• Antisprache: Extremismus

    „Extremismus“ ist sozusagen die Mutter aller Antisprache, Sprache also, die entworfen ist für Kommunikation, die bei gelungenem Sprechakt bei den EmpfängerInnen Information zerstört statt bildet.

    Entsprechend viele haben sich um Abrüstung des Begriffs (und der verwandten „Hufeisentheorie“) bemüht. Schon 2007 etwa schloss sich die Grüne Jugend der damals populären Strömung „gegen jede Extremismustheorie“ an (Abschnitt 9.1 im damaligen Selbstverständnis) – gerade bei denen bemerkenswert, denn 14 Jahre später werden die Leute, die das damals geschrieben haben, allmählich in die Parlamente gekommen sein, die die Etats der Inlandsgeheimdienste („Verfassungsschutz“, VS) abnicken.

    Das ist relevant, denn ohne den VS gäbe es ziemlich sicher gar keinen „Extremismus“. Diese These ist weniger steil als sie klingt. Als ersten Hinweis biete ich mal, dass zu keiner Zeit mehr Gerede über „Extremismus“ im Blätterwald raunt als gerade jetzt, wo der Bundes-VS mal wieder seinen „Bericht“ (ich wollte nicht „Kampfschrift“ schreiben, aber Bericht ohne Anführungszeichen fand ich jetzt auch nicht treffend) vorgestellt hat.

    Tatsächlich haben mich schon neulich zwei Nachrichten inspiriert, endlich mal einen Antisprache-Post über das E-Wort zu schreiben. Erstens hatte der Deutschlandfunk am 9. Juni:

    Die russische Justiz hat mehrere Organisationen des inhaftierten Kremlkritikers Nawalny endgültig verboten. Ein Gericht in Moskau stufte die Vereinigungen als extremistisch ein.

    und dann, am 10. Juni:

    Das [hessische] Landeskriminalamt durchsuchte die Wohnungen und Arbeitsplätze von sechs Mitgliedern des Spezialeinsatzkommandos. [...] Ermittler waren den Angaben zufolge im Rahmen einer anderen Untersuchung zufällig auf die rechtsextremen Handynachrichten gestoßen.

    Was haben Nawalny und die hessischen Polizisten mit Nazineigungen gemeinsam? Gemeinsam mit, sagen wir, den Leuten, die den Weiterbau des offensichtlichen Irrsinnsprojekts A49 im Dannenröder Forst verhindern wollten und die auch unter dem Label „Extremismus“ in den Fokus der Geheimdienste wie unter Polizeiknüppel kamen?

    Nur eines: Sie sind den jeweiligen Regierungen ernsthaft unangenehm. Das, und nichts anderes, ist die eigentliche (für weiter unten: „wissenschaftliche“) Bedeutung von „Extremismus“.

    Gut, die meisten Leute, die von „Extremismus“ reden, geben sich große Mühe, von dieser Bedeutung abzulenken. Die sinnzerstörende Wirkung entfaltet das Wort tatsächlich nur, wenn das diffuse Grauen im Angesicht von Nazi-Polizisten, die quälen, wen sie als „Ausländer“ oder Linke einschätzen gegen die netten Leute vom Danni eingesetzt werden kann (oder halt, wenn ihr Putin seid, gegen Querulanten wie Nawalny). Und das ist wichtig, denn gerade die Danni-Leute (und in Russland wahrscheinlich eben auch eine Figur wie Nawalny) werden von allen außer den betonköpfigsten Schurken geliebt. Ohne den Aufruf von Bildern blindwütig mordender IS-Gläubischer (oder muttermordender Nazispinner aus Hanau) ist robuste staatliche Reaktion – sagen wir, wochen- (Danni), monate- (auch Danni) oder jahrelanges (Nawalny, nochmal Danni) Wegsperren – in solchen Situationen in der Öffentlichkeit schwierig zu verkaufen.

    Nettes und Fortschrittliches mit Fiesem und Reaktionärem verrühren und damit diskreditieren: Das ist die Nettowirkung des Extremismusbegriffs. Wenig überraschend kommt er genau aus der fiesen und reaktionären Ecke, nämlich aus den damals noch intensiv von Altnazis durchsetzten Verfassungsschutzbehörden. Anfang der 1970er Jahre machten sie sich erkennbar Sorgen, weil die allgemeine Sympathie für die unter anderem durch die aufkommenden Berufsverbote gepeinigten „Radikalen“ (so hießen die damals; vgl. Radikalenerlass) in dem Maß zunahm, wie die Avantgarde von 68 gesellschaftlicher Mainstream wurde. Da musste was Neues her, zumal der ähnlich verrührende „Totalitarismus“, der gegen realsozialistische Umtriebe noch prima – und noch dazu mit erheblicher Plausiblität – zog, für kiffende Blumenkinder und wenig später bunte HausbesetzerInnen offensichtlich nicht passte.

    Und so wurde der „Extremismus“ im Bericht des BfV von 1973 geboren – wobei ich vermute, dass es international Vorbilder gegeben haben wird. Wenn nicht, würde inzwischen sogar Wladimir Putin dem deutschen Inlandsgeheimdienst nachplappern. Ich kann gar nicht so genau sagen, warum ich diesen Gedanken besonders furchtbar finde.

    Bis heute wird „Extremismus“ als Konzept wie als Wort vom VS genährt. Die scheinbare Glaubwürdigkeit eines so eindeutig antisprachlichen und breit kritisierten Begriffs in der heutigen Zeit wird erzeugt von Männern wie Armin Pfahl-Traughber, Eckhard Jesse und Uwe Backes, die aus dem Umfeld von Geheimdienst und politischer Polizei in die Akademia aufgestiegen sind und dort VS-Berichte durch Zitate adeln – VS-Berichte, deren krudes politisches Gerüst sich umgekehrt auf die aggressive Scheinwissenschaft der genannten Herren (und noch einer Handvoll weiterer) aufbaut. Diese zirkuläre Legitimation funktioniert immerhin so gut, dass taz-Autor Volkan Ağar in der taz von heute dem Bundesinnenministerium vorwirft, der Bundeszentrale für politische Bildung vorgeschrieben zu haben, eine „wissenschaftliche Linksextremismusdefinition“ durch eine des VS zu ersetzen. Der „Wissenschaftler“, zu dessen Produkten übrigens BMI und Bildzeitung selbst die bpb zuvor genötigt hatten: Armin Pfahl-Traughber. Au weia.

    Wie geht es besser? Nun, wie immer: Hinschauen und sagen, worum es wirklich geht. Die PolizistInnen des Frankfurter SEK sind eklig nicht, weil sie der Regierung peinlich sind, sondern weil sie RassistInnen sind, autoritäre Positionen vertreten, vielleicht AntisemitInnen sind – wer weiß, nachdem ja statt konkreter Information bisher nur „Rechtsextremismus“ im Raum steht? Wäre es nicht wirklich hilfreich, wenn klar wäre, ob es da auch groben Sexismus geht, ob nur um den üblichen Autoritarismus („die Polizei sind die Guten“) oder ob dort auch preppermäßige Putschpläne ausgeheckt wurden?

    Fängt mensch an, solche Fragen zu stellen, zeigt sich auch bald, warum das autoritäre Establishment den „Extremismus“ so sehr präferiert gegenüber dieser Sorte von Hinschauen: Jemand wie Seehofer vertritt offensichtlich erznationalistische Positionen (wenn er sich etwa über Abschiebungen zum Geburtstag freut), Leute, die 2% des Bruttoinlandsprodukts fürs organisierte Töten ausgeben wollen, sind klar MilitaristInnen („Lasst uns Menschen töten, um meine Interessen durchzusetzen“), und wer meint, „Hasskriminalität“ durch mehr Befugnisse für die Polizei beikommen zu können, dürfte sehr offen für autoritäre Gedankengänge sein (eine wirksamere Alternative wäre z.B., die Bildzeitung unrentabel zu machen, die, soweit ich als Vertreter offener Standards das sehe, weit mehr für die Verbreitung von Hass tut als alle Facebook-Trolle zusammen). All diese Dinge sind kritikabel, sogar unappatitlich, führen bei konsequenter Umsetzung in gefährliche Nähe von Faschismus – und nichts davon bewegt sich irgendwo dort, wo der VS „Extremismus“ sieht.

    Die Leute im Danni hingegen wollen glaubhaft größtmögliche Befreiung vom Auto. Sowohl Befreiung als auch weniger Autos sehe wohl nicht nur ich sehr gerne. Und so geht das auch mit vielen anderen „Linksextremismen“: Von Deutsche Wohnen-Enteignung über die Auflösung von NATO und VS über entschlossenere Schritte gegen den Klimawandel und das Massensterben im globalen Süden bis zu grundsätzlicherer Kritik an unseren Produktionsweisen sind die meisten Anliegen sehr gut nachvollziehbar, immer mit dem Herz, sehr oft auch mit dem Hirn. Ohne „Extremismus“ bräuchte es Argumente gegen diese Anliegen. Und die sind entweder schwer zu ersinnen oder entlarvend für die Anliegen der Gegner.

    Ohne „Extremismus“ leben heißt mithin zu fragen, was Leute wirklich wollen und nachzudenken, wie weit das Freiheit, Gleichheit und Solidarität (oder was immer mensch nun als Leitplanken annimmt) voranbringt – oder die jeweiligen Gegenteile.

    Klar, das ist im Regelfall viel mehr Arbeit (insbesondere auch als der schlichte Verweis „vom VS beobachtet“), aber so ist das mit der intellektuellen Ehrlichkeit. Und genauso klar, häufig sind die Ergebnisse nicht so ganz eindeutig, wie etwa bei Alexei Nawalny. An sich mag mensch ja Sympathien hegen für Menschen, die Herr Putin anstrengend findet; ich fürchte aber, angesichts von Nawalnys tatsächlichen Überzeugungen, die kaum weniger autoritär wirken als die der KremlparteigängerInnen, bleibt allenfalls generelle Solidarität gegen Repression übrig als Motivation, ihm irgendwie beizuspringen.

    Nach diesen Worten ist ein Blick in die DLF-Presseschau von heute besonders ernüchternd: Selbst der Süddeutsche, deren Heribert Prantl sich nach dem Auffliegen des NSU den Forderungen nach Auflösung des VS angeschlossen hatte, gelingt allenfalls milder Spott im Angesicht überkritschen Masse von Antisprache im „Bericht“ des Inlandsgeheimdienstes. Alle anderen extremisieren („rechts wie links“ die beim Verbreiten von VS-Material unvermeidliche NOZ, „die Demokratie [und natürlich nicht wie schon seit Jahrzehnten Nichtkartoffeln, Punker und Penner] angegriffen“ beim Tagesspiegel, „Facebook, Telegram & Co [und selbstverständlich nicht Bildzeitung und VS selbst]“ als Jaucheschleudern bei der Südwest-Presse, „Militanz nimmt auch in der linksextremistischen Szene zu“ bei der Mitteldeutschen Zeitung) als gäbe es kein Morgen. Seufz.

  • Zu vollgefressen zum Abheben

    Ein Eichhörnchen turnt durch Zweige

    Keine Zikaden in Weinheim: das Eichhörnchen im dortigen Arboretum konnte noch munter turnen.

    Wieder mal eine Tier-Geschichte aus Forschung aktuell am Deutschlandfunk: In der Sendung vom 25.5. gab es ein Interview mit Zoe Getman-Pickering, die derzeit eine Massenvermehrung von Zikaden an der US-Ostküste beobachtet. Im Gegensatz zu so mancher Heuschreckenplage kam die nicht unerwartet, denn ziemlich verlässlich alle 17 Jahre schlüpfen erstaunliche Mengen dieser Insekten und verwandeln das Land in ein

    All-You-Can-Eat-Buffet. Es gibt schon Berichte von Eichhörnchen und Vögeln, die so fett sind, dass sie nicht mehr richtig laufen können. Die sitzen dann einfach nur herum und fressen eine Zikade nach der anderen.

    Es war dieses Bild von pandaähnlich herumhockenden Eichhörnchen, die Zikaden in sich reinstopfen wie einE Couch Potato Kartoffelchips, das meine Fantasie angeregt hat.

    Gut: Gereizt hat mich auch die Frage, wo auf der Fiesheitssakala ich eigentlich einen intervenierenden Teil der Untersuchung ansiedeln würde, der im Inverview angesprochen wird: Um

    herauszufinden [ob die Vögel noch Raupen fressen, wenn sie Zikaden in beliebigen Mengen haben können], haben wir auch künstliche Raupen aus einem weichen Kunststoff. Die setzen wir auf die Bäume. Und wenn sich dann Vögel für die künstlichen Raupen interessieren, dann picken sie danach

    und sind bestimmt sehr enttäuscht, wenn sie statt saftiger Raupen nur ekliges Plastik schmecken. Na ja: verglichen mit den abstürzenden Fledermäuse von neulich ist das sicher nochmal eine Stufe harmloser. Balsam für die Ethikkommission, denke ich. Das Ergebnis übrigens: Ja, die Zikadenschwemme könnte durchaus eine Raupenplage nach sich ziehen.

    Die Geschichte hat ein Zuckerl für Mathe-Nerds, denn es ist ja erstmal etwas seltsam, dass sich die Zikaden ausgerechnet alle 17 Jahre verabreden zu ihren Reproduktionsorgien. Warum 17? Bis zu diesem Interview war ich überzeugt, es sei in ÖkologInnenkreisen Konsens, das sei, um synchronen Massenvermehrungen von Fressfeinden auszuweichen, doch Getman-Pickering hat mich da eines Besseren belehrt:

    Aber es gibt auch Theorien, nach denen es nichts mit den Fressfeinden zu tun hat. Sondern eher mit anderen Zikaden. Der Vorteil wäre dann, dass die Primzahlen verhindern, dass unterschiedliche Zikaden zur gleichen Zeit auftreten, was dann schlecht für die Zikaden sein könnte. Und dann gibt es auch noch einige Leute, die es einfach nur für einen Zufall halten.

    Das mit dem Zufall fände ich überzeugend, wenn bei entsprechenden Zyklen in nennenswerter Zahl auch nichtprime Perioden vorkämen. Und das mag durchaus sein. Zum Maikäfer zum Beispiel schreibt die Wikipedia: „Maikäfer haben eine Zykluszeit von drei bis fünf, meist vier Jahren.“

    Aua. Vier Jahre würden mir eine beliebig schlechte Zykluszeit erscheinen, denn da würde ich rein instinktiv Resonanzen mit allem und jedem erwarten. Beim Versuch, diesen Instinkt zu quantifizien, bin ich auf etwas gestoßen, das, würde ich noch Programmierkurse geben, meine Studis als Übungsaufgabe abbekommen würden.

    Die Fragestellung ist ganz grob: Wenn alle n Jahre besonders viele Fressfeinde auftreten und alle m Jahre besonders viele Beutetiere, wie oft werden sich die Massenauftreten überschneiden und so den (vermutlichen) Zweck der Zyklen, dem Ausweichen massenhafter Fressfeinde, zunichte machen? Ein gutes Maß dafür ist: Haben die beiden Zyklen gemeinsame Teiler? Wenn ja, gibt es in relativ kurzen Intervallen Jahre, in denen sich sowohl Fressfeinde als auch Beutetiere massenhaft vermehren. Haben, sagen wir, die Eichhörnchen alle 10 Jahre und die Zikaden alle 15 Jahre Massenvermehrungen, würden die Eichhärnchen alle drei Massenvermehrungen einen gut gedeckten Tisch und die Zikaden jedes zweite Mal mit großen Eichhörnchenmengen zu kämpfen haben.

    Formaler ist das Problem also: berechne für jede Zahl von 2 bis N die Zahl der Zahlen aus dieser Menge, mit denen sie gemeinsame Teiler hat. Das Ergebnis:

    Balkendiagramm: Gemeinsame Teiler für 2 bis 20

    Mithin: wenn ihr Zikaden seid, verabredet euch besser nicht alle sechs, zwölf oder achtzehn Jahre. Die vier Jahre der Maikäfer hingegen sind nicht so viel schlechter als drei oder fünf Jahre wie mir mein Instinkt suggeriert hat.

    Ob die Verteilung von Zyklen von Massenvermehrungen wohl irgendeine Ähnlichkeit mit dieser Grafik hat? Das hat bestimmt schon mal wer geprüft – wenn es so wäre, wäre zumindest die These vom reinen Zufall in Schwierigkeiten.

    Den Kern des Programms, das das ausrechnet, finde ich ganz hübsch:

    def get_divisors(n):
      return {d for d in range(2, n//2+1) if not n%d} | {n}
    
    
    def get_n_resonances(max_period):
      candidates = list(range(2, max_period+1))
      divisors = dict((n, get_divisors(n)) for n in candidates)
    
      return candidates, [
          sum(1 for others in divisors.values()
            if divisors[period] & others)
        for period in candidates]
    

    get_divisors ist dabei eine set comprehension, eine relativ neue Einrichtung von Python entlang der altbekannten list comprehension: „Berechne die Menge aller Zahlen zwischen 2 und N/2, die N ohne Rest teilen – und vereinige das dann mit der Menge, in der nur N ist, denn N teilt N trivial. Die eins als Teiler lasse ich hier raus, denn die steht ohnehin in jeder solchen Menge, weshalb sie die Balken in der Grafik oben nur um jeweils eins nach oben drücken würde – und sie würde, weit schlimmer, die elegante Bedingung divisors[period] & others weiter unten kaputt machen. Wie es ist, gefällt mir sehr gut, wie direkt sich die mathematische Formulierung hier in Code abbildet.

    Die zweite Funktion, get_n_resonances (vielleicht nicht der beste Name; sich hier einen besseren auszudenken wäre auch eine wertvolle Übungsaufgabe) berechnet zunächt eine Abbildung (divisors) der Zahlen von 2 bis N (candidates) zu den Mengen der Teiler, und dann für jeden Kandidaten die Zahl dieser Mengen, die gemeinsame Elemente mit der eigenen Teilermenge haben. Das macht eine vielleicht etwas dicht geratene generator expression. Generator expressions funktionieren auch wie list comprehensions, nur, dass nicht wirklich eine Liste erzeugt wird, sondern ein Iterator. Hier spuckt der Iterator Einsen aus, wenn die berechneten Teilermengen (divisors.values()) gemeinsame Elemente haben mit den Teilern der gerade betrachteten Menge (divisors[period]). Die Summe dieser Einsen ist gerade die gesuchte Zahl der Zahlen mit gemeinsamen Teilern.

    Obfuscated? Ich finde nicht.

    Das Ergebnis ist übrigens ökologisch bemerkenswert, weil kleine Primzahlen (3, 5 und 7) „schlechter“ sind als größere (11, 13 und 17). Das liegt daran, dass bei einem, sagen wir, dreijährigen Zyklus dann eben doch Resonanzen auftauchen, nämlich mit Fressfeindzyklen, die Vielfache von drei sind. Dass 11 hier so gut aussieht, folgt natürlich nur aus meiner Wahl von 20 Jahren als längsten vertretbaren Zyklus. Ganz künstlich ist diese Wahl allerdings nicht, denn ich würde erwarten, dass allzu lange Zyklen evolutionär auch wieder ungünstig sind, einerseits, weil dann Anpassungen auf sich ändernde Umweltbedingungen zu langsam stattfinden, andererseits, weil so lange Entwicklungszeiten rein biologisch schwierig zu realisieren sein könnten.

    Für richtig langlebige Organismen – Bäume zum Beispiel – könnte diese Überlegung durchaus anders ausgehen. Und das mag eine Spur sein im Hinblick auf die längeren Zyklen im Maikäfer-Artikel der Wikipedia:

    Diesem Zyklus ist ein über 30- bis 45-jähriger Rhythmus überlagert. Die Gründe hierfür sind nicht im Detail bekannt.

    Nur: 30 und 45 sehen aus der Resonanz-Betrachtung jetzt so richtig schlecht aus…

  • Ach, Sparda!

    Werbeschriften der Sparda-Bank

    Bin ich komisch, weil ich nicht gerne Geld geboten bekomme fürs Ausliefern von Bekannten an Banken?

    Ich bin leider Kunde der Sparda-Bank Baden-Württemberg. „Leider“ beispielsweise, weil mich die Bank dann und wann mit 75 Euro dazu bringen will, als Makler für sie tätig zu werden. Fände ich das Konzept Ehre nicht kreuzdoof, müsste ich wegen Betrag und Inhalt des Angebots Satisfaktion fordern.

