Artikel aus rant

  • Foltern oder töten?

    Als ich neulich meine Weisheit loswurde, nach der Radikalität wichtig, aber Freundlichkeit wichtiger ist, habe als eine der wichtigen Ausnahmen von „in gesellschaftlichen Fragen bitte nicht zu konsequent“ das Folterverbot genannt – und ich glaube wirklich, dass das unbedingt gelten muss. Aktuelle Illustration: der Taser.

    Elektroschocks sind eine extrem populäre Foltermethode, und Taser sind schlicht Maschinen, um diese kompakt und schnell verabreichen zu können. Punkt. Klar kann es sein, dass mensch als Polizist_in in Situationen kommen mag, in denen Gewalt legitim erscheinen mag. Aber das ist keine hinreichende Rechtfertigung für Folter, genauso wie es, sagen wir, entführte Kinder nicht sind. Rechtfertige Folter in einem Fall, und du bist auf dem klassischen slippery slope: Es wird sich immer noch eine weiterer Fall finden, in dem Folter auch ok, am Schluss gar moralisch geboten ist. Es gibt wirklich genug andere Sorten von Gewalt, die mensch als Polizist_in anwenden kann.

    Die faktische Verletzung des Folterverbots ist der eigentliche Grund, warum mich die grausamen und tödlichen „Pilotversuche“ zu Tasern überall in der Republik so entsetzen.

    Ein weniger dramatischer Grund wird illustriert in der aktuellen Geschichte, nach der eine Polizistin in Minneapolis mal wieder einen Menschen aus Versehen umgepufft haben will: sie hätte sozusagen danebengegriffen, hätte ihr Opfer nur foltern und nicht gleich töten wollen (ok, das mit der Folter hat sie so nicht gesagt, sie bzw. der Polizeichef hat wohl eher von „tasern“ geredet).

    Mal abgesehen davon, dass ich hier guten Gewissens den Preis für die dümmste Ausrede des Monats verleihen kann – wenn Taser wirklich bedienungsgleich mit Polizeipistolen sind, dann müssen sich Hersteller, Beschaffer_innen und Einsetzende Vulkanladungen von Asche aufs Haupt streuen: Das ist genau das Problem. Die Polizistin fand ganz offenbar, sie könne Tasern, weil das „nicht so schlimm” wie Schusswaffen sei und so mit niedriger Schwelle angewandt werden kann. Also: sie fand das nicht nur, sie hat einfach so gehandelt.

    Genau diese Senkung der Hemmschwelle ist, weshalb Taser nicht gebaut werden dürfen und sie schon gar nichts in den Händen von Polizist_innen verloren haben. Sie ersetzen, jedenfalls gemäß der polizeilichen Logik der Minneapolis-Rechtfertigung (und auch der Erfahrung von Amnesty), keine Schusswaffen, sondern sie schaffen eine neue Klasse von scheinbar weniger einschneidender gewaltförmiger Problembehandlung durch die Polizei, und zu allem Überfluss noch eine, die anständige Menschen von Folter nicht unterscheiden können.

  • Kurze Biographien

    Ich lese gerade recht viele der Biographien der Menschen, an die in Heidelberg Stolpersteine erinnern, und dabei ist mir eins ganz besonders aufgefallen: In dieser Zeit war die Ehe offenbar in der Regel das effektive Ende des erzählenswerten Lebens einer Frau.

    Während es nämlich durchaus viele bunte und schon rein vom Text her lange Biographien unverheirateter Frauen gibt – ich erwähne hier nicht erschöpfend Johanna Geißmar, die Schwestern Hamburger, Leeni Preetorius oder natürlich Elise Dosenheimer –, beschränken sich die Geschichten von verheirateten Frauen praktisch durchweg auf geboren, geheiratet, Kinder gekriegt (oder nicht) – und dann entweder deportiert und ermordet oder eben geflohen. Das geht so von den eher wohlhabenden Hochherrs über die kleinbürgelichen Deutschs bis hin zu den intellektuellen von Waldbergs und ändert sich allenfalls für die Sozialdemokratin Käthe Seitz. Bei den meisten der Biographien ist es eher noch ärger als bei diesen Beispielen.

    Nun ist es wahrscheinlich, dass in dem Befund etwas historigraphischer Bias reflektiert ist (also: Was wird überliefert?). Andererseits hat eine Ehe die Möglichkeiten von Frauen tatsächlich drastisch eingeschränkt, bis hin zu Trivialitäten wie einer Kontoeröffnung, und die praktische Erwartung war wohl in aller Regel, dass sie in ihren ehelichen Pflichten aufgingen.

    Was mich daran gerade wirklich verblüfft: Gemäß praktisch der gesamten Literatur (in der es wenig Schlimmeres zu geben scheint als „alte Jungfer“ zu werden) und auch anekdotischer Überlieferung war die Heirat, die „gute Partie“ wesentlichstes Lebensziel der breiten Mehrheit der Frauen von damals. Klar, auch da dürfte die Geschichtsschreibung etwas verzerren. Ganz gegen die tatsächlichen Erzählungen von damals dürfte sie aber nicht stehen.

    Doch wahrscheinlich sollte ich mich nicht sehr wundern. Denn auch heute gibt es offenbar einen relativ breiten gesellschaftlichen Konsens für Dinge, die ganz offenbar im Konflikt mit den Interessen der allermeisten Mitglieder des Gesellschaft stehen: Autopolitik natürlich (will eigentlich wirklich irgendwer täglich Stunden in einem stinkenden Blechkäfig verbringen und endlos Krach machen?), oder die Privatisierung der Rentenversicherung (die für eine deutlich ungleichere Verteilung des für Alte bereitgestellten gesellschaftlichen Reichtums und ansonsten über Quatsch-Investments der Rentenfonds noch für Shopping-Malls überall sorgt), oder halt den ganz fundamentalen Wahnsinn, bei dem der Abbau von Arbeitsplätzen („weniger Leute müssen ihre Zeit mit Zeug verbringen, den sie gar nicht tun wollen“) als gesellschaftliche Katastrophe empfunden wird.

    Oh, falls das nicht offensichtlich ist: Klar kann es eine persönliche Katastrophe sein, gefeuert zu werden. Solange aber vorher und nachher gleich viel hergestellt wird, gilt das nur, weil wir die Warenverteilung an Lohnarbeit gekoppelt haben, und das ist eine Wahl, die wir als Gesellschaft auch anders vornehmen können. Und sollten, in Zeiten, in denen die Produktion so wenig Arbeit braucht, dass, wie David Graeber so treffend beobachtet, Bullshit Jobs die Regel geworden sind.

  • Quatsch + Quatsch = Nichtzuglauben

    Ich mache die Kasse unserer Selbsthilfe-Fahrradwerkstatt URRmEL schon länger als ich mir das eingestehen will. Etwas vergleichbar Absurdes wie heute jedoch habe ich in dieser Eigenschaft noch nicht erlebt: 13,01 Euro für die Hochzeit von Terrorquatsch und Privatisierungswahn.

    Genauer hat der Bundesanzeiger-Verlag dem Verein vor einer Weile eine Rechnung geschickt, und da ich zu Coronazeiten nicht sehr oft zu unserem Postfach komme, habe ich das erst heute gesehen:

    Scan einer Rechnung

    Zunächst hatte ich ja an eine mäßig gelungene Bauernfängerei gedacht, aber es stellt sich raus: Das Transparenzregister gibt es wirklich. Es ist im Zuge des Sicherheitsgesetz-Tsunamis 2017 zusammen mit Netzwerkdurchsetzungsgesetz, Videoüberwachungsverbesserungsgesetz, dem „Bullenschubsparagraphen“ 114 StGB und noch einem runden Dutzend weiterer schlecht gemachter Gesetze zur Einschränkung von Bürgerrechten durch den Bundestag gerutscht.

    Wir wirklich will, kann sich diesen spezifischen Unsinn bei der Wikipedia erklären lassen. Aber viel mehr als die Umschreibung „Terrorquatsch heiratet Privatisierungswahn“ von oben braucht mensch dazu eigentlich nicht zu wissen: Er ist wahrscheinlich immerhin nicht sehr schädlich, jedenfalls verglichen mit den anderen Gesetzen dieses Jahrgangs.

