstäbe bringen, um die Regelung zu halten. Das heißt auch: Ein solcher Reaktor wird immer instabiler, je länger er ungewartet läuft. Zu den großen Wundern dieser Welt gehört, dass nicht ständig vernachlässigte Reaktoren durchgehen.

    Nun lassen sich ähnliche lokale Stabilitätspunkte auch künstlich herstellen („negativer Temperaturkoeffizient“), und die Wikipedia erklärt ganz gut, wie sich die Schmelzsalz-Fans das so vorstellen. Aber selbst wenn mensch ihnen diese Ideen abnimmt, sind das in all diesen Fällen nur kleine Dellen an einem langen, exponentiellen Hang einer sich entweder selbst-rückgekoppelt abschwächenden (Puh!) oder verstärkenden Reaktionsrate. Sowas will mensch als technisches Design ganz grundsätzlich nicht, wenns irgendwie anders geht.

    Und natürlich geht es anders, solange lediglich hinreichend Strom in vernünftigem Umfang (also: wenn wir uns komplett sinnlose Stromverschwendung wie die der terrapower-Webseite oder oder offensiv schädliche Stromverschwendung wie Elektroautos sparen) das Ziel ist. Wer sich die Mühe macht, die historischen Kernkraft-Programme in aller Welt anzusehen, wird feststellen, dass immer staatliches Geld und am Schluss das Interesse dahinterstand, die Technologie für die Bombe wenigstens in der Hinterhand zu haben. Plus vielleicht noch die Fantasie, einer politischen Einflussnahme im Stil der OPEC-Aktion nach dem Jom Kippur-Krieg länger widerstehen zu können – nicht ganz zufällig fing der ganz große Geldstrom in die „zivile“ Nutzung der Kernspaltung erst nach 1973 so richtig an. Weder Kosten (die immer exorbitant waren) noch Energieproduktion als solche waren je ein ernstzunehmendes Argument bei Atomprogrammen.

    Dementsprechend könnte mensch Gates' Gerede mit einem Achselzucken vergessen, wenn er mit seinem (natürlich absurden) „helft den Armen“-Narrativ nicht gerade den Staaten im globalen Süden eine Erzählung liefern würde, warum sie auch Bombentechnologie haben sollten. Denn natürlich ist Quatsch, dass bei Schmelzsalzreaktoren keine Proliferationsgefahr bestehe; wer Neutronen im Überfluss hat, kann mit etwas Chemie und vielleicht einer Handvoll Zentrifugen auch Bomben bauen. Punkt.

    Gates selbst räumt das – diskurv geradezu suizidal – ein: „super-high power densities“. Hohe Energie- und damit auch Neutronendichten sind das stärkste Argument gegen diese Sorte von Technik. Wer einen Eindruck von der Rolle von Energiedichte bekommen will (und sich um Umweltsauerei nicht kümmert), kann mal eine vollgeladene NiMH-Zelle (noch besser wäre NiCd, aber das will mensch dann wirklich nicht in die Umwelt pesten) und eine vollgeladene Lithium-Ionen-Zelle in ein Feuer werfen. Eins macht bunte Farben, das andere ein verheerendes Feuerwerk [nur zur Sicherheit: Nein, Feuer ist natürlich sowohl für NiMH als auch für Li-Ion eine ganz schlechte Idee. Lasst da die Finger von]. Beides ist weniger als ein laues Lüftchen gegen die Energiedichte eines Schmelzsalzreaktors.

    Was schließlich auf den zentralen Grund führt, warum mensch Nukleartechnologie in so wenigen Händen wie möglich haben will: Sie ist ein riesiger Hebel. Es gibt fast nichts anderes, mit dem ein einzelner, entschlossener Mensch eine Million andere Menschen umbringen kann. Ein Kilo Plutonium-239, geeignet verteilt, reicht jedenfalls mal, um die alle ordentlich zu verstahlen (nämlich den Jahres-Grenzwert für die Inhalation von α-Strahlern um einen Faktor 25 zu überschreiten). Ein paar Kilo Uran-232 (wie es sich aus Thorium-Brütern – und die braucht es von den Rohstoffreserven her, wenn der Kram eine Rolle bei der Gesamtenergieversorgung spielen soll – gewinnen lässt) reichen für eine richtige Bombe, die mechanisch so einfach ist, dass sie einE entschiedeneR BastlerIn hinkriegen kann. Dieser Hebel ist übrigens nicht nur für sich problematisch; er ist auch der Grund, warum ein Staat in Gegenwart verbreiteter Nukleartechnologie praktisch autoritär werden muss (vgl. Robert Jungks Atomstaat [2]), einfach weil er den Hebel so intensiv bewachen muss.