    Lästiger im Alltag ist das Online-Banking, zumal es mit jedem „Relaunch“ schlimmer wird. Die utopische Hoffnung, ich könnte Kontoauszüge per PGP-verschlüsselter Mail bekommen und Überweisungen per signierter Mail in einem einfachen, maschinenlesbaren Format einreichen, habe ich dabei schon längst aufgegeben. Wahrscheinlich zwingen die diversen Zahlungsdiensterichtlinien die Bank wirklich zu (aus Sicht EDV-kompetenter Menschen) unsinnigen Schnittstellen.

    Aber wenn es schon hakelige Webseiten sein müssen, sollten sie wenigstens technisch so halbwegs in Ordnung sein. Fantastische Maximalforderung: die elementaren Funktionen sollten ohne Javascript gehen; das würde viel mehr für die Sicherheit tun als alle Zweifaktorauthentifizierungen des Universums. I have a dream.

    Die Sparda jedoch geht, wie gesagt, mit großen Schritten in die entgegengesetzte Richtung, kürzlich zu einem Laden namens TEO, mit dem sich einige Sparda-Genossenschaften, wie es aussieht, eine Art Fintech leisten wollten. Um damit nicht gleich bauchzulanden, ziehen sie ihre Kunden aus ihren alten (eingestandenermaßen auch unangenehmen) Systemen dorthin um.

    Schon, dass die KundInnen beim Umzug ein manuelles „onboarding“ samt Neueinrichtung der Konten sowie der (Nicht-) Zustellung von Kontoauszügen duchlaufen müssen, wirkt unnötig umständlich, so sehr ich verstehen kann, dass TEO nicht unbedingt die (vermutlich eher bescheidenen) Passwort-Hashes des alten Sparda-Eigenbaus übernehmen wollten. Bei den Investitionssummen, um die es hier vermutlich geht, wären jedoch elegantere Migrationspfade („bitte ändern sie jetzt ihr Passwort“) schon denkbar gewesen.

    Das um so mehr, als das onboarding richtig schlecht gemacht ist: Es erscheint erstmal ein leerer Bildschirm, und das ändert sich auch dann nicht, wenn mensch den Browser Javascript ausführen lässt. Kein Fallback, nichts, immer nur ein weißes Fenster. Das Javascript von TEO nämlich wirft eine Exception, wenn es kein local storage bekommt, und niemand fängt diese Exception. Ganz im Stil der neuen Zeit gibt es nicht mal ein minimales HTML ohne Skripting – nur weiß. Au weia.

    Zwei Zeilen Javascript würden reichen, um nicht verfügbare local storage zu diagnostizieren und das etwas weniger murksig zu machen (ordentliches HTML wäre natürlich immer noch nett). Etwas mehr Arbeit ist es, dann zu erklären, was da wie lang gespeichert wird und warum es ohne nicht gehen soll. Das jedoch würde ohnehin in die Datenschutzerklärung gehören, viel zusätzliche Arbeit wäre es also nicht. Wenn die Datenschutzerklärung etwas taugen würde, heißt das. Aber dazu gleich.

    Ich könnte jetzt weitermachen mit Punkten, an denen der Kram an allen möglichen und unmöglichen Stellen kaputt geht, ohne dass es irgendeine Sorte Fehlermeldung außerhalb der Javascript-Konsole (und welche Muggels kennen die schon?) gibt. Aber selbst wenn mensch den Browser – was bei Bank-Geschäften schon als schlechte Idee gelten kann – nach und nach immer unvorsichtiger konfiguriert, sind noch schwer verstehbare Schnitzer im Programm, etwa, dass der Flickercode die falsche Größe hat. Die meisten Clients haben inzwischen eine recht zuverlässige Idee von der physikalischen Größe der Anzeige; ein width: 6.5cm im CSS ist doch wirklich nicht zu viel verlangt.

    Ähnliche WTF-Momente ergeben sich in der Datenschutzerklärung der TEOs. Derzeit heißt es dort in 2.3:

    Zur Erhöhung der Kundensicherheit nutzen wir in TEO den Service reCAPTCHA der Google Ireland Limited, Gordon House, 4 Barrow St, Dublin, D04 E5W5, Irland. Im Rahmen der Registrierung in TEO wird das reCAPTCHA zur Erkennung und Unterscheidung zwischen missbräuchlicher Nutzung personenbezogener Daten durch Maschinen und menschliche Eingaben eingesetzt.

    Als ich das gelesen habe, habe ich erstmal mit dem „onboarding“ aufgehört, denn wer mir was verkaufen will, sollte nicht verlangen, dass ich Schaufenster oder Verkehrsschlider auf Zuruf von google abklicke, und mich schon gar nicht zum Ausführen von googles Code nötigen (ebay, hörst du mich?). Sparda beruft sich für diese Frechheit auf Art. 6 1(f) DSGVO, also berechtigte Interessen des Betreibers. Das ist offensichtlich Quatsch; Textchas oder selbst hostbare Tests funktionieren besser und unter weniger Kundenverprellung.

    Am Ende musste ich aber dringend überweisen und war entschlossen, den reCaptcha-Mist zur Not doch durchzustehen. Musste ich am Ende nicht nicht, google hielt meinen Browser offenbar wirklich für menschengesteuert – wer weiß, warum. Aber TEO lädt tatsächlich eine Datei recaptcha__de.js von google-Servern, und zwar dort aus einem Pfad wie /recaptcha/releases/CdDdhZfPbLLrfYLBdThNS0-Y/recaptcha__de.js – da könnte ich schon allein bei der URL ins Grübeln kommen, was für Informationen google da wohl aus dem Banking ausleiten mag (ok: ja, ich vermute in Wirklichkeit auch, dass die Buchstabensuppe eher etwas wie einen git-Commit auf google-Seite identifiziert – aber wenn die googles wollten, könnten sie über Pfade dieser Art fast beliebige Mengen an Information exfiltrieren, was erst dann auffallen würde, wenn mal wer Pfade verschiedener Clients vergliche).

    Was denken sich Leute, wenn sie ohne Not reCaptcha auf ihre Seiten packen? Diese Frage stellt sich fast noch mehr beim nächsten Punkt:

    2.4 Google Web Fonts

    Um Inhalte browserübergreifend korrekt und grafisch ansprechend darzustellen, werden in TEO Web Schriften von Google Fonts verwendet. Die Einbindung dieser Web Fonts erfolgt nicht über Google. Die Schriften liegen lokal auf Servern. Es erfolgt kein externer Serveraufruf bei Google. Es findet keine Informationsübermittlung an Google statt.

    Wenn ich recht verstehe, was die da sagen wollen, dann wäre das: Wir nehmen Fonts von google, aber ziehen sie nicht von google. Dann stellt sich die Frage, was diese Information hier soll – wenn die anfangen, aufzuzählen, wer alles irgendwie an der Software beteiligt war, die auf ihren Servern läuft, sind sie lang beschäftigt.

    Um das noch absurder zu machen: sie lügen (jedenfalls im Effekt). Zumindest gestern und heute versucht die Seite für mich, die URL https://fonts.gstatic.com/s/roboto/v18/KFOmCnqEu92Fr1Mu4mxP.ttf (und noch zwei weitere; ich hoffe, die Buchstabensuppe erhält nicht allzu viel Kompromittierendes über mich) zu dereferenzieren. Damit hat google die IP, via Referrer den Umstand, dass gerade wer überweist, und vermutlich auch die Muggel-Identität, da mich wundern würde, wenn nicht normal der google-Cookie auch an gstatic gehen würde (ich muss gestehen, das nicht näher untersucht zu haben, zumal fonts.gstatic.com auf meinen Maschinen zu localhost auflöst).

    Was soll das? Wenn TEO schon Geld in die Hand nimmt und meint, mir die Wahl des Fonts vorschreiben zu müssen (was ich übrigens lästig finde), dann sollen sie wenigstens irgendwas kaufen statt die vergifteten Geschenke von google zu nehmen und dann noch in ihrer Datenschutzerklärung zu lügen.

    Für eine teilweise Erklärung für die, na ja, Lüge (ich will gnädig sein: „das Versehen“) mit den google-Fonts hilft ein Blick auf die 107 (!) Requests, die mein Browser macht, um die Wurzelseite des Online-Bankings aufzubauen. Dabei zeigt sich, dass immerhin die meisten Daten von TEO-Servern kommen. Es bleiben aber, nach der Vorrede kaum überraschend, doch einige Cross-Site-Requests.

    • die erwähnten Google-Fonts
    • ein CSS, ein Logo, das Captcha-Javascript (von www.gstatic.com)
    • eine bizarre Datei „anchor“, die offenbar im Zusammenhang mit Captcha steht (und die den Browser vermutlich dazu bringt, die Fonts von fonts.gstatic.com zu ziehen)
    • Und dann noch Ressourcen list und logoutWeb von prod-teo.itmr.de, beides JSON, ersteres mit Zeug, was erstmal nach Werbequatsch aussieht, aber vermutlich Identitäsinformation ist.

    Die Suche nach ITMR in der Datenschutzerklärung ist vergeblich, www.itmr.de zeigt ohne Javascript nur einen Spinner:

    Ein Warte-Spinner

    Wenn dieses Ding genug Schöpfungshöhe für Copyright hat, liegt dieses vermutlich bei itmr. Hier verwendet unter der, klar, Satireklausel.

    Der Spinner ist schon mal deutlich mehr als die leere Seite von TEO. Mit Javascript kommt sogar ein Titel: „ITM Research GmbH – Smart Cloud Computing”, ansonsten bleibt es beim Spinner. ITM Research… nichts, was Wikipedia kennen würde. Smart? Na ja. Zieht auch erstmal fünf Pfund Zeug von Google, Fonts und eine Familienpackung Javascript von maps.googleapis.com, einen Haufen PNGs von www.google.com. Ziemlich viel Kram für einen rotierenden Spinner.

    Wenn ich der Seite obendrauf local storage erlaube, kommt endlich das heiß erwartete Cookie-Banner, und zwar so:

    Cookie-Banner mit vor-abgeklickten Trackingcookies

    Echt jetzt? Per default angeklickte Tracking-Cookies? Wie smart muss mensch wohl sein, um für so ein bisschen Überwachungsmehrwert ein fettes Bußgeld zu riskieren?

    Zurück zur Ausgangsfrage: Was für Daten tauscht die Sparda eigentlich mit diesen etwas anrüchigen Gesellen aus? „ITM-ation – unser Synonym für digitale Transformation und Innovation“ schreiben sie, wenn ihnen der Browser gut genug ist. Diese Leute bekommen mit, wenn ich mit der Sparda-Bank rede? Uh.

    Ich klicke auf „Mehr Erfahren”. Beim Bullshit Bingo hätte ich gleich gewonnen:

    Wir realisieren Projekte der digitalen Transformation und Innovation, um Ihnen durch die Digitalisierung von Geschäftsmodellen, Wertschöpfungsketten und Prozessen mehr Wachstum in einem immer stärkeren Wettbewerbsumfeld zu ermöglichen. [...] Wir entwickeln Apps und Web-Apps, um Geschäftsprozesse in digitale Ökosysteme zu transferieren. Wir entwickeln dabei Ihre Datenveredelungsstrategie, setzen aber auch externe Echtzeit-Dienste der künstlichen Intelligenz (KI) wie zum Beispiel Cognitive Services und Watson ein. [...] Eine positive User Experience ist unabdingbar in der Digitalisierung Ihrer Prozesse. Um das jederzeit und von überall zu erzielen, brauchen Sie zwischen Ihrer Anwendung und Ihren Kunden über alle Kanäle und Anwendungsoptionen hinweg funktionale und ansprechende Benutzeroberflächen und Schnittstellen.

    Der Bullshit gegen Ende suggeriert (ebenso wie der konsistente Totalausfall ohne …

  • Immer auf die Linken

    In ihrem Engagement „gegen Rechts“ beschränkt sich die Regierung im Wesentlichen auf autoritäre Maßnahmen, also Verbote und Drohungen. Das ist schade, denn das Runtertönen des regierungsamtlichen Nationalismus („deutsche Interessen wahren“), Militarismus („Fähigkeit zur Machtprojektion“), Autoritarismus (§114 StGB, um mal was besonders Schlagendes zu erwähnen; die Rote Hilfe Berlin dazu) und der vielen anderen rechten Versatzstücke („Flüchtlingskrise“, „wegsperren, und zwar für immer“ usf) könnte erstens vielleicht wirklich was bringen und würde zweitens nicht am Ende in aller Regel menschenfreundliche Anliegen treffen.

    Für die Beobachtung, nach der „Gesetze gegen Rechts“ (aktuell z.B. das verschärfte Hassgesetz) am Ende in aller Regel Linke treffen, habe ich gerade ein Beispiel gefunden, das ich gar nicht in diese Kategorie gepackt hatte: Den Entzug der Gemeinnützigkeit der VVN/BdA. Dabei hatte das Berliner Finanzamt der Antifa-Organisation eine dicke Steuernachforderung geschickt unter Hinweis auf erstens den Bericht des bayrischen Inlandsgeheimdienstes („Verfassungsschutz”, VS), der die VVN/BdA als staatsfeindlich listet.

    Der Eintrag als solcher wäre ja nicht schlimm, denn dass der VS aus Schurken besteht und aufgelöst werden muss, ist nicht erst seit Maaßen klar. Jedoch hat der Gesetzgeber zweitens 2009 dem §51 Abgabenordnung (AO) – der Einleitung zur Regelung von Steuerbegünstigung und Gemeinnützigkeit – einen Absatz 3 hinzugefügt, in dem es heißt:

    Bei Körperschaften, die im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als extremistische Organisation aufgeführt sind, ist widerlegbar davon auszugehen, dass die Voraussetzungen des Satzes 1 [ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke] nicht erfüllt sind.

    – der VS hat mithin ein effektives Vetorecht für die Anerkennung steuerlicher Begünstigung, was nicht weit weg ist von der Methode der Klassifikation als ausländischer Agent durch das Justizministerium in Russland[1]. Wie das die beschließenden ParlamentarierInnen mit einem transparenten, gewaltengeteilten Staatsmodell zusammenbekommen haben, ist mir schleierhaft.

    Aber stellt sich raus: sie haben sich wohl als antifaschistisch bewegt gewähnt, denn §51 (3) AO entstand als Folge des gescheiterten Verbotsprozesses gegen die NPD. Zur Erinnerung: 2001 bis 2003 hatten Bund und Länder versucht, die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen. Das scheiterte 2003, weil die diversen Inlandsgeheimdienste sich weigerten, ihre MitarbeiterInnen abzuziehen und Vertrauenspersonen abzuschalten, so dass klar hätte werden können, wie viel der Organisation tatsächlich nicht nur aus Geheimdienst besteht. Wo auf dem Spektrum von „NPD decken“, „die eigene Existenzgrundlage aufbauen“ und „unfähig sein“ das anzusiedeln war, bleibt bis auf Weiteres dem eigenen Geschmack überlassen (vgl. auch Wikipedia zum ersten NPD-Verbotsverfahren).

    Tatsäche ist jedenfalls: Der VS hat die NPD gerettet, und nun dachten sich vermutlich nicht ganz übelmeinende Personen aus der Restpolitik, der Laden sollte zumindest nicht noch anders als über den VS in großen Mengen staatliches Geld bekommen. Dazu hätte eine Änderung im Parteiengesetz gereicht (und selbst das hätte ich als schlechte Idee klassifiziert). Dass auch die ganz normale Vereine regulierende Abgabenordnung geändert wurde, nun, das könnten weniger wohlmeinende Menschen auf den Fluren der Ministerien angeleiert haben. Vielleicht war es aber auch wirklich nur der Versuch, proaktiv Schlupflöcher zu stopfen.

    Nun, zehn Jahre später wandte das Finanzamt Berlin das in sogar halbwegs glaubhaftem antifaschistischem Furor geänderte Gesetz gegen die größte antifaschistische Organisation der BRD.

    Das hat letztes Jahr für einige Mobilisierung und viele Eintritte in die VVN/BdA gesorgt, nicht jedoch für eine Änderung des anrüchigen §51 (3) AO. Stattdessen haben sich Finanzamt Berlin und VS Bayern elegant aus der öffentlichen Schusslinie genommen, indem der VS Bayern seine Einschätzungen nur noch auf den bayrischen Landesverband der VVN beschränkt und das Finanzamt Berlin daher die Bundesorganisation nicht mehr als unerwünscht einstufen muss.

    Was aber heißt: Der nächste VS, der einen Laden plattmachen will, der sich auf Steuerbegünstigung verlässt, kann das immer noch tun.

    [1]In Russland sind im Laufe der Jahre eine Art Trucker-Gewerkschaft und eine Selbsthilfe-Organisation von Diabetiker_innen in den Fokus des ausländische-Agenten-Apparats gekommen. Dass VS und Finanzamt immerhin auf die VVN-BdA und nicht etwa auf Männergesangsvereine losgehen: das macht Hoffnung im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit der deutschen Bürokratie jedenfalls im Vergleich zur russischen.
  • Offene Haftbefehle, politisch

    Mit einiger Verspätung habe ich gerade Bundestagsdrucksache 19/15346 durchgelesen, hauptsächlich, um herauszufinden, wie es wohl mit PIAV weitergegangen ist, dem dystopischen Projekt des BKA, dem Wildwuchs der Polizeidatenbanken ausgerechnet dadurch ein Ende zu machen, dass im Wesentlichen alle alles finden und lesen können (gut, das ist jetzt etwas vereinfachend, aber aus allen Erfahrungen mit dem bestehenden BKA nicht sehr weit extrapoliert).

    Der Lerneffekt der Lektüre in Sachen PIAV war überschaubar, aber dafür bin ich auf eine beim BKA betriebene Datei „Übersicht offener Haftbefehle PMK“ gestoßen, die so beschrieben wird:

    Tabellenausschnitt mit Dateizweck: „Tabellarische Übersicht von Grundinformationen (Personalien/letzter Aufenthaltsort/Angaben zum Haftbefehl) zu Fahndungen von Peronen, die mindestens den Status eines Verdächtigen im Bereich PMK haben und zu denen ein offener Haftbefehl besteht.

    Wenn ich die Spalte 6 (vom Innenministerium etwas unzutreffend „Zweck“ überschrieben) richtig interpretiere, lässt das BKA bei jedem Haftbefehl (die kommen vermutlich wegen der ebenfalls beim BKA liegenden Haftdatei bei ihnen vorbei) eine Abfrage gegen ihre verschiedenen Datenbanken laufen. Dabei wäre schon mal interessant, welche das konkret sind: Nur der KAN? Die Gewalttäter-Dateien? Auch die Top-Secret-Amtsdateien?

    Sofern sich bei dieser Suche an der zu verhaftenden Person ein personengebundener Hinweis (PHW) wie LIMO, REMO oder AUMO zeigt, wird offenbar ein neuer Eintrag in dieser Haftbefehl-PMK-Datei generiert, und zwar ganz egal, ob die der Haftstrafe zugrundeliegende Straftat irgendwas mit mutmaßlichen Gesinnungen zu tun haben könnte oder nicht.

    Ich hätte dazu ein paar Fragen:

    • Hat da jemals jemand einen tatsächlichen Zweck formuliert? Also anfangend mit: „Wenn jemand wegen eines Waffendelikts einfahren soll und es ist ein Fascho, dann ist es gut™, wenn wir wissen, dass ein Fascho und nicht nur irgendwer wegen eines Waffendelikts einfahren soll.“
    • Hat dann wer gesagt, wie „dann ist es gut“ zu irgendeinem Nutzen werden könnte, der dem doch recht drastischen Eingriff in die Menschenrechte der Betroffenen proportional sein könnte?
    • Warum brauchts dann dazu, Schwarzfahrende mit und ohne Protesthintergrund verschieden zu behandeln? Ich biete übrigens eine 1:1-Wette an, dass von den Leuten, deren politischer PHW irgendeine Wurzel in der Realität hat, die breite Mehrheit Linke sind, die wegen entweder Dope oder Schwarzfahren einfahren sollen; meine Fantasie reicht nicht, für so eine Speicherung auch nur irgendeine Rechtfertigung zu finden jenseits von „lass uns die Zecken noch etwas ärgern“.
    • Hat da jemals jemand von einer Datenschutzbehörde draufgeschaut? Meine Arbeitshypothese: Die Prüfenden hat der Schlag getroffen, weshalb sie das nicht gleich laut im Datenschutzbericht angeprangert haben (dem BKA untersagen können sie ja leider in der Praxis nicht viel).

