• Hörtipp: Wir müssen reden anno 2022

    Treuen LeserInnen dieses Blogs wird nicht neu sein, dass ich dauerhaft wirklich schlechtes Gewissen habe, weil ich der patriotischen Filetierung Jugoslawiens durch meine nach der „Wiedervereinigung“ im Machtrausch delirierende Regierung nicht genug Widerstand entgegengesetzt habe und schließlich auch der Vorlage zur Sezession des Donbass im Wesentlichen nur fassungslos zugesehen habe (wenn auch mit Transparenten in der Hand).

    Eine Kundgebung mit einer guten Handvoll Menschen vor Stadthäusern.  Ein rotes Transparent, auf dem „US/NATO out of Yugoslavia“ steht, ist von hinten zu sehen.

    Zum Beleg der „Transparente in der Hand“: Wohnortbedingt konnte ich gegen die Spätphasen des Kosovokrieges nicht in der BRD protestieren. Aber die Antikriegsdemo an der Bostoner Park Street Station am 25. März 2000 (ungefähr der erste Jahrestags unseres Überfalls) habe ich denooch mitgenommen.

    Zur Rechtfertigung dieser Neuauflage alter Imperialismen haben die ApologetInnen der deutschen Politik die Geschichte vom „Völkergefängnis [als Begriff übrigens aus der Mottenkiste der rechten Feinde des ausgehenden Habsburgerreichs herausgeklaubt] Jugoslawien“ erzählt. Einen, wie ich finde, hübschen Kommentar dazu hatte der Deuschlandfunk Ende Dezember 2022: Wir müssen reden: Jugoslawisch.

    Von Dingen überzeugt, die schwer zu glauben sind

    Gleich am Anfang wird darin Vladimir Arsenijević zitiert:

    Nach dem Zerfall von Jugoslawien wurden vier politische Sprachen geschaffen. In Bosnien-Herzegowina spricht man offiziell Bosnisch, in Montenegro Montenegrinisch, in Serbien Serbisch, in Kroatien Kroatisch, aber jeder, der bei klarem Verstand ist, weiß, dass es sich eigentlich um eine einzige Sprache handelt.

    Jaklar, könnt ihr sagen, der ist ja, igitt, Serbe und macht da halt seine Großserbien-Sprüche; interessanterweise gibt es derzeit, vielleicht in so einer Logik, Wikipedia-Seiten über ihn auf Französisch, Katalan, Italienisch und sogar Kroatisch, aber nicht auf Deutsch. Ahem. Aber wenn wer, wie Arsenijević, sagt:

    [D]as ganze nationalistische Projekt beruht darauf, dass Leute von Dingen überzeugt sind, die eigentlich schwer zu glauben sind.

    …dann hat er_sie mein Herz gewonnen. Diese Vernunft auf der Seite „unserer“ Feinde steht übrigens in eklatantem Gegensatz zu Äußerungen „unserer” Verbündeter. Die ehemalige kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović fand – ebenfalls im DLF-Beitrag – die Proposition, es werde wohl schon die gleiche Sprache sein, wenn die Leute ohne Schwierigkeiten miteinander reden können, offensichtlich plausibel, aber unerträgich:

    Diese sogenannte gemeinsame Sprache war ein politisches Projekt, das zusammen mit dem ehemaligen Jugoslawien untergegangen ist und es wird sie nie wieder geben.

    Serbokroatisch als Kunstprodukt? Nur zu!

    Ich will ihr geben, dass, wie sich auch im Laufe der Sendung herausstellt, auch Serbokroatisch ein Kunstprodukt ist, ganz wie Hochdeutsch, Italienisch und Französisch auch. In dem Sinn ist es tatsächlich auch ein politisches Projekt. Christian Foss von der HU Berlin wird im DLF zitiert mit:

    Als Geburtsstunde einer gemeinsamen Sprache würde ich eigentlich das sogenannte Wiener Sprachabkommen von 1850 beurteilen, als sich serbische, kroatische und auch zwei slowenische Intellektuelle, Schriftsteller in einem Wiener Cafe trafen und eine Erklärung aufgesetzt haben, dass sie sich als ein gemeinsames Volk deklarieren, das eine gemeinsame Sprache brauche.

    Das Programm war, eine einheitliche Schriftsprache zu schaffen, andere Dialekte aufzugeben, und das Interessante ist, dass dies, was auf absoluter Freiwilligkeit beruhte, tatsächlich funktioniert hat.