    Allein wegen dieses riesigen Hebels und der Tatsache, dass Leute auch ohne den gegenwärtigen Modetrend Faschismus immer mal wieder durchknallen will mensch hohe Neutronendichten nicht im Zugriff vieler Menschen haben. Und das heißt: AKWs im breiten, kommerziellen Einsatz [3] sind ein Rezept für Massenmord und autoritäre Staaten.

    Es gibt eigentlich nur eine Technologie, die einen noch größeren Hebel hat: Das ist DNA-Basteln. Mir schaudert vor der Zeit, in der die Leute, die heute Erpressungstrojaner schreiben, die Übertragbarkeit von Windpocken mit der Tödlichkeit der Masernfamilie zusammenprogrammieren und das Ergebnis mit DNA-Druckern und Bioreaktoren in diese Welt bringen können.

    [1]Höchst lesenswertes Buch in diesem Zusammenhang: Hilgartner, S, Bell, R.C., O'Connor, R.: Nukespeak – the selling of nuclear technology in America, Penguin Books 1982. Gibts leider nicht in der Imperial Library, aber dann und wann noch antiquarisch.
    [2]Gibts leider auch nicht in der Imperial Library.
    [3]Wer findet, dass ich hier defensiv klinge: Ja, na ja, ganz ohne erbrütete Radionuklide müssten wir die ganzen Nuklearmedizinabteilungen dichtmachen, und das wäre zumindest in Einzelfällen schon schade. Vielleicht reichen für sowas Spallationsquellen, aber wenn nicht: zwei, drei kleine Reaktoren weltweit wären jedenfalls genug; viel mehr ist es auch heute nicht, was den Krankenhausbedarf an wilden Isotopen deckt.
  • Die autoritäre Versuchung

    Ich werde bestimmt nicht wie Joachim Stamp von „am meisten leiden“ reden, aber ich habe gerade schon ein gewisses Déjà Vu. So, wie 1999 (mit einiger Vorbereitung beim zweiten Golfkrieg 1991) allerlei ehemalige Pazifist_innen auf einmal bestimmte Reste von Jugoslawien bombardieren wollten, tun sich im Zeichen der Coronaprävention viele Menschen mit linkem Hintergrund durch die Forderung nach besonders drakonischem staatlichen Durchgriff hervor.

    Ich glaube, halbwegs zu verstehen, was diese Leute treibt; es ist die autoritäre Versuchung, die schon in meiner Locke-Apologie aufgetaucht ist.

    Die autoritäre Versuchung ergibt sich mit schöner Regelmäßigkeit, wenn Menschen, Gruppen oder auch mal Werte in Konflikt kommen. Es gibt dann, ganz schematisch, zwei Möglichkeiten: Entweder, mensch versucht, den Konflikt zu verringern, die Interessen auszugleichen, oft auch mal, Irrtümer geduldig zu klären („Verhandlungsoption“). Oder mensch unterdrückt den Konflikt, indem die (zumindest in Selbstwahrnehmung) mächtigere Seite die weniger mächtige Seite durch Drohung oder unmittelbare Gewalt zum Einwilligen zwingt („Nötigungsoption“).

    So beschrieben, wird wohl jede_r sagen, mensch solle doch die Verhandlungsoption nehmen. In Wahrheit ist die aber viel Arbeit, mensch muss mit Menschen reden, die weniger Macht und/oder Ressourcen haben als mensch selbst und, wenns ganz blöd kommt, noch ein paar Schritte auf deren Positionen zu machen. Das lästig und dauert.

    Wer auf Nötigungsoption setzt, hat hingegen häufig schnell Erfolg und muss die eigene Position nicht überdenken. Und: mensch hat ganz klar was Handfestes getan, was nicht zuletzt gut aussehen kann (wenn die Zuschauer_innen auch der autoritären Versuchung erlegen sind). Diese Perspektive auf schnelle, vorzeigbare und einfache „Lösungen“ macht die autoritäre Versuchung aus.