    Als schwacher Trost bleibt, dass die PHWs, die in den verschiedenen Datenbanken so vergeben sind, selbst weitgehend beliebig sind und Datenschutzprüfungen nur in Ausnahmefällen überstehen. Das setzt zumindest mal große Fragezeichen hinter die Eignung dieser Datei für eigentlich alles, denn Leute im Wesentlichen nach dem Zufallsprinzip in eine Datei stecken mag beim BKA Routine sein, für alle anderen ist es schlicht fieser Quatsch.

    Das tröstet ein wenig, denn menschenrechtsfeindlicher Quatsch schlägt immerhin nur nach dem Zufallsprinzip ein. Das ist immer noch besser als zielgerichtete Spezialunterdrückung für politisch aktive Menschen.

    Nachtrag (2021-06-05)

    Stellt sich raus: Das ist in Wirklichkeit relativ harmlos und jedenfalls nicht die Idee der Polizei. Die Datei wurde eingerichtet, um Bundestagsanfragen zu offenen Haftbefehlen gegen vermutliche FaschistInnen beantworten zu können, und weil das BKA extremistisch der Extremismustheorie anhängt, haben sie dann gleich alles, was sie in PMK einordnen, in eine Datei gekippt. Warum sie nicht einfach ein bisschen SQL laufen lassen zur Beantwortung der Anfragen, verstehe ich nicht ganz; freie Anfragen über so kitzligen Beständen sind zwar vom Datenschutz her ziemlich kritisch, aber wenn die Ausgabe so stark aggregiert ist wie hier, wäre das sicher milder gegenüber einer eigenen und dauerhaften Datenbank-Tabelle (einem View?).

    Auf der anderen Seite: Wenn die Polizei diese Tabelle gar nicht wollte, bleibt als Haupt-Ärger vor allem die völlig unklare Zweckbestimmung. Hätten sie gleich gesagt, worum es geht, hätte ich mir den ganzen Post sparen können.

  • Fledermäuse und die Schallgeschwindigkeit

    Via Forschung aktuell vom 5. Mai (ab 18:35) bin ich über ein weiteres Beispiel für vielleicht nicht mehr ganz vertretbare, aber leider doch sehr spannende Experimente an Tieren gestolpert: Eran Amichai und Yossi Yovel von der Uni Tel Aviv und dem Dartmouth College haben festgestellt, dass (jedenfalls) Weißrandfledermäuse eine angeborene Vorstellung von der Schallgeschwindigkeit haben („Echolocating bats rely on innate speed-of-sound reference“, https://doi.org/10.1073/pnas.2024352118; ich glaube, den Volltext gibts außerhalb von Uninetzen nur über scihub).

    Flughunde vor Abendhimmel

    Die beeindruckendsten Fledertiere, die ich je gesehen habe: Große Flughunde, die abends in großen Mengen am Abendhimmel von Pune ihre Runden drehen. Im Hinblick auf die Verwendung dieses Fotos bei diesem Artikel etwas blöd: Diese Tiere machen gar keine Echoortung.

    Das ist zunächst mal überraschend, weil die Schallgeschwindigkeit in Gasen und Flüssigkeiten von deren Dichte abhängig ist und sie damit für Fledermäuse je nach Habitat, Wetter und Höhe schwankt. Für ideale Gase lässt sie sich sogar recht leicht ableiten, und das Ergebnis ist: c = (κ p/ρ)½, wo c die Schallgeschwindigkeit, p der Druck und ρ die Dichte ist. Den Adiabatenexponent κ erklärt bei Bedarf die Wikipedia, er ändert sich jedenfalls nur, wenn die Chemie des Gases sich ändert. Luft ist, wenn ihr nicht gerade in Hochdruckkammern steht (und da würdet ihr nicht lange stehen), ideal genug, und so ist die Schallgeschwindigkeit bei konstantem Luftdruck in unserer Realität in guter Näherung umgekehrt proportional zur Wurzel der Dichte der Luft.

    Nun hat Helium bei Normalbedingungen eine Dichte von rund 0.18 kg auf den Kubikmeter, während Luft bei ungefähr 1.25 kg/m³ liegt (Faustregel: 1 m³ Wasser ist rund eine Tonne, 1 m³ Luft ist rund ein Kilo; das hat die Natur ganz merkfreundlich eingerichtet). Der Adiabatenexponent für Helium (das keine Moleküle bildet) ist zwar etwas anders als der von Stickstoff und Sauerstoff, aber so genau geht es hier nicht, und deshalb habe ich 1/math.sqrt(0.18/1.25) in mein Python getippt; das Ergebnis ist 2.6: grob so viel schneller ist Schall in Helium als in Luft (wo es rund 300 m/s oder 1000 km/h sind; wegen des anderen κ sind es in Helium bei Normalbedingungen in Wahrheit 970 m/s).

    Flattern in Heliox

    Das hat für Fledermäuse eine ziemlich ärgerliche Konsequenz: Da sich die Tiere ja vor allem durch Sonar orientieren und in Helium die Echos 3.2 mal schneller zurückkommen würden als in Luft, würden an Luft gewöhnte Fledermäuse glauben, all die Wände, Wanzen und Libellen wären 3.2-mal näher als sie wirklich sind. Immerhin ist das die sichere Richtung, denn in einer Schwefelhexaflourid-Atmosphäre (um mal ein Gas mit einer sehr hohen Dichte zu nehmen, ρ = 6.6 kg/m³) ist die Schallgeschwindigkeit nur 44% von der in Luft (wieder ignorierend, dass das Zeug einen noch anderen Adiabatenexponenten hat als He, O2 oder N2), und die Tiere würden sich noch zwanzig Zentimeter von der Wand weg wähnen, wenn sie in Wirklichkeit schon mit den Flügeln an sie anschlagen könnten – die Weißrandfledermäuse, mit denen die Leute hier experimentiert haben, haben eine Flügelspannweite von rund 20 Zentimetern (bei 10 Gramm Gewicht!). Wer mal Fledermäuse hat fliegen sehen, ahnt, dass das wohl nicht gut ausgehen würde.

    Aber das ist natürlich Unsinn: In Schwefelhexaflourid ist die Trägheit des Mediums erheblich größer, und das wird die Strömungseigenschaften und damit den dynamischen Auftrieb der Fledermausflügel drastisch ändern[1]. Was auch umgekehrt ein Problem ist, denn in einer Helium-Atmosphäre mit der um fast einen Faktor 10 geringeren spezifischen Trägheit funktionieren die Fledermausflügel auch nicht ordentlich. Ganz zu schweigen davon natürlich, dass die Tiere darin mangels Sauerstoff ersticken würden.

    Deshalb haben Amichal und Co mit Luft-Helium-Mischungen („Heliox“) experimentiert. Dabei haben sie die Schallgeschwindigkeit in einigen Experimenten um 27% erhöht, in der Regel aber nur um 15%[2]. Dass die beiden zwei Helioxmischungen am Start hatten, wird wohl einerseits daran liegen, dass die 15% allenfalls knapp über der natürlichen Schwankungsbreite der Schallgeschwindigket durch Temperatur, Luftdruck und Luftfeuchtigkeit (die gehen ja auch alle auf die Dichte) liegen. Mit 27% aber hatten die Fledermäuse doch zu große Probleme mit dem Fliegen, und das wäre keine Umwelt, in der kleine Fledermäuse aufwachsen sollten.

    Im Artikel schreiben die Leute dazu etwas hartherzig:

    “Category I” [von Fehlflügen] included flights in which the bat clearly did not adjust motor responses to the lessened lift and landed on the floor less than 50 cm from takeoff.

    – was eine recht zurückhaltende Umschreibung von „Absturz“ ist. Einige Tiere hatten davon schnell die Nase voll:

    Treatments [nennt mich pingelig, aber die Bezeichnung der Experimente als „Behandlung“ ist für mich schon auch irgendwo am Euphemismus-Spektrum] were completed in one session with several exceptions: two individuals refused to fly at 27% SOS after 2 d, and those treatments were therefore done in two sessions each, separated by 1 d in normal air.

    Unter diesen Umständen liegt auf der Hand, dass „Köder gefangen und gefressen“ kein gutes Kriterium ist dafür, ob sich die Fledermäuse auf Änderungen der Schallgeschwindigkeit einstellen können – viel wahrscheinlicher waren sie einfach mit ihren Flugkünsten am Ende.

    Tschilpen und Fiepen

    Es gibt aber einen Trick, um die Effekte von Wahrnehmung und Fluggeschick zu trennen. Jagende Fledermäuse haben nämlich zwei Modi der Echoortung: Auf der Suche und aus der Ferne orten sie mit relativ lang auseinanderliegenden, längeren Pulsen, also etwa Tschilp – Tschilp – Tschilp. In der unmittelbaren Umgebung der Beute (in diesem Fall so ab 40 cm wahrgenommener Entfernung) verringern sie den Abstand zwischen den Pulsen, also etwa auf ein Fipfipfipfip. Auf diese Weise lässt sich recht einfach nachvollziehen, welchen Abstand die Tiere selbst messen, wobei „recht einfach“ hier ein Aufnahmegerät für Ultraschall voraussetzt. Wenn sie in zu großer Entfernung mit dem Fipfipfip anfangen, nehmen sie die falsche Schallgeschwindigkeit an.

    Bei der Auswertung von Beuteflügen mit und ohne Helium stellt sich, für mich sehr glaubhaft, heraus, dass Fledermäuse auch nach längerem Aufenhalt in Heliox immer noch unter Annahme der Schallgeschwindigkeit in (reiner) Luft messen: Diese muss ihnen also entweder angeboren sein, oder sie haben sie in ihrer Kindheit fürs Leben gelernt.

    Das Hauptthema der Arbeit ist die Entscheidung zwischen diesen beiden Thesen – nature or nurture, wenn mensch so will. Deshalb haben Amichal und Co 24 Fledermausfrauen aus der Wildnis gefangen, von denen 16 schwanger waren und die schließlich 18 Kinder zur Welt gebracht haben. Mütter und Kinder mussten für ein paar Wochen im Labor leben, wo sie per Kunstlicht auf einen für die Wissenschaftler_innen bequemen Tagesrhythmus gebracht wurden: 16 Stunden Tag, 8 Stunden Nacht, wobei die Nacht, also die Aktivitätszeit der Tiere, zwischen 10 und 17 Uhr lag. Offenbar haben BiologInnen nicht nennenswert andere Bürozeiten als AstronomInnen.

    Mit allerlei Mikrofonen wurde überprüft, dass die Tiere während ihres Tages auch brav schliefen; auf die Weise musste die Heliox-Mischung nur während der Arbeitszeit aufrechterhalten werden, während die Käfige in der Nacht lüften konnten, ohne dass die Heliox-Fledermäuse sich wieder an richtige Luft hätten gewöhnen können.

    Jeweils acht Fledermausbabys wuchsen in normaler Luft bzw. Heliox-15 auf, den doch recht argen Heliox-27-Bedingungen wurden sie nur für spätere Einzelexperimente ausgesetzt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Kinder unabhängig von ihrer Kindheitsatmosphäre in gleicher Weise orten: Der Umschlag von Tschilp-Tschip nach Fipfip passierte jeweils bei gleichen Schall-Laufzeiten unabhängig von der wirklichen Distanz.

    Warum tun sie das?

    Diese Befunde sind (aus meiner Sicht leider) nur recht schwer wegzudiskutieren, das wirkt alles recht wasserdicht gemacht. Was die Frage aufwirft, warum die Tiere so hinevolutioniert sind. Amichal und Yovel spekulieren, ein Einlernen der Schallgeschwindigkeit habe sich deshalb nicht herausgebildet, weil Weißrandfledermäuse in der Wildnis sehr schnell erwachsen werden und selbst jagen müssen, weshalb es nicht genug Zeit zum Üben und Lernen gebe.

    Das wäre wohl testbar: Ich rate jetzt mal, dass größere (oder andere) Fledermäuse längere Kindheiten haben. Vielleicht lernen ja die das? Oder vielleicht hängt die festverdrahtete Physik auch daran, dass Weißrandfledermäuse eigentlich durchweg mit ziemlich konstanter Schallgeschwindigkeit leben? Dann müsste das etwa bei mexikanischen Bulldoggfledermäusen (die aus dem Bacardi-Logo) anders sein, für die der Artikel Flughöhen von 3 km zitiert.

    Auch wenn die Sache mit dem Einsperren und Abstürzenlassen von Fledermäusen schon ein wenig gruselig ist: die Wortschöpfungen „Luftwelpen“ und „Helioxwelpen“ haben mich beim Lesen schon angerührt – wobei „Welpe“ für das Original „pup“ eingestandermaßen meine Übersetzung ist. Gibt es eigentlich einen deutsches Spezialausdruck für „Mauskind“?

    Abschließend doch noch ein Schwachpunkt: In der Studie habe ich nichts zum Einfluss des Mediums auf die Tonhöhe der Rufe gelesen[3]. Den muss es aber geben – die Demo von PhysiklehrerInnen, die Helium einatmen und dann mit Micky Maus-Stimme reden, hat wohl jedeR durchmachen müssen. Die Schallgeschwindigkeit ist ja einfach das Produkt von Frequenz und Wellenlänge, c = λ ν, und da λ hier durch die Länge der Stimmbänder (bei entsprechender Anspannung des Kehlkopfs) festliegen sollte, müsste die Frequenz der Töne in 27%-Heliox eben um einen Faktor 1.27, also ungefähr 5/4, niediger liegen. In der Musik ist das die große Terz, etwa das Lalülala einer deutschen Polizeisirene. Und jetzt frage mich mich natürlich, ob das die Fledermäuse nicht merken …

  • udev, thinkpad docks, sawfish

    The other day someone gave me another dock for my thinkpad, and I eventually decided to use it at home. I've had a dock at the office for a long time, and docking there involved running a complex script configuring the network environment, running a window manager on some display on a desktop machine, and only exiting when the dock was supposed to end; its execution was triggered when the wake-up script noticed a dock was present.

    Now, when there are two docks and one is for rather conventional at-home use (essentially, simply configuring a different monitor and network adapter), I decided to do it properly and go through udev. Which turned out to be tricky enough that I'll turn this note to my future self into a blog post.

    udev

    What turned out to be the most complicated part was figuring out the udev rules. That's because for ages I have been using:

    udevadm info -a -p some/sysfs/path
    

    to work out matchable attributes for a device. That's more or less fine if all you're after is rules for attaching devices. For the dock, however, the removal event is important, too. But when the removal event comes in, udev has forgotten essentially all of the attributes that come from info -a, and rules that work with add simply won't fire with remove.

    So, here's my new policy: I'll use:

    udevadm monitor --environment --udev
    

    (where the udev option restricts events to udev rather than kernel events, which for the deluge of events coming from the dock seemed smart; I may want to revisit that). When you then plug in or out things, you'll directly see what events you can match against. Nice.

    Except of course for the deluge of events just mentioned: A dock just has quite a few devices. The event for the device I consider most characteristic, however, makes two add events, and I've not found a good way to tell the two of them apart. Still, this is what I've put into /etc/udev/rules.d/95-docking.rules:

    ACTION=="add", SUBSYSTEM=="usb", ENV{ID_VENDOR_ID}=="17ef", \
      ENV{ID_MODEL_ID}=="1010",  ENV{DEVTYPE}=="usb_device", \
      RUN+="/bin/su <your user id> -c '/full-path-to-dock-script start'"
    
    ACTION=="remove",  ENV{SUBSYSTEM}=="usb", ENV{PRODUCT}=="17ef/1010/5040", \
      ENV{DEVTYPE}=="usb_device", \
      RUN+="/bin/su <your user id> -c '/full-path-to-dock-script stop'"
    

    Important (and having forgotten about it again gave me quite a bit of frustration): Rather sensibly, udev has no idea of the shell path and will just fail silently when it cannot execute what's in RUN. Hence you must (essentially) always give full path names in udev RUN actions. In case of doubt, try RUN+="/usr/bin/logger 'rule fires'" in a rule and watch the syslog.

    For this kind of thing, by the way, you'll rather certainly want to use su (or go through policykit, but I can't bring mayself to like it). You see, I want the dock script in my home directory and owned by me; having such a thing be executed as root (which udev does) would be a nice backdoor for emergencies, but will generally count as a bad idea.

    On the double dock event… well, we're dealing with shell scripts here, so we'll hack around it.

    Dock script: sawfish to the rescue

    udev only lets you execute short scripts these days and rigorously kills everything spawned from udev rules when it has finished processing the events. I suppose that's a good policy for general system stability and reducing unpleasant surprises. But for little hacks like the one I'm after here, it seems to be a bit of a pain at first.

    What it means in practice is that you need something else to execute the actual dock script. In my case, that thing is my window manager, sawfish, and having the window manager do this is rather satisfying, which reinforces my positive feeling towards udev's kill policy (although, truth be told, the actual implemenation is in shell rather than in sawfish's scheme).

    To keep everything nicely together, the docking script at its core is a bash case statement, in essence:

    !/bin/bash
    # bookkeeping: we need to undock if that file is present
    UNDOCK_FILE=~/.do-undock
    
    # display for the window manager we talk to
    export DISPLAY=:0
    
    case $1 in
      start)
        sawfish-client -c "(system \"urxvt -geometry -0+0 -e $0 on &\")"
        ;;
      stop)
        sawfish-client -c "(system \"urxvt -geometry -0+0 -e $0 off &\")"
        ;;
      on)
        if [[ -f $UNDOCK_FILE &&
          $((`date +"%s"` - `date -r $UNDOCK_FILE +"%s"`)) -lt 20 ]]; then
            # debounce multiple dock requests
           exit 1
        fi
        touch $UNDOCK_FILE
    
        # let udev do its thing first; we're no longer running from udev
        # when we're here.
        udevadm settle
    
        # Commands to dock follow here
        ;;
      off)
        if [ -f ~/.do-undock ]; then
          rm ~/.do-undock
          # Commands to undock in here.
        fi
        ;;
      *)
        echo "Usage $0 (start|stop|on|off)"
        ;;
    esac
    

    The plan is: Udev calls the script with start and stop, which then arranges for sawfish to call the script from sawfish with the on and off arguments.

    There's a bit of bookkeeping with a file in home I keep to see whether we need to undock (in my setup, that's not necessary at work), and which I use to unbounce the duplicate dock request from udev. That part could be improved by using lockfile(1), because the way it is written right now there are race conditions (between the -f, the date, and the touch) – perhaps I'll do it when next I have time budgeted for OS fiddling.

    One think I like a lot is the udevadm settle; this basically lets my script rely on a defined state where all the devices it may want to talk to are guaranteed to be initialised as far as udev goes. This is so much nicer than that sleep 3 you can see in too many places.

    What I do when docking

    Why go into all this trouble and not let whatever automagic is active pick up the screen and the new network interface and be done with it? Well, partly because I don't run most of the software that does that magic. But of course having a shell script lets me say what I actually want:

    • disable sleep on lid closing (that's special to my own ACPI hacks from the depths of time)
    • configure the the external screen as primary (that's something like xrandr --output DP2-1 --off ; xrandr --fb 2048x1152 --output DP2-1 --auto for me; don't ask why I first need to switch off the display, but without it the --auto will get confused).
    • switch to an empty (“dock-only” if you will) page on the desktop (that's wmctrl -o 4096,1152 for me).
    • sure enough, switch on some desktop glitz that I'm too stingy for when off the grid.

    One thing I'm currently doing in the dock script that I shouldn't be doing there: I'm now using a wacom bamboo pad I've inherited as a mouse replacement at home and was suprised that no middle mouse button (Button2) was configured automatically on it. Perhaps some search engine will pick this up and save a poor soul looking for a quick solution reading man pages and xsetwacom output:

    xsetwacom set "Wacom BambooPT 2FG 4x5 Pad pad" Button 8 2
    xsetwacom set "Wacom BambooPT 2FG 4x5 Pad pad" Button 9 2
    

    (this makes both buttons in the middle middle mouse buttons; I'll see if I like that on the long run). Of course, in the end, these lines belong into a udev rule for the wacom tablet rather than a dock script. See above on these.

  • Antisprache: gesperrt, parken, Unfall

    "Autos raus"-Graffiti auf Verteilerkasten

    Juni 2001 im Berliner Tiergarten: Visionäre Ansagen.