    Exkurs: „Terrorismus“ als Antisprache

    Das Wort „Terrorismus“, diese Gelegenheit kann ich mir nach der Vorlage neulich nicht entgehen lassen[1], ist natürlich destillierte Antisprache, also Sprache, die Informationen verstecken und nicht transportieren will. „Terrorismus“ hat nämlich aus Sicht der Obrigkeit schon immer bedeutet: „wir dürfen auf andere Leute schießen, weil hinreichend viele von unseren Leuten die hassen“. Nicht mehr und nicht weniger.

    Das ist die Bedeutung des Wortes für die Putschisten in Myanmar genauso wie für Lukaschenko in Belarus, ist sie gegenüber „Islamisten“, ob nun Taliban in Afghanistan oder Uiguren in Westchina, gegenüber der UCK (jedenfalls aus Sicht der serbischen Obrigkeit von 1999), landlosen Bauern in Brasilien oder fabrikbesetzenden Arbeiter_innen in Argentinien. Und natürlich sowieso für all die „Innenpolitiker_innen“, die Scheibe um Scheibe von der Menschenrechtssalami absäbeln.

    Was das Wort versteckt: Auch die „Terroristen“ haben meist Gründe für das, was sie tun, und diese Gründe sind oft gar nicht so verschieden von denen, die die Obrigkeiten selbst antreiben: Patriotismus, Frömmigkeit, Streben nach Reichtum dürften ganz vorne dabei sein. Aus dieser Symmetrie folgt dann ziemlich unmittelbar auch, dass Versuche, die zugrundeliegenden Konflikte mit Gewalt zu beseitigen, meist weitgehend aussichtslos sind – und so eine Schlussfolgerung will mensch natürlich weder als Obrigkeit noch als, na ja, Terrorist_in halt ziehen, so sehr sie nach 20 Jahren „Krieg gegen den Terror“ eigentlich unvermeidlich ist.

    Nur zur Sicherheit: Nichts davon will, klar, staatliche oder private Akteure rechtfertigen, die von Patriotismus pp. getrieben werden, und noch weniger die, die deswegen rumballern oder -bomben (lassen). Es heißt nur, dass, solange wir Patriotismus, Religion und Reichtum nicht überwunden haben, die Klassifikation der der anderen Patriot_innen, Religiösen und Armen als „Terroristen“ ganz gewiss nicht weiterhilft.

    Ich kann diesen kurzen linguistischen Exkurs nicht schließen ohne eine Extraportion Befremden zu äußern über die Leichtigkeit, mit der selbst deutschen Regierungen das Wort „Terrorismus“ über die Lippen kommt. Mindestens angesichts der ebenfalls unter dem Label „Terrorismusbekämpfung“ gelaufenen Massakern im von der Wehrmacht besetzten Jugoslawien sollte doch zumindest da etwas mehr Bedacht walten. Sollte. Aber fragt mal eure_n Bundestagsabgeordnete_n, ob er_sie auch nur irgendwas mit Kraljevo oder Kragujevac anfangen kann.

    Verkaufen ohne Bestellung

    Aber zurück zum Thema: In der Gesetzgebung zum Geldwäschegesetz, das das Transparenzregister eingeführt hat, traf nun das semantische schwarze Loch „Terrorismus“ auf die offensichtlich widersinnige, aber erstaunlich vielen irgendwie einsichtige Idee, alles sei besser, wenn es ein Privatunternehmen mache.

    Und deswegen führt das Transparenzregister der Bundesanzeiger-Verlag, ein Laden, der zwar seine ersten 40 Jahre als so eine Art Bundes-Tochter fristete, aber im Rahmen des marktradikalen Rauschs um die Jahrtausendwende (in ein paar Stufen) ausgerechnet an den DuMont Schauberg-Verlag ging, einen der ganz großen Spieler im Kölschen Klüngel. Dass das ohne Ausschreibung passierte, verdient kaum Erwähnung – und klar hätte es eine Ausschreibung auch nicht besser gemacht: Entweder, etwas ist Obrigkeit, dann solls gefälligst auch der Staat machen, oder es ist es nicht, dann muss ich es aber auch nicht bezahlen, wenn ich es nicht bestellt habe. Meint mensch.

    Der Netto-Effekt jedenfalls: Der Terror-Zirkus Transparenzregister, den jedenfalls unsere Fahrradwerkstatt nicht bestellt hat, soll jetzt durch Gebühren finanziert werden von denen, die er transparent zu machen vorgibt.

    Und das sind rapide steigende Gebüren: es ging von 1.25 auf 4.80 Euro in vier Jahren. Sind wir großzügig, ist das eine Verdoppelungszeit von drei Jahren. Damit kostet der Eintrag in knapp dreißig Jahren 100 000 Euro. Auch wenn es nicht so weit kommt: Den Preis für etwas, das Leute zwangsweise kaufen müssen, in dieser Freiheit bestimmen zu können: das ist, soweit es mich betrifft, eine Lizenz zum Gelddrucken.

    Wobei, ehrlicherweise: von den 13 Euro wird wahrscheinlich erstmal nicht viel übrigbleiben, wenn Papier, Versand und Verrechnung bezahlt sind – aber das ist ja gerade der spezifische Wahnsinn: Mal angenommen, so ein Register hätte einen Nutzen, könnte mensch riesige Mengen Geld und Arbeit sparen, wenn dei Mittel nicht über Millionen von Briefen und Call Center und sonstwas eingetrieben werden müssten, sondern irgendwo aus dem BMI-Haushalt kämen. Das bisschen Zusammenführung verschiedener Register müsste dann eigentlich mit einer Million im Jahr drin sein – vermutlich vergleichbar mit den Portokosten des privaten Transparenzregisters.

    La-la-la Servicequalität

    Aber keine Sorge: Steuerbegünstigte Vereine wie unsere Fahrradwerkstatt „können gemäß §4 TrGebV bei der registerführenden Stelle eine Gebührenbefreiung ab dem Zeitpunkt der Antragstellung beantragen. Die Antragstellung kann nach Registrierung ausschließlich über die Internetseite des Transparenzregisters erfolgen.”

    Hab ich probiert.

    Ist nicht einfach.

    Immerhin geht die Webseite ohne Javascript. Das ist schon mal etwas, das ich mit all der Privatwirtschaft im Boot nicht erwartet hätte. Eine offensichtliche Möglichkeit, einen Verein als gemeinnützig zu melden, ist allerdings nicht erkennbar, und „steuerbegünstigt“ oder „gemeinnützig“ kommt bei den FAQ nicht vor.

    Ah: das ist eine Hotline. Ruf ich gleich mal an: „♪♪ ♪ ♪ Wir sind heute nur eingeschränkt für Sie da.“

    Das muss die Servicequalität (noch so ein Stück Antisprache: Qualität) im Privatsektor sein, von der mensch so viel hört.

    Ich habe mal eine Mail geschrieben. Wetten zu Dauer und Art der Antwort nehme ich an.

    [1]Auch wenn das Thema eigentlich schon oft behandelt wurde; vgl. etwa eine Abhandlung im Guardian von 2015
  • Wie aus dem 18. Jahrhundert

    Ich bin ja bekennender Leser von Fefes Blog, und ich gebe offen zu, dass ich dort schon das eine oder andere gelernt habe. Zu den für mich aufschlussreichsten Posts gehört dieser aus dem September 2015, der mir seitdem nicht mehr aus dem Sinn gegangen ist, und zwar wegen der Unterscheidung zwischen Kulturen der Ehre (die mensch sich verdienen und die mensch dann verteidigen muss) und denen der Würde (die mensch einfach hat).

    Der Rest des Posts ist vielleicht nicht der scharfsinnigste Beitrag zur Identitätsdebatte, und klar gilt auch Robert Gernhardts „Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv“ weiter, aber der zentrale Punkt ist: Artikel 1 Grundgesetz ist eine Befreiung von dem ganzen Unsinn von Ehre und insofern ein großer Schritt in die Moderne. Das ist mir so erst damals im September 2015 klar geworden.

    Und seitdem habe ich mich um so mehr gewundert über den Stellenwert, den „Gesicht nicht verlieren“ in „der Politik“ (und das schließt schon Bezirksvorsitzende von Gewerkschaften ein) immer noch hat. Wo außerhalb der Krawattenliga gibt es sonst noch „Ehrenerklärungen“ wie neulich bei der CDU (von vor 20 Jahren ganz zu schweigen) oder kräuseln sich nicht die Zehennägel, wenn jemand wie Westerwelle weiland verkündete: „Ihr kauft mir den Schneid nicht ab“?