    Nun: Bis Genscher und seine Freunde durchgeknallte Nationalisten vom Schlage eines Franjo Tuđjman dazu nutzten, die Sahnestücke Slowenien und Kroatien EU-tauglich aus Jugoslawien herauszulösen und den ungewaschenen Rest vergleichbar miesen Potentaten zu überlassen. Mensch stelle sich für einen Augenblick eine alternative Geschichte vor, in der die EU wirklich so nett ist wie viele ihrer BewohnerInnen glauben, eine EU, die all den PatriotInnen in den verschiedenen jugoslawischen Republiken gesagt hätte: „Ihr kommt nur entweder gemeinsam in die EU oder gar nicht. Also hört mit eurer scheiß-patriotischen Propaganda auf.“

    Wie es stattdessen Anfang der 1990er aussah in den gerade erst auf deutschen Druck geschaffenen neuen Staaten, beschreibt in der DLF-Sendung eine Journalistin, die über den kroatischen Rundfunk berichtet:

    Es gab eine richtig gehende Besessenheit, alle Worte, die irgendwie serbisch klangen, aus der Sprache zu tilgen und durch kroatische Ausdrücke zu ersetzen.

    Wenn ich die Wahl habe zwischen einem politischen Projekt, das Feindschaften abbauen will und einem, das wie beschrieben Feindschaften schürt, dann liegt meine Sympathie klar bei ersterem. Wenn Leute wie Grabar-Kitarović dem ein Nie Wieder entgegenschwören, ist das ein schlimmes Drama.

    Für kontraproduktive Umtriebe dieser Art existiert ein Begriff, der sogar ein Wikipedia-Kapitel hat: Sprachchauvinismus; unterhaltsamer ist der verwandte Artikel zu deutschem Sprachpurismus, der zahlreiche mehr oder minder amüsante Beispiele erwähnt, wie Menschen aus patriotischer Verwirrung das Lexikon verkomplizierten („Mundart“ statt des international verständlichen und ja trotz Mundart immer noch gebräuchlichen „Dialekt“ zum Beispiel) oder es jedenfalls versuchen (beispielsweise „Meuchelpuffer“ statt Pistole im Falle des 17.-Jahrhundert-Volksfans Philipp von Zesen).

    A propos Volksfan: Im Sprachpurismus-Artikel habe ich gerade auch gelernt, dass das (glücklicherweise) immer noch verpönte „völkisch“ schlicht als sprachchauvinistischer Ersatz für das ja gerade leider wieder in Mode geratende „national“ vorgelegt wurde, und zwar erst 1875 von einem besonders unangenehmen Protofaschisten namens Hermann von Pfister-Schwaighusen (nun: seine eigene Wikipedia-Seite relativiert das „wurde“ zu „soll haben“, aber wenn die Geschichte nicht stimmen sollte, so ist sie doch zumindest gut erzählt.

    Es gibt Hoffnung

    Tja: Vielleicht hilft bei solchen Tendenzen KI? Es gibt ein Indiz dafür. Ich habe die DLF-Sendung nämlich wie hier beschrieben von Whisper transkribieren lassen, und die, hust, KI hat aus der Pointe der Geschichte um Tudjmans „Ich freue mich“-Begrüßung für den damaligen US-Präsidenten Clinton und seinen darin verwendeten (vermeintlichen) Serbizismus das hier gemacht:

    Das Problem ist: sretchan ist serbisch, auf kroatisch heißt es sretchan.

    Dass meine „KI“ da nicht zwischen „Serbisch“ und „Kroatisch“ zu unterscheiden vermag, würde ich als Hinweis auf kulturellen Fortschritt werten.

    Noch mehr Hoffnung weckt jedoch die Geschichte der Kinder aus der bosnischen Kleinstadt Jajce, die für gemeinsamen Unterricht demonstriert haben. Vladimir Arsenijević berichtet von dort:

    Wochenlang sind sie auf die Straße gegangen. Ihre Forderung: Sie wollten zusammen in die Schule gehen. Sie hatten Transparente, auf denen sie Birnen und Äpfel gemalt hatten. Ich habe das erst nicht verstanden, und dann haben sie es mir erklärt: Als der Kantonminister für Bildung gefragt wurde, warum er die Segregation im Bildungssystem nicht abschafft, hat er geantwortet, man könne Birnen nicht mit Äpfel mischen.

    Wenn Menschen, die derartigen Überdosen patriotischen Unsinns ausgesetzt waren wie die Opfer deutscher Großmachtpolitik am Balkan, wieder zur Vernunft kommen können, dann gibt es noch Hoffnung.

  • Zum Tag der politischen Gefangenen: Weimar und die wehrhafte Demokratie

    Ein Mensch hält eine Pappe mit der Aufschrift „Faschist:innen verbieten ist wie Schnaps gegen Suff“.