    Ich bilde mir ja ein, dass ich eine gewisse Sensibilität für Antisprache habe, also Wörtern und Fomulierungen, die Bedeutung annihiliern statt transportieren. Aber das schöne Interview mit Dirk Schneidemesser vom IASS in der taz von heute hat mich eines Besseren belehrt. Dass „parken“ eine rücksichtslose Okkupation öffentlichen Raumes verschleiert, „Unfall“ völlig gegen die Realität so tut, als sei Verkehrsgewalt (Schneidemessers Terminologie) Ausnahme und nicht Regel und „gesperrt“ bei einer Straße, die gerade für die Nutzung durch Menschen geöffnet wurde, komplett sinnwidrig ist: Das alles ist mir erst beim Lesen des Interviews klar geworden.

    Das ist für einen passionierten Autofeind und Antisprach-Beobachter wie mich schon ziemlich peinlich.

    Da hilft traditionell nur eins: öffentliche Selbstkritik!

  • Erbliche Hypomagnesiämie

    Wenn PhysikerInnen Bücher über Molekularbiologie lesen (so wie ich derzeit dann und wann), sollten sie sich wahrscheinlich öfter mal schämen, weil sie Dinge faszinieren, die Menschen krankmachen. Aber andererseits weht ein Geist der Einsicht, wenn makroskopische, fast alltägliche Phänomene atomare Grundlagen haben.

    Gerade habe ich etwas über erbliche Hypomagnesiämie gelesen, also einen genetisch bedingten Magnesiummangel, speziell das Meier-Blumberg-Imahorn-Syndrom (und wieder mal haut mich um, dass in der Wikipedia über fast alles etwas steht, auch wenn dieser spezielle Artikel mich gewiss nicht fasziniert hätte).

    Wesentliches Symptom dieser Krankheit sind Krämpfe, wie vielleicht erwartbar bei Magnesiummangel; doch können die Betroffenen Magnesium zu sich nehmen, so viel sie wollen, die Krämpfe bleiben. Das liegt daran, dass die Niere ohne weitere Maßnahmen endlos Magnesium verliert und es deshalb im Normalbetrieb fleißig rückresorbiert, es also aus dem in der Produktion befindlichen Urin wieder in den Körper zurückdiffundieren lässt. Ein klarer Hinweis auf eine Störung in dem System: Bei den Betroffenen geht der sehr niedrige Magnesiumspiegel im Blut mit einem sehr hohen Magnesiumspiegel im Urin einher.

    Die Rückresorption nun funktioniert bei der erblichen Hypomagnisiämie nicht, weil die Zellen im Nieren-Epithel – also so einer Art innerer Haut, die Blut und Urin trennt – zu fest zusammenkleben. Zellen solcher Epithelien nämlich kleben sich ziemlich weit an der Außenseite („apikal“ – allein die Terminologie begeistert mich ja immer) fest zusammen. „Tight Junction“ heißt das im Englischen und wohl im Wesentlichen auch im Deutschen.

    Diese Tight Junctions sehen in verschiedenen Hauttypen jeweils leicht anders aus und können sozusagen gezielt Lücken lassen, je nach dem, wo das Epithel ist und was die Epithelzellen noch so alles tun können und wollen. Im Magen z.B. sollte die apikal (Ha!) schwappende starke Säure wohl besser gar nicht durchkommen, im Darm gehen Natriumionen auch mal an den sortierenden Zellen vorbei direkt ins Blut.

    Drei Sorten tight junction-Moleküle

    Karikaturen der drei Sorten von Bindungsmolekülen von Tight Junctions. Die dicken grauen Striche sind die Zellmembran, die Klebemoleküle sind als tief in den jeweiligen Zellen verankert, damit das auch ordentlich hält. Aus: Lodish, H. et al: Molecular Cell Biology, 5. Auflage.

    In normal funktionierenden Nieren geht die Rückresorption des Magnesiums durch die Tight Junctions, die dafür natürlich die passenden Lücken lassen müssen. Mein Physikherz schließlich schlug höher weil „wir“ (also… „die Menschheit“) ganz gut verstehen, was da molekular passiert. Im Groben machen drei Gruppen von Proteinen das Montagematerial an den Tight Junctions aus: Occludine und Claudine (die im Wesentlichen Schlaufen aus der Zellmembran heraus bilden) sowie antikörperähnliche JAMs („junction adhesion molecules“; ich glaube, die haben es noch nicht in die deutsche Wikipedia geschafft), die im Gegensatz dazu eher lange hakenartige Strukturen bilden.

    Die spezifischen Formen dieser Moleküle bestimmen, was durch die Tight Junctions durchkann, wenn sie sich erstmal mit ihren Gegenstücken der Nachbarzellen gefunden haben. Im Fall der erblichen Hypomagnesiämie nun ist sogar klar, welches Molekül genau die Löcher für die Magnesiumionen lässt. Es trägt den vielleicht etwas enttäuschenden Namen Claudin-19, und wir wissen auch, wo das kodierende Gen liegt: Chromosom 1, p34.2. Eine ungünstige Mutation dort, und ihr habt in einem Fort Krämpfe.

    Von Muskelkrämpfen zu Atomphysik in ein paar relativ kleinen Schritten: Ich sollte Molekularbiologe werden.

    Allerdings: Die Rolle der Claudine wurde mit Knock-out-Mäusen geklärt. Bäh. Das ist ja so schon schlimm genug, aber die Vorstellung, was für Wesen herauskommen, wenn jemand den Zusammenhalt von Epithelien ausschaltet: Oh Grusel. Für mich: Dann doch lieber zurück zu den Sternen.

  • Antisprache: Geistiges Eigentum

    taz-titelbild

    Der taz-Titel von gestern hat einen guten Teil der aktuellen Diskussion um „geistiges Eigentum“ nicht schlecht subsumiert.

    Ich mag ja hartherzig sein, aber mein größter Schmerz an der derzeit laufenden Diskussion um eine Aussetzung des Patentschutzes für SARS-2-Impfstoffe ist, dass mal wieder alle über „geistiges Eigentum“ (GE) reden. Das ist bitter, weil das Antisprache – also Sprache, die Bedeutung verschluckt statt trägt – ist, die selbst nach Maßstäben von Antisprache großflächig Schaden anrichtet, beginnend bei der Exklusion von Rechnerplattformen via DRM oder der Strom- und Bandbreitenverschwendung durch Streaming. Weit relevanter: ohne die durch den GE-Begriff angerichtete Verwirrung wäre das Massaker kaum vorstellbar, das unsere private Medikamentenproduktion vor allem außerhalb von Pandemiezeiten (ich erinnere nur kurz an den endlosen Skandal Tuberkulosetherapie) anrichtet.

    GE ist Antisprache, weil es so in etwa drei Rechtssysteme, die aus ganz unterschiedlichen Gründen geschaffen wurden, unter einem allgemein bekannten, aber unpassenden Begriff („Eigentum“) zusammenfasst und so zum Verschwinden bringt, wozu die drei Konzepte jeweils geschaffen wurden. Das wiederum ruiniert diese ursprünglich zumindest nachvollziehbaren Zwecke, bis praktisch nur noch „na ja, einer muss halt reich werden dabei“ übrig bleibt.

    Die drei Rechtsbegriffe sind Urheberrecht, Patentschutz und Markenschutz. Zumindest bei zwei davon fällt sofort auf, dass das mit dem „Eigentum“ nicht hinkommen kann, denn sie sind zeitlich befristet, während BGB-konformes Eigentum nur unter recht extremen Umständen verlorengeht, sondern per Erbrecht in gewissem Sinn perpetuiert wird (wozu auch einiges zu sagen wäre – aber es geht hier ja nicht um Eigentum). Beim Markenschutz sieht das anders aus – aber den können sie meinetwegen auch behalten, jedenfalls solange culture jamming nicht gleich ins Gefängnis führt.

    Urheberrecht

    Das Urheberrecht hat seine Wurzeln im 18. Jahrhundert, als sich Gesellschaften allmählich darüber verständigten, dass Kunst auch mal unabhängig von kirchlichen oder adligen MäzenInnen entstehen können soll. Dazu musste die Arbeit der KünstlerInnen in den damaligen (ja, na ja, leider auch den heutigen) Gesellschaften irgendwie entlohnt werden, was letztlich heißt: sie muss handelbare Waren hervorbringen. Bei Kultur, die in aller Regel mit relativ wenig Aufwand vervielfältigt werden kann, ist der übliche Weg zur Warenform die enge Kontrolle öffentlichen Zugangs. Das Urheberrecht ist nichts anderes als die staatliche Garantie auf die Durchsetzbarkeit so einer Kontrolle obwohl es einfach wäre, den Kram breiter verfügbar zu machen.

    Weil im 18. Jahrhunder noch keine Antisprache des Typs GE verwirrte, kam niemand auf die Idee, diese Garantie mit dem Eigentumsbegriff zu belasten. Im Gegenteil: Eben weil das Urheberrecht die Verfügbarkeit von Literatur, Musik und anderen Kulturgütern ohne physischen Grund beschränkt, war seine Befristung ganz zentral. Wenn der Zweck des Urheberrechts – die KünstlerInnen zu füttern – glaubhaft erfüllt war, wurden die Werke in die Gemeinfreiheit entlassen.

    Relativ klar sagt das die wohl älteste Urheberrechtsregelung, die noch in Kraft ist, nämlich Artikel 1, Abschnitt 8, Satz 8 der US-Verfassung. Danach hat das Parlament die Macht,

    To promote the Progress of Science and useful Arts, by securing for limited Times to Authors and Inventors the exclusive Right to their respective Writings and Discoveries.

    Die Antisprache GE versteckt, dass der Sinn des Urheberrechts einzig und allein war, den, na ja, „Fortschritt von Wissenschaft und nützlichen Künsten“ zu fördern, und dass sich die Zeit der Zugangsbeschränktung genau an der Erfüllung dieses Zwecks zu messen hatte.

    Dieser Gedanke ändert viel: Glaubt wirklich jemand, relevante Literatur würde geschrieben, hörbare Musik gemacht, weil jemand auf Gewinn in, sagen wir, fünf Jahren hofft? Hat Ray Davies das schöne Lied von der Village Green Preservation Society (das mir seit Tagen im Kopf herumspukt) aufgenommen, weil seine Töchter (und vor allem spotify) noch 70 Jahre nach seinem Tod die Einnahmen aus Zugangsbeschränkungen erhalten werden?

    Wer solche Fragen stellt, wird vermutlich auf vernünftige Schutzzeiten von fünf oder zehn Jahren kommen, aber ganz gewiss nicht auf die 70 Jahre nach dem Tod des/der SchöpferIn aus dem Micky-Maus-Schutzgesetz. Es ist dieser Diskurs, gegen den sich die Rechteverwerter und ihre ApologetInnen mit der Rede von GE immunisieren wollen.

    Patente

    Während Urheberrechte das Bruttosozialprodukt im Groben steigern (weil Leute Geld ausgeben müssen für Kram, den sie zumindest in Zeiten des Internet praktisch umsonst haben könnten), sind Patente in der Regel schlecht für die Möglichkeiten des individuellen Reichwerdens: wenn einE PatentinhaberIn auf den Rechten sitzt, wird irgendwas im Zweifel nur sehr eingeschränkt hergestellt und nur eine Person wird reich. Das mag diese Person beim Erfindungsprozess motivieren, aber langfristig geht das böse auf die Produktions- und damit Akkumulationsmöglichkeiten.

    Bei komplexen Produkten und Produktionsverfahren wären außerdem bei Schutzzeiten wie beim Urheberrecht so viele Patente zu berücksichtigen (heute noch etwa ein guter Teil dessen, was während des zweiten Weltkriegs erfunden worden ist – die ErfinderInnen sind ja oft noch keine 70 Jahre tot), dass der Kapitalismus zu einem knirschenden Halt kommen würde.

    Und so überrascht es nicht, dass Patente nur für 20 Jahre ab Anmeldung gelten. Warum das Copyright-„Eigentum“ viel heiliger sein soll als das Patent-„Eigentum“, ist nur durch Rekurs darauf erklärbar, dass es sich in keinem Fall um „Eigentum“ handelt, und ihre Grundlage ist genau nicht – wie beim Eigentum – ein staatlicher Schutz für die private Verfügungsgewalt über Gegenstände, die nicht einfach vermehrt werden können. Geht es beim Urheberrecht ums Füttern der AutorInnen, gehts es beim Patentschutz in erster Linie um die Veröffentlichung von Erfindungen, deren breiterer Einsatz sinnvoll sein könnte.

    Während aber viele (beileibe aber nicht alle) InhaberInnen von Urheberrechten diese befürworten, ist das bei Patenten ganz anders: Eigentlich alle, die mit Technik herumfuhrwerken und Dinge basteln, sind von Patenten schwer genervt. Und während das Urheberrecht mit dem Einkommen einiger der SchöpferInnen immer noch zumindest entfernt etwas zu tun hat, sind Patente jedenfalls in meinem Bereich heute klar schädlich für den „Progress of Science“ (oder meinetwegen „Technology“). Das mag im Kernbereichs des Maschinenbaus vielleicht etwas anders sein, aber generell wäre ohne die Antisprache über GE doch recht schnell die Frage nach einer massiven Einschränkung des Patentunwesens auf dem Tisch.

    So danke ich allen verfügbaren GöttInnen, dass meine Universität darauf verzichtet, „Erfindungen“ von mir patentieren zu wollen – das wäre nämlich ihr Recht, und gemessen an dem, was im Software- und Rechnerbereich patentiert wird, gäbe es da ganz gewiss auch genug (na gut: wenn nicht schon wer anders die naheliegende Idee des Tages mit einem breiten Patent erschlagen hätte). Diese Patentverfahren würden Unmengen an Zeit und Energie binden, ohne dass das irgendeinen (gesellschaftlichen) Nutzen hätte, ganz zu schweigen von der Mühe, die ich eigentlich auf die Prüfung verwenden müsste, ob irgendwas, das ich gerade schreibe, von irgendwem patentgeschützt ist; wenn Fortschrittsbalken und One-Click-Shopping patentfähig sind, könnte ich keine nichttriviale Funktion schreiben, ohne eine solche Prüfung durchzuführen.

    Was ich natürlich nicht tue, und daher kommt dann auch mein Dank an höhere Wesen sowie mein weites Umfeld für ihr Desinteresse an Patenten, ganz speziell den Leuten, die in den Ministerien über meine Projektförderung entscheiden. Die Zeitersparnis, den Patentquatsch komplett ignorieren zu können, wäre sicher allen Software-Menschen zu wünschen, und entsprechend ist mir keineE ProgrammierIn bekannt, der/die nicht z.B. die Kampagne gegen Softwarepatente der FSFE wenigstens wohlwollend zur Kenntnis nehmen würde.

    Im Pharmabereich ist der Schaden durch Patente vielleicht nicht ganz so gut erkennbar, wenn auch das Missverhältnis zwischen hunderten von Statinzubereitungen, die westliche KundInnen mit aller Gewalt übergeholfen bekommen, und dem oben erwähnten Massensterben an Tuberkulose ohne nennenswerte private Anstrengungen zu dessen Milderung nicht nur mich zornig macht.

    Da hilft die Gebetsmühle des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller, der Patentschutz sei notwendig zur Entwicklung neuer Medikamente, wirklich nicht. Zunächst lehrt ein kurzer Blick in PubMed – was zweifellos die Forschung im medizinischen Bereich besser abbildet als irgendetwas anderes –, dass publikationswürdige Forschung zu Krankheiten und ihrer Heilung fast ausschließlich mit öffentlichem Geld stattfindet. Sucht nach irgendeiner Krankheit und schaut euch die Affiliations der ersten paar Arbeiten an: Wenn da überhaupt irgendwo privates Geld vorkommt, sind es gemeinnützige Stifungen wie der Wellcome Trust, die die Forschungen ganz sicher nicht wegen der Aussicht auf künftige Patenteinnahmen finanzieren – oder vielleicht noch Leute, die aus der Privatindustrie über ihre letzten Forschungen an Unis und Instituten berichten.

    Erst bei den klinischen Studien kommen die Unternehmen ins Spiel, und auch dann wird in aller Regel noch reichlich öffentliches Geld zugeschossen, etwa über die Kliniken, die die Studien mittragen. Aber gerade dieses System ist besonders kaputt, da trotz öffentlich finanzierter Beteiligung (die dann nicht selten durch Schweigeabkommen – Non-Disclosure Agreements – gebunden ist) fast nur positive Studien veröffentlicht wurden (und eigentlich immer noch werden), was wiederum die Grundlagen der Testtheorie aushebelt und so selbst die gut gemachten Studien entwertet.

    Innerhalb des gegenwürtigen Systems versprechen Studienregister ein wenig Abhilfe. Viel besser wäre jedoch eine staatlich finanzierte Zentralstelle, die solche Studien mit gleichbleibender Abdeckung, Sorgfalt und Publikationsdichte durchführt. Und das gilt selbst dann, wenn diese Zentralstelle am Ende nach dem Vorbild von RKI oder PEI eher nur so halb funktionieren würde. Dann würde natürlich auch noch das letzte irgendwie glaubhafte Argument für die Alimentation der Pharma-Unternehmen durch Patente wegfallen.

    Die Antisprache vom GE ist eine Immunisierung der Industrie gegen solche wirklich nicht fernliegenden Ideen. Was für ein historischen Unglück, dass die Piratenpartei weiland mit dem Thema „geistiges Eigentum ist ein ekliger Kampfbegriff“ überhaupt nicht in die Öffentlichkeit gekommen ist. Das könnte natürlich durchaus mit dem Geschäftsmodell großer …

  • Schulkinder sind gruselig

    Die Überschrift hätte ich mich nicht getraut, wenn sie nicht schon im Deutschlandfunk gelaufen wäre, in einer Sendung über einen Lauschangriff auf Lachse.

    Aber wo Christine Westerhaus es in dem Beitrag schon gesagt hat, konnte ich einer neuen Tiergeschichte nicht widerstehen: Von Lachsen und Eltern. Aktualität gewinnt das, weil ich klar nicht der Einzige bin, dem es etwas merkwürdig vorkommt, wie fast alle Eltern auf der einen Seite ostentativ darauf bestehen, ihre Kinder seien ihr Ein und Alles, auf der anderen Seite aber die Große Kinderverdrossenheit von Corona ganz öffentlich zelebrieren. Mal ehrlich: Wäre ich jetzt Kind, wäre ich angesichts des herrschenden Diskurses von geschlossenen Schulen als etwas zwischen Menschenrechtsverletzung und Katastrophe schon etwas eingeschnappt.

    Allerdings: vielleicht ist das ja gar keine Kinderverdrossenheit, sondern Verdrossenheit mit der Lohnarbeit, auf die mensch aber noch weniger schimpfen darf als auf die Kinder?

    Wie auch immer, ernsthaft beunruhigt waren Lachse am NINA in Trondheim, als eine Klasse lärmender Kinder um ihr Aquarium herumtobte. Und dieses Mal sind sie belauscht worden. So klingen vergnügte Lachse:

    Und so welche mit tobenden Kindern:

    Wie es in der Sendung heißt: „They think school kids are scary.“ Sie. Die Lachse.

    PSA: Wenn euer Browser keine Lachstöne abspielt, beschwert euch bei dessen Macher_innen: Ogg Vorbis sollte im 3. Jahrtausend wirklich alles dekodieren können, was Töne ausgibt.

  • Wenig Neues unter der Sonne

    Eine Hebamme bringt ein Neugeborenes mit Hörnern

    Fantasien zu Impfwirkungen aus dem frühen 19. Jahrhundert (Quelle).

    Im immer wieder großartigen Public Domain Review – den ich schon deshalb mag, weil fast alles ohne Javascript geht – war neulich ein Essay über das Georgian Britain’s Anti-Vaxxer Movement von Erica Eisen; es geht um frühe ImpfskeptikerInnen, und ich fand schon bemerkenswert, wie sehr sich die Motive damalis und der heute ähneln.

    Teils ist das ganz verständlich, weil etwa die Funktionsweisen von Religion historisch ziemlich konstant sind. Insofern wundert die Konstanz des Arguments über Impfen als Interferenz mit Gottes Plan nicht:

    The Small Pox is a visitation from God, but the Cow Pox is produced by presumptuous man: the former was what heaven ordained, the latter is, perhaps, a daring violation of our holy religion.

    —William Rowley, Cow-Pox Inoculation: No Security Against Small-Pox Infection (London: J. Barfield, 1805), 11.