    Um so mehr war ich angetan, als zumindest Angela Merkel diese Logik des 18. Jahrhunderts gestern durchbrochen hat und einfach mal „ich hab Scheiße gebaut“ gesagt hat. Und es tröstet etwas, dass zumindest die heutige Presseschau in weiten Teilen nicht das unsägliche Genöle von Vertrauensfragen aus dem Bundestag gestern reflektiert.

    Andererseits: Keine Presseschau ohne fassungsloses Kopfschütteln, wenn nämlich die Süddeutsche schreibt:

    Hätte die Bundesregierung stattdessen selber genug Impfdosen geordert, und zwar nicht zuletzt bei Biontech im eigenen Land, dem Erfinder des ersten Corona-Vakzins, befände sich Deutschland jetzt nicht am Rande der Hysterie.

    Hätte die Süddeutsche gesagt: „dafür gesorgt, dass so oder so alles, was an Abfüllkapazität da ist, anfängt, Impfstoff abzufüllen, sobald absehbar ist, dass es mit der Zulassung was wird“ – ok, das wäre ein Punkt. Das augenscheinlich auch im Ernstfall herrschende Vertrauen in „den Markt“ ist natürlich böser Quatsch. Aber auch überhaupt nichts Neues. Und die Süddeutsche sitzt in dem Punkt in einem Glashaus mit ganz dünnen Scheiben.

    Aber sie redet auch vom „ordern“, was im Klartext heißt: „wir wollen schneller geimpft sein als die anderen“ – das ist, noch klarerer Text, anderen Leuten den Impfstoff wegnehmen. Meinen die Süddeutschen das ernst?

    Ich bin ja ohnehin in den letzten Wochen in der unangenehmen Situation, meine Regierung zu verteidigen. Das habe ich, glaube ich, noch nie gemacht. Aber im schwierigen Lavieren zwischen autoritärem Durchgriff – etwa, alle Leute bei sich zu Hause einsperren – und einem Laissez-Faire, das vermutlich fast eine halbe Million Menschen in der BRD umgebracht hätte, sieht es fast so aus, als hätte der Gesamtstaat (zu dem ja auch Landesregierungen und vor allem Gerichte gehören) so ziemlich den Punkt erwischt hat, den „die Gesellschaft“ sonst auch akzeptiert.

    Warum ich das meine? Nun, so sehr ich gegen Metriken als Bestimmer politischen Handelns bin, gibt die Mortalitätskurve doch eine Idee davon, welche Kompromisse wir eingehen. Das RKI veröffentlicht jeden Freitag so eine, und die im Bericht vom letzten Freitag sieht so aus:

    Mortalitätskurven 2017-2021

    In Worten: Die Gesamtsterblichkeit war im Corona-Jahr nicht viel anders als sonst auch, nur kam der Grippe-Peak halt schon im November und Dezember statt erst im Januar und Februar. Und da wir ja wegen der Grippe in „normalen“ Jahren auch nicht alle das Winterende in Isolation verbringen, war das Level an Isolation und Shutdown, das wir am Ende hatten und das SARS-2 zur Vergleichbarkeit gezähmt hat, offenbar im Sinne „der Gesellschaft“ gewählt.

    Klar: Das hat so wohl niemand geplant. Dass es aber so rausgekommen ist, dürfte nicht einfach nur Zufall sein. „Schwarmintelligenz“ wird den Grund sicher nicht treffen. Aber irgendwas, das nicht furchtbar weit davon weg ist, dürfte die Ähnlichkeit der Kurven wohl schon erklären. Vielleicht: Das, was bei uns von Gewaltenteilung noch übrig ist?

    Ansonsten bereite ich mich schon mal aufs Verspeisen meines Hutes vor, wenn die „dritte Welle“ jetzt doch noch für einen schlimmen Mortalitätspeak sorgt.

  • Fortschritt des Monats: Neu-Eichenberg

    Bestimmt nur wegen durch Corona-Beratungen und Terrorgedenken in Brüssel anderweitig gefesselter Aufmerksamkeit lief die Nachricht des Tages nicht in der Tagesschau, sondern nur in der taz.

    Dort wird über die weise Wahl im hessischen Dorf Neu-Eichenberg berichtet, das sich nicht hat beirren lassen von der großen Verwirrung, dass zwar alle das Wochenende nicht erwarten können, aber „Arbeitsplätze“ im allgemeinen Bewusstsein das überragende Ziel privaten wie öffentlichen Handelns zu sein scheinen,

    In Neu-Eichenberg nämlich wollte eine Firma namens Dietz AG groß investieren und damit einem Haufen Menschen viel Arbeit machen. Und zwar wollte sie ein „Logistikzentrum“ bauen, in dem, so die taz, „Onlinefirmen und Paketzusteller“ wirken sollten. Die bisherigen Mehrheitsparteien SPD und CDU (bis vorhin gemeinsam 12 von 15 Sitzen) hatten das bejubelt. Sie verloren deshalb bei den Gemeinderatswahlen am vorletzten Wochenende je 17 und 20 Prozentpunkte. Damit ist die Mehrheit für das „Logistikzentrum“ weg. Weniger Lärm, weniger Arbeit, weniger hässliche Gewerbegebiete: die Bewohner_innen von Neu-Eichenberg bekommen den Engelszüngeln-Preis für den Fortschritt des Monats.

    Das um so mehr, als es ja wirklich ein Segen rundrum wäre, wenn die ganze Paketverschickerei wieder auf, sagen wir, 1% ihres aktuellen Umfangs einschrumpfen würde, denn selbst nach Maßstäben eines Landes, das irgendwas wie ein Siebtel seiner Arbeitskraft ausgerechnet auf die Produktion und den Betrieb von Autos verschwendet, ist die Paketfahrerei eine besonders sinnlose Art, menschliche Lebenskraft zu verschleudern: Erstmal, weil im Netz nach meiner anekdotischen Erfahrung noch mehr nutzloser Plunder vertickt wird als in echten Geschäften, und dann, weil bei der Einzelverschickung ein Haufen echt übler Jobs mitkommen.

    Klar ist jetzt auch der stationäre Handel nichts, wo ich eben mal Traumjobs vermuten würde, aber verglichen mit den Beschäftigungsverhältnissen in allen Kettengliedern der „Logistik“ ist das wirklich Gold (und das nicht nur im Hinblick auf den Tarif). Fast im Ernst: Eine Existenz als Buch- oder Wolle-und-Tee-Händler könnte möglicherweise selbst mir nicht ganz unattraktiv scheinen.

    Go Neu-Eichenberg.

  • Wundern über Schurken

    Vor einer guten Woche habe ich inspiriert von dem, was inzwischen „Masken-Affäre“ heißt[1] gezeigt, wie eine ganz einfache Theorie sehr natürlich erklärt, warum die mittlere Schurkigkeit mit der Hierarchiestufe recht rapide steigt. Für mich eher unerwartet ist diese Masken-Affäre übers Wochenende richtig explodiert, bis hin zum puren Rock'n'Roll, dass Abgeordnete – und dann noch welche von CDU und CSU – wegen Selbstbedienung aus der Fraktion fliegen.

    Noch verdrehter fand ich allerdings heute morgen die Presseschau im Deutschlandfunk:

    • „untergräbt in schwerer Zeit das Vertrauen in die politisch Verantwortlichen” (Südkurier),
    • „trifft das pandemiemüde Land wie ein Donnerschlag” (Neue Osnabrücker Zeitung),
    • „kein kleiner Fehltritt“ (Badische Neueste Nachrichten),
    • „eine moralische Bankrotterklärung“ (Rheinische Post).

    Dieser Chor von Überraschung und Empörung ist deshalb zumindest bizarr, weil alle diese Medien normalerweise feiern, wenn sich „Fleiß und Einfallsreichtum aufs private Fortkommen richten“, wie die Hessische Niedersächsische Allgemeine zum gleichen Thema so schön formuliert – und sich mit dieser zutreffenden Beschreibung des Verhaltens von Nüßlein und Löbel zumindest mal den Preis für den am wenigsten verdrehten Kommentar an diesem Morgen verdient hat.