    Ich recyle zum 18. März meine Pappe von neulich, um das Diktum des Hamburger Verfassungsrechtlers Horst Meier etwas auf den Punkt zu bringen: „Das Parteiverbot ist eine einzigartige Schöpfung westdeutschen Verfassungsgeistes, in der Kalter Krieg und hilfloser Antifaschismus eine vordemokratische Symbiose eingangengen sind.“

    Als ich mich anlässlich der großen Anti-AfD-Demos im Januar skeptisch zur autoritären Versuchung im Umgang speziell mit der AfD geäußert habe, habe ich munter behauptet, es hätte reichlich mildere (von geeigneter mal ganz zu schweigen) Mittel als ein Verbot der NSDAP gegeben, um ein Ende von Weimar im Faschismus zu verhindern:

    Es hätte vermutlich immer noch gereicht, wenn die Vorgängerorganisationen von CDU, FDP und AfD (letztere wäre im Augenblick bei mir noch die DNVP) Gewaltenteilung und Rechtsstaat nicht mit voller Absicht abgewickelt hätten. Es sind Einsichten wie diese, die die autoritäre Rede von der „wehrhaften Demokratie“ bei ihrer Erfindung verhindern sollte.

    Dazu würde ich gerne einen weiteren Datenpunkt liefern. Derzeit feiert nämlich die Rote Hilfe ihren 100. Geburtstag, unter anderem mit einem Film (den ich warm empfehlen kann, sollte er mal in einem Kino in eurer Nähe laufen) sowie einer Ausstellung zur wechselvollen Geschichte der Organisation. Letztere kommt mit einem aufschlussreichen Katalog, in dem Folgendes zu lesen ist:

    Nachdem die RHD [Rote Hilfe Deutschlands] mehrere Teilamnestien erwirkt hatte und die Zahl der inhaftierten Genoss*innen Anfang 1931 auf 1.300 gesunken war, füllten die hohen Urteile gegen fortschrittliche Kräfte die Gefängnisse schnell aufs Neue: Ende 1931 saßen 6.500 Aktivist*innen in Haft, und im Sommer 1932 zählte die RHD sogar 9.000 politische Gefangene, die ebenso wie ihre Familien Unterstützung brauchten

    Es stellt sich also heraus: Die Weimarer Republik war ausgesprochen „wehrhaft“. Sie sperrte innerhalb von einem guten Jahr mal eben deutlich über 5'000 „Linksextremisten“ ein, etwas, das die „wehrhafte“ BRD in diesem Ausmaß nie hinbekommen hat[1]. Ich behaupte, notabene, nicht, dass diese Massenverhaftungen die Machtübergabe an die NSDAP beschleunigt haben. Aber sie haben sie offensichtlich auch nicht behindert.

    Anlässlich des morgigen Tags der politischen Gefangenen (18. März) möchte ich das kurz in Relation setzen zu den 19 politischen Gefangenen, die die Rote Hilfe in ihrer aktuellen Zeitung zum 18.3. für die BRD zählt (S. 15). Oder den 1000 politischen Gefangenen, die Memorial für Russland zwischen 2009 und 2022 insgesamt rechnet.

    Es bleibt, dass auch der Mythos von der mangelnden „Wehrhaftigkeit“ der Weimarer Demokratie als Ursache von Weltkrieg und antisemitischem, rassistischem und ablistischem Massenmord einer Prüfung nicht standhält, ebensowenig wenig wie die Mythen von der fehlenden 5%-Hürde oder der hohen Inflation. Die platte Wahrheit ist und bleibt: Es waren die „bürgerlichen“ Parteien, ihr Präsident und ihre ParlamentarierInnen, die die NSDAP-Regierung sehenden Auges installiert haben. Obendrauf war der NS-Apparat, ganz besonders in Polizei und Justiz, von wenigen Ausnahmen abgesehen, genau der Apparat der Weimarer Republik, und übrigens im Wesentlichen auch der Apparat der frühen BRD.

    Das ist keine schöne Wahrheit, vor allem nicht für die beteiligten Parteien und Institutionen. Aber wer aus der Geschichte lernen will, wird nicht um ein Mindestmaß an Entmystifizierung rumkommen. Und daraus zumindest eine Konsequenz ziehen: Faschismus bekämpft mensch nicht durch autoritäre Formierung der Gesellschaft.

    [1]

    Allerdings: Zwischen 1956 und 1964 haben deutsche Gerichte rund 10'000 Menschen im Zuge des Verbots der KPD verurteilt. Zwar saß nur eine überschaubare Minderheit der Betroffenen auch wirklich im Knast, aber es gab durchaus unfassbare Urteile. Rolf Gössner berichtet in „Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges“ (Aufbau Verlag 1998) etwa:

    [Die Niedersächsische Gemeinschaft zur Wahrung demokratischer Rechte] NG war im Jahre 1958 verboten und aufgelöst worden, die verwaltungsgerichtliche Entscheidung stand noch aus. Dennoch wurden zwei ihrer Mitglieder, der Landrat a.D. Richard Brenning und der Journalist Heinz Hilke, vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg angeklagt und auch wegen „Rädelsführerschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung in Tateinheit mit Geheimbündelei“ zu je vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt – anschließende Polizeiaufsicht und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf drei Jahre inklusive.
  • Asteroideneinschläge sind schlecht fürs Bankgeschäft

    Ein rundlicher Stein mit vielleicht 10 cm Durchmesser und einer Delle in der Mitte, darunter eine Museumsbeschriftung: Cheliabynsk 2013

    2013 in Tscheljabinsk war es nur ein recht kleiner Brocken, der vom Himmel fiel und ordentlich Rumms machte[1]. Im Bild ist ein winziges Bruchstück des Brockens, das es ins Naturkundemuseum in Wien geschafft hat. Die Frage der Marktwirtschaft an sowas ist: Was sind die Kosten? Meine Frage ist: Ab welcher Grenze wird diese Frage fragwürdig?