    Umgekehrt ist erschütternd, dass die (zumindest im Fall von SARS-2) offensichtliche Abwägung zwischen möglichem Schaden und manifestem Nutzen häufig immer noch so auszugehen scheint wie unter Verhältnissen, die Eisen so beschreibt und in denen das tatsächlich ganz anders hätte sein können:

    These concerns were not allayed by the poor sanitation and medical standards that sometimes characterized the public vaccination hospitals created to serve Britain’s urban poor: at such places, the vaccines made available to patients often came not directly from cows but from the pustules of vaccinated children in the area, who may or may not have received a thorough medical check before being lanced for their “donation”. As a result, parents were not wholly unjustified in their fears that an injection meant to ward off one deadly disease might simply lead to their child being infected with another one.

    Keine Überraschung ist dabei natürlich die Beständigkeit von Armut als größtem Risikofaktor; zur der modernen Form berichtete neulich der Deutschlandfunk:

    Wo Menschen in beengten Wohnverhältnissen lebten, sei die Gefahr sich anzustecken größer als im großzügig angelegten Einfamilienhaus, sagte er in einer Landtagsdebatte in Düsseldorf. Der CDU-Chef und Unions-Kanzlerkandidat verwies dabei auf das Beispiel Köln, wo im Stadtteil Chorweiler die Inzidenz bei 500 und in Hahnwald dagegen bei 0 liege.

    Aber die wirklich beeindruckenden Parallelen liegen in völlig abseitigen Fantasien über mögliche Impfwirkungen und die Motivationen dahinter: Die gehörnten Neugeborenen aus dem Eingangsbild treffen sich da gut mit den Chips von Bill Gates, und die Angriffe aufs klare Denken gehen auch ganz regelmäßig über imaginierte Bedrohngen von Kindern, etwa im Eingangsbild oder wenn pockennarbige Monstren sie in kleine Minotauren verwandeln

    Insofern: Ein wirklich lohnender Artikel mit, wie üblich beim PDR, vielen schönen Bildern.

  • Wie im Klischee

    Das Bild der EU als „Friedensmacht“, die allenfalls mit etwas Geld die Verhältnisse in der Welt milde verbessert, war natürlich schon immer Quatsch. Die Rücksichtslosigkeit, mit der Kommission und Rat rassistische und neokoloniale Agenden mit Gewalt durchsetzen („gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitk“ oder GASP) sah jedoch zu Zeiten der Lomé-Abkommen durchaus deutlich harmloser aus (wobei auch diese viele Millionen Menschenleben erheblich verkürzt haben dürften [1]).

    Die GASP nun verbindet sich derzeit sehr direkt mit der blutigen Migrationspolitik der EU, beispielsweise im Aufbau von Return Case Management-Systemen. Das sind Verfahren, die der EU Zugriff auf Repressionsdatenbanken der Herkunftsländer von Geflüchteten geben. Damit auch die Regierungen der Herkunftsländer etwas davon haben, finanziert die EU wo nötig deren Auf- und Ausbau, inklusive Vollerfassung der Fingerabdrücke der Bevölkerungen.

    Wie das genau aussieht, und wie nebenbei der sicherheits-industrielle Komplex der EU gefüttert wird, hat im letzten November Privacy International (PI) am Beispiel des Senegal dokumentiert: ein Laden namens Civi.Pol, angesiedelt zwischen Rüstungsindustrie sowie französischem Geheimdienst und Innenministerium, baut eine Fingerabdruckdatenbank für sowohl die dortige Regierung als auch das EU-Deportationsmanagement.

    Nachtrag (2024-02-25)

    Nur, damit keine Zweifel bestehen über die Natur der Regierung, die die EU da aufrüstet: In der taz vom 14.2.2024 wird aus dem Senegal berichtet:

    „Anfangs haben sie gegen Demonstrierende Tränengas eingesetzt, heute sind es echte Kugeln.“ Dann fällt ein Name: Alpha Yoro Tounkara. Der Geografie-Student ist eines der drei Todesopfer der Niederschlagung der Proteste am vergangenen Freitag und ein Freund von Ndeye Magatte Seck

    PI hat den Artikel sehr treffend mit diesem offizielle Pressefoto der EU illustriert:

    Ndiaye und Avramopoulos dinieren

    Bildrechte beim Audiovisual Service der Europäischen Kommission; Nutzung für Zwecke der Verbreitung EU-bezogener Information.

    Hier trifft sich der Außenminister des Senegal, Mankeur Ndiaye, mit dem Migrationskommissar der EU, Dimitris Avramopoulos, und schon auf den ersten Blick ist klar, wer hier wem etwas erklärt, wer finster gucken darf und wer lächeln muss, und dass hier Anweisungen in kleinem Rahmen erteilt werden, die die Öffentlichkeit nichts angehen. Es ist auch kein_e Protokollführer_in in Sicht.

    Das Bild ist von 2016; vermutlich ging es bei diesem Gespräch also nicht direkt um den von PI diskutierten Deal. Dass aber die EU meint, ihre Verhandlungen mit Ländern im globalen Süden so illustrieren zu müssen und zu können, das ist zumindest in meiner Welt schon in sich ein Skandal.

    [1]Literaturtipp dazu: Brigitte Erler, Tödliche Hilfe, Freiburg 1985. Leider auch nicht in der Imperial Library of Trantor.
  • 35 Jahre Tschernobyl

    Sonne hinter Kühlturm

    Noch ein Grund, warum kleine AKWs stinken: Nicht mal klasse Kühltürme (wie den hier in Biblis) gibts mehr.

    Unter den deutschsprachigen Fortune Cookies von Debian sind jede Menge Witze des Typs „Wenn Microsoft Autos bauen würde… müssten wir alle auf Microsoft-Benzin™ umsteigen“ oder ”…würden die Warnlämpchen für Öl, Batterie, Benzin, und Motorschaden durch ein einziges »Genereller Auto-Fehler«-Lämpchen ersetzt.“

    Da wirkt es schon etwas befremdlich, wenn ausgerechnet Bill Gates jetzt Atomkraftwerke bauen will, und zwar jede Menge davon. Sein Laden Terrapower [Vorsicht: CPU-intensive Webseite] versucht, mit dem üblichen Marketing-Dummschwätz („Best-in-class talent“ – wer denkt sich sowas aus? Und meint, auch nur irgendwer würde da nicht nur die Augen verdrehen?) Schmelzsalzreaktoren wieder aus der Kiste klar schlechter Ideen rauszuziehen.

    Wer sich das bei Terrapower verlinkte Interview mit Gates [Vorsicht: Link zu youtube] ansieht, versteht vielleicht, weshalb er da alle Vernunft fahren lässt: Er hat genug Herz, dass ihm die Nöte der ärmeren Hälfte der Welt nicht ganz gleich sind, aber er glaubt zu sehr an Markt und Kapitalismus, um einzusehen, dass es diesen Leuten nicht wegen mangelnder Produktion dreckig geht, sondern wegen Markt, Eigentum und Ungleichheit, gerade auch im Zugriff auf Bildung und Produktionsmittel (sagen wir: der Boden, der entweder unsere Schweine oder ihre Bäuche füttert). Und so kommt er auf den Trichter, dass billigere Energie doch bestimmt den Kapitalismus auf eine weniger menschenfresserische Route bringen müsste.

    Obwohl ich Gates also durchaus halbwegs guten Willen unterstelle, kommt er doch wieder nur mit dem Unsinn, mit dem die Bombenbauer schon in den 50ern versuchten, ihren Atomstaat zu verkaufen (damals heiß das „electricity too cheap to meter“[1]):

    This is just like a candle. Our flame is taking the normal, depleted Uranium, the 99.3% that's cheap as heck and there's a pile of it sitting in [Paducah?], Kentucky that is enough to power the United States for hundreds and hundreds of years. You're taking that and you're converting it to [leicht verschämt] Plutonium, and you're burning that, and we have super-high power densities, we have, you know, total fail... fail-safe. Any reactor that a human has to do something... that's a little scary. [Audio]

    „Total fail-safe“ vom Microsoft-Vordenker und Vater des legendären Webservers IIS hat natürlich nochmal einen besonderen Geschmack, etwa angesichts der Exchange-Katastrophe, von der ich neulich am Rande gestreift wurde. Und dann sollen die Menschen draußen bleiben und... nun, wen genau die nötige Wartung machen lassen? Microsofts Roboter? Und das alles in den Ländern, in denen die vier Milliarden Ärmsten wohnen?

    Das ist so offensichtlich absurd, dass ich mich frage, warum Gates es überhaupt sagt.

    Nur ist das nicht das Thema.

    Wer über Atomkraft nachdenkt, sollte zumächst beim prinzipiellen Alptraum jeder Sorte Technik anfangen: Eine Kettenreaktion ist zunächst immer höchst instabil, denn ein Neutron muss dabei immer ganz genau ein weiteres Neutron erzeugen. Ist es auch nur ein Hauch weniger, geht der Reaktor exponentiell aus. Ist es ein Hauch mehr, geht der Reaktor exponentiell durch. Das ist, ganz prinzipiell, nichts, womit mensch basteln möchte, und das Gegenprinzip zu Gates' „fail safe“.

    Dass herkömmliche (langsame Uran-) Reaktoren überhaupt beherrschbar sind, liegt an einer Laune der Natur, nämlich einer sehr schmalen Neutronen-Absorptionslinie des Uran-238 gerade im Bereich von „thermischen” Neutronen (also welchen mit ein paar hundertstel eV). Nimmt nämlich die Reaktionsrate eines solchen Reaktors zu, wird er heißer, die Linie verbreitert sich thermisch, es kommt zu mehr Absorption von Spaltneutronen, die Reaktionsrate nimmt ab. Nimmt dagegen die Reaktionsrate ab, wird die Linie thermisch schmaler, die Absorption nimmt ab, die Reaktionsrate steigt wieder ein wenig.

    Das ist der wesentliche Grund, warum Brennstäbe ausgewechselt werden lange bevor alles U-235 gespalten ist und weshalb die Wiederaufbereitung schon vor der Zulassung von Mischoxid-Brennelementen (die Plutoium enthalten) nicht völlig unplausibel schien: Irgendwann muss mensch wieder U-238 in die Brennstäbe bringen, um die Regelung zu halten. Das heißt auch: Ein solcher Reaktor wird immer instabiler, je länger er ungewartet läuft. Zu den großen Wundern dieser Welt gehört, dass nicht ständig vernachlässigte Reaktoren durchgehen.

    Nun lassen sich ähnliche lokale Stabilitätspunkte auch künstlich herstellen („negativer Temperaturkoeffizient“), und die Wikipedia erklärt ganz gut, wie sich die Schmelzsalz-Fans das so vorstellen. Aber selbst wenn mensch ihnen diese Ideen abnimmt, sind das in all diesen Fällen nur kleine Dellen an einem langen, exponentiellen Hang einer sich entweder selbst-rückgekoppelt abschwächenden (Puh!) oder verstärkenden Reaktionsrate. Sowas will mensch als technisches Design ganz grundsätzlich nicht, wenns irgendwie anders geht.

    Und natürlich geht es anders, solange lediglich hinreichend Strom in vernünftigem Umfang (also: wenn wir uns komplett sinnlose Stromverschwendung wie die der terrapower-Webseite oder oder offensiv schädliche Stromverschwendung wie Elektroautos sparen) das Ziel ist. Wer sich die Mühe macht, die historischen Kernkraft-Programme in aller Welt anzusehen, wird feststellen, dass immer staatliches Geld und am Schluss das Interesse dahinterstand, die Technologie für die Bombe wenigstens in der Hinterhand zu haben. Plus vielleicht noch die Fantasie, einer politischen Einflussnahme im Stil der OPEC-Aktion nach dem Jom Kippur-Krieg länger widerstehen zu können – nicht ganz zufällig fing der ganz große Geldstrom in die „zivile“ Nutzung der Kernspaltung erst nach 1973 so richtig an. Weder Kosten (die immer exorbitant waren) noch Energieproduktion als solche waren je ein ernstzunehmendes Argument bei Atomprogrammen.

    Dementsprechend könnte mensch Gates' Gerede mit einem Achselzucken vergessen, wenn er mit seinem (natürlich absurden) „helft den Armen“-Narrativ nicht gerade den Staaten im globalen Süden eine Erzählung liefern würde, warum sie auch Bombentechnologie haben sollten. Denn natürlich ist Quatsch, dass bei Schmelzsalzreaktoren keine Proliferationsgefahr bestehe; wer Neutronen im Überfluss hat, kann mit etwas Chemie und vielleicht einer Handvoll Zentrifugen auch Bomben bauen. Punkt.

    Gates selbst räumt das – diskurv geradezu suizidal – ein: „super-high power densities“. Hohe Energie- und damit auch Neutronendichten sind das stärkste Argument gegen diese Sorte von Technik. Wer einen Eindruck von der Rolle von Energiedichte bekommen will (und sich um Umweltsauerei nicht kümmert), kann mal eine vollgeladene NiMH-Zelle (noch besser wäre NiCd, aber das will mensch dann wirklich nicht in die Umwelt pesten) und eine vollgeladene Lithium-Ionen-Zelle in ein Feuer werfen. Eins macht bunte Farben, das andere ein verheerendes Feuerwerk [nur zur Sicherheit: Nein, Feuer ist natürlich sowohl für NiMH als auch für Li-Ion eine ganz schlechte Idee. Lasst da die Finger von]. Beides ist weniger als ein laues Lüftchen gegen die Energiedichte eines Schmelzsalzreaktors.

    Was schließlich auf den zentralen Grund führt, warum mensch Nukleartechnologie in so wenigen Händen wie möglich haben will: Sie ist ein riesiger Hebel. Es gibt fast nichts anderes, mit dem ein einzelner, entschlossener Mensch eine Million andere Menschen umbringen kann. Ein Kilo Plutonium-239, geeignet verteilt, reicht jedenfalls mal, um die alle ordentlich zu verstahlen (nämlich den Jahres-Grenzwert für die Inhalation von α-Strahlern um einen Faktor 25 zu überschreiten). Ein paar Kilo Uran-232 (wie es sich aus Thorium-Brütern – und die braucht es von den Rohstoffreserven her, wenn der Kram eine Rolle bei der Gesamtenergieversorgung spielen soll – gewinnen lässt) reichen für eine richtige Bombe, die mechanisch so einfach ist, dass sie einE entschiedeneR BastlerIn hinkriegen kann. Dieser Hebel ist übrigens nicht nur für sich problematisch; er ist auch der Grund, warum ein Staat in Gegenwart verbreiteter Nukleartechnologie praktisch autoritär werden muss (vgl. Robert Jungks Atomstaat [2]), einfach weil er den Hebel so intensiv bewachen muss.

    Allein wegen dieses riesigen Hebels und der Tatsache, dass Leute auch ohne den gegenwärtigen Modetrend Faschismus immer mal wieder durchknallen will mensch hohe Neutronendichten nicht im Zugriff vieler Menschen haben. Und das heißt: AKWs im breiten, kommerziellen Einsatz [3] sind ein Rezept für Massenmord und autoritäre Staaten.

    Es gibt eigentlich nur eine Technologie, die einen noch größeren Hebel hat: Das ist DNA-Basteln. Mir schaudert vor der Zeit, in der die Leute, die heute Erpressungstrojaner schreiben, die Übertragbarkeit von Windpocken mit der Tödlichkeit der Masernfamilie zusammenprogrammieren und das Ergebnis mit DNA-Druckern und Bioreaktoren in diese Welt bringen können.

    [1]Höchst lesenswertes Buch in diesem Zusammenhang: Hilgartner, S, Bell, R.C., O'Connor, R.: Nukespeak – the selling of nuclear technology in America, Penguin Books 1982. Gibts leider nicht in der Imperial Library, aber dann und wann noch antiquarisch.
    [2]Gibts leider auch nicht in der Imperial Library.
    [3]Wer findet, dass ich hier defensiv klinge: Ja, na ja, ganz ohne erbrütete Radionuklide müssten wir die ganzen Nuklearmedizinabteilungen dichtmachen, und das wäre zumindest in Einzelfällen schon schade. Vielleicht reichen für sowas Spallationsquellen, aber wenn nicht: zwei, drei kleine Reaktoren weltweit wären jedenfalls genug; viel mehr ist es auch heute nicht, was den Krankenhausbedarf an wilden Isotopen deckt.
  • Unübersehbare Konsequenzen

    Als ich gestern endlich mal die autoritäre Versuchung in einiger Breite diskutiert habe, war eines der Argumente gegen die bequeme Lösung von Konflikten mit Zwang und Gewalt, dass diese Lösungen zwar manchmal den erwünschten Effekt haben, aber in der Regel auch ziemlich haarsträubende Nebenwirkungen.

    Blätter und Stängel

    Hydrilla-Pflanzen in einem Foto vom US Geological Survey.

    Dazu ist mir heute in einem Beitrag zu Forschung aktuell vom 26. März ein relativ exotisches Beispiel untergekommen, allerdings ziemlich weit ab von den sozialen Konflikten, über die ich gestern vor allem geschrieben habe. Es ging in der Sendung um ein aktuelles Science-Paper von Steffen Breinlinger, Tabitha Phillips und KollegInnen (DOI 10.1126/science.aax9050). Die Leute haben untersucht, warum ab Mitte der 1990er in bestimmten Gebieten der südlichen USA eine deutliche Übersterblichkeit von Weißkopf-Seeadlern und, bei näherem Hinsehen, entlang ganzer Nahrungsketten in und über Süßwasserseen auftrat.

    Zunächst war schon vor der Arbeit eine Korrelation der toten Vögel mit der Besiedlung von Seen durch Hydrilla (eine dort vom Menschen vor relativ kurzer Zeit aus der alten Welt eingeführte Wasserpflanze) aufgefallen, genauer durch Hydrilla und ein Cyanobakterium, das auf dieser haust. Das Weitere hatte etwas von einer Sherlock Holmes-Geschichte, denn Nachzucht und Verfütterung des Cyanobakteriums waren ein Haufen Arbeit – und führten zu nichts: Tiere, die den Hydrilla-Cyanobakterien-Cocktail verzehrten, fühlten sich prima.

    Erst mit echtem Pamp aus den todbringenden Seen erkannten die WissenschaftlerInnen, dass das Problem nicht das Cyanobakterium an sich war, sondern im Wesentlichen die Fähigkeit von Hydrilla, Brom anzureichern; erst mit wenigstens etwas Kaliumbromid im Wasser und Hydrilla zur Bromid-Anreicherung wurden die Cyanobaktierien giftig.

    Damit stellt sich die Frage, woher die Bromide in der freien Natur kommen. Und da kommen wir zu den autoritären Lösungen. Hydrilla ist invasiv, breitet sich also ziemlich stark aus, seit jemand mal sein Aquarium in einen See gekippt und die Pflanze so in die Gewässer der südlichen USA gebracht hat. Um der Ausbreitung Herr zu werden, wurde wohl teils auf Herbizide zurückgegriffen, die bromierte Kohlenwasserstoffe enthielten.

    Tja: Da hat wohl wer einer autoritären Versuchung nachgegeben und die einfache Lösung gesucht durch, na ja, das nächste Aquivalent zu Gewalt an Pflanzen. Vermutlich hat das nicht mal besonders gut gegen Hydrilla geholfen – es muss ja noch genug davon gegeben haben, dass Tiere durch Abweiden (bzw. Fressen der Abweidenden) das Cyanobakterien-Gift anreichen konnten. Aber plausiblerweise hat das Herbizid, die „Lösung“, am Schluss die Seeadler (und Eulen und Milane) umgebracht.

    Der Fairness halber: Vielleicht wars auch gar nichts in der Richtung. Brom könnte auch aus weggeworfenem Kram mit Flammschutzmitteln (das waren traditionell halogenierte Kohlenwasserstoffe) oder aus der Reinigung von Abgasen der Kohleverstromung kommen. Und klar, es gibt auch natürliche Vorkommen von Bromverbindungen. So ist das halt mit Wissenschaft: Richtig eindeutige Antworten brauchen lange Zeit.

  • Die autoritäre Versuchung

    Ich werde bestimmt nicht wie Joachim Stamp von „am meisten leiden“ reden, aber ich habe gerade schon ein gewisses Déjà Vu. So, wie 1999 (mit einiger Vorbereitung beim zweiten Golfkrieg 1991) allerlei ehemalige Pazifist_innen auf einmal bestimmte Reste von Jugoslawien bombardieren wollten, tun sich im Zeichen der Coronaprävention viele Menschen mit linkem Hintergrund durch die Forderung nach besonders drakonischem staatlichen Durchgriff hervor.