    Tatsächlich ist Vertreter_innen entsprechender Ideen zumeist mit etwas Mühe die Konzession abzuringen, natürlich sei eine Wirtschaft zu bevorzugen, die in einem gesellschaftlichen Prozess plant, welcher Kram produziert werden soll und wie das mit möglichst wenig Belastung für Mensch („Arbeit“) und Natur hinzukriegen sei. Aber, so ist dann das finale und kaum widerlegbare Argument, das sei nicht zu machen, weil der Mensch schlecht sei und egoistisch und drum, wenn die Wirtschaft nicht auf die Bedürfnisse von ehrgeizigen Schurken ausgerichtet sind, der Hungertod droht.

    Demgegenüber wandele ein moderat regulierter Kapitalismus die Niederträchtigkeit der Einzelnen in den größtmöglichen Nutzen des Staates und in der Folge der Gesellschaft – was unter der Bedingung, dass die Leute, von Mutter Theresa mal abgesehen, durchweg Gesindel sind, oberflächlich plausibel klingt[2].

    Und nun sind genau die Leute, die bei jeder Gelegenheit die Alternativlosigkeit von Markt und Wettbewerb für die Volkswirtschaft aus der Schurkigkeit des Menschen an sich ableiten, empört, weil ihre Vertreter_innen, und zumal die mit dem eklatantesten der-Mensch-ist-schlecht-Programm, bescheißen, so gut sie können. Hm.

    Es war schon lange meine Vermutung, dass die Fähigkeit, rechtzeitig mit den Ableitungen aus den eigenen Ideen aufzuhören, ganz entscheidend ist für die Erhaltung einer, nun ja, konservativen Gesinnung.

    [1]Montag 19:45 gibt es erstaunlicherweise noch keine Wikipedia-Seite „Masken-Affäre“, aber der Relevanzkriterien-Widerstand in der Sache dürfte innerhalb von Stunden bröckeln.
    [2]Jedenfalls solange, bis mensch sich klar macht, dass wir derzeit Jahr um Jahr fossile Kohlenwasserstoffe verbrauchen, die sich innerhalb von einigen 100000 Jahren gebildet haben (sprich: wir durch diese Ressourcen gehen, als hätten wir einige 105 Erden) und trotzdem noch Jahr um Jahr Milliionen von Menschen an Armut sterben.
  • Michel Foucault vs. Corona

    Weil ich es neulich von der GEW hatte: ein weiterer Grund, warum ich 20 Jahre, nachdem es hip war, einen Blog angefangen habe, war eine Telecon im April letzten Jahres und die GEW.

    Na gut, es war nicht direkt die Telecon und eigentlich auch gar nicht die GEW.

    Tatsächlich hatte ich damals aber die erste Lehrsituation im engeren Sinne via Telecon, und kurz danach ich eine Epiphanie dazu, warum sich Lehre über Videokonferenzen so scheiße anfühlt. Dazu habe ich dann einen Artikel geschrieben, den ich, ermutigt von GEW-KollegInnen, gerne in der B&W (das ist die monatlich an alle Mitglieder in Baden-Württemberg verschickte Zeitschrift) untergebracht hätte – so brilliant fand ich ihn. Ahem.

    Nun, was soll ich sagen, die Redaktion war skeptisch, um das mal vorsichtig zu sagen. Ich habe da auch einiges Verständnis dafür, denn im letzten Juni gings bestimmt hoch her in Sachen computervermitteltem Unterricht, und da wären Einwürfe, die Videokonferenzen mit wüsten Folterszenen in Verbindung brachten, bestimmt nicht hilfreich gewesen.

    Aber schade fand ich es doch. Ich hatte aber nicht wirklich einen Platz, um sowas geeignet unterzubringen.

    Jetzt habe ich einen. Und damit: „Wider das Panopticon – Michel Foucault und der Unterricht via Videokonferenz“.

  • Wahlkampfkostenhilfe verdient

    Wahlkampfzeiten finde ich immer sehr anstrengend: Wenn diese Wahlplakate wirken, muss ich wirklich auswandern. Früher konnte ich ja wenigstens noch zum UNiMUT-Wahlplakateranking (2009, 2005, 2004, 2002, 2001, 1998) beitragen und so gleichzeitig Depressionen vorbeugen und ein (wirkungsloses) Fanal gegen den Ranking- und Rating-Unfug setzen.

    Seit es das nicht mehr gab, konnte ich nur noch weggucken, so gut ich konnte.

    Diese Misere ein wenig geändert hat die PARTEI, die es tatsächlich fertig gebracht hat, vor allen Alten- und Pflegeheimen hier „Kosten sparen – Pflege abschaffen“ zu plakatieren, und sie hatten ganz offensichtlich schon eine Ahnung, womit die FDP wohl plakatieren wird:

    Wahlplakate

    Kann ich dafür meine Wahlkampfkostenerstattung direkt der PARTEI zukommen lassen? Wählen muss ich, wenn ich denn mal wissen will, welche Bomben die Polizei in Baden-Württemberg nach §54a PolG BaWü [1] beschafft und was sie damit gemacht hat (und das will ich), leider wen anders...

  • Immerhin gegen Ende

    Wer Mitglied einer DGB-Gewerkschaft ist – und trotz allem rät schon Immanuel Kant dazu –, wird es kennen: Zähneknirschen, wenn wieder mal ganz schlimm reaktionäre Äußerungen von DGB („für die Nation!“), IGM („für das Wachstum!“), BCE („Mehr Kohle!“) oder GdP („ohne Taser für uns seid ihr den Horden mit häufig wechselndem Aufenthaltsort ausgeliefert!“) durch die Öffentlichkeit gereicht werden – wobei die Auswahl nicht andeuten soll, andere Mitgliedsgewerkschaften seien ohne Schuld.

    Ich selbst bin in der GEW, und auch die treibt mir manchmal die Tränen in die Augen, so etwa schon beim Titel der Presseerklärung Solidarisch und verantwortungsbewusst prüfen vom vergangenen Dienstag.

    Da tun sich also GEW und fzs zusammen, um zentral an die Hochschulen zu appellieren,

    unter den derzeitigen Pandemiebedingungen grundsätzlich auf Präsenzprüfungen zu verzichten und stattdessen alternative Formate anzubieten.

    Der schwerste Anwurf folgt sogleich:

    Zu Beginn der Krise war es noch nachvollziehbar, doch dass ein Jahr später immer noch keine digitalen kompetenzorientierten Prüfkonzepte existieren [...] ist unverständlich und hochgradig gefährlich

    Bevor ich den letzten Absatz des Textes gelesen hatte, war ich entschlossen, einen wilden Verriss der Erklärung zu schreiben, doch immerhin fand ich dort, wenn auch recht verzagt, etwas, das in die richtige Richtung geht:

    Zukunftsorientierter wäre es, die Zahl der Prüfungen zu reduzieren [und was dann weiter kommt, tut schon wieder weh]

    Bei allem Verständnis für die Zwänge der wettbewerbs-infundierten Öffentlichkeit: Zumindest mit dieser zahmen Feststellung hätte die Erklärung anfangen müssen, und wenn es geht mit „Mindestforderung“ statt des wortklingeligen und inhaltsleeren „zukunftsorientierter“. Oder besser: „Es braucht Corona nicht, um den Bologna-Prozess als menschenfeindlichen Zirkus kenntlich zu machen, aber was normalerweise nur ärgerlich ist, bringt jetzt jedenfalls potenziell Oma um.“

    Nota bene: Auch das wäre eine zutiefst reformistische Position, verglichen mit dem eigentlich angesagten „Prüfungen sind insgesamt autoritärer Quatsch.“ Aber dass eine GEW sowas nicht sagen kann, erkenne ich gerne an; den sich an so eine Deklaration anschließenden Exodus der Lehrer_innen in den Beamtenbund will eingestandenermaßen niemand haben.

    Dennoch will ich hier ein wenig für eine wie ich glaube nicht-utopische, aber doch ansatzweise fortschrittliche Kritik an Bolognadingen argumentieren, die in etwa so aussieht: Die Prüfungsbulimie, bei der Studis Semester um Semester vor allem in Klausuren und ähnlich automatisierbaren, hust, Leistungskontrollen Punkte sammeln, bis sie ihren Abschluss haben, ist weder selbstverständlich noch sinnvoll. Der wirkliche Skandal ist, dass wir den Mumpitz in den 22 Jahren seit der Bologna-Erklärung vom – dies horribilis – 19.6.1999 nicht wenigstens haben erodieren können.