    Und die Versuchung ist stark, um so stärker, je weniger die andere Konfliktpartei als aus individuellen Menschen zusammengesetzt scheint. Ein paar Beispiele (ich könnte die Liste fast beliebig verlängern):

    1. Ohne die Drohung mit schlechten Noten bricht angeblich unser Schulsystem zusammen (was ich sogar glaube; so ähnlich sieht es ja mittlerweile auch an der Uni aus).
    2. „Terroristen“ werden mit weit mehr „bekämpft“ als die Menschenrechte hergeben (was immerhin dann und wann Unterhaltungswert hat).
    3. „Soziale Brennpunkte“ bekommen Kameras und extra Polizei (die Kamera mit ihrem panoptischen Potenzial ist überhaupt immer ein guter Hinweis darauf, dass autoritären Versuchungen nachgegeben wurde).
    4. Um arme Menschen, die sich in Bahnhöfen betrinken, kümmern sich „Sicherheitsleute“ (deren Auftreten ist ein ähnlich guter Indikator wie Kameras).
    5. Wenn viele Leute lieber keine Atomkraftwerke am Laufen hätten, prügelt die Polizei die Atommülltransporte schon durch.
    6. Die ganze Organisation unserer Produktion basiert immer noch auf der Drohung mit Hunger und Obdachlosigkeit.

    Angesichts dieser Alltäglichkeiten ist die Frage, warum mensch der autoritären Versuchung nicht nachgeben sollte, naheliegend.

    Die richtige Antwort könnte sich auf Kant berufen: anderen mit Zwang begegnen macht diese zu Mitteln eines eigenen Zwecks und ziemt sich deshalb nicht. Klar ist es etwas gewagt, antiautoritäre Lehren ausgerechnet auf den alten Preußen Kant zurückzuführen, aber doch, die Sorte von Freundlichkeit, die aus seiner Menschheitszweckformel folgt, führt da ebenso hin wie das viel simplere RiwaFiw.

    Es gibt aber auch einen pragmatischen, wegen mir utilitaristischen Grund: autoritärer Umgang funktioniert meistens nicht, jedenfalls nicht so, wie sich die Machthaber_innen das vorstellen – und wenn er funktioniert, hat er meist Nebenwirkungen, die auch diese nicht wollen. Sehen wir uns die Beispiele von oben an:

    1. Sobald die Leute an den Elementen des Zwangs (also den Prüfungen) vorbei sind, vergessen sie alles; und auch davor verwenden sie viel mehr Mühe darauf, den Überwachungsmaßnahmen zu entkommen bzw. sie zu unterlaufen als darauf, irgendetwas herauszubekommen oder zu verstehen [1].
    2. Die Bekämpfung des „Terrorismus“ der letzten 30 Jahre hat ganze Länder verwüstet, die Menschenrechte im Westen gerupft – und doch wachsen die die „Terrorlisten“ von EU, UN und USA stetig, müssen immer neue Menschenrechte der „Terrorbekämpfung“ geopfert werden.
    3. Manchmal „befrieden“ Kameras wirklich einen Platz (oft genug auch nicht) – aber dann geht das unerwünschte Treiben halt ein, zwei Ecken weiter von Neuem los. Zu dem Thema empfiehlt sich insbesondere ein Vergleich zu Kriminalität und Sicherheitsempfinden im Vergleich zwischen BRD (die immer noch eine relativ geringe Kameralast hat) und dem UK, speziell England (das in der Hinsicht nur noch als Karikatur durchgeht).
    4. Vielleicht stinkts am Bahnhof nicht mehr so, aber dann erfrieren die Leute halt.
    5. Nun, die AKWs haben sie am Laufen gehalten. So Kram geht schon autoritär, ja.
    6. Weil ja die Leute „arbeiten müssen“, aber ihr Konsum nicht beliebig steigen kann, sorgt wachsende Produktivität für immer mehr Bullshit Jobs (also: Arbeit, die dem Rest der Gesellschaft eher schadet) – oder Leute lassen sich bezahlen für Kram, den sie so ähnlich ohnehin tun würden, ohne dass er irgendwen füttern oder behausen würde (und ich bin sehr dankbar, dass ich zur zweiten Kategoie gehören darf).

    Ganz besonders augenfällig ist das Versagen autoritärer Methoden natürlich im militärischen Bereich. Zwischen Balkan und Afghanistan haben all die „Einsätze“ deutschen (oder anderen) Militärs kein erkennbares Problem gelöst, aber viele neue Probleme geschaffen.