    Ich glaube, halbwegs zu verstehen, was diese Leute treibt; es ist die autoritäre Versuchung, die schon in meiner Locke-Apologie aufgetaucht ist.

    Die autoritäre Versuchung ergibt sich mit schöner Regelmäßigkeit, wenn Menschen, Gruppen oder auch mal Werte in Konflikt kommen. Es gibt dann, ganz schematisch, zwei Möglichkeiten: Entweder, mensch versucht, den Konflikt zu verringern, die Interessen auszugleichen, oft auch mal, Irrtümer geduldig zu klären („Verhandlungsoption“). Oder mensch unterdrückt den Konflikt, indem die (zumindest in Selbstwahrnehmung) mächtigere Seite die weniger mächtige Seite durch Drohung oder unmittelbare Gewalt zum Einwilligen zwingt („Nötigungsoption“).

    So beschrieben, wird wohl jede_r sagen, mensch solle doch die Verhandlungsoption nehmen. In Wahrheit ist die aber viel Arbeit, mensch muss mit Menschen reden, die weniger Macht und/oder Ressourcen haben als mensch selbst und, wenns ganz blöd kommt, noch ein paar Schritte auf deren Positionen zu machen. Das lästig und dauert.

    Wer auf Nötigungsoption setzt, hat hingegen häufig schnell Erfolg und muss die eigene Position nicht überdenken. Und: mensch hat ganz klar was Handfestes getan, was nicht zuletzt gut aussehen kann (wenn die Zuschauer_innen auch der autoritären Versuchung erlegen sind). Diese Perspektive auf schnelle, vorzeigbare und einfache „Lösungen“ macht die autoritäre Versuchung aus.

    Und die Versuchung ist stark, um so stärker, je weniger die andere Konfliktpartei als aus individuellen Menschen zusammengesetzt scheint. Ein paar Beispiele (ich könnte die Liste fast beliebig verlängern):

    1. Ohne die Drohung mit schlechten Noten bricht angeblich unser Schulsystem zusammen (was ich sogar glaube; so ähnlich sieht es ja mittlerweile auch an der Uni aus).
    2. „Terroristen“ werden mit weit mehr „bekämpft“ als die Menschenrechte hergeben (was immerhin dann und wann Unterhaltungswert hat).
    3. „Soziale Brennpunkte“ bekommen Kameras und extra Polizei (die Kamera mit ihrem panoptischen Potenzial ist überhaupt immer ein guter Hinweis darauf, dass autoritären Versuchungen nachgegeben wurde).
    4. Um arme Menschen, die sich in Bahnhöfen betrinken, kümmern sich „Sicherheitsleute“ (deren Auftreten ist ein ähnlich guter Indikator wie Kameras).
    5. Wenn viele Leute lieber keine Atomkraftwerke am Laufen hätten, prügelt die Polizei die Atommülltransporte schon durch.
    6. Die ganze Organisation unserer Produktion basiert immer noch auf der Drohung mit Hunger und Obdachlosigkeit.

    Angesichts dieser Alltäglichkeiten ist die Frage, warum mensch der autoritären Versuchung nicht nachgeben sollte, naheliegend.

    Die richtige Antwort könnte sich auf Kant berufen: anderen mit Zwang begegnen macht diese zu Mitteln eines eigenen Zwecks und ziemt sich deshalb nicht. Klar ist es etwas gewagt, antiautoritäre Lehren ausgerechnet auf den alten Preußen Kant zurückzuführen, aber doch, die Sorte von Freundlichkeit, die aus seiner Menschheitszweckformel folgt, führt da ebenso hin wie das viel simplere RiwaFiw.

    Es gibt aber auch einen pragmatischen, wegen mir utilitaristischen Grund: autoritärer Umgang funktioniert meistens nicht, jedenfalls nicht so, wie sich die Machthaber_innen das vorstellen – und wenn er funktioniert, hat er meist Nebenwirkungen, die auch diese nicht wollen. Sehen wir uns die Beispiele von oben an:

    1. Sobald die Leute an den Elementen des Zwangs (also den Prüfungen) vorbei sind, vergessen sie alles; und auch davor verwenden sie viel mehr Mühe darauf, den Überwachungsmaßnahmen zu entkommen bzw. sie zu unterlaufen als darauf, irgendetwas herauszubekommen oder zu verstehen [1].
    2. Die Bekämpfung des „Terrorismus“ der letzten 30 Jahre hat ganze Länder verwüstet, die Menschenrechte im Westen gerupft – und doch wachsen die die „Terrorlisten“ von EU, UN und USA stetig, müssen immer neue Menschenrechte der „Terrorbekämpfung“ geopfert werden.
    3. Manchmal „befrieden“ Kameras wirklich einen Platz (oft genug auch nicht) – aber dann geht das unerwünschte Treiben halt ein, zwei Ecken weiter von Neuem los. Zu dem Thema empfiehlt sich insbesondere ein Vergleich zu Kriminalität und Sicherheitsempfinden im Vergleich zwischen BRD (die immer noch eine relativ geringe Kameralast hat) und dem UK, speziell England (das in der Hinsicht nur noch als Karikatur durchgeht).
    4. Vielleicht stinkts am Bahnhof nicht mehr so, aber dann erfrieren die Leute halt.
    5. Nun, die AKWs haben sie am Laufen gehalten. So Kram geht schon autoritär, ja.
    6. Weil ja die Leute „arbeiten müssen“, aber ihr Konsum nicht beliebig steigen kann, sorgt wachsende Produktivität für immer mehr Bullshit Jobs (also: Arbeit, die dem Rest der Gesellschaft eher schadet) – oder Leute lassen sich bezahlen für Kram, den sie so ähnlich ohnehin tun würden, ohne dass er irgendwen füttern oder behausen würde (und ich bin sehr dankbar, dass ich zur zweiten Kategoie gehören darf).

    Ganz besonders augenfällig ist das Versagen autoritärer Methoden natürlich im militärischen Bereich. Zwischen Balkan und Afghanistan haben all die „Einsätze“ deutschen (oder anderen) Militärs kein erkennbares Problem gelöst, aber viele neue Probleme geschaffen.

    Deshalb: Sag nein zur autoritären Versuchung. Mit den „Anderen“ reden, versuchen, ihre Handlungsweisen zu verstehen: Ja, das ist anstrengender, aber es ist richtet im Normalfall viel weniger Schaden an, funktioniert häufig besser, und es ist, was Kant und Emma Goldmann euch empfohlen hätten. Wer könnte so einer Koalition widerstehen?

    Oh, und: Klar will mensch jetzt gerade Kontakte reduzieren. Aber wenn es gegenwärtig wirklich so sein sollte, dass sich haufenweise Leute des Nachts bei Treffen anstecken und das nennenswert zur Ausbreitung von SARS 2 beiträgt, dann dürften das wohl Leute sein, die die Ausgangssperre auch umgangen kriegen. Das gesetzt, wäre es dann wirksamer, herauszufinden, warum diese Leute so einer drastischen Fehleinschätzung bezüglich des eigenen und fremden Risikos unterliegen – oder warum ihnen das einfach wurst ist und wie mensch ihnen wieder aus ihrer zynischen Verzweiflung helfen kann, wenn es so sein sollte.

    [1]Gut: diese Argumentation steht und fällt mit dem Konzept, Zweck der Schule sei, etwas zu lernen. Das ist ziemlich sicher so nicht richtig, aber weil alle so tun, als stimme es, kann ich das in mich da erstmal anschließen.
  • Foltern oder töten?

    Als ich neulich meine Weisheit loswurde, nach der Radikalität wichtig, aber Freundlichkeit wichtiger ist, habe als eine der wichtigen Ausnahmen von „in gesellschaftlichen Fragen bitte nicht zu konsequent“ das Folterverbot genannt – und ich glaube wirklich, dass das unbedingt gelten muss. Aktuelle Illustration: der Taser.

    Elektroschocks sind eine extrem populäre Foltermethode, und Taser sind schlicht Maschinen, um diese kompakt und schnell verabreichen zu können. Punkt. Klar kann es sein, dass mensch als Polizist_in in Situationen kommen mag, in denen Gewalt legitim erscheinen mag. Aber das ist keine hinreichende Rechtfertigung für Folter, genauso wie es, sagen wir, entführte Kinder nicht sind. Rechtfertige Folter in einem Fall, und du bist auf dem klassischen slippery slope: Es wird sich immer noch eine weiterer Fall finden, in dem Folter auch ok, am Schluss gar moralisch geboten ist. Es gibt wirklich genug andere Sorten von Gewalt, die mensch als Polizist_in anwenden kann.

    Die faktische Verletzung des Folterverbots ist der eigentliche Grund, warum mich die grausamen und tödlichen „Pilotversuche“ zu Tasern überall in der Republik so entsetzen.

    Ein weniger dramatischer Grund wird illustriert in der aktuellen Geschichte, nach der eine Polizistin in Minneapolis mal wieder einen Menschen aus Versehen umgepufft haben will: sie hätte sozusagen danebengegriffen, hätte ihr Opfer nur foltern und nicht gleich töten wollen (ok, das mit der Folter hat sie so nicht gesagt, sie bzw. der Polizeichef hat wohl eher von „tasern“ geredet).

    Mal abgesehen davon, dass ich hier guten Gewissens den Preis für die dümmste Ausrede des Monats verleihen kann – wenn Taser wirklich bedienungsgleich mit Polizeipistolen sind, dann müssen sich Hersteller, Beschaffer_innen und Einsetzende Vulkanladungen von Asche aufs Haupt streuen: Das ist genau das Problem. Die Polizistin fand ganz offenbar, sie könne Tasern, weil das „nicht so schlimm” wie Schusswaffen sei und so mit niedriger Schwelle angewandt werden kann. Also: sie fand das nicht nur, sie hat einfach so gehandelt.

    Genau diese Senkung der Hemmschwelle ist, weshalb Taser nicht gebaut werden dürfen und sie schon gar nichts in den Händen von Polizist_innen verloren haben. Sie ersetzen, jedenfalls gemäß der polizeilichen Logik der Minneapolis-Rechtfertigung (und auch der Erfahrung von Amnesty), keine Schusswaffen, sondern sie schaffen eine neue Klasse von scheinbar weniger einschneidender gewaltförmiger Problembehandlung durch die Polizei, und zu allem Überfluss noch eine, die anständige Menschen von Folter nicht unterscheiden können.

  • Upgraded to bullseye

    I've upgraded my personal notebook – with a file system that has a continuous history back to a slackware in 1996 and thus always is the most rewarding thing to test upgrades on – to Debian bullseye today.

    It's been a while since the last dist-upgrade messed up my X or rendered a machine unbootable, but they still never fail to be exciting. This one was no exception.

    logind and systemd

    The one major trouble as far as Debian proper is concerned was that the full-upgrade pulled in systemd again (which I still can't get myself to adopt on boxes I fiddle with a lot). This was because at some point I had purged elogind (which doesn't do anything on this box), and both a few KDE programs I have installed and the indispensable gparted need policykit-1, which in turn pulls in some logind; if you don't have one, apt will migrate you to systemd.

    Well, it was easy to go back this time: Just say:

    apt install elogind
    apt install sysvinit-core
    

    and all is back to normal again with the wonderful shell script goo during system startup. Hooray for elogind! I will admit I've not quite figured out what its actual use is, though. But that's probably because I've never quite figured out policykit, which in turn is probably because I think there's nothing wrong with sudo. But, as you'll see in a second, I might be swayed.

    Sure enough: Power

    I'm running all kinds of interesting scripts when the machine goes through various power states; for instance, I'm kill -STOP-ing a few pieces of moving eye candy when the box loses grid power, and I'm kill -CONT-ing them when the power is back. This happens through shell scripts I've dropped into /etc/pm/power.d, from where pm-utils has nicely been executing them for the last 10 years or so.

    Alas, they didn't run any more after the upgrade. Instead, when I shut the lid, the box would sleep right again after waking up. This last thing was fixed quickly: Just tell elogind not to bother in /etc/elogind/logind.conf.

    That the pre-sleep and post-wakeup scripts still ran soothed my first worry – that pm-utils might have had an RC- (release critical) bug and dropped out of Debian. Going through pm-utils' /usr/share/doc info made me worry again, though: the last upstream change there is from 2010, and the last Debian changelog entry is from 2019, mentioning an open RC bug. Uh-oh. It seems I might soon need to try harder with elogind.

    But not just yet, as the trace to work this out was bug #772275 (oh yes, the bug page for pm-utils makes we worry, too): pm-utils used to receive the AC/Battery notification from acpi-support, and that clearly broke in some way. At least for me, and with this upgrade. Poking around a bit in /etc/apci didn't show an immediate hook; yes, there's power.sh, but that gets called a lot on my box if the moon is right (for Lenovo's crappy firmware at least), and one would need to figure out whether or not there's grid power oneself.

    So, I dug a bit deeper and noticed that ever since I've moved from laptop-mode-tools to tlp, pm-utils were almost obsolete because tlp actually does everything it does all without pm-utils – but it doesn't let me run my beloved shell scripts (“by design“, its authors say). Hence, it's not byebye to pm-utils yet.

    But I like the way that tlp uses to be notified of power events: through udev. Taking that thought a bit further so I don't have to do any manual state management (as pm-utils doesn't have the equivalent of tlp auto) and filter out power events for batteries (which I don't care about), I ended up introducing two new udev rules that look relatively generic to me:

    ACTION=="change", SUBSYSTEM=="power_supply", ATTR{type}=="Mains",\
      ATTR{online}=="1", RUN+="/usr/sbin/pm-powersave false"
    ACTION=="change", SUBSYSTEM=="power_supply", ATTR{type}=="Mains",\
      ATTR{online}=="0", RUN+="/usr/sbin/pm-powersave true"
    

    Drop this into /etc/udev/rules.d/10local.rules (or so), and pm-utils' power.d works again.

    Another python2 grace time

    But the real elephant in the room is that bullseye in effect drops Python version 2. While this certainly does not come as a surprise, it still hurts me a lot, because I have plenty of self-written larger or smaller python2 programs – my audiobook-reader, my local wikipedia, my work time accounting and a gazillion little other things. And there's things like editmoin that haven't been ported yet either.

    Well, I had hoped I could keep the buster python2 packages around, perhaps even using the python-is-python2 package. But really, I don't think that's an option for a halfway lively system (which will use quite a few python3 packages). I gave up on that idea more or less as soon as I realised that the python-docutils-common dependency (and docutils I need left and right) will conflict between the docutils from buster and from bullseye. Trying to keep buster packages will clearly become incredibly fiddly.

    So, instead I figured I ought to keep the legacy software alive while finally porting it as I go along (one, my one-line CLI, I actually have ported this morning) using a python2 “virtual” (yeah, right, virtual...) environment.

    Yes, virtual environments are evil all around, not only because their content rots without anyone noticing; but then this is exactly about letting things rot in a halfway controlled fashion, so I claim this is a use case.

    In case others mourn the demise of python2 in bullseye and want to go slowly when migrating, here's what to do:

    1. Make sure the python2 packages that still are in bullseye are in place. This would be python2.7, python2.7-dev, and presumably python-tk. Of course, you will want the virtualenv package, but that's already python3.

    2. Create the virtual environment:

      virtualenv -p python2.7 ~/.legacy-python
      
    3. Make it simple to use that. For that, add:

      alias enable-oldpython='export PATH=~/.legacy-python/bin:$PATH'
      

      to your .aliases (or whereever else you keep your aliases) and exec bash in the current shell to try that out. This is when you want want to run pip, or at any other time when you want your python to be what's in the virtual environment.

      But this won't work for hashbangs. To make that work, put a file like:

      #!/bin/sh
      export PATH=/home/<YOUR USERNAME>/.legacy-python/bin/:$PATH
      exec python "$@"
      

      somewhere into your path as, say, oldpython. Since I still have some system-wide things using python2, I ended up sticking this into /usr/local/bin. Given python2 has been out of security support for more than a year now, I might be regretting that; on the other hand, python's core hasn't had many security problems in the past 20 years, and so I figure I am fine. Caveat emptor, though.

    4. Then, run pip install and/or python setup.py install to your heart's delight. All this isn't forever, so this one time I found myself capable of forgetting the long run, later upgrades, and all that. Just remember: sudo and pip never mix, and they particularly badly mix here. Oh: I actually found myself apt-get source-ing python packages from buster and just running python setup.py install in them because in my book that's a good deal less obscure than pip.

    Limping along with a private MoinMoin

    But then came the bitter realisation: There's no moinmoin in bullseye any more. That's a killer for at least three servers I'm operating. And, really, looking at what the MoinMoin folks write on python3 (in particular at its list of dependencies), I shudder in the expectation of seeing something quite in line with my unpleasant experiences with mailman2 happen with MoinMoin.

    On my box, however, I can live with an aging service (that only listens to localhost), and I can live with having moinmoin be a CGI. In case these considerations (typically, for a “notes and observations”-style wiki) apply to you as well, here's what I did to make the legacy moinmoin run in my bullseye apache2.

    First, I installed moinmoin into the “virtual” python 2.7 I created above:

    enable-oldpython  # the alias above
    pip install moin  # no sudo!
    

    Then I fixed the apache configuration to use that. So, I commented out the previous MoinMoin integration and replaced it with something like:

    <Directory /home/<YOUR USER NAME>/.legacy-python/share/moin/server>
      AllowOverride None
      Options +ExecCGI -MultiViews +SymLinksIfOwnerMatch
      Require all granted
    </Directory>
    <Directory /home/<YOUR USER NAME>/.legacy-python/lib/python2.7/site-packages/MoinMoin/web/static/htdocs>
      AllowOverride None
      Require all granted
    </Directory>
    
    ScriptAlias /meiner /home/<YOUR USER NAME>/.legacy-python/share/moin/server/moin.cgi
    Alias /wiki/ /home/<YOUR USER NAME>/.legacy-python/lib/python2.7/site-packages/MoinMoin/web/static/htdocs
    Alias /moin_static1911 /home/<YOUR USER NAME>/.legacy-python/lib/python2.7/site-packages/MoinMoin/web/static/htdocs
    

    (you may need …

  • Kurze Biographien

    Ich lese gerade recht viele der Biographien der Menschen, an die in Heidelberg Stolpersteine erinnern, und dabei ist mir eins ganz besonders aufgefallen: In dieser Zeit war die Ehe offenbar in der Regel das effektive Ende des erzählenswerten Lebens einer Frau.

    Während es nämlich durchaus viele bunte und schon rein vom Text her lange Biographien unverheirateter Frauen gibt – ich erwähne hier nicht erschöpfend Johanna Geißmar, die Schwestern Hamburger, Leeni Preetorius oder natürlich Elise Dosenheimer –, beschränken sich die Geschichten von verheirateten Frauen praktisch durchweg auf geboren, geheiratet, Kinder gekriegt (oder nicht) – und dann entweder deportiert und ermordet oder eben geflohen. Das geht so von den eher wohlhabenden Hochherrs über die kleinbürgelichen Deutschs bis hin zu den intellektuellen von Waldbergs und ändert sich allenfalls für die Sozialdemokratin Käthe Seitz. Bei den meisten der Biographien ist es eher noch ärger als bei diesen Beispielen.

    Nun ist es wahrscheinlich, dass in dem Befund etwas historigraphischer Bias reflektiert ist (also: Was wird überliefert?). Andererseits hat eine Ehe die Möglichkeiten von Frauen tatsächlich drastisch eingeschränkt, bis hin zu Trivialitäten wie einer Kontoeröffnung, und die praktische Erwartung war wohl in aller Regel, dass sie in ihren ehelichen Pflichten aufgingen.

    Was mich daran gerade wirklich verblüfft: Gemäß praktisch der gesamten Literatur (in der es wenig Schlimmeres zu geben scheint als „alte Jungfer“ zu werden) und auch anekdotischer Überlieferung war die Heirat, die „gute Partie“ wesentlichstes Lebensziel der breiten Mehrheit der Frauen von damals. Klar, auch da dürfte die Geschichtsschreibung etwas verzerren. Ganz gegen die tatsächlichen Erzählungen von damals dürfte sie aber nicht stehen.