    Nicht selbstverständlich

    Überraschend viele Studis schütteln heute ungläubig den Kopf, wenn ich erwähne, dass ich in meinem ganzen Physikstudium nur vier abschlussrelevante Prüfungen hatte: Es gab vier mündliche Prüfungen zum Hauptdiplom. Dazu traten vier mündliche Prüfungen zum Vordiplom, aber die waren sozusagen zum Üben und spielten für die Abschlussnote keine Rolle. Keine einzige Klausur. Nicht eine. Im ganzen Studium. Und das war zwar im letzten Jahrtausend, ist aber noch keine 30 Jahre her.

    Im Vergleich dazu dürften inzwischen bis zum Master in Physik in Heidelberg um die 40 formale Prüfungen anfallen, von den in die Abschlussnote fließenden wöchentlichen Übungsblättern und Praktikumsgesprächen und Jodelwettbewerben ganz zu schweigen (eins davon habe ich erfunden).

    Das ist, so viel dürfte unstrittig sein, für Prüfende wie Geprüfte unschön. Dennoch wäre es vielleicht hinzunehmen, wenn daraus ein nennenswerter Nutzen entstünde. Jedoch: Weder anekdotisch noch vom Inhalt etwa von Abschlussarbeiten oder frühen Veröffentlichungen her gibt es auch nur den Hauch eines Hinweises, dass die Studis heute klüger (oder meinetwegen „kompetenter“) aus dem Studium rauskämen als damals.

    Wäre es also nicht vernünftiger, weit mehr der Zeit, die Lehrende und Lernende gemeinsam verbringen, für Vermittlung und Gespräch zuzulassen statt sie für tagelanges (bei den Lehrenden) und wochenlanges (bei den Lernenden) Bütteln, Betteln und Kontrollieren zu vergeuden?

    Ich sage nun nicht, dass das Diplom-System die Wucht in Tüten war. Klar, dass sich „das Schicksal [d.i. die Abschlussnote] in wenigen Stunden entscheidet“ ist auch Unfug, genauso wie schon die Grundidee, Leuten eine Zahl aufzudrücken, die ihre, ja was eigentlich, in diesem Fall vielleicht „Physizität“ (was immer das sein mag) bescheinigt. An dieser Idee hängt jedoch so viel, dass ihre Korrektur ein doch etwas größeres Projekt ist. Und so wärs doch schon mal ein Fortschritt, erstmal weniger zu prüfen und die Knute aufs letzte Vierteljahr des Studiums zu konzentrieren; immerhin ist dann dessen Rest deutlich freier.

    Im Übrigen stimmt bei einer halbwegs menschlichen Hochschulorganisation natürlich auch das mit den „entscheidenden Stunden“ nicht wirklich. Als jemand, der ein paar Dutzend Abschlussprüfungen abgenommen hat, kann ich versichern, dass zumindest an Läden, an denen die Lehrenden die tatsächlich studierenden Studis kennen, die Note einer mündlichen Prüfung in aller Regel eine Gesamtwürdigung der Person sein wird. Um das jetzt mal vorsichtig zu formulieren.

    Nicht sinnvoll

    Nun könnte mensch sagen: Andere Jobs stinken auch – sollen sich die Hochschullehrenden nicht so haben und halt die bescheuerte Prüferei machen. Die Studis haben eh nichts zu melden.

    Vielleicht. Aber es ist doch eine schreckliche Vergeudung von Lebenszeit und Kreativität, die Studis mit Dressur und Aufführung zu beschäftigen – und wiederum habe ich genug Klausuren selbst gestellt, um ein recht sicher sagen zu können: Mach eine Klausur, die nicht auf die Aufführung von Dressur rausläuft und du hast eine Durchfallquote, die du nicht haben willst.

    Dagegen hätte ich gewettet (und wie oben gesagt verloren), dass die notendruckbedingte Demontage der Übungsgruppen, die zumindest in Physik und Mathe letztlich Herz der Lehre waren, sich drastisch auf Habitus und meinethalben Kompetenzen der Studis in der Abschlussphase (da bekomme ich sie derzeit vor allem mit) hätte auswirken müssen. Vor Bologna konnten sich in solchen Übungsgruppen Studis, die Lust drauf hatten, ohne große Sorge um spätere Konsequenzen ausprobieren – und wer nicht wollte, hat halt abgeschrieben, was immerhin soziale Fertigkeiten trainierte.

    Nun hingegen, da jede Hausaufgabe sich irgendwo in der Abschlussnote wiederfindet, haben sich die Übungsgruppen zu bitterem Ernst gewandelt, Räume, in denen um jeden Punkt gefeilscht wird, denn er könnte ja den Unterschied zwischen 1.4 und 1.5 machen (oder was immer). Und das Gemeine ist: Das könnte er wirklich.

    Speziell dieser Aspekt von Bologna, die reale und permanente Drohung mit einer schlechten Abschlussnote, lässt sich mit noch so viel Open Book oder Take Home oder was immer nicht in Ordnung bringen, nicht mal durch die guten alten Hausarbeiten und Praktikumsgespräche. Solange die Abschlussnote zwischen Betreuer_in und Studi steht, ist die in der GEW-Erklärung beschworene „Solidarität“ nicht mal denkbar.

    Es wäre ein interessantes Forschungsprojekt, herauszufinden, warum hinreichend viele Studis aus diesem Prozess nicht als intellektuelle Regenwürmer – Schlucken, Klausur schreiben, hinter sich lassen – herauskommen, sondern doch ganz motiviert reizvolle Wissenschaft machen.

    Mir ewigem Optimisten scheint das ein starkes Zeichen für die Kraft von Wissenschaft zu sein: Es ist wahrscheinlich fast egal, wie der Kram vermittelt wird. Solange mensch den Leuten ein paar Bücher (in welcher konkreten Darreichung auch immer) in die Hand gibt und sie etwas Zeit mit ihnen verbringen lässt, solange mensch sie die Faszination empfinden lässt, durch Modelle und Theorien korrekt Verhalten von Menschen, Natur oder (inzwischen noch aufregender) Rechnern vorherzusagen oder wenigstens zu verstehen, finden sie schon ihren Weg.

    Warum dann?

    Nach diesen Beobachtungen stellt sich die Frage recht dringend, wie es überhaupt zu diesem komplett dysfunktionalen System kam. Im speziellen Fall von Bologna wäre es eine lange Geschichte, in der die Beteiligten – Profen, Bildungsminister, Bertelsmänner und leider auch Teile der GEW – ihre diversen Süppchen gegen die jeweils anderen kochen wollten. Niemand wollte die anderen in den eigenen Topf gucken lassen, und als endlich alle gemerkt hatten, dass alle anderen auch nur vor leeren Töpfen standen, könnte das auch niemand mehr zugeben.

    Es gibt aber ein viel allgemeineres Muster, auf das es mir hier ankommt: Die autoritäre Versuchung. Da ist ein Problem in einer Hierarchie, hier so in etwa „Meine Studis sind faul und hören mir nicht zu”. Eine Umgangsweise wäre, sich zu fragen, warum die Studis kein Interesse – oder hilfsweise Einsichten in Notwendigkeiten – haben und zu versuchen, Interesse oder Einsicht zu wecken. Das klingt gut und ist, davon bin ich überzeugt, auch gut.

    Aber dazu muss in der Hierarchie auf Augenhöhe geredet werden, und mensch entdeckt gerne auch eigene Fehler, eigene Faulheiten. Das ist für die Leute oben in der Hierarchie nicht sehr schön, was wiederum für die Popularität der Alternative sorgt: Der Ausübung von Zwang, sei es durch Drohung mit Noten, sei es durch Drohung mit Gewalt (was jetzt an der Uni schon sehr rar, im Strafrecht oder zwischen Staaten aber die Regel ist).

    Prüfungen sind aus dieser Perspektive nichts weiter als der Versuch, Aushandlung und auch Didaktik durch Zwang zu ersetzen – daran mag manches „digital“ (hmpf: Digitalisierung) sein, solidarisch ist jedenfalls nichts, und für eine Gewerkschaft gehören sich solche Methoden eigentlich auch nicht.