    Zu den fürs Verständnis der Menschenwelt nützlicheren Konzepten, die durch MarxistInnen in den politischen Diskurs kamen, gehört ziemlich fraglos die Entfremdung. Es gibt ganze Bücher darüber, wie genauer zu fassen sei, was Marx in seinen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten in den 1840er Jahren so beschrieben hat:

    Jedes Produkt ist ein Köder, womit man das Wesen des andern, sein Geld, an sich locken will, jedes wirkliche oder mögliche Bedürfnis ist eine Schwachheit, die die Fliege an die Leimstange heranführen wird.

    Mir gefiel eigentlich immer die knappe Definition: „Entfremdung ist, wenn Menschen nicht mehr als soziale Wesen in Beziehung zueinander treten, sondern als Handelnde auf einem Markt, also durch Austausch von Geld – und am Ende auch nur zu diesem Zweck.“

    Ich will dabei nicht von der Hand weisen, dass diese Sorte Interaktion häufig recht bequem ist. Klar macht es auch mein Leben leichter, wenn ich beim Bäcker einfach einen Schein rüberreichen kann und mit einem Brot rausgehe, ohne argumentieren zu müssen, warum es nötig und richtig ist, mich zu füttern.

    Wenn es allerdings um die Zerstörung von Landstrichen oder Kontinenten durch Einschläge großer Asteroiden geht, wird die entfremdete Denke von Markt und Profit zum Agitprop-Stück über den Irrsinn des Kapitalismus und der Art, wie er die ihn tragende Gesellschaft organisiert. Könnte mensch meinen. Aber hört euch mal diesen Beitrag aus DLF Forschung aktuell vom 24. Januar an. Ich warte hier solange.

    Wer das Stück nicht gehört hat: Untersucht wird ein (überhaupt nicht unplausibles) Szenario, in dem AstronomInnen einen größeren erdkreuzenden Asteroiden entdecken. Schnell wird klar, dass er innerhalb von etwa 10 Jahren die Erde treffen wird. Eifrig wird beobachtet, und mit wachsender Genauigkeit des Orbits wird immer klarer, wo genau er einschlagen und was er dabei zerstören wird.

    Ich hätte bei Simulationen eines solchen Szenarios naiv Überlegungen erwartet, wie mensch die Leute, die im Zielgebiet wohnen, dort rauskriegt, wo sie dann leben sollen, auf wie viel Landfläche mensch verzichten kann, ohne dass es viel Hunger gibt, wie mensch sich vielleicht auf für ein paar Jahre sinkende globale Durchschnittstemperaturen einstellt, sowas halt.

    Im Interview hingegen klingt es, als sehe der Interviewte – Rudolf Albrecht, Mitarbeiter der ESO im Ruhestand – das zentrale Interesse des Artikels so:

    Wenn man [im Zerstörungsgebiet] zum Beispiel ein Haus hat, was wird mit dem Grundstückspreis passieren? Das Haus wird nicht mehr zu verkaufen sein. Was passiert, wenn die Hauspreise gegen Null gehen? Dann zahlen die Leute ihre Hypothekraten nicht mehr. Was passiert, wenn die Leute ihre Hypothekraten nicht mehr bezahlen? Die Banken bekommen Schwierigkeiten.

    Hu? „Ich könnte ja mit dem Weltuntergang an sich gut leben, aber wo kommt dann mein Champagner her?“ „Was für ein Mist, dass ich mich in meinem SUV gerade totgefahren habe; ich hatte ja fünf Cupholder mitbestellt, und den links hinten hatte ich noch gar nicht ausprobiert!“ Ach: diese ganze Überlegung ist so obszön, dass mir gar nicht einfällt, wie ich sie noch persiflieren kann.