    Doch wahrscheinlich sollte ich mich nicht sehr wundern. Denn auch heute gibt es offenbar einen relativ breiten gesellschaftlichen Konsens für Dinge, die ganz offenbar im Konflikt mit den Interessen der allermeisten Mitglieder des Gesellschaft stehen: Autopolitik natürlich (will eigentlich wirklich irgendwer täglich Stunden in einem stinkenden Blechkäfig verbringen und endlos Krach machen?), oder die Privatisierung der Rentenversicherung (die für eine deutlich ungleichere Verteilung des für Alte bereitgestellten gesellschaftlichen Reichtums und ansonsten über Quatsch-Investments der Rentenfonds noch für Shopping-Malls überall sorgt), oder halt den ganz fundamentalen Wahnsinn, bei dem der Abbau von Arbeitsplätzen („weniger Leute müssen ihre Zeit mit Zeug verbringen, den sie gar nicht tun wollen“) als gesellschaftliche Katastrophe empfunden wird.

    Oh, falls das nicht offensichtlich ist: Klar kann es eine persönliche Katastrophe sein, gefeuert zu werden. Solange aber vorher und nachher gleich viel hergestellt wird, gilt das nur, weil wir die Warenverteilung an Lohnarbeit gekoppelt haben, und das ist eine Wahl, die wir als Gesellschaft auch anders vornehmen können. Und sollten, in Zeiten, in denen die Produktion so wenig Arbeit braucht, dass, wie David Graeber so treffend beobachtet, Bullshit Jobs die Regel geworden sind.

  • Worse is manchmal better

    TL;DR: Radikalität ist wichtig, aber Freundlichkeit ist wichtiger.

    Seit einiger Zeit blättere ich öfter mal in Shoshana Zuboffs Age of Surveillence Capitalism und finde es immer wieder nützlich und gleichzeitig verkehrt. Dazu will ich etwas mehr schreiben, wenn ich es ganz gelesen habe, aber jetzt gerade hat mich ihr Generalangriff auf den Behaviorismus – auch der gleichzeitig richtig und falsch – wieder an einen Gedanken aus Bertrand Russells A History of Western Philosophy erinnert, der mich immer wieder beschäftigt – und den ich sehr profund finde. Im Groben: „In politischen Theorien ist Menschlichkeit wichtiger als Stringenz”. Oder: das „worse is better“ der Unix-Philosophie, das mensch trefflich kritisieren kann, ist zumindest fürs politische Denken in der Regel angemessen.

    Was ist eigentlich eine Menge?

    Foto eines Computers

    Gegenstück zu worse is better: Eine LISP-Maschine im MIT-Museum.

    Dabei konnte Russell beeindruckend stringent denken, etwa auf den paar hundert Seiten, die er in den Principia Mathematica füllte, um sich der Richtigkeit von 1+1=2 zu versichern.

    Oder auch in der Russell'schen Antinomie, die ich in meinen Einführungsvorlesungen in die formalen Grundlagen der Linguisitk immer zur Warnung vor der naiven Mengendefinition – eine Menge sei ein Haufen von „Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens“ – gebracht habe. Wäre diese Definition nämlich ok, müsste es auch die Menge aller Mengen geben, die sich nicht selbst enthalten. Nennen wir sie mal Ξ (ich finde, das große Xi ist in Mathematik und Physik deutlich unterverwendet). Die wesentliche Frage, die mensch einer Menge stellen kann ist: Ist irgendwas in dir drin, also: „x ∈ Ξ“?

    Und damit kommt Russells geniale Frage: Ist Ξ ∈ Ξ oder nicht? Schauen wir mal:

    • Wenn Ξ ∈ Ξ gälte, enthält Ξ sich selbst, ist also nicht in der Mengen aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, entgegen der Annahme in diesem Spiegelstrich.
    • Ist aber Ξ ∉ Ξ, so enthält sich Ξ nicht selbst, wäre es also in der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten und müsste sich also selbst enthalten. Passt wieder nicht.

    Brilliant, oder? Die Lösung dieser „Russell'schen Antinomie“ ist übrigens, sich bei der Definition von „Menge“ etwas mehr Mühe zu geben.

    Wer das nachvollzogen hat, wird wohl die Weisheit von Russells Entscheidung erkennen, nach den Principia Mathematica eher konventionelle Philosophie zu betreiben. In diesem Rahmen hat er 1945 seine überaus lesbare Darstellung der „westlichen“ Philosophie veröffentlicht, in der er sich deutlich als Fan von John Locke outet, den „apostle of the Revolution of 1688, the most moderate and the most successful of all revolutions“, erfolgreichst, denn „no subsequent revolution has hitherto been found necessary in England.“ Über das „found necessary“ könnte mensch angesichts des Elends, das noch in den Werken von George Orwell – geschrieben, während Russell in den 1940ern an seiner History arbeitete – deutlich wird, sicher streiten, aber vielleicht ist das durch „most moderate“ noch hinreichend abgedeckt.

    Vernünftig vs. Widerspruchsfrei in der politischen Doktrin

    Viel wichtiger ist mir aber Russells Beobachtung: „Pragmatically, the theory was useful, however mistaken it may have been theoretically. This is typical of Locke's doctrines.“ Etwas später sagt er: „No one has yet succeeded in inventing a philosophy at once credible and self-consistent. Locke aimed at credibility, and achieved it at the expense of consistency. Most of the great philosophers have done the opposite.“

    Also in etwa: in der Philosophie – und da würde ich etwas hinter Russell zurückgehen wollen und sagen: Politik und Soziologie – gibt es nicht gleichzeitig „glaubwürdig“ (sagen wir lieber: menschlich) und widerspruchsfrei. Ich glaube, Russell kam zu diesem desillusionierten Einsichten aus Enttäuschung mit der russischen Revolution, deren Scheitern, jedenfalls im Sinne von Freiheit, Gleichheit und Solidarität für die Bürger_innen der Sowjetunion, er wahrscheinlich mit übermäßiger ideologischer Strenge erklärte; jedenfalls führte er Lockes gedankliche Geschmeidigkeit zurück auf dessen Erfahrungen des britischen Bürgerkriegs der 1640er Jahre.

    Immer wieder spottet Russell freundlich über Lockes, nun, Liberalität, so etwa, wenn Hume einen schlimmen Irrtum beging, weil er „a better intellect than Locke's, a greater acuteness in analysis, and a smaller capacity for accepting comfortable inconsistencies“ hat. Oder wenn er Lockes Methode so umschreibt:

    [Er ist] always willing to sacrifice logic rather than become paradoxical. He enunciates general principles which, as the reader can hardly fail to perceive, are capable of leading to strange consequences; but whenever the strange consequences seem about to appear, Locke blandly refrains from drawing them. To a logician this is irritating; to a practical man, it is a proof of sound judgement.

    Was ich daraus mache: Wenn du über die Gesellschaft nachdenkst und du kommst auf Menschenfresserei, müssen deine Ausgangsgedanken nicht unbedingt Quatsch sein – das kann schon mal passieren, wenn ein Haufen Leute sich streiten. Du solltest aber trotzdem nicht Menschenfresser_in werden.

    Freundlichkeit vs. Radikalität in der politischen Praxis

    Eine derzeit ganz naheliegende Anwendung: So sehr es scheiße ist, wenn Leute an eigentlich vermeidbaren Krankheiten sterben: Die autoritäre Fantasie, einfach alle einzusperren, bis die SARS-2-Pandemie vorbei ist, ist schon deshalb nicht menschenfreundlich, weil so ein Präzedenzfall zu inflationären Forderungen nach ähnlich autoritären Maßnahmen führen wird (alles andere mal beiseitegelassen). Umgekehrt führt das unbedingte Bestehen auf Grundrechten wie Freizügigkeit, die Zurückweisung staatlicher Autorität, auch wo diese nicht immer so richtig wissenschaftlich unterfüttert ist, zu einem schlimmen Gemetzel. Es bleibt, sich da irgendwie durchzumogeln (und das, ich gebs immer noch nicht gerne zu, hat die Regierung recht ordentlich gemacht), und das ist wohl, was was Russell an Locke mag.

    Also: Im realen Umgang mit Menschen ist Freundlichkeit oft wichtiger als Konsequenz. Dass Russell, obwohl er fast jeden Gedanken von Locke widerlegt, seine gesamte Lehre sehr wohlwollend betrachtet, ist eine sozusagen rekursive Anwendung dieses Prinzips.

    Leider, und da kommen wir beinahe auf die Russell'sche Antinomie zurück, bin ich aber überzeugt, dass auch die Mahnung, es mit den Prinzipien nicht zu weit zu treiben, dieser Mahnung selbst unterliegt. Folterverbot oder Ausschluss der Todesstrafe etwa würde ich gerne unverhandelbar sehen.

    Locke hätte mit dieser fast-paradoxen Selbstanwendung von Nicht-Doktrinen auf Nicht-Doktrinen bestimmt keine Probleme gehabt. Bei mir bin ich mir noch nicht ganz sicher.

    Aber ich versuche, Zuboff mit der Sorte von Wohlwollen zu lesen, die Russell für Locke hatte.

    Nachtrag (2021-04-10)

    Weil ich gerade über irgendeinen Twitter-Aktivismus nachdenken musste (bei dem jedenfalls für mein Verständnis allzu oft gute Absichten zu böser Tat werden), ist mir aufgefallen, dass meine Russell-Interpretation eigentlich zusammenzufassen ist mit: „Radikalität ist wichtig, aber Freundlichkeit ist wichtiger“. Das hat mir auf Anhieb gefallen, weshalb ich es auch gleich als TL;DR über den Artikel gesetzt habe.

    Dann habe ich geschaut, ob duckduckgo diesen Satz kennt. Erstaunlicherweise nein. Auch bei google: Fehlanzeige. Ha!

    Und je mehr ich darüber nachdenke, gerade auch im Hinblick auf ein paar Jahrzehnte linker Politik: RiwaFiw hätte vieles besser gemacht, und, soweit ich sehen kann, fast nichts schlechter.

  • Die Viren loben

    „Jetzt ist aber wirklich höchste Zeit, dass Corona endlich mal weggeht“ ist inzwischen ein universelles Sentiment, und auch mich lockt gelegentlich die autoritäre Versuchung, einen „harten Lockdown“ zu wünschen, damit das Ding weggeht (was es natürlich nicht täte). Der Hass auf SARS-2 steigt, und damit womöglich auf Viren allgemein.

    In der Tat scheinen Viren erstmal richtig doof, eklig und widerwärtig. Wie scheiße ist das eigentlich, sich von den Zellen vertrauensvoll aufnehmen zu lassen und dann den Laden zu übernehmen mit dem einzigen Ziel, neues Virus zu machen? Und dann die Ähnlichkeit von z.B. der T2-Bakteriophage mit Invasoren vom Mars...

    Andererseits bin ich überzeugt, dass eine gewisse Anfälligkeit gegen Viren wahrscheinlich ein evolutionärer Vorteil ist. Da gibts bestimmt jede Menge echte Wissenschaft dazu, aber ich denke, eine einfache Intiution geht auch ohne: Praktisch alle Viren nämlich wirken nur auf kurze Distanz in Zeit und Raum (verglichen etwa mit Pflanzenpollen, aber sogar mit vielen Bakterien), werden also im Wesentlichen bei Begegnungen übertragen. Da die Wahrscheinlichkeit von Begegnungen mit dem Quadrat der Bevölkerungsdichte geht, sollten Viren explodierende Populationen „weicher“ begrenzen als leergefressene Ressourcen und so wahrscheinlich katastrophalen Aussterbeereignissen vorbeugen.

    Vorneweg: Ja, das klingt alles erstmal wild nach Thomas Malthus. Dessen Rechtfertigung massenhaften Sterbenlassens ist natürlich unakzeptabel (ebenso allerdings wie das fortgesetzte Weggucken von den Meadows-Prognosen, die in der Regel auch katastrophale Zusammenbrüche erwarten lassen).

    Dies aber nicht, weil falsch wäre, dass in endlichen Systemen der Ressourcengebrauch nicht endlos steigen kann; das ist nahe an einer Tautologie. Nein, Malthus' Fehler ist der der Soziobiologie, nämlich menschliche Gesellschaft und menschliches Verhalten an Funktionsweisen der Natur auszurichten. Wer das will, wird recht notwendig zum Schlächter, während umgekehrt die Geschichte der letzten 100 Jahre überdeutlich zeigt, wie (sagen wir) Wachstumszwänge diverser Art durch mehr Bildung, mehr Gleichheit und vor allem durch reproduktive Selbstbestimmung von Frauen ganz ohne Blutbad und unter deutlicher Hebung der generellen Wohlfahrt zu beseitigen sind.

    Bei Kaninchen ist das aber, da muss ich mich leider etwas als Speziezist outen, anders. Und daher habe ich mir Modellkaninchen für ein weiteres meiner Computerexperimente herausgesucht, ganz analog zu den Schurken und Engeln.

    Die Fragestellung ist: Werden Ausschläge in Populationen wirklich weniger wild, wenn Viren (also irgendwas, das Individuen nach Begegnungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit umbringt) im Spiel sind?

    Um das zu untersuchen, baue ich mir eine Spielwelt (wer mag, kann auch „modifiziertes Lotka-Volterra-Modell“ dazu sagen) wie folgt:

    • Es gibt 1000 Felder, auf denen Gras wachsen kann oder nicht.
    • In der Welt leben Kaninchen, die pro Periode ein Grasfeld leerfressen müssen, damit sie glücklich sind.
    • Haben Kaninchen mehr Gras als sie brauchen, vermehren sie sich, und zwar um so mehr, je mehr Extrafutter sie haben (so machen das zumindest Rehe).
    • Haben Kaninchen zu wenig Gras, sterben ein paar.
    • In jeder Periode verdoppelt sich die Zahl der Grasfelder (sagen wir: durch Aussaat), bis alle 1000 Felder voll sind.

    In Code sieht die Berechnung der Vermehrungsrate der Kaninchen so aus:

    def get_growth_factor(self):
      grass_per_rabbits = self.grass/self.rabbits
      if grass_per_rabbits<1:
        return grass_per_rabbits**2
      else:
        return 1+math.sqrt(grass_per_rabbits-1)
    

    Wer den Verlauf der Vermehrungsrate mit dem Gras/Kaninchenverhältnis γ auf der Abszisse sehen will:

    Um dieses Modell zu rechnen, habe ich ein kleines Python-Programm geschrieben, lv.py, das, mit anfänglichen Zahlen von Gras und Kaninchen aufgerufen, den Verlauf der jeweiligen Populationen im Modell ausgibt (nachdem es die Anfangsbedingungen etwas rausevolvieren hat lassen).

    Wie bei dieser Sorte von Modell zu erwarten, schwanken die Populationen ziemlich (außer im Fixpunkt Kaninchen=Gras). So sieht das z.B. für python3 lv.py 400 410 (also: anfänglich ziemlich nah am Gleichgewicht) aus:

    Das sieht nicht viel anders aus, wenn ich mit einem Kaninchen-Überschuss anfange (python3 lv.py 400 800):

    oder mit einem Gras-Paradies (python3 lv.py 800 150):

    Aus Modellsicht ist das schon mal fein: Recht unabhängig von den Anfangsbedingungen (solange sie im Rahmen bleiben) kommen zwar verschiedene, aber qualitativ doch recht ähnliche Dinge raus: die Kaninchenpopulationen liegen so zwischen 250 und 600 – im anfänglichen Gras-Paradies auch mal etwas weiter auseinander – und schwanken wild von Schritt zu Schritt.

    Jetzt baue ich einen Virus dazu. Im lv.py geht das durch Erben vom LV-Modell, was auf die LVWithVirus-Klasse führt. Diese hat einen zusätzlichen Parameter, deadliness, der grob sagt, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Kaninchen nach einer Begegnung mit einem anderen Kaninchen stirbt. Die Mathematik in der propagate-Methode,

    def propagate(self):
      LV.propagate(self)
      self.rabbits = max(1, self.rabbits-self.rabbits**2*self.deadliness)
    

    würde etwa einem Bau entsprechen, in dem sich alle Kaninchen ein Mal pro Periode sehen. Das ist jetzt sicher kein gutes Modell für irgendwas, aber es würde mich sehr überraschen, wenn die Details der Krankheitsmodellierung viel an den qualitativen Ergebnissen ändern würden. Wichtig dürfte nur sein, dass die Todesrate irgendwie überlinear mit der Population geht.

    lv.py lässt das Modell mit Virus laufen, wenn es ein drittes Argument, also die Tödlichkeit, bekommt. Allzu tödliche Viren löschen die Population aus (python3 lv.py 800 150 0.05):

    Zu harmlose Viren ändern das Verhalten nicht nennenswert (python3 lv.py 800 150 1e-6):

    Interessant wird es dazwischen, zum Beispiel python3 lv.py 800 150 2.1e-4 (also: rund jede fünftausendste Begegnung bringt ein Kaninchen um):

    – wer an die Beschriftung der Ordinate schaut, wird feststellen, dass die Schwankungen tatsächlich (relativ) kleiner geworden sind. Das Virus wirkt offenbar wirklich regularisierend.

    Wir befinden uns aber im Traditionsgebiet der Chaostheorie, und so überrascht nicht, dass es Bereiche der Tödlichkeit gibt, in denen plötzlich eine starke Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen entsteht und sich die Verhältnisse weit in die Entwicklung rein nochmal grundsätzlich ändern können („nicht-ergodisch“). So etwa python3 lv.py 802 300 0.0012:

    gegen python3 lv.py 803 300 0.0012:

    Ein Kaninchen weniger am Anfang macht hundert Schritte später plötzlich so ein gedrängeltes, langsames Wachstum.

    Warum ich gerade bei 0.0012 geschaut habe? Nun ich wollte einen Überblick über das Verhalten bei verschiedenen Tödlichkeiten und habe darum stability_by_deadliness.py geschrieben, das einfach ein paar interessante Tödlichkeiten durchprobiert und dann die relative Schwankung (in Wirklichkeit: Standardabweichung durch Mittelwert) und den Mittelwert der Population über der Virustödlichkeit aufträgt:

    – das sieht sehr gut aus für meine These: Mit wachsender Tödlichkeit des Virus nimmt die relative Streuung der Population ab, irgendwann allerdings auch die Population selbst. Ganz links im Graphen gehts durcheinander, weil sich dort chaotisches Systemverhalten mit kleinen Zahlen tifft, und dazwischen scheint es noch ein, zwei Phasenübergänge zu geben.

    Leider ist dieses Bild nicht wirklich robust. Wenn ich z.B. die Anfangsbedingungen auf 600 Gras und 250 Kaninchen ändere, kommt sowas raus:

    – die meisten der Effekte, die mich gefreut haben, sind schwach oder gar ganz weg – wohlgemerkt, ohne Modelländerung, nur, weil ich zwei (letztlich) Zufallszahlen geändert habe.

    Mit etwas Buddeln findet mensch auch das Umgekehrte: wer immer mit 170 Gras und 760 Kaninchen anfängt, bekommt einen Bereich, in dem die Populationen mit Virus größer sind als ohne, während gleichzeitig die relative Schwankung nur noch halb so groß ist wie ohne Virus. Dazwischen liegt ein 1a Phasenübergang:

    Mensch ahnt: da steckt viel Rauschen drin, und auf der anderen Seite höchst stabiles Verhalten, wo mensch es vielleicht nicht erwarten würde (bei den hohen Tödlichkeiten und mithin kleinen Zahlen). Wissenschaft wäre jetzt, das systematisch anzusehen (a.k.a. „Arbeit“). Das aber ist für sehr ähnliche Modelle garantiert schon etliche Male gemacht worden, so dass der wirklich erste Schritt im Jahr 51 nach PDP-11 erstmal Literatur-Recherche wäre.

    Dazu bin ich natürlich zu faul – das hier ist ja nicht mein Job.

    Aber das kleine Spiel hat meine Ahnung – Viren stabilisieren Ökosysteme – weit genug gestützt, dass ich weiter dran glauben kann. Und doch wäre ich ein wenig neugierig, was die Dynamische-Systeme-Leute an harter Wissenschaft zum Thema zu bieten haben. Einsendungen?

  • Quatsch + Quatsch = Nichtzuglauben

    Ich mache die Kasse unserer Selbsthilfe-Fahrradwerkstatt URRmEL schon länger als ich mir das eingestehen will. Etwas vergleichbar Absurdes wie heute jedoch habe ich in dieser Eigenschaft noch nicht erlebt: 13,01 Euro für die Hochzeit von Terrorquatsch und Privatisierungswahn.