    Deshalb: Sag nein zur autoritären Versuchung. Mit den „Anderen“ reden, versuchen, ihre Handlungsweisen zu verstehen: Ja, das ist anstrengender, aber es ist richtet im Normalfall viel weniger Schaden an, funktioniert häufig besser, und es ist, was Kant und Emma Goldmann euch empfohlen hätten. Wer könnte so einer Koalition widerstehen?

    Oh, und: Klar will mensch jetzt gerade Kontakte reduzieren. Aber wenn es gegenwärtig wirklich so sein sollte, dass sich haufenweise Leute des Nachts bei Treffen anstecken und das nennenswert zur Ausbreitung von SARS 2 beiträgt, dann dürften das wohl Leute sein, die die Ausgangssperre auch umgangen kriegen. Das gesetzt, wäre es dann wirksamer, herauszufinden, warum diese Leute so einer drastischen Fehleinschätzung bezüglich des eigenen und fremden Risikos unterliegen – oder warum ihnen das einfach wurst ist und wie mensch ihnen wieder aus ihrer zynischen Verzweiflung helfen kann, wenn es so sein sollte.

    [1]Gut: diese Argumentation steht und fällt mit dem Konzept, Zweck der Schule sei, etwas zu lernen. Das ist ziemlich sicher so nicht richtig, aber weil alle so tun, als stimme es, kann ich das in mich da erstmal anschließen.
  • Foltern oder töten?

    Als ich neulich meine Weisheit loswurde, nach der Radikalität wichtig, aber Freundlichkeit wichtiger ist, habe als eine der wichtigen Ausnahmen von „in gesellschaftlichen Fragen bitte nicht zu konsequent“ das Folterverbot genannt – und ich glaube wirklich, dass das unbedingt gelten muss. Aktuelle Illustration: der Taser.

    Elektroschocks sind eine extrem populäre Foltermethode, und Taser sind schlicht Maschinen, um diese kompakt und schnell verabreichen zu können. Punkt. Klar kann es sein, dass mensch als Polizist_in in Situationen kommen mag, in denen Gewalt legitim erscheinen mag. Aber das ist keine hinreichende Rechtfertigung für Folter, genauso wie es, sagen wir, entführte Kinder nicht sind. Rechtfertige Folter in einem Fall, und du bist auf dem klassischen slippery slope: Es wird sich immer noch eine weiterer Fall finden, in dem Folter auch ok, am Schluss gar moralisch geboten ist. Es gibt wirklich genug andere Sorten von Gewalt, die mensch als Polizist_in anwenden kann.

    Die faktische Verletzung des Folterverbots ist der eigentliche Grund, warum mich die grausamen und tödlichen „Pilotversuche“ zu Tasern überall in der Republik so entsetzen.

    Ein weniger dramatischer Grund wird illustriert in der aktuellen Geschichte, nach der eine Polizistin in Minneapolis mal wieder einen Menschen aus Versehen umgepufft haben will: sie hätte sozusagen danebengegriffen, hätte ihr Opfer nur foltern und nicht gleich töten wollen (ok, das mit der Folter hat sie so nicht gesagt, sie bzw. der Polizeichef hat wohl eher von „tasern“ geredet).

    Mal abgesehen davon, dass ich hier guten Gewissens den Preis für die dümmste Ausrede des Monats verleihen kann – wenn Taser wirklich bedienungsgleich mit Polizeipistolen sind, dann müssen sich Hersteller, Beschaffer_innen und Einsetzende Vulkanladungen von Asche aufs Haupt streuen: Das ist genau das Problem. Die Polizistin fand ganz offenbar, sie könne Tasern, weil das „nicht so schlimm” wie Schusswaffen sei und so mit niedriger Schwelle angewandt werden kann. Also: sie fand das nicht nur, sie hat einfach so gehandelt.

    Genau diese Senkung der Hemmschwelle ist, weshalb Taser nicht gebaut werden dürfen und sie schon gar nichts in den Händen von Polizist_innen verloren haben. Sie ersetzen, jedenfalls gemäß der polizeilichen Logik der Minneapolis-Rechtfertigung (und auch der Erfahrung von Amnesty), keine Schusswaffen, sondern sie schaffen eine neue Klasse von scheinbar weniger einschneidender gewaltförmiger Problembehandlung durch die Polizei, und zu allem Überfluss noch eine, die anständige Menschen von Folter nicht unterscheiden können.

  • Kurze Biographien

    Ich lese gerade recht viele der Biographien der Menschen, an die in Heidelberg Stolpersteine erinnern, und dabei ist mir eins ganz besonders aufgefallen: In dieser Zeit war die Ehe offenbar in der Regel das effektive Ende des erzählenswerten Lebens einer Frau.