    Aber die Armen?

    Wenn ich Menschen – vor allem solche aus gewerkschaftsnahen Kreisen – in Diskussionen dazu gebracht habe, so viel zu konzedieren, kommt ziemlich verlässlich der Einwand, die Verschulung durch Bologna sei ja für Oberschicht-Kids vielleicht ärgerlich, für Leute aus „bildungsfernen Schichten“ hingegen ganz wichtig. Die hätten nie gelernt, selbstgesteuert Wissen zu erwerben, ihre Zeit zu managen, aus eigener Neugier zu handeln. Ohne Druck verkämen die vor der Playstation, und sie kämen spätestens …

  • Es waren die Läden

    Na gut, und/oder die Schulen. Meine Vorhersage vom 16.1. jedenfalls, nach der sich der damas fast zwei Wochen alte Abwärtstrend bei der Intensivbelegung (als hierzulande einzige halbwegs zuverlässige Maßzahl fürs Infektionsgeschehen) in etwa in der Folgewoche nach oben wenden würde, war falsch. Die fallende Intensivbelegung setzt sich fort, plusminus exponentiell mit einer Halbierungszeit von gut sechs Wochen:

    Plot: Gerade in Log/log

    (die Achsen wären ähnlich wie am 16.1., aber darauf kommts mir hier nicht an).

    Nachdem vor drei oder vier Wochen zumindest anekdotisch und von hier aus gesehen nicht viel mehr Heimarbeit lief als vor Weihnachten, bleibt dann wohl nur der Schluss, dass meine Überzeugung, Ansteckungen fänden vor allem in den Betriebe und beim Berufspendeln statt, falsch war – während sich die Schätzung von einer Verzögerung von rund drei Wochen zwischen Ansteckungen und Intensivzahlen wohl als recht robust erweist.

    Denn dann reflektiert die Wende von wachsender zu fallender Intensivbelegung vom 4.1. ziemlich klar die weitgehende Schließung der Läden und Schulen rund um den 16.12. Schade, dass beides wieder so parallel lief, denn so bleibt es schwierig, rauszufinden, was dann was ausgemacht hat.

    Und: Dann war der große Ausbruch Anfang Dezember wirklich das Weihnachtsshopping? Tödlicher Konsum my ass.

  • Antisprache: Digitalisierung

    Wenn Menschen miteinander reden, kann das verschiedene Gründe haben. Sie können gemütlich plaudern, sie können sich beschimpfen, sie können versuchen, sich Kram zu verkaufen – sie können aber auch einen Diskurs führen, also Ideen austauschen, entwickeln oder kritisieren. Für die letztere Funktion ist eine Sprache sehr hilfreich, die klar und präzise ist, in der insbesondere Begriffe nachvollziehbare „Signifikate“ (also Mengen von bezeichneten „Objekten der Anschauung oder des Denkens”) in der wirklichen Welt haben.

    Oft genug aber haben Sprecher_innen genau an Klarheit und Präzision kein Interesse – ganz besonders, wenn von oben nach unten kommuniziert wird. Herrschaft funktioniert besser, wenn den Beherrschten nicht ganz so klar wird, dass ihr Wille, ihre Interessen, im Hintergrund stehen. Dann sind plötzlich Begriffe hilfreich, die Gedanken verwirren, nicht klären, die Informationen nicht übertragen, sondern zerstreuen. „Globalisierung“ ist ein Beispiel oder auch „Arbeitgeber“, „Verantwortung“ „Terrorismus“ oder „Lernzielkontrolle“ sind weitere.

    Für Begriffe, die so funktionieren, bin ich irgendwann mal auf den Begriff Antisprache gekommen: So wie Antimaterie und Materie, zusammengebracht, zu Strahlung reagieren, reagieren Antisprache und Sprache zu... ach, ich hätte jetzt gerne „Verstrahlung“ gesagt, weil es so gut passt, aber nein: letztlich Verwirrung.

    Das Stück Antisprache, das (vielleicht gemeinsam mit „Populismus“) in den letzten paar Jahren die steilste Karriere genommen hat, ist „Digitalisierung”. Der Begriff ist fast nicht kritisiert worden, jedenfalls nicht aus der Perspektive, was das eigentlich sei und ob das, was da alles drunter fallen soll, überhaupt irgendwie zusammengehört. Ich kann mal wieder nicht lügen: eine Motivation für dieses Blog war, mal öffentlich dazu zu ranten.

    Tatsächlich gehören die unzähligen Dinge, die unter „Digitalisierung” subsumiert werden (die „Extension des Konzepts“ sagt der Semantiker in mir) nämlich schlicht nicht zusammen. Noch nicht mal „halt was mit Computern“ umfasst, sagen wir, Automatisierung in der Industrie, Habituierung der Menschen an extern kontrollierte Ausspielkanäle von Medien und Waren („smartphones“, „smart TVs“), Rechnernutzung in Bildung und Ausbildung, Ausweitung des Netzzugangs, Sensoren aller Art in politischer und sozialer Repression, die Wikipedia, Dauererfassung von Herzfrequenz und Körpertemperatur, Open Access in der Wissenschaft und „autonome“ Autos (was wiederum nur ein kleiner Ausschnitt von dem ist, was mit „Digitalisierung“ schon so bemäntelt wurde. Weil ja da eben auch tatsächlich freundliche und nützliche Dinge dabei sind, taugt auch nicht mein zeitweiser Versuch einer Definition: „Digitalisierung ist, wenn wer will, dass andere Computer benutzen müssen“.

    Wenn das alles nichts miteinander zu tun hat, warum würde jemand all diese Dinge in einen Topf werfen wollen, einmal umrühren und dann „Digitalisierung“ draufschreiben? Und warum kommt das Wort eigentlich jetzt, wo eigentlich so gut wie alles, was von Rechnereinsatz ernsthaft profitiert, schon längst computerisiert ist?

    Wie häufig bei Antisprache verbinden sich da verschiedene Interessen, und am Anfang steht meist ein letztlich politisches Interesse an Tarnung. Wer „Digitalsierung“ sagt, definiert Rechnereinsatz als Sachzwang, und das ist saubequem, wenn mensch mit Leuten redet, deren Arbeit dabei verdichtet wird, die enger überwacht werden, ihr Einkommen verlieren oder ganz schlicht keinen Lust haben, noch ein Gerät um sich zu haben, von dem sie nichts verstehen. „Digitalisierung“ klingt wie etwas, das passiert, nicht wie etwas, das wer macht.

    Ein Hinweis darauf, dass „Digitalisierung“ etwas mit der Durchsetzung von EDV-Einsatz gegen unwillige Untergebene zu tun haben könnte, liefert übrigens auch, dass der Begriff im deutschen Sprachraum so groß ist (und warum es etwa auf Englisch kein „digitisation“ in vergleichbarer Rolle gibt): es gibt hier ein vergleichsweise breites Bewusstsein für Datenschutz (gelobt sei der Volkszählungsboykott der 1980er!), und je klarer jeweils ist, was Leute jetzt mit Computern machen sollen, desto mehr Widerstand gibt es.

    Die Rede von „Digitalisierung“ kann also auch verstanden werden als die Reaktion der verschiedenen Obrigkeiten auf das (vorübergehende?) Scheitern von elektronischen Gesundheitskarten und Personalausweisen, auf regelmäßige Rückschläge bei Kameraüberwachung an der Bäckereitheke und Tippzählerei im Bürocomputer.

    Die Erleichterung der Durchsetzung „unpopulärer Maßnahmen“ (mehr Überwachung, mehr Komplikation, abstürzende Kühlschränke) durch Vernebelung der tatsächlichen Gründe und Interessen ist ein generelles Kriterium von Antisprache. Wo scheinbar kein realer Akteur etwas durchsetzt, sondern ein unerklärbarer Zeitgeist weht, müssen auch diese „Maßnahmen” nicht mehr begründet werden. Ganz besonders drastisch ist das derzeit in den Schulen, denn eigentlich weiß niemand so recht, was dort mit Computern in der Schule anzufangen wäre – jenseits von „wir machen in Physik einen Zeitlupenfilm und berechnen aus den Einzelbildern Momentangeschwindigkeiten“ habe ich da bisher noch nicht viel Glaubhaftes gehört. Na ja, ok, und dann halt noch jetzt gerade als Videotelefone, aber das hat natürlich außerhalb einer Pandemie für keine_n der Beteiligten Sinn.

