
In der deutschen Le Monde Diplomatique erschien im Mai ein wirklich lesenswerter Artikel – ich habe ihn insgesamt vier Mal mehr oder weniger vollständig gelesen bzw. vorgelesen.
Da die LMD ihr Material nach drei Monaten offen ins Netz stellt, kann ich ihn jetzt breit empfehlen: Macht der Ideen von Perry Anderson, mit dem Untertitel „Vom Christentum bis zum Neoliberalismus”[1].
Sein vs. Bewusstsein, rechts und links
Der Autor, jetzt 86 Jahre alt, kommt aus einer dezidiert linken Tradition, in der seit Jahrhunderten heiß unter anderem über die Frage diskutiert wird, ob das „Sein das Bewusstsein bestimmt“ (Marx), ob also Naturgegebenheiten oder Lebensbedingungen festlegen, wie die Menschen über die Welt nachdenken, oder ob es, ich rufe dafür immer Gramsci auf, nicht vielmehr drauf ankommt, die richtigen Ideen in die Köpfe der Menschren reinzubekommen und so ihr Handeln und damit am Schluss ihre Lebensbedingungen zu verändern.
Einen ersten Aha-Moment mit Andersons Artikel hatte ich bei seiner Darstellung ganz ähnlicher Debatten auf rechter Seite. Diese hatten weniger überraschende Teilnehmer wie Karl Popper und eher unerwartete Diskutanten wie den Cats-Inspirator T.S. Eliot – den ich allerdings, da ich nur seine verschrobenen Katzen kannte, auch nicht als mystizistischen Reaktionär auf dem Zettel hatte, zumal in seinem Possum-Buch die ganze kitschige Grizabella-Himmelfahrtsgeschichte gar nicht vorkommt.
Zurück zum Anderson-Artikel: Wertvoll ist er wegen seines weiten Blicks auf Fallbeispiele. Er betrachtet Christentum und Islam, Aufklärung zwischen Reformation und Gegenreformation, Marxismus und Neoliberalismus bzw. allgemeiner Kapitalismustheorien und beschreibt, wie diese jeweils von den materiellen und sozialen Gegebenheiten gefördert wurden und dann wieder auf diese zurückgewirkt haben. Das klingt vielleicht etwas abstrakt oder theorielastig, aber wer die Welt retten will (oder jedenfalls dazu beitragen), wird früher oder später auch darüber nachdenken wollen. Nach der Lektüre von Andersons Artikel hat mensch, glaube ich, deutlich mehr Material, um das vernünftig und informiert zu tun.
Nationalismus: Dünn und Dürftig
Wirklich begeistert hat mich aber Andersons Charakterierung der Idee (zur Ideologie vermag er ja kaum zu reichen) des Nationalismus als „unvergleichlich dünner und dürftiger” als etwa die Lehren von Marxismus oder auch der Marktreligion, sowie sein Hinweis, dass der Nationalismus dennoch erheblich erfolgreicher war als sowohl Sozialismus als auch Kapitalismus: Praktisch alle Menschen glauben heute an „ihre Nation”, halten sie für wichtig, und manche wollen für dieses seltsame und widerspruchsvolle, wenigstens intellektuell dürftige Konstrukt sogar sterben und töten.
In Andersons Worten:
Als politische Idee wies der Nationalismus von Beginn an zwei Eigentümlichkeiten auf. Zum einen brachte er nur sehr wenige bedeutende oder originelle Denker hervor (bis auf wenige Ausnahmen wie etwa Johann Gottlieb Fichte). Die ausgearbeitete Doktrin war unvergleichlich dünner und dürftiger als seine beiden ideologischen Zeitgenossen [Sozialismus und Kapitalismus].
Zum anderen aber war der Nationalismus, eben aufgrund seiner relativen gedanklichen Armut auch außerordentlich formbar, das heißt: Er konnte höchst vielfältige Verbindungen entweder mit dem Kapitalismus oder mit dem Sozialismus eingehen. Auf der einen Seite brachte der Nationalismus den Chauvinismus hervor, der 1914 den Weltkrieg zwischen den imperialistischen Mächten entfachte, wie auch den Faschismus, der 1939 den nächsten Weltkrieg entfesselte. Auf der anderen Seite stiftete er aber auch die revolutionären Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt.
Wenn die Idee der Nation auf der ganzen Welt triumphieren konnte, so zeigt uns dies, dass zwischen der intellektuellen Qualität und Reichweite einer Ideologie und ihrer mobilisierender Kraft in der modernen Welt keinerlei zwingende Korrespondenz besteht.
Geschichte im Weitwinkel
Es ist diese Sorte von Weitwinkelaufnahme der Geschichte, die ich auch an Andersons britisch-linkem Kollegen Eric Hobsbawm so schätze; das ist der, dessen Einschätzung des ersten Krimkriegs (1854-1856) als „bemerkenswert inkomptetent geführte, internationale Schlächterei” ich vor zwei Jahren zitiert habe; dass dieser erste Krimkrieg, wie auch seine aktuelle zweite Ausgabe, einfach nur verpfuschter Murks auf der Basis einer (nochmal Anderson) dürftigen Ideologie sind bzw. waren, das mag erstmal zum Heulen sein.
Zugleich gibt so eine Einsicht auch eine Perspektive auf den mühsamen Prozess der Ziviliation[2], die durchaus auch Mut machen kann.
[1] | Der Artikel ist eine Übersetzung und wohl leichte Kürzung von “Idées-Forces” (New Left Review 151, Jan/Feb 2025); tatsächlich mag ich das Layout dort lieber als das bei LMD. |
[2] | Nur für den Fall, dass hier wer eine Positionierung sieht: Ich mag die Sentenz, aber Norbert Elias' Vorstellung von Zivilisation ist ganz und gar nicht meine. Das fängt schon da an, wo in meiner Zivilisation Scham- und Peinlichkeitsschwellen immer kleinere Rollen spielen werden. Oder würden. |