    Während es nämlich durchaus viele bunte und schon rein vom Text her lange Biographien unverheirateter Frauen gibt – ich erwähne hier nicht erschöpfend Johanna Geißmar, die Schwestern Hamburger, Leeni Preetorius oder natürlich Elise Dosenheimer –, beschränken sich die Geschichten von verheirateten Frauen praktisch durchweg auf geboren, geheiratet, Kinder gekriegt (oder nicht) – und dann entweder deportiert und ermordet oder eben geflohen. Das geht so von den eher wohlhabenden Hochherrs über die kleinbürgelichen Deutschs bis hin zu den intellektuellen von Waldbergs und ändert sich allenfalls für die Sozialdemokratin Käthe Seitz. Bei den meisten der Biographien ist es eher noch ärger als bei diesen Beispielen.

    Nun ist es wahrscheinlich, dass in dem Befund etwas historigraphischer Bias reflektiert ist (also: Was wird überliefert?). Andererseits hat eine Ehe die Möglichkeiten von Frauen tatsächlich drastisch eingeschränkt, bis hin zu Trivialitäten wie einer Kontoeröffnung, und die praktische Erwartung war wohl in aller Regel, dass sie in ihren ehelichen Pflichten aufgingen.

    Was mich daran gerade wirklich verblüfft: Gemäß praktisch der gesamten Literatur (in der es wenig Schlimmeres zu geben scheint als „alte Jungfer“ zu werden) und auch anekdotischer Überlieferung war die Heirat, die „gute Partie“ wesentlichstes Lebensziel der breiten Mehrheit der Frauen von damals. Klar, auch da dürfte die Geschichtsschreibung etwas verzerren. Ganz gegen die tatsächlichen Erzählungen von damals dürfte sie aber nicht stehen.

    Doch wahrscheinlich sollte ich mich nicht sehr wundern. Denn auch heute gibt es offenbar einen relativ breiten gesellschaftlichen Konsens für Dinge, die ganz offenbar im Konflikt mit den Interessen der allermeisten Mitglieder des Gesellschaft stehen: Autopolitik natürlich (will eigentlich wirklich irgendwer täglich Stunden in einem stinkenden Blechkäfig verbringen und endlos Krach machen?), oder die Privatisierung der Rentenversicherung (die für eine deutlich ungleichere Verteilung des für Alte bereitgestellten gesellschaftlichen Reichtums und ansonsten über Quatsch-Investments der Rentenfonds noch für Shopping-Malls überall sorgt), oder halt den ganz fundamentalen Wahnsinn, bei dem der Abbau von Arbeitsplätzen („weniger Leute müssen ihre Zeit mit Zeug verbringen, den sie gar nicht tun wollen“) als gesellschaftliche Katastrophe empfunden wird.

    Oh, falls das nicht offensichtlich ist: Klar kann es eine persönliche Katastrophe sein, gefeuert zu werden. Solange aber vorher und nachher gleich viel hergestellt wird, gilt das nur, weil wir die Warenverteilung an Lohnarbeit gekoppelt haben, und das ist eine Wahl, die wir als Gesellschaft auch anders vornehmen können. Und sollten, in Zeiten, in denen die Produktion so wenig Arbeit braucht, dass, wie David Graeber so treffend beobachtet, Bullshit Jobs die Regel geworden sind.

  • Quatsch + Quatsch = Nichtzuglauben

    Ich mache die Kasse unserer Selbsthilfe-Fahrradwerkstatt URRmEL schon länger als ich mir das eingestehen will. Etwas vergleichbar Absurdes wie heute jedoch habe ich in dieser Eigenschaft noch nicht erlebt: 13,01 Euro für die Hochzeit von Terrorquatsch und Privatisierungswahn.

    Genauer hat der Bundesanzeiger-Verlag dem Verein vor einer Weile eine Rechnung geschickt, und da ich zu Coronazeiten nicht sehr oft zu unserem Postfach komme, habe ich das erst heute gesehen:

    Scan einer Rechnung

    Zunächst hatte ich ja an eine mäßig gelungene Bauernfängerei gedacht, aber es stellt sich raus: Das Transparenzregister gibt es wirklich. Es ist im Zuge des Sicherheitsgesetz-Tsunamis 2017 zusammen mit Netzwerkdurchsetzungsgesetz, Videoüberwachungsverbesserungsgesetz, dem „Bullenschubsparagraphen“ 114 StGB und noch einem runden Dutzend weiterer schlecht gemachter Gesetze zur Einschränkung von Bürgerrechten durch den Bundestag gerutscht.