    Genauer hat der Bundesanzeiger-Verlag dem Verein vor einer Weile eine Rechnung geschickt, und da ich zu Coronazeiten nicht sehr oft zu unserem Postfach komme, habe ich das erst heute gesehen:

    Scan einer Rechnung

    Zunächst hatte ich ja an eine mäßig gelungene Bauernfängerei gedacht, aber es stellt sich raus: Das Transparenzregister gibt es wirklich. Es ist im Zuge des Sicherheitsgesetz-Tsunamis 2017 zusammen mit Netzwerkdurchsetzungsgesetz, Videoüberwachungsverbesserungsgesetz, dem „Bullenschubsparagraphen“ 114 StGB und noch einem runden Dutzend weiterer schlecht gemachter Gesetze zur Einschränkung von Bürgerrechten durch den Bundestag gerutscht.

    Wir wirklich will, kann sich diesen spezifischen Unsinn bei der Wikipedia erklären lassen. Aber viel mehr als die Umschreibung „Terrorquatsch heiratet Privatisierungswahn“ von oben braucht mensch dazu eigentlich nicht zu wissen: Er ist wahrscheinlich immerhin nicht sehr schädlich, jedenfalls verglichen mit den anderen Gesetzen dieses Jahrgangs.

    Exkurs: „Terrorismus“ als Antisprache

    Das Wort „Terrorismus“, diese Gelegenheit kann ich mir nach der Vorlage neulich nicht entgehen lassen[1], ist natürlich destillierte Antisprache, also Sprache, die Informationen verstecken und nicht transportieren will. „Terrorismus“ hat nämlich aus Sicht der Obrigkeit schon immer bedeutet: „wir dürfen auf andere Leute schießen, weil hinreichend viele von unseren Leuten die hassen“. Nicht mehr und nicht weniger.

    Das ist die Bedeutung des Wortes für die Putschisten in Myanmar genauso wie für Lukaschenko in Belarus, ist sie gegenüber „Islamisten“, ob nun Taliban in Afghanistan oder Uiguren in Westchina, gegenüber der UCK (jedenfalls aus Sicht der serbischen Obrigkeit von 1999), landlosen Bauern in Brasilien oder fabrikbesetzenden Arbeiter_innen in Argentinien. Und natürlich sowieso für all die „Innenpolitiker_innen“, die Scheibe um Scheibe von der Menschenrechtssalami absäbeln.

    Was das Wort versteckt: Auch die „Terroristen“ haben meist Gründe für das, was sie tun, und diese Gründe sind oft gar nicht so verschieden von denen, die die Obrigkeiten selbst antreiben: Patriotismus, Frömmigkeit, Streben nach Reichtum dürften ganz vorne dabei sein. Aus dieser Symmetrie folgt dann ziemlich unmittelbar auch, dass Versuche, die zugrundeliegenden Konflikte mit Gewalt zu beseitigen, meist weitgehend aussichtslos sind – und so eine Schlussfolgerung will mensch natürlich weder als Obrigkeit noch als, na ja, Terrorist_in halt ziehen, so sehr sie nach 20 Jahren „Krieg gegen den Terror“ eigentlich unvermeidlich ist.

    Nur zur Sicherheit: Nichts davon will, klar, staatliche oder private Akteure rechtfertigen, die von Patriotismus pp. getrieben werden, und noch weniger die, die deswegen rumballern oder -bomben (lassen). Es heißt nur, dass, solange wir Patriotismus, Religion und Reichtum nicht überwunden haben, die Klassifikation der der anderen Patriot_innen, Religiösen und Armen als „Terroristen“ ganz gewiss nicht weiterhilft.

    Ich kann diesen kurzen linguistischen Exkurs nicht schließen ohne eine Extraportion Befremden zu äußern über die Leichtigkeit, mit der selbst deutschen Regierungen das Wort „Terrorismus“ über die Lippen kommt. Mindestens angesichts der ebenfalls unter dem Label „Terrorismusbekämpfung“ gelaufenen Massakern im von der Wehrmacht besetzten Jugoslawien sollte doch zumindest da etwas mehr Bedacht walten. Sollte. Aber fragt mal eure_n Bundestagsabgeordnete_n, ob er_sie auch nur irgendwas mit Kraljevo oder Kragujevac anfangen kann.

    Verkaufen ohne Bestellung

    Aber zurück zum Thema: In der Gesetzgebung zum Geldwäschegesetz, das das Transparenzregister eingeführt hat, traf nun das semantische schwarze Loch „Terrorismus“ auf die offensichtlich widersinnige, aber erstaunlich vielen irgendwie einsichtige Idee, alles sei besser, wenn es ein Privatunternehmen mache.

    Und deswegen führt das Transparenzregister der Bundesanzeiger-Verlag, ein Laden, der zwar seine ersten 40 Jahre als so eine Art Bundes-Tochter fristete, aber im Rahmen des marktradikalen Rauschs um die Jahrtausendwende (in ein paar Stufen) ausgerechnet an den DuMont Schauberg-Verlag ging, einen der ganz großen Spieler im Kölschen Klüngel. Dass das ohne Ausschreibung passierte, verdient kaum Erwähnung – und klar hätte es eine Ausschreibung auch nicht besser gemacht: Entweder, etwas ist Obrigkeit, dann solls gefälligst auch der Staat machen, oder es ist es nicht, dann muss ich es aber auch nicht bezahlen, wenn ich es nicht bestellt habe. Meint mensch.

    Der Netto-Effekt jedenfalls: Der Terror-Zirkus Transparenzregister, den jedenfalls unsere Fahrradwerkstatt nicht bestellt hat, soll jetzt durch Gebühren finanziert werden von denen, die er transparent zu machen vorgibt.

    Und das sind rapide steigende Gebüren: es ging von 1.25 auf 4.80 Euro in vier Jahren. Sind wir großzügig, ist das eine Verdoppelungszeit von drei Jahren. Damit kostet der Eintrag in knapp dreißig Jahren 100 000 Euro. Auch wenn es nicht so weit kommt: Den Preis für etwas, das Leute zwangsweise kaufen müssen, in dieser Freiheit bestimmen zu können: das ist, soweit es mich betrifft, eine Lizenz zum Gelddrucken.

    Wobei, ehrlicherweise: von den 13 Euro wird wahrscheinlich erstmal nicht viel übrigbleiben, wenn Papier, Versand und Verrechnung bezahlt sind – aber das ist ja gerade der spezifische Wahnsinn: Mal angenommen, so ein Register hätte einen Nutzen, könnte mensch riesige Mengen Geld und Arbeit sparen, wenn dei Mittel nicht über Millionen von Briefen und Call Center und sonstwas eingetrieben werden müssten, sondern irgendwo aus dem BMI-Haushalt kämen. Das bisschen Zusammenführung verschiedener Register müsste dann eigentlich mit einer Million im Jahr drin sein – vermutlich vergleichbar mit den Portokosten des privaten Transparenzregisters.

    La-la-la Servicequalität

    Aber keine Sorge: Steuerbegünstigte Vereine wie unsere Fahrradwerkstatt „können gemäß §4 TrGebV bei der registerführenden Stelle eine Gebührenbefreiung ab dem Zeitpunkt der Antragstellung beantragen. Die Antragstellung kann nach Registrierung ausschließlich über die Internetseite des Transparenzregisters erfolgen.”

    Hab ich probiert.

    Ist nicht einfach.

    Immerhin geht die Webseite ohne Javascript. Das ist schon mal etwas, das ich mit all der Privatwirtschaft im Boot nicht erwartet hätte. Eine offensichtliche Möglichkeit, einen Verein als gemeinnützig zu melden, ist allerdings nicht erkennbar, und „steuerbegünstigt“ oder „gemeinnützig“ kommt bei den FAQ nicht vor.

    Ah: das ist eine Hotline. Ruf ich gleich mal an: „♪♪ ♪ ♪ Wir sind heute nur eingeschränkt für Sie da.“

    Das muss die Servicequalität (noch so ein Stück Antisprache: Qualität) im Privatsektor sein, von der mensch so viel hört.

    Ich habe mal eine Mail geschrieben. Wetten zu Dauer und Art der Antwort nehme ich an.

    [1]Auch wenn das Thema eigentlich schon oft behandelt wurde; vgl. etwa eine Abhandlung im Guardian von 2015
  • Tintenfische und der Erfolg im Leben

    Ein Oktopus im Porträt

    Gut: Es ist keine Sepie. Aber dieser Oktopus ist bestimmt noch viel schlauer.

    Mal wieder gab es in Forschung aktuell ein Verhaltensexperiment, das mich interessiert hat. Anders als neulich mit den Weißbüschelaffen sind dieses Mal glücklicherweise keine Primaten im Spiel, sondern Tintenfische, genauer Sepien – die mir aber auch nahegehen, schon, weil das „leerer Tab“-Bild in meinem Browser eine ausgesprochen putzige Sepie ist. Den Beitrag, der mich drauf gebraucht hat, gibt es nur als Audio (1:48 bis 2:28; Fluch auf die Zeitungsverleger), aber dafür ist die Original-Publikation von Alexandra Schnell et al (DOI 10.1098/rspb.2020.3161) offen.

    Grober Hintergrund ist der Marshmallow-Test. Bemerkenswerterweise zitiert der Wikipedia-Artikel bereits die Sepien-Publikation, nicht jedoch kritischere Studien wie etwa die auf den ersten Blick ganz gut gemachte von Watts et al (2018) (DOI: 10.1177/0956797618761661). Schon dessen Abstract nimmt etwas die Luft aus dem reaktionären Narrativ der undisziplinierten Unterschichten, die selbst an ihrem Elend Schuld sind:

    an additional minute waited at age 4 predicted a gain of approximately one tenth of a standard deviation in achievement at age 15. But this bivariate correlation was only half the size of those reported in the original studies and was reduced by two thirds in the presence of controls for family background, early cognitive ability, and the home environment. Most of the variation in adolescent achievement came from being able to wait at least 20 s. Associations between delay time and measures of behavioral outcomes at age 15 were much smaller and rarely statistically significant.

    Aber klar: „achievement“ in Zahlen fassen, aus denen mensch eine Standardabweichung ableiten kann, ist für Metrikskeptiker wie mich auch dann haarig, wenn mich die Ergebnisse nicht überraschen. Insofern würde ich die Watts-Studie jetzt auch nicht überwerten. Dennoch fühle ich mich angesichts der anderen, wahrscheinlich eher noch schwächeren, zitierten Quellen eigentlich schon aufgerufen, die Wikipedia an dieser Stelle etwas zu verbessern.

    Egal, die Tintenfische: Alexandra Schnell hat mit ein paar Kolleg_innen in Cambridge also festgestellt, dass Tintenfische bis zu zwei Minuten eine Beute ignorieren können, wenn sie damit rechnen, später etwas zu kriegen, das sie lieber haben – und wie üblich bei der Sorte Experimente ist der interessanteste Teil, wie sie es angestellt haben, die Tiere zu irgendeinem Handeln in ihrem Sinn zu bewegen.

    Süß ist erstmal, dass ihre ProbandInnen sechs Tintenfisch-Jugendliche im Alter von neun Monaten waren. Die haben sie vor einen Mechanismus (ebenfalls süß: Die Autor_innen finden den Umstand, dass sie den 3D-gedruckt haben, erwähnenswert genug für ihr Paper) mit zwei durchsichtigen Türen gesetzt, hinter denen die Sepien jeweils ihre Lieblingsspeise und eine Nicht-so-Lieblingsspeise (in beiden Fällen irgendwelche ziemlich ekligen Krebstiere) sehen konnten. Durch irgendwelche Sepien-erkennbaren Symbole wussten die Tiere, wie lange sie würden warten müssen, bis sie zur Leibspeise kommen würden, zum langweiligen Essen konnten sie gleich, und sie wussten auch, dass sie nur einen von beiden Ködern würden essen können; dazu gabs ein recht durchdachtes Trainingsprotokoll.

    Na ja, in Wirklichkeit wars schon etwas komplizierter mit dem Training, und ahnt mensch schon, dass nicht immer alles optimal lief:

    Preliminary trials in the control condition showed that Asian shore crabs were not a sufficiently tempting immediate reward as latencies to approach the crab, which was baited in the immediate-release chamber, were excessive (greater than 3 min) and some subjects refused to eat the crab altogether.

    Ich kann mir richtig vorstellen, wie die Gruppe vor dem Aquarium stand und fluchte, weil die doofen Viecher ihre Köder nicht schlucken wollten: „Wie zum Henker schreiben wir das nachher ins Paper?“ – um so mehr, als alle Sepien konsequent die gleichen Präferenzen hatten (was ich ja auch schon für ein bemerkenswertes Resultat halte, das bei n=6 und drei Auswahlmöglichkeiten kaum durch Zufall zu erklären ist – vielleicht aber natürlich durch das, was die Sepien sonst so essen).

    Und dann wieder Dinge in der Abteilung „was alles schiefgehen kann, wenn mensch mit Tieren arbeitet“:

    Subjects received one session of 6 trials per day at a specific delay. This number of trials was chosen to minimize satiety and its effects on eating behaviour.

    Schon die Abbildung 2 des Artikels finde ich wirklich erstaunlich: Alle Sepien bekommen es hin, 30 Sekunden auf ihre Lieblingsspeise zu warten – wow. Ok, kann natürlich sein, dass sie so lange brauchen, um sich zu orientieren, aber Schnell und Co scheinen mir schon viel getan zu haben, um das unwahrscheinlich zu machen.

    Was jedenfalls rauskommen sollte, war eine Korrelation der Wartezeit mit, na ja, der „Intelligenz“ (ich halte mich raus bei der genaueren Bestimmung, was das wohl sei), und um die zu messen, mussten die Sepien in ihren Aquarien zunächst lernen, das „richtige“ unter einem dunklen und einem hellen Stück Plastik aussuchen. Anschließend, das war der Intelligenztest, mussten sie mitbekommen, wenn die Versuchsleitung die Definition von „richtig“ verändert hat. Dazu haben sie laut Artikel im Mittel 46 Versuche gebraucht – gegenüber 27 Versuchen beim ersten Lernen. Nicht selbstverständlich auch: Sepien, die beim ersten Lernen schneller waren, waren auch schneller beim Begreifen der Regeländerung. Da ist Abbildung 3 schon ziemlich eindrücklich: einer der Tintenfische hat das Umkehrlernen in gut 20 Schritten bewältigt, ein anderer hat fast 70 Schritte gebraucht. Uiuiui – entweder haben die ziemlich schwankende Tagesform, oder die Gerissenheit von Sepien variiert ganz dramatisch zwischen Individuen.

    Die erwartete Korrelation kam selbstverständlich auch raus (Abbildung 4), und zwar in einer Klarheit, die mich schon etwas erschreckt angesichts der vielen Dinge, die beim Arbeiten mit Tieren schief gehen können; der Bayes-Faktor, den sie im Absatz drüber angeben („es ist 8.83-mal wahrscheinlicher, dass Intelligenz und Wartenkönnen korreliert sind als das Gegenteil“) ist bei diesem Bild ganz offensichtlich nur wegen der kleinen Zahl der ProbandInnen nicht gigantisch groß. Hm.

    Schön fand ich noch eine eher anekdotische Beobachtung:

    [Andere Tiere] have been shown to employ behavioural strategies such as looking away, closing their eyes or distracting themselves with other objects while waiting for a better reward. Interestingly, in our study, cuttlefish were observed turning their body away from the immediately available prey item, as if to distract themselves when they needed to delay immediate gratification.

    Ich bin vielleicht nach der Lektüre des Artikels nicht viel überzeugter von den verschiedenen Erzählungen rund um den Marshmallow-Test.

    Aber ich will auch mit Sepien spielen dürfen.

  • Wie aus dem 18. Jahrhundert

    Ich bin ja bekennender Leser von Fefes Blog, und ich gebe offen zu, dass ich dort schon das eine oder andere gelernt habe. Zu den für mich aufschlussreichsten Posts gehört dieser aus dem September 2015, der mir seitdem nicht mehr aus dem Sinn gegangen ist, und zwar wegen der Unterscheidung zwischen Kulturen der Ehre (die mensch sich verdienen und die mensch dann verteidigen muss) und denen der Würde (die mensch einfach hat).

    Der Rest des Posts ist vielleicht nicht der scharfsinnigste Beitrag zur Identitätsdebatte, und klar gilt auch Robert Gernhardts „Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv“ weiter, aber der zentrale Punkt ist: Artikel 1 Grundgesetz ist eine Befreiung von dem ganzen Unsinn von Ehre und insofern ein großer Schritt in die Moderne. Das ist mir so erst damals im September 2015 klar geworden.

    Und seitdem habe ich mich um so mehr gewundert über den Stellenwert, den „Gesicht nicht verlieren“ in „der Politik“ (und das schließt schon Bezirksvorsitzende von Gewerkschaften ein) immer noch hat. Wo außerhalb der Krawattenliga gibt es sonst noch „Ehrenerklärungen“ wie neulich bei der CDU (von vor 20 Jahren ganz zu schweigen) oder kräuseln sich nicht die Zehennägel, wenn jemand wie Westerwelle weiland verkündete: „Ihr kauft mir den Schneid nicht ab“?

    Um so mehr war ich angetan, als zumindest Angela Merkel diese Logik des 18. Jahrhunderts gestern durchbrochen hat und einfach mal „ich hab Scheiße gebaut“ gesagt hat. Und es tröstet etwas, dass zumindest die heutige Presseschau in weiten Teilen nicht das unsägliche Genöle von Vertrauensfragen aus dem Bundestag gestern reflektiert.

    Andererseits: Keine Presseschau ohne fassungsloses Kopfschütteln, wenn nämlich die Süddeutsche schreibt:

    Hätte die Bundesregierung stattdessen selber genug Impfdosen geordert, und zwar nicht zuletzt bei Biontech im eigenen Land, dem Erfinder des ersten Corona-Vakzins, befände sich Deutschland jetzt nicht am Rande der Hysterie.

    Hätte die Süddeutsche gesagt: „dafür gesorgt, dass so oder so alles, was an Abfüllkapazität da ist, anfängt, Impfstoff abzufüllen, sobald absehbar ist, dass es mit der Zulassung was wird“ – ok, das wäre ein Punkt. Das augenscheinlich auch im Ernstfall herrschende Vertrauen in „den Markt“ ist natürlich böser Quatsch. Aber auch überhaupt nichts Neues. Und die Süddeutsche sitzt in dem Punkt in einem Glashaus mit ganz dünnen Scheiben.

    Aber sie redet auch vom „ordern“, was im Klartext heißt: „wir wollen schneller geimpft sein als die anderen“ – das ist, noch klarerer Text, anderen Leuten den Impfstoff wegnehmen. Meinen die Süddeutschen das ernst?

    Ich bin ja ohnehin in den letzten Wochen in der unangenehmen Situation, meine Regierung zu verteidigen. Das habe ich, glaube ich, noch nie gemacht. Aber im schwierigen Lavieren zwischen autoritärem Durchgriff – etwa, alle Leute bei sich zu Hause einsperren – und einem Laissez-Faire, das vermutlich fast eine halbe Million Menschen in der BRD umgebracht hätte, sieht es fast so aus, als hätte der Gesamtstaat (zu dem ja auch Landesregierungen und vor allem Gerichte gehören) so ziemlich den Punkt erwischt hat, den „die Gesellschaft“ sonst auch akzeptiert.

    Warum ich das meine? Nun, so sehr ich gegen Metriken als Bestimmer politischen Handelns bin, gibt die Mortalitätskurve doch eine Idee davon, welche Kompromisse wir eingehen. Das RKI veröffentlicht jeden Freitag so eine, und die im Bericht vom letzten Freitag sieht so aus:

    Mortalitätskurven 2017-2021

    In Worten: Die Gesamtsterblichkeit war im Corona-Jahr nicht viel anders als sonst auch, nur kam der Grippe-Peak halt schon im November und Dezember statt erst im Januar und Februar. Und da wir ja wegen der Grippe in „normalen“ Jahren auch nicht alle das Winterende in Isolation verbringen, war das Level an Isolation und Shutdown, das wir am Ende hatten und das SARS-2 zur Vergleichbarkeit gezähmt hat, offenbar im Sinne „der Gesellschaft“ gewählt.

    Klar: Das hat so wohl niemand geplant. Dass es aber so rausgekommen ist, dürfte nicht einfach nur Zufall sein. „Schwarmintelligenz“ wird den Grund sicher nicht treffen. Aber irgendwas, das nicht furchtbar weit davon weg ist, dürfte die Ähnlichkeit der Kurven wohl schon erklären. Vielleicht: Das, was bei uns von Gewaltenteilung noch übrig ist?

    Ansonsten bereite ich mich schon mal aufs Verspeisen meines Hutes vor, wenn die „dritte Welle“ jetzt doch noch für einen schlimmen Mortalitätspeak sorgt.

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