    Nun bezieht sich das Interview auf einen Artikel, den Laura Jamschon Mac Garry, Albrecht selbst und Sergio Camacho-Lara unter dem Titel Diplomatic, geopolitical and economic consequences of an impending asteroid threat in den Acta Astronautica 214 (2024) veröffentlicht haben[2]. Dieser Artikel enthält durchaus auch die weit naheliegenderen Überlegungen zu einem rationaleren Umgang mit so einer Krise. Albrechts Überlegungen finden sich dort aber doc, und zwar als Nachteile einer frühen Entdeckung eines gefährlichen Asteroiden:

    On the other hand, there was also a disadvantage associated with the extensive lead time: the economy in the impact corridor would become severely affected, as investments would probably decrease, real estate values would plummet, banks could become insolvent as the population would try to leave the area. The extensive lead time would be a period of considerable political and economic uncertainty, during which time events would take unpredictable turns. Merchant shipping and other trade routes near the risk corridor would be likely to be discontinued around the time of a possible impact. Delivery chains would be interrupted.

    Glauben wirklich nennenswert viele Menschen, dass wir im Angesicht einer solchen Katastrophe nicht überlegen, wie wir in einer geplanten und überlegten Anstrengung dafür sorgen, dass das kein Riesengemetzel wird, sondern weiter über Grundstückspreise reden?

    Nun gut… Ich gebe zu, dass wir gerade eine ähnliche Situation haben, denn die Klimaänderungen, die wir uns gerade eintreten, werden absehbar zu einem Riesengemetzel führen, und da reden in der Tat immer noch erstaunlich viele von Arbeitsplätzen, Emissionshandel und grünem Wachstum, statt zu planen, wie wir einfach und angenehm den ganzen Mist stoppen und dabei weniger Arbeit, Krach und Stress haben. Die Entfremdung ist zumindest im Hinblick aufs Klima offenbar tatsächlich so weit, dass ganze Gesellschaften ihre schiere Existenz nur übers Geld verhandeln und dabei rauskriegen, dass es wichtiger ist, jetzt in Blechkäfigen zu öden Jobs zu rasen als den Menschen in fünfzig Jahren ein schönes Leben zu ermöglichen.

    Ach weh: Jamschon Mac Garry et al haben vielleicht mehr Weisheit, als ich ihnen aus dem Bauch heraus zugesprochen habe.

    [1]Quantifiziert wäre der Rumms 500 Kilotonnen TNT-Äquivalent oder ein gutes Dutzend Hiroshimabomben, so heißt es. Aber natürlich war die Explosionsdynamik ganz anders, und so waren die Schäden auch viel geringer.
    [2]Nebenbei ein Appell an die Verlage: eine Landing Page fürs DOI-System ist potenziell für die Ewigkeit und garantiert kein guter Platz für technische Spielereien. Dort ganz besonders sollte es keinen Javascript-Zwang geben (so wie bei Acta Astronautica). Wenigstens bei dem Journal treibt Elsevier es jetzt gerade gleich noch wüster: Ohne Übertragung der Referrer-Header geht da nichts Nützliches. Au Weia.
  • Nachrichten aus dem Polizei-Rechtsstaat

    Am 2. Mai 2022 haben zwei Polizisten auf dem Marktplatz in Mannheim den 47-jährigen Ante P. umgebracht. Als Nicht-Schwabo[1] mit einer psychischen Diagnose gehörte ihr Opfer zur gegenüber tödlicher Polizeigewalt in der BRD gefährdesten Gruppe überhaupt; ich darf ein paar Beispiele aus den sofo-hd-Jahrestagen zitieren:

    23.12.2023 – in Mannheim-Schönau töten Polizisten den türkischstämmigen Ertekin Ö. mit vier Schüssen. Ö. hatte in einer psychischen Krise und wegen Auseinandersetzungen mit dem Jugendamt wegen seiner Kinder selbst die Polizei gerufen. Die Polizei eröffnete das Feuer aus der Distanz, als sie ihn auf der Straße mit nacktem Oberkörper und einem Messer in der Hand antraf.

    12.1.2023 – In Mosbach-Neckarelz erschießt die Polizei einen Mann, der sich mit einem Messer bewaffnet der Wohnung seiner Ex-Partnerin genähert hat. Das Opfer hatte sich in psychiatrischer Behandlung befunden.

    17.11.2022 – In Usingen im Taunus stirbt eine 39-jährige in Polizeigewahrsam. Die Polizei gibt an, sie habe ihr Handfesseln angelegt, weil sie randaliert habe. „Kurz darauf verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Frau [...] Die unverzüglich alarmierten Rettungskräfte begannen noch vor Ort mit Wiederbelebungsversuchen“

    5.1.2020 – In Gelsenkirchen schlägt der aus der Türkei kommende Mehmet B. mit einem Ast auf ein leeres Polizeiauto ein und soll danach in der Nähe stehende Beamte bedroht haben. Diese eröffnen das Feuer und töten B. mit vier Schüssen. Die erste Sprachregelung der Polizei ist, dass ein Terroranschlag vorlag, doch rudert der Innenminister später auf „psychisch auffälliger Einzeltäter“ zurück. Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen gegen den Schützen natürlich ein.