    Wir wirklich will, kann sich diesen spezifischen Unsinn bei der Wikipedia erklären lassen. Aber viel mehr als die Umschreibung „Terrorquatsch heiratet Privatisierungswahn“ von oben braucht mensch dazu eigentlich nicht zu wissen: Er ist wahrscheinlich immerhin nicht sehr schädlich, jedenfalls verglichen mit den anderen Gesetzen dieses Jahrgangs.

    Exkurs: „Terrorismus“ als Antisprache

    Das Wort „Terrorismus“, diese Gelegenheit kann ich mir nach der Vorlage neulich nicht entgehen lassen[1], ist natürlich destillierte Antisprache, also Sprache, die Informationen verstecken und nicht transportieren will. „Terrorismus“ hat nämlich aus Sicht der Obrigkeit schon immer bedeutet: „wir dürfen auf andere Leute schießen, weil hinreichend viele von unseren Leuten die hassen“. Nicht mehr und nicht weniger.

    Das ist die Bedeutung des Wortes für die Putschisten in Myanmar genauso wie für Lukaschenko in Belarus, ist sie gegenüber „Islamisten“, ob nun Taliban in Afghanistan oder Uiguren in Westchina, gegenüber der UCK (jedenfalls aus Sicht der serbischen Obrigkeit von 1999), landlosen Bauern in Brasilien oder fabrikbesetzenden Arbeiter_innen in Argentinien. Und natürlich sowieso für all die „Innenpolitiker_innen“, die Scheibe um Scheibe von der Menschenrechtssalami absäbeln.

    Was das Wort versteckt: Auch die „Terroristen“ haben meist Gründe für das, was sie tun, und diese Gründe sind oft gar nicht so verschieden von denen, die die Obrigkeiten selbst antreiben: Patriotismus, Frömmigkeit, Streben nach Reichtum dürften ganz vorne dabei sein. Aus dieser Symmetrie folgt dann ziemlich unmittelbar auch, dass Versuche, die zugrundeliegenden Konflikte mit Gewalt zu beseitigen, meist weitgehend aussichtslos sind – und so eine Schlussfolgerung will mensch natürlich weder als Obrigkeit noch als, na ja, Terrorist_in halt ziehen, so sehr sie nach 20 Jahren „Krieg gegen den Terror“ eigentlich unvermeidlich ist.

    Nur zur Sicherheit: Nichts davon will, klar, staatliche oder private Akteure rechtfertigen, die von Patriotismus pp. getrieben werden, und noch weniger die, die deswegen rumballern oder -bomben (lassen). Es heißt nur, dass, solange wir Patriotismus, Religion und Reichtum nicht überwunden haben, die Klassifikation der der anderen Patriot_innen, Religiösen und Armen als „Terroristen“ ganz gewiss nicht weiterhilft.

    Ich kann diesen kurzen linguistischen Exkurs nicht schließen ohne eine Extraportion Befremden zu äußern über die Leichtigkeit, mit der selbst deutschen Regierungen das Wort „Terrorismus“ über die Lippen kommt. Mindestens angesichts der ebenfalls unter dem Label „Terrorismusbekämpfung“ gelaufenen Massakern im von der Wehrmacht besetzten Jugoslawien sollte doch zumindest da etwas mehr Bedacht walten. Sollte. Aber fragt mal eure_n Bundestagsabgeordnete_n, ob er_sie auch nur irgendwas mit Kraljevo oder Kragujevac anfangen kann.

    Verkaufen ohne Bestellung

    Aber zurück zum Thema: In der Gesetzgebung zum Geldwäschegesetz, das das Transparenzregister eingeführt hat, traf nun das semantische schwarze Loch „Terrorismus“ auf die offensichtlich widersinnige, aber erstaunlich vielen irgendwie einsichtige Idee, alles sei besser, wenn es ein Privatunternehmen mache.

