Tag Funde

  • Wider dem exkulpatorischen Passiv

    In einer Vitrine steht eine sehr realistische Puppe eines Mannes mit einem Karohemd, der runtergebeugt ein Insektizid aus einem Kanister schüttet.  Ebenfalls in der Vitrine: ein paar Maispflanzen.

    Das Stuttgarter Naturkundemuseum illustiert: Es ist nicht so, dass Gift „versprüht wird“. Menschen versprühen Gift. Und dazu brauen sie Gift. Ich möchte hier argumentieren, dass es hilft, solche Aussagen im Aktiv zu formulieren.

    Während ich glaube, dass der Appell, „an die Opfer zu denken“, selten zu menschlichen und gesellschaftlich wünschenswerten Schlüssen führt – mit dieser Figur lässt sich von Vorratsdatenspeicherung über Todesstrafe bis zu Krieg alles rechtfertigen, ohne dass irgendwas wirklich besser wird[1] –, bin ich fest überzeugt, dass die klare Benennung von TäterInnen sozial und individuell höchst nützlich ist.

    Diese nämlich hilft mit etwas Glück Dritten, die im Begriff sind, fiese Dinge zu tun, das zu merken und es idealerweise zu lassen. Und daher bin ich ein Feind von versteckenden Passivkonstruktionen: „wurde verhaftet“, „wurde verurteilt“, „wurde hingerichtet“. Nein: Das waren jeweils handelnde Menschen, die da verhaftet, verurteilt und hingerichtet haben und sich duchaus auch anders hätten entscheiden können.

    Dass sie Ganzegalwas unter der deutschen Regierung zwischen 1933 und 1945 („die Nazis“) in der Regel hätten verweigern müssen, das ist inzwischen eine selbst in autoritäreren Zirkeln gesellschaftsfähige Einsicht. Vielleicht deshalb hat sich in diesem Umfeld eine Spezialform des exkulpatorischen Pseudo-Passivs entwickelt, bei dem „die Nazis“ oder noch schlimmer „die Nationalsozialisten“ als Handelnde benannt werden für all die Schrecklichkeiten, die die Untertanen unter der Regierung der NSDAP angerichtet haben.

    Täterschaft: Sarin entwickeln und dem Militär andienen

    Eine besonders verquere Variation dieser Figur ist mir im DLF-Kalenderblatt vom 20. März 2025 begegnet. Es geht um den Anschlag einiger Anhänger des japanischen Gurus Shoko Asahara auf die U-Bahn von Tokio 30 Jahre zuvor. Sie setzten dazu ein Nervengas ein, über das Martin Fritz in seinem Beitrag berichtet:

    Erst später stellt sich heraus, dass es sich um Sarin handelt, ein von den Nationalsozialisten entwickelter hochgiftiger chemischer Kampfstoff, der zu Atemstillstand führt.

    Nein. Gut: Die Leute, die das entwickelt haben, waren vermutlich wie eine starke Mehrheit der BewohnerInnen des deutschen Reichs während der Regierung der NSDAP loyal zu ihrer Herrschaft und in dem Sinn durchaus „Nationalsozialisten“[2]. Zwecks historischer Einsichten ist es aber viel besser, die Entwickelnden als „Chemiker“ zu benennen, genauer „deutsche Chemiker“, noch genauer „Mitarbeiter der IG Farben“. Die Wikipedia weiß zur Entwicklung von Sarin:

    1934 bekam Gerhard Schrader den Auftrag, importunabhängige Pflanzenschutzmittel zu entwickeln […] Systematische Strukturabwandlungen führten dann im Jahr 1939 zur Synthese des noch weitaus toxischeren Methanphosphonsäureisopropylesterfluorids (T 144, Trilon 144, später T 46, Trilon 46, Sarin). Sarin erwies sich als außerordentlich starkes Gift, das in seiner Warmblütertoxizität alle bis dahin hergestellten Verbindungen übertraf und 3–4 mal giftiger als Tabun war. Diese Verbindung wurde ebenfalls dem Heereswaffenamt gemeldet. [exkulpatorischer Passiv auch hier!]

    Kein Platz für Passiv

    Halten wir fest: Schrader und Kollegen haben ganz gezielt nach möglichst giftigen Substanzen gesucht und fanden offenbar die für ihren ursprünglichen Plan („Pflanzenschutz“) sehr hinderliche „Warmblütertoxizität“ höchst spannend. So spannend, dass sie ihre Gifte explizit dem Militär angetragen haben. Für Passivkonstruktionen gibt es hier aber auch gar keinen Grund.

    Ob der Nachsatz aus der Wikipedia:

    Tabun und Sarin waren keine rein militärchemischen Entwicklungen.

    beunruhigt oder beruhigt ist vielleicht eine Frage der beruflichen Tätigkeit des_der Lesenden.

    Die Benennung der Täter mag in diesem Fall helfen, Menschen davon abzuhalten, Gifte oder andere Waffen zu entwickeln. Und wenn es aus Gründen von Bruttosozialprodukt oder Existenzsicherung dafür wirklich nicht reichen sollte, sollen sie jedenfalls nicht gleich zum Militär rennen, wenn sie durch irgendeinen dummen Zufall auf potente Gifte stoßen.

    TäterInnen benennen auch bei der Preisverleihung!

    Vielleicht hätte es nichts geändert, wenn nur Gerhard Schrader anders gedacht und gehandelt hätte. Der Welt wäre aber viel Leid erspart geblieben, wenn eine hinreichend breite Minderheit der ChemikerInnen der IG Farben anders gedacht und gehandelt hätte. Es ist jedenfalls schon absehbar, dass wir der Welt jetzt viel Leid ersparen können, wenn wir uns dieses Mal nicht kriegstüchtig machen und wenns geht auch andere überzeugen, das zu lassen.

    Bei der vorletzten Kriegstüchtigkeit sah es noch retrospektiv ganz anders aus mit (später) Einsicht. Wieder aus der Wikipedia:

    Gerhard Schrader wurde 1955 mit der Otto-Appel-Denkmünze ausgezeichnet.

    Ich jedenfalls würde sehr gerne wissen, wer genau da verliehen hat. Und was diese Leute sonst noch so getrieben haben.

    [1]Zu bedenken ist dabei auch immer die Sentenz: „Nur weil du ein Opfer bist, heißt das nicht, dass du kein Arschloch bist“. Das bedeutet nicht, das Leiden der Opfer hinzunehmen. Es heißt aber sehr wohl, dass netten Menschen Rache, Strafe und Repression nicht viel geben werden, und dass sie in der Regel nur neue Opfer schaffen. Demgegenüber lassen sich viele menschliche und gesellschaftlich wünschbare Maßnahmen denken, die verhindern helfen, dass Menschen – ob sie nun Arschlöcher sind oder nicht; Menschenrechte gelten sogar für erstere – überhaupt erst zu Opfern werden.
    [2]Ich schreibe das in Anführungszeichen, weil der „Sozialismus“-Teil dieses Wortes von vorneherein als Diffamierung sozialistischer Ideen angelegt war und wirklich nicht erkennbar ist, welche sozialistischen Ideensplitter sich in der kruden, reaktionären Nazisoße („Ideologie“ ist dafür ein viel zu feines Wort) finden lassen könnten. Insofern: „Nazis“ oder „Faschisten“ sind weit geeignetere Bezeichnungen.

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