    2.11.2019 – Im Hunsrückdorf Hoppstädten-Weiersbach jagt ein größeres Aufgebot Polizei einen Exil-Eritreer, der PassantInnen mit einer Axt bedroht haben soll. Schließlich spüren zwei BeamtInnen den gesuchten „neben einem Geräteschuppen am Boden kauernd“ auf einem Tennisplatz auf und erschießen ihn in seiner, so die das Verfahren gegen den Schützen einstellende Staatsanwaltschaft, „Aufwärtsbewegung“.

    12.1.2019 – In Berlin stirbt ein griechischstämmiger Mann an den Folgen von Polizeimaßnahmen („lagebedingter Erstickungstod”). Er war im vorherigen Dezember im Gefolge eines psychotischen Schubes in einer Bäckerei auffällig geworden. In der Gefangenensammelstelle Tempelhof hatten ihn danach Beamte mit Pfefferspray traktiert und anschließend in Bauchlage fixiert, bis er kollabierte.

    9.2.2016 – In Hamburg stirbt der einen Monat zuvor wegen des Besitzes von 1.65 Gramm Marihuana in Untersuchungshaft genommene Yaya Jabbi. Die Polizei gibt an, er habe sich an der Gardinenstange in seiner Zelle erhängt, das einen Suizid bestätigende Gutachten kommt ausgerechnet von Klaus Püschel, der zuvor die ebenfalls klar rassistisch eingesetzte Brechmittelfolter in Hamburg verantwortet hat.

    13.4.2018 – In Fulda wirft der vor einer Abschiebung nach Afghanistan stehende 19-jährige Matiullah Jabarkhil Steine auf eine Bäckerei, in der seine Bitte um altes Brot rüde zurückgewiesen worden war. Rasch treffen mindestens vier Polizisten ein und verfolgen den fliehenden Jabarkhil. Nach 150 Metern eröffnet ein Polizist das Feuer und tötet Jabarkhil mit zwölf Schüssen. Im Januar und August 2019 stellen Staatsanwaltschaften die Verfahren gegen die Tatbeteiligten ein.

    Und so weiter ad nauseam. Wer noch kann, sollte auf deathincustody.info nachlesen; das spart zwar die polizeilichen Tötungen „zur Gefahrenabwehr“ aus, ist aber trotzdem ziemlich bedrückend.

    Am ersten März nun fand in Mannheim das erstinstanzliche Strafverfahren gegen die beiden Täter im „Fall“ Ante P. ein Ende. Dabei ist allein die Tatsache des Verfahrens eine gewisse Besonderheit, die wohl nur den zahlreichen Videoaufnahmen zu verdanken ist, die PassantInnen am Marktplatz angefertigt und dann auch veröffentlicht haben. Ein vergleichbarer Vorfall nur acht Tage nach der Tötung von Ante P. im Mannheimer Waldhof ohne entsprechendes Material kam nicht mal vor Gericht.

    Dass das Gericht die beiden Angeklagten im aktuellen Prozess im Wesentlichen freigesprochen hat – einer der beiden ist mit 120 Tagessätzen á 50 Euro zwar kurz mal vorbestraft, aber angesichts einer Tötungshandlung darf eine Strafe im unteren Bereich der Urteile beim „Bullenschubsen“ nach §114 StGB als Freispruch gelten[2] –, wird niemand überraschen, der meine kurze Zusammenstellung oben überflogen hat oder anderweitig mit Rechtshilfe zu tun hat. Aber darum geht es mir hier gar nicht, denn als Antiautoritärer bin ich ja froh über jede Strafe, die nicht verhängt wird.

    Nein, es sind mehr die Umstände des Verfahrens, die zornig machen. Das Grundrechtekomitee hat dazu gestern eine Pressemitteilung herausgegeben, die Pflichtlektüre sein sollte für Menschen, die finden, ausgerechnet die eigene Regierung sollte Menschenrechte in aller Welt herbeibomben und -waffenliefern oder durch Export von Repressionstechnologie „befördern“: Katastrophales Urteil in Mannheim - unverhohlener Ableismus und institutionelle Nähe von Strafjustiz und Polizei.

    Wer es etwas genauer wissen will, sei auf den ebenfalls höchst aufschlussreichen Prozessbericht der Initiative 2. Mai verwiesen, den ich hier spiegele; es wäre wirklich schade, wenn er durch z.B. Bitrot auf seiner Quellseite aus dem Internet verschwände.

    [1]Als Schwabo bezeichne(te)n viele BewohnerInnen Jugoslawiens „die Deutschen“; weil ich immer noch schlechtes Gewissen habe, dass ich meiner Regierung Anfang der 1990er nicht genug Widerstand entgegengesetzt habe, als sie Jugoslawien in Mord und Totschlag stürzte, nehme ich ihr Wort gerne, um das Konzept zu bezeichnen, das andernorts (aus meiner Sicht weniger glücklich) „Biodeutsch“ oder „Kartoffel“ heißt.
    [2]Zum Vergleich: Wegen trivialster Verstöße gegen Auflagen (im Wesentlichen „Mütze zur Corona-Maske getragen“) bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt kurz nach der, nun, Polizeimaßnahme am 2.5.2022 hat ein Gericht 50 Tagessätze verhängt.
  • Leider kein Sprecher ohne Nerven

    Ich habe mich hier schon des Öfteren als Fan von Live-Medien und dem mehr oder minder professionellen Umgang mit ihren Pannen geoutet – natürlich immer mit besonderer <hust> Mühe, jeden Anschein von Schadenfreude zu vermeiden.

    Vor diesem Hintergrund fand ich den Umgang des anonymen Sprechers[1] mit einer offensichtlichen Panne bei den 16:30-Nachrichen am 23.1.2024 im Deutschlandfunk (ja, ich bin ein wenig hinterher bei meinem asynchronen Radio-Konsum) nachgerade unfassbar professionell. Hört euch das hier mal an:

    (Blättern) Die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller ist für einen Oscar nominiert worden […ca 20 Sekunden Sprache…] (Blattern) Die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller ist für einen Oscar nominiert worden [weiterer identischer Text]

    Als ich das hörte, war ich hingerissen, wie der Sprecher völlig ungerührt weiterliest, obwohl ihm spätestens nach wenigen Sekunden aufgefallen sein muss, dass er sich gerade wiederholt. Gut – ich hätte jetzt ein „Verzeihung, diese Nachricht hatten wir gerade schon“ eigentlich sympathischer gefunden. Die größere Kunst jedoch ist, so glaube ich, überzeugend so zu tun, als sei gar nichts.

    Bei genauerer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass für den Sprecher tatsächlich gar nichts war. Folgt mir kurz auf meinem Weg zu dieser Entdeckung.

    Wer im Audio genau hinhört, hört ganz am Anfang ein Blättern; dass da (noch) geblättert wird, hat mich zunächst nicht verunsichert, denn die Werkzeuge von Profis ändern sich langsam. Es ist aus meiner Sicht gut möglich, dass die Leute im DLF noch nicht vom Computer weglesen. Dass vor der Wiederholung nochmal ein Blättern zu hören ist, hat mich auch noch nicht verblüfft. Im Gegenteil ist es höchst plausibel, dass es zur Wiederholung kam, weil zwei Kopien des gleichen Blattes im Nachrichtenstapel lagen.

    Allerdings sahen beim Beschneiden im Audio-Editor die Wellenformen von Blättern und Lossprechen schon ganz verblüffend ähnlich aus. So ähnlich, dass ich mir die Mühe gemacht habe, die Wiederholung unter das Original zu legen und (etwas improvisiert) mithilfe meines pyscreenruler als Hilfslinie aneineinander auszurichten:

    Zwei Wellenformen untereinander, die exakt parallel verlaufen

    Nein: Auch der professionellste Sprecher kann nicht so exakt parallele Signalverläufe hervorbringen.

    Nachtrag (2024-03-02)

    Weil Proteste kamen: Ja, in ganz feinen Details unterscheiden sich die Kurven. Das kommt einerseits vielleicht ein wenig aus der unterschiedlichen Vorgeschichte der beiden Signale, die in die Kompression eingegangen ist. Yor allem ist das etwas, das grob unter dem Begriff unter „Aliasing“ läuft: Wenn ihr einen etwa ein Pixel breiten Gipfel durch zwei Pixel durchschiebt, ist manchmal nur in einem richtig Signal und manchmal in beiden. Hier ist die Lage der beiden Signale bezüglich des jeweils ersten Samples (Audio-Pixel, wenn ihr so wollt) leicht verschieden, und drum „wackelt“ es auf Pixelebene manchmal ein wenig.

    Das ist entweder digital erzeugt oder digital wiederholt worden. Eine Roboterstimme mit dieser Qualität und dann noch beim Deutschlandfunk ist wohl auszuschließen (schon, weil es dort einen Personalrat gibt). Da die Doppelung genau an Satzgrenzen beginnt und aufhört, scheint auch eine natürliche Ursache für die Dopplung – sagen wir, ein Puffer, dessen Fortsetzung nicht rechtzeitig fertig ist und der dann einfach wiederholt wird – jedenfalls sehr unwahrscheinlich (mal abgesehen davon, dass kein plausibler Puffer 20 Sekunden lang wäre).

    Bliebe noch, dass da jemand bewusst geschnitten bzw. geloopt hat. Aber wie geht das? Soweit ich weiß, werden die Nachrichten im DLF live gesprochen, was heißt, dass der Loop mehr oder weniger in Echtzeit produziert worden sein muss. Geht sowas überhaupt? Vor allem aber: Wer sollte das tun wollen? Und warum?

    Fazit im Hinblick auf Live: Leider ist hier kein Nachrichtensprecher ohne Nerven zugange. Wer immer da redet, hatte seinen Job schon getan, als irgendwer anders diesen Loop in seine Sprache einbaute.

    [1]

    Ich glaubte mich zu erinnern, dass die DLF-NachrichtensprecherInnen früher ihre Namen gesagt haben. Haben sie nicht, jedenfalls nicht 2001. Ich habe extra in meinem Archiv nachgehört. Dabei bin ich allerdings über Verkehrsmeldungen gestolpert, die sie damals noch gebracht haben, und darüber bin ich (etwas perverserweise) nostalgisch geworden („Seewetteramt Hamburg“). Für andere DLF-DauerhörerInnen hätte ich hier eine Flashback-Gelegenheit, nämlich die Verkehrsmeldungen vom 24. August 2001, 16:34:

  • In den Stuttgarter Naturkundemuseen

    Trotz des Risikos weiterer Verwicklungen in Aktivitäten von Gewaltherrscher-Sprösslingen, mit denen in Stuttgarter Museen offenbar schon mal zu rechnen ist[1], habe ich mich mit meinem Museumspass erneut in die Landeshauptstadt gewagt, denn das dortige Naturkundemuseum lockte sehr. Wo, wenn nicht dort, wird wohl Professor Zwengelmann Direktor[2] sein?

    Der Beschluss zu diesem Post reifte indes vor allem, weil ich vor einer naheliegenden Fehlbedienung des Löwentor-Teils des Museums warnen will. Zunächst: Das Museum besteht aus einem modernen Bau, in dem die verschiedenen geologischen Systeme, die in Baden-Württemberg vertreten sind (das heißt: Kreide hat eine Wand von kaum ein paar Metern), nach Fauna, Flora und Fossilien vorgestellt werden, und einem vielleicht 500 m Parkspaziergang davon entfernten älteren Gebäude („Schloss Rosenstein“), in dem es um die aktuelle Welt geht.

    Wer nun im Löwentor-Bau naheliegenderweise von der Garderobe durch eine offene Tür entspannt in die große Ausstellungshalle diffundiert, landet im Tertiär, wird dann recht schnell konfus zwischen Jura und Trias umherirren und sich schließlich fragen, wie das alles zusammengehört. Das liegt daran, dass der Löwentor-Teil so eine Art Open-Plan-Museum ist, also (fast) alles auf zwei durchgehenden Ebenen einer großen Halle stattfindet:

    Ein moderner, hoher Raum.  Eine Treppe führt zu diversen Fossilien, an einer Wand hängt eine mehrere Meter hohe schwarze Platte mit viel Struktur.

    Das ist klasse, wenn mensch schnell „zurückspulen“ möchte (sagen wir: Ich will nochmal das arme Babymammut sehen, das im Moorloch kämpft – herzzerreißend, aber paläontologisch verbürgt), denn mensch muss nicht ohne Übersicht durch Zillionen von Räumen irren. Noch dazu hat das Museum durch diese Architektur auch Platz, einige meterhohe Riesenfossilien zu drapieren, allen voran die cthulhuesken Überreste von Seelilien aus den Posidonienschiefern des Schwarzjura[3], im Foto oben rechts an der Wand.

    Andererseits hat ohne die Strukturierung durch Mauern viel Mühe, wer Leitelemente wie die gelbe Linie in diesem Bild:

    Ein Skelett eines kleinen Rindes in einem Glaskasten; seine Knochen sind schwarz.  Auf dem Glaskasten steht in Gelb „Quartär Holozän“, eine gelbe Linie auf dem Boden läuft auf den Glaskasten zu.

    als zu einem irgendwie optionalen Spiel gehörend interpretiert. Nein, die kuratorische Erzählung und damit der Spaziergang durch die Erdzeitalter funktionieren nur, wenn mensch auf der Linie hinter der Kasse im Erdaltertum anfängt und ihrem leicht verschlungenen Verlauf chronologisch durch die (durch verschiedene Farben markierten) stratigraphischen Systeme folgt.

    Das Rinderskelett in dem Kasten auf dem Gelbe-Linien-Bild kommt mit diesem Rezept ziemlich am Schluss – Holozän – und markiert bereits domestizierende Menschen (anders gesagt: ein positives StarDIT). Verglichen mit unseren heutigen Turborindern war dieses Tier aber eher mickrig. Zur Erklärung bietet der Museumstext an, diese „Torfrinder“ seien so klein gewesen, weil sie in ihrer kargen Umwelt nicht genug zu Essen bekommen haben. Etwas differenzierter und vielleicht weniger dickensianisch hat Markus Bühler genau dieses Skelett 2012 diskutiert.

    Für Laien wie mich eindrücklicher als Knochen sind, das muss ich zugeben, aber die vielen lebensgroßen