    Und deswegen führt das Transparenzregister der Bundesanzeiger-Verlag, ein Laden, der zwar seine ersten 40 Jahre als so eine Art Bundes-Tochter fristete, aber im Rahmen des marktradikalen Rauschs um die Jahrtausendwende (in ein paar Stufen) ausgerechnet an den DuMont Schauberg-Verlag ging, einen der ganz großen Spieler im Kölschen Klüngel. Dass das ohne Ausschreibung passierte, verdient kaum Erwähnung – und klar hätte es eine Ausschreibung auch nicht besser gemacht: Entweder, etwas ist Obrigkeit, dann solls gefälligst auch der Staat machen, oder es ist es nicht, dann muss ich es aber auch nicht bezahlen, wenn ich es nicht bestellt habe. Meint mensch.

    Der Netto-Effekt jedenfalls: Der Terror-Zirkus Transparenzregister, den jedenfalls unsere Fahrradwerkstatt nicht bestellt hat, soll jetzt durch Gebühren finanziert werden von denen, die er transparent zu machen vorgibt.

    Und das sind rapide steigende Gebüren: es ging von 1.25 auf 4.80 Euro in vier Jahren. Sind wir großzügig, ist das eine Verdoppelungszeit von drei Jahren. Damit kostet der Eintrag in knapp dreißig Jahren 100 000 Euro. Auch wenn es nicht so weit kommt: Den Preis für etwas, das Leute zwangsweise kaufen müssen, in dieser Freiheit bestimmen zu können: das ist, soweit es mich betrifft, eine Lizenz zum Gelddrucken.

    Wobei, ehrlicherweise: von den 13 Euro wird wahrscheinlich erstmal nicht viel übrigbleiben, wenn Papier, Versand und Verrechnung bezahlt sind – aber das ist ja gerade der spezifische Wahnsinn: Mal angenommen, so ein Register hätte einen Nutzen, könnte mensch riesige Mengen Geld und Arbeit sparen, wenn dei Mittel nicht über Millionen von Briefen und Call Center und sonstwas eingetrieben werden müssten, sondern irgendwo aus dem BMI-Haushalt kämen. Das bisschen Zusammenführung verschiedener Register müsste dann eigentlich mit einer Million im Jahr drin sein – vermutlich vergleichbar mit den Portokosten des privaten Transparenzregisters.

    La-la-la Servicequalität

    Aber keine Sorge: Steuerbegünstigte Vereine wie unsere Fahrradwerkstatt „können gemäß §4 TrGebV bei der registerführenden Stelle eine Gebührenbefreiung ab dem Zeitpunkt der Antragstellung beantragen. Die Antragstellung kann nach Registrierung ausschließlich über die Internetseite des Transparenzregisters erfolgen.”

    Hab ich probiert.

    Ist nicht einfach.

    Immerhin geht die Webseite ohne Javascript. Das ist schon mal etwas, das ich mit all der Privatwirtschaft im Boot nicht erwartet hätte. Eine offensichtliche Möglichkeit, einen Verein als gemeinnützig zu melden, ist allerdings nicht erkennbar, und „steuerbegünstigt“ oder „gemeinnützig“ kommt bei den FAQ nicht vor.

    Ah: das ist eine Hotline. Ruf ich gleich mal an: „♪♪ ♪ ♪ Wir sind heute nur eingeschränkt für Sie da.“

    Das muss die Servicequalität (noch so ein Stück Antisprache: Qualität) im Privatsektor sein, von der mensch so viel hört.

    Ich habe mal eine Mail geschrieben. Wetten zu Dauer und Art der Antwort nehme ich an.

    [1]Auch wenn das Thema eigentlich schon oft behandelt wurde; vgl. etwa eine Abhandlung im Guardian von 2015
  • Wie aus dem 18. Jahrhundert

    Ich bin ja bekennender Leser von Fefes Blog, und ich gebe offen zu, dass ich dort schon das eine oder andere gelernt habe. Zu den für mich aufschlussreichsten Posts gehört dieser aus dem September 2015, der mir seitdem nicht mehr aus dem Sinn gegangen ist, und zwar wegen der Unterscheidung zwischen Kulturen der Ehre (die mensch sich verdienen und die mensch dann verteidigen muss) und denen der Würde (die mensch einfach hat).

    Der Rest des Posts ist vielleicht nicht der scharfsinnigste Beitrag zur Identitätsdebatte, und klar gilt auch Robert Gernhardts „Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv“ weiter, aber der zentrale Punkt ist: Artikel 1 Grundgesetz ist eine Befreiung von dem ganzen Unsinn von Ehre und insofern ein großer Schritt in die Moderne. Das ist mir so erst damals im September 2015 klar geworden.