    „Digitalisierung“ hat, wie viele andere Antisprache auch, einen Booster, nämlich die trojanische Semantik. Dabei wird Kram, den wirklich keine_r will, mit einer Hülle von Populärem umgeben. Beispielsweise ist „Digitalisierung“ in den Hirnen vieler Menschen mit dem (für sie) positiven Gedanken an ihr Mobiltelefon und die vielen schönen Stunden, die sie mit ihm verbringen, assoziiert.

    Wer nun offensiv stromkundenfeindliche Technik wie zeitauflösende Stromzähler („smart meter“) durchsetzen will, kann auf weniger Widerstand bei den künftigen Opfern hoffen, wenn sie diese „smart meter“ in einer Wohlfühl-Bedeutungswolke von TikTok und Tinder einhergeschwebt kommen. Sie sind nicht ein Datenschutz-Disaster, die kommen mit der Digitalisierung, sie sind doch nur ein kleiner Preis, den du für die tollen Möglichkeiten zu bezahlen hast, die dein Smartphone dir bietet.

    Das gehört auch etwas zur oben gestellten Frage, warum das Gerede von „Digitalisierung“ gerade dann so anschwoll, als eigentlich alles, was Rechner sinnvoll tun können, schon von ihnen erledigt wurde: Wenn die Branche weiter wachsen will, dürfen ihre Kund_innen noch weniger als zuvor danach fragen, wozu der autonom nachbestellende Kühlschrank eigentlich gut ist. „Digitalisierung“ wäre dann die schlichte Ansprache: Frage nicht nach dem Warum, denn alle machen jetzt Digitalisierung, und wenn du das nicht machst, bist du ein Bedenkenträger, der bald ganz furchtbar abgehängt sein wird.

    Ganz falsch ist das bestimmt nicht. Aber auch nicht die ganze Wahrheit, wofür ich neulich einen wunderbaren Beleg gefunden habe. Und der ist so toll, der ist Material für einen anderen Post.

  • Monströse Drohungen

    Titelseite des TPNW

    Heute ist ein historischer Tag. Denn endlich – nach über drei Jahren Ratifizierungsprozessen in verschiedenen Ländern – tritt der Atomwaffenverbotsvertrag TPNW in Kraft. Ab heute bricht Völkerrecht, wer Nuklearwaffen baut, besitzt oder mit ihrem Einsatz droht.

    Da sich die Bundesregierung nicht nehmen lässt, Atombomen werfen zu können („Nukleare Teilhabe“), denkt sie natürlich nicht dran, das auch zu unterschreiben. Der viel beschworene „Multilateralismus“ bedeutet aber, dass der Deutschlandfunk gerade nicht recht hat, wenn er heute meldet der TPNW sei in Kraft, „aber nicht in Deutschland“. Klar gilt er. Der Regierung ist nur der Bruch des Völkerrechts opportun.

    Wie furchtbar das wirklich ist, ist mir neulich wieder klar geworden, als ich nämlich „The Doomsday Machine“ von Daniel Ellsberg gelesen habe. Ellsberg, der mit den Pentagon Papers Anfang der 70er das dichte Propagandagebäude rund um den Vietnamkrieg zum Einsturz gebracht hat, hat in den 1950er und 1960er Jahren bei der RAND Corporation (quasi der originale „Think Tank“) für die US-Luftwaffe Atomkriegsplanung gemacht, und allein die Einblicke in die Ränke rund ums Pentagon lassen es wie ein Wunder erscheinen, dass der Atomkrieg noch nicht stattgefunden hat. Andererseits macht die Charakterisierung des damaligen Ministers Robert McNamara als zumindest im Vergleich eher besonnen Hoffnung, dass die politische Kontrolle des Militärs vielleicht nicht ganz so kaputt ist, wie mensch seit Eisenhowers Warnung vor dem militärisch-industriellen Komplex hätte meinen können.

    Was Ellsberg aber auch sehr gut macht: Er zeichnet nach, wie es überhaupt zu der selbst für Militärverhältnisse monströsen Idee gekommen ist, Städte des Kriegsgegners mitsamt all den dort wohnenden Leuten zu zerstören – einerseits aus der Kriegsführung verschiedener faschistischer Mächte, angefangen von italienischen Kolonialkriegen über Guernica bis Coventry. Und andererseits aus kühlen Sachzwängen, denen sich im Groben niemand mit auch nur ein wenig Herz oder Ethik entgegengestellt hat, denn auch im zweiten Weltkrieg stellte sich schon bald heraus, dass Präzisionsschläge eine Mär sind.

    Klar, es ist nicht viel netter, im Machtkampf (und was anderes sind Kriege halt ganz schlicht nicht) Soldat_innen zu töten. Aber von denen gibts schon mal viel weniger als vom Rest der Menschen, und die Soldat_innen könnten ja immerhin davonlaufen (was übrigens das Problem von Kriegen auf die denkbar eleganteste Weise lösen würde). Jedenfalls: Die Bombardierung gegnerischer Städte gehört schon so zu den ganz großen Widerlichkeiten (und nein, ich bin da nicht sehr über Dresden besorgt; speziell dazu empfehle ich aber Slaughterhouse Five des großartigen Kurt Vonnegut).

    Nuklearwaffen haben nun keinen plausiblen anderen Zweck als das Plätten von Städten und das Töten von deren Bevölkerungen – selbst in der verqueren Logik der Militärs gibt es kein militärisches Ziel, das Sprengkräfte im Megatonnenbereich brauchen würde. Der einzige ernsthafte Vorschlag, der da jemals vorgebracht wurde, war das Stoppen einer vorrückenden Armee, und das ist ganz offensichtlich etwas, das zuletzt so um die 1815 in den napoleonischen Kriegen ernstzunehmen war.

    Nein: Wer Atomwaffen hat, droht mit der Einäscherung gegnerischer Städte. So einfach ist das. Unsere Regierung tut das. Das ist ein Skandal. Und drum bin ich dankbar, dass der unermüdliche Friedensratschlag Heidelberg heute eine Demo für die Ratifizierung des TPNW in Heidelberg angemeldet hat. Ich war, trotz Regen, gerne dabei.

  • Großes Leid, Große Verwirrung

    Das Gerede von „Arbeitsplatzverlusten“ fasziniert mich in seiner Absurdität immer wieder: an sich wärs ja erfreulich, wenn wir den Krempel, den wir verbrauchen wollen, auch mit weniger Arbeit herstellen könnten. Das stoßseufzende „Endlich Freitag“, das die ARD derzeit freitags nach der Tagesschau sendet, demonstriert gut, dass auch im Wesentlichen der Rest der Welt Lohnarbeit nur bedingt für angenehm hält.

    Heute morgen hat im Deutschlandfunk der Familienminister von NRW (der, vielleicht etwas überraschend in diesem Amt, auch stellvertretender Minsterpräsident ist), auf dies Umkehr von Mittel und Zweck noch eins draufgelegt:

    Was aber auch noch mal wichtig ist, das möchte ich ausdrücklich betonen, auch für das Vertrauen in der Bevölkerung, ist, dass die Gruppen, die jetzt hier unter dem Lockdown am meisten leiden, weil sie ihre Berufe nicht ausüben können...

    Also... die schlimmsten Leiden im Lockdowns sind in der Welt von Joachim Stamp ein paar freie Wochen, zumal in Jobs, die jetzt mal garantiert keinen Spaß machen: Kellnern, Tresendienst im Fitness-Studio, so Zeug halt. Uiuiui.

    Klar wären die ernsthaften Probleme dieser Leute – ihre Existenzängste – einfach durch verlässliche Versorgung und längerfristig eine vernünftige Verteilung der Lasten und Früchte der Produktion zu lösen. Ich nehme Leuten wie Stamp aber ab, dass diese einfache und eigentlich offensichtliche Tatsache schlicht jenseits ihrer Gedankenwelt ist. Schade eigentlich.

