Neulich bin ich bei Dunkelheit über einen (relativ) einsamen Landwirtschaftsweg geradelt. Ein Auto kam mir entgegen und blendete irgendwann für einige Sekunden auf. Verunsichert habe ich nachgesehen, ob ich vielleicht vergessen hatte, mein Licht anzuschalten – aber nein, es war an.
Als wir uns trafen, raunzte mich der Autofahrer – er hatte immerhin angehalten und sein Fenster heruntergelassen – an, mein Licht habe ihn geblendet. Nun bin ich recht pingelig, was meinen Lichtkegel angeht und bin daher sehr sicher, dass der Fahrer schlicht nicht an LED-Lichter gewöhnt war und er vergleichbar viel Streulicht aus Autoscheinwerfern als ganz natürlich hingenommen hätte.
Aber das ist hier gar nicht mein Punkt. Mein Punkt ist, dass der Autofahrer zornig abgezischt ist, als ich ihm erklären wollte, wie er zu einem angemesseneren Ton finden könnte. Da das in den üblichen (un-)kommunikativen Situationen im motorisierten Individualverkehr auch sonst aus Zeit-, Geduld- und Hupgründen nicht klappt, will ich kurz eine kleine Fantasie schildern, die vielleicht road rage dieser Art mildern mag. Geheimplan: Die URL dieses Posts könnte ich vielleicht im Straßenverkehr schnell übergeben?
Nur zu Gast
Liebe AutofahrerInnen, stellt euch für einen Moment vor, ihr wärt in der Welt nur zu Gast. Wir anderen würden euch und eure tonnenschweren, lärmenden, rasenden und meist noch stinkenden Ungetüme nur aus freundlicher Nachsicht (und nicht wegen staatlicher Gewalt und lebenslanger Prägung) in unseren Städten akzeptieren. Stellt euch vor, ihr müsstet Danke sagen für unsere Bereitschaft, euch all den Platz in unseren Siedlungen einzuräumen, nur damit ihr rasen könnt. Stellt euch vor, ihr könntet nicht mit innerer Überzeugung mit euren parkenden Autos unsere Geh-, Fahr- und Spielfächen verstopfen und müsstet euch bei den Leuten entschuldigen, die den Platz eigentlich gerne nutzen würden.
Könnt ihr das?
Ihr sagt, das sei absurde Hippie-Träumerei? Nein, das ist es nicht. Die Auto-Gesellschaft ist nicht alt, und die ersten Autos hatten es nicht leicht auf Straßen, deren traditionelle NutzerInnen nicht immer einsahen, dass sie den Spielzeugen der Reichen auszuweichen hätten. Ohne ordentlich Nachhilfe durch die Vertreter der Reichen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ganz besonders geschickte Kampagnen der Auto-Industrie (cf. How the car industry outlawed crossing the road bei der BBC) hätte es so bleiben können wie zuvor.
In Deutschland etwa haben Autos erst seit 1934 Vorrang auf den Straßen (cf. Geschichte der Straßenverkehrssicherheit in der Wikipedia). Noch so ein ärgerliches Erbe des Faschismus. Obwohl, na ja: an einem Gesetz von 1934 ist wohl wahrscheinlich schon vor der Machtübergabe gearbeitet worden. So oder so, die Straßen gehören hierzulande noch nicht mal 100 Jahre lang den Autos. Ob es eine große Kampagne „100 Jahre sind genug“ geben sollte?
Während ich dann dem Autofahrer aus der Prä-LED-Zeit nachblickte, ist mir die andere Seite der Geschichte recht schlagartig bewusst geworden: Ich wurde von frühester Kindheit an darauf konditioniert, dass die Straße ein verbotener Raum ist, auf dem Menschen nichts verloren haben. Und so fahre ich auch jetzt noch so Fahrrad, als müsse ich mich entschuldigen, da zu sein. Konditioniert von Jahrzehnten wütenden Hupens suche ich Lücken, in denen ich den Autoverkehr möglichst wenig behindere, quetsche ich mich an Straßenränder, um Autos vorbeizulassen, husche ich über Bordsteine, um nur ja nicht „im Weg zu stehen“. Das Motto der Critical Mass, nach dem wir nicht den Verkehr blockeren, sondern wir der Verkehr sind, hatte ich oft im Mund. Aber, so ist mir an dem Abend klar geworden, im Kopf habe ich es nicht so recht.
Ganz ehrlich: Ein wenig ärgert mich das schon, und ich bin offen neidisch auf die augenscheinlich felsenfeste Überzeugung des_der ideellen Gesamtautofahrenden, die Straße gehöre ihm_ihr.
Fantasie, gefährlich und schön
Will ich meine Hasen-Philosophe im Hinblick auf Straßen ändern? Sollte ich einfach auch das Gefühl entwickeln, die Straße gehöre mir?
Mal ganz abgesehen von generellen Erwägungen zu ethischen Dimensionen von „gehören”: ich fürchte, auf den realen Straßen würden solche Ansprüche schnell im Krankenhaus oder auf dem Friedhof enden; die Macht kommt schon lange nicht mehr nur aus den Gewehrläufen, sie chromblitzt längst auch von Stoßstangen.
Aber eine schöne Fantasie ist es schon: Die Straßen den Menschen, nicht den Autos. Und da, so ist mein Eindruck, derzeit immer mehr Menschen Träume dieser Art träumen, ist die Rückkehr auf die Straße vielleicht auf Dauer auch keine Gewaltfrage mehr, über die mit Gewehrläufen oder Stoßstangen entschieden wird.
Vielleicht haben das sogar schon früher mal viele geträumt. Irgendwo glaube ich gelesen zu haben, die französische Volksfrontregierung von 1936/37 habe zumindest in Paris eine grundsätzliche Vorrangregelung für FußgängerInnen beschlossen, und das sei von der folgenden Daladier-Regierung oder den deutschen Nazis zurückgenommen worden. Ich habe dafür im Netz leider keine Belege mehr gefunden. Wenn wer etwas Näheres dazu weiß, wäre ich dankbar für einschlägige Hinweise.