    Und seitdem habe ich mich um so mehr gewundert über den Stellenwert, den „Gesicht nicht verlieren“ in „der Politik“ (und das schließt schon Bezirksvorsitzende von Gewerkschaften ein) immer noch hat. Wo außerhalb der Krawattenliga gibt es sonst noch „Ehrenerklärungen“ wie neulich bei der CDU (von vor 20 Jahren ganz zu schweigen) oder kräuseln sich nicht die Zehennägel, wenn jemand wie Westerwelle weiland verkündete: „Ihr kauft mir den Schneid nicht ab“?

    Um so mehr war ich angetan, als zumindest Angela Merkel diese Logik des 18. Jahrhunderts gestern durchbrochen hat und einfach mal „ich hab Scheiße gebaut“ gesagt hat. Und es tröstet etwas, dass zumindest die heutige Presseschau in weiten Teilen nicht das unsägliche Genöle von Vertrauensfragen aus dem Bundestag gestern reflektiert.

    Andererseits: Keine Presseschau ohne fassungsloses Kopfschütteln, wenn nämlich die Süddeutsche schreibt:

    Hätte die Bundesregierung stattdessen selber genug Impfdosen geordert, und zwar nicht zuletzt bei Biontech im eigenen Land, dem Erfinder des ersten Corona-Vakzins, befände sich Deutschland jetzt nicht am Rande der Hysterie.

    Hätte die Süddeutsche gesagt: „dafür gesorgt, dass so oder so alles, was an Abfüllkapazität da ist, anfängt, Impfstoff abzufüllen, sobald absehbar ist, dass es mit der Zulassung was wird“ – ok, das wäre ein Punkt. Das augenscheinlich auch im Ernstfall herrschende Vertrauen in „den Markt“ ist natürlich böser Quatsch. Aber auch überhaupt nichts Neues. Und die Süddeutsche sitzt in dem Punkt in einem Glashaus mit ganz dünnen Scheiben.

    Aber sie redet auch vom „ordern“, was im Klartext heißt: „wir wollen schneller geimpft sein als die anderen“ – das ist, noch klarerer Text, anderen Leuten den Impfstoff wegnehmen. Meinen die Süddeutschen das ernst?

    Ich bin ja ohnehin in den letzten Wochen in der unangenehmen Situation, meine Regierung zu verteidigen. Das habe ich, glaube ich, noch nie gemacht. Aber im schwierigen Lavieren zwischen autoritärem Durchgriff – etwa, alle Leute bei sich zu Hause einsperren – und einem Laissez-Faire, das vermutlich fast eine halbe Million Menschen in der BRD umgebracht hätte, sieht es fast so aus, als hätte der Gesamtstaat (zu dem ja auch Landesregierungen und vor allem Gerichte gehören) so ziemlich den Punkt erwischt hat, den „die Gesellschaft“ sonst auch akzeptiert.

    Warum ich das meine? Nun, so sehr ich gegen Metriken als Bestimmer politischen Handelns bin, gibt die Mortalitätskurve doch eine Idee davon, welche Kompromisse wir eingehen. Das RKI veröffentlicht jeden Freitag so eine, und die im Bericht vom letzten Freitag sieht so aus:

    Mortalitätskurven 2017-2021

    In Worten: Die Gesamtsterblichkeit war im Corona-Jahr nicht viel anders als sonst auch, nur kam der Grippe-Peak halt schon im November und Dezember statt erst im Januar und Februar. Und da wir ja wegen der Grippe in „normalen“ Jahren auch nicht alle das Winterende in Isolation verbringen, war das Level an Isolation und Shutdown, das wir am Ende hatten und das SARS-2 zur Vergleichbarkeit gezähmt hat, offenbar im Sinne „der Gesellschaft“ gewählt.

    Klar: Das hat so wohl niemand geplant. Dass es aber so rausgekommen ist, dürfte nicht einfach nur Zufall sein. „Schwarmintelligenz“ wird den Grund sicher nicht treffen. Aber irgendwas, das nicht furchtbar weit davon weg ist, dürfte die Ähnlichkeit der Kurven wohl schon erklären. Vielleicht: Das, was bei uns von Gewaltenteilung noch übrig ist?

    Ansonsten bereite ich mich schon mal aufs Verspeisen meines Hutes vor, wenn die „dritte Welle“ jetzt doch noch für einen schlimmen Mortalitätspeak sorgt.

« Seite 4 / 5 »

Letzte Ergänzungen