  • Klar: Corona

    Ich kann nicht lügen: Einer der Gründe, weshalb ich gerade jetzt mit diesem Blog daherkomme ist, dass ich mir seit Dezember ganz besonders auf die Schulter klopfe wegen der Präzision meiner Corona-Vorhersagen: Wie befriedigend wäre es gewesen, wenn ich auf was Öffentliches hinweisen könnte, das meine Vorhersagen Anfang November dokumentieren würde. Als der „weiche Lockdown“ losging, habe ich nämlich etwas verkniffen rumerzählt: Klar werden die Zahlen nicht runtergehen, solange die Betriebe [1] nicht massiv runterfahren, und weil sich das niemand traut, werden in der Folge immer bizarrere Maßnahmen getroffen werden.

    So ist es nun gekommen, bis hin zu den Windmühlenkämpfen gegen die Rodler_innen im Sauerland und die nächtlichen Ausgangssperren hier in Baden-Württemberg (die allerdings, soweit ich das erkennen kann, genau niemand durchsetzt).

    Nun, jetzt habe ich die nächste Gelegenheit. Zu den relativ wenig beachteten Phänomenen gerade gehört nämlich, dass die Zahl der Corona-Intensivpatient_innen seit dem 4.1. konsistent fällt. Ich bin ziemlich überzeugt, dass das im Wesentlichen das Runterfahren von eigentlich praktisch allem (Betriebe, Geschäfte, Schulen) in der Woche vor Weihnachten spiegelt; und das würde auch darauf hinweisen, dass die Intensivbelegung dem Infektionsgeschehen etwas weniger als die generell angenommenen drei Wochen hinterherläuft.

    Tatsächlich lasse ich seit September jeden Tag ein ad-hoc-Skript laufen, das die aktuellen DIVI-Zahlen aus dem RKI-Bericht des Tages extrahiert und dann logarithmisch (also: exponentielle Entwicklung ist eine Gerade) plottet. Das sieht dann etwa so aus:

    Plot: Intensivbelegung 9/2020-1/2021

    Das angebrachte Lineal ist ein kleiner Python-Hack, den ich extra dafür gemacht habe (da schreibe ich bestimmt demnächst auch mal was zu), und er zeigt: Wir haben seit fast zwei Wochen einen exponentiellen Rückgang der Intensivbelegung – auch bei den Beatmeten, was die untere Linie zeigt; deren paralleler Verlauf lässt übrigens ziemlich zuverlässig darauf schließen, dass wohl keine im Hinblick auf den Verlauf aggressivere Mutante in großer Zahl unterwegs ist.

    Die schlechte Nachricht: Wenn mensch die Steigung anschaut, kommt eine Halbierungszeit von was wie sechs Wochen raus. Das wird nicht reichen, zumal, und hier kommt jetzt meine Prognose, diese Entwicklung wohl bald gebrochen wird, denn zumindest in meiner Umgebung war die Weihnachtsruhe spätestens am 11.1. vorbei, in Bundesländern ohne Feiertag am 6. wahrscheinlich schon früher. Unter der Annahme von zweieinhalb Wochen zwischen Infektionsgeschehen und Intensivreaktion dürfte es dann also etwa Mitte nächster Woche so oder so vorbei sein mit dem Traum zurückgehender Infektionen.

    Und wenn ich schon über Coronazahlen rede: Diesen Belegungsplot mache ich, weil ich ziemlich sicher bin, dass von all den Zahlen, die das RKI derzeit verbreitet, nur die DIVI-Zahlen überhaupt ziemlich nah an dem sind, was sie zu sagen vorgeben, auch wenn Peter Antes, auf dessen Urteil ich viel gebe, da neulich auch Zweifel geäußert hat, die ich erstmal nicht ganz verstehe: die zwei „komischen“ Schnackler, die ich sehe, sind jetzt mal wirklich harmlos.

    Dass die Infektionszahlen problematisch sind, ist inzwischen ein Gemeinplatz; zwar wäre sicher, könnte mensch wirklich den Zeitpunkt der Übertragung in nennenswerter Zahl feststellen, ein sichtbarer Effekt vom Wochenende zu sehen (denn die Übertragung in der Breite dürfte derzeit stark von Arbeit und Arbeitsweg dominiert sein), aber nicht mal der würde die wilden Zacken verursachen, an die wir uns in den letzten Monaten gewöhnt haben.

    Aber ok – dass in Daten dieser Art das Wochenende sichtbar ist, hätte ich auch bei 24/7-Gesundheitsämtern jederzeit vorhergesagt. Beim besten Willen nicht vorhergesagt hätte ich allerdings die Zackigkeit dieser Kurve:

    Plot: Corona-Tote über Tag von JHU

    Zu sehen sind hier die Todesmeldungen pro Tag (jetzt nicht vom RKI, sondern von Johns Hopkins, aber beim RKI sieht das nicht anders aus). Sowohl nach Film-Klischee („Zeitpunkt des Todes: Dreizehnter Erster, Zwölf Uhr Dreiunddreissig“) als auch nach meiner eigenen Erfahrung als Zivi auf einer Intensivstation hätte ich mir gedacht, dass Sterbedaten im Regelfall zuverlässig sind. Und so sehr klar ist, dass während Volksfesten mehr Leute sterben und bei den Motorradtoten ein deutliches Wochenend-Signal zu sehen sein sollte: Corona kennt ganz sicher kein Wochenende.

    Also: DIVI rules.

    Und ich muss demnächst wirklich mal gegen dark mode ranten.

    [1]Als bekennender Autofeind muss ich ja zugeben, dass der größte Wow-Effekt der ganzen Corona-Geschichte war, als im letzten März VW die Produktion eingestellt hat. Dass ich das noch erleben durfte... Der zweitgrößte Wow-Effekt war übrigens, dass die doch ziemlich spürbare Reduktion im Autoverkehr im März und April sich nicht rasch in den Sterblichkeitsziffern reflektiert hat.
  • Engelszüngeln?

    Über 20 Jahre nach dem ersten Blog – und ja, ich bin alt genug, um mich an die frühen Zeiten von slashdot zu erinnern – fange ich jetzt (vielleicht) ein Blog an. Warum?

    Nun, ich kann von mir behaupten, gebloggt zu haben, bevor es den Begriff gab. Ende 1996 habe ich angefangen, den UNiMUT aktuell zu schreiben, der ziemlich genau dem späteren Blog-Begriff entsprach: Artikel, die, na ja, online geboren wurden und in der Tat schon damals in ein Web-Form eingegeben wurden: Wow, ich habe ein CMS geschrieben! Das Ding hat im Laufe der Jahre viele tolle Features bekommen, von eingebauten Abkürzungserklärungen bis zu Backlinks, wie z.B. in meinem all-time-Lieblingsartikel Ideologieproduktion in der Prüfungsordnung oder in einem, wie ich ohne jede Bescheidenheit behaupte, hellsichtigen und vielzitierten Beitag zur Bologna-Katastrophe mit dem visionären Titel Attenti a la Rossa (2002) jeweils unten zu sehen ist.

    Kurz: Bis 2006 hatte ich so ein Spielfeld, in dem ich mich austoben konnte. Warum ich das dann gelassen habe, gehört in einen anderen Post. Aber ich mir aber seitdem öfter mal gewünscht, wieder einen Platz für Rants zu haben, zumal solche, die nicht recht auf datenschmutz passen.

    Beispiele dafür hoffe ich, in den nächsten Wochen dann und wann zu posten.

    Mal sehen.

    Derweil, Gedanke des Tages: In der taz von heute steht, dass Nico Semsrott aus der PARTEI ausgetreten ist (oder austreten will), weil Martin Sonneborn ein T-Shirt mit „Au Widelsehen, Amelika“ getragen hatte und auf die Kritik offenbar unpassend reagiert hat. Auch das war eine Erinnerung an meine Zeiten beim UNiMUT, denn 1994 habe ich für einen ziemlich ähnlichen Witz auch ordentlich Kritik eingefangen: Ein Artikel über die Verleihung eines „Landeslehrpreises“ bediente die gleichen Klischees. Wer den Artikel liest, mag verstehen, wie wir damals darauf gekommen sind. Und nun überlege ich, ob ich mit dem „der Kritiker, der meinte, UNiMUT könne ohne tendenziell diskriminierende Aufmacher auskommen, hat natürlich recht“ aus der nächsten Ausgabe zu recht davongekommen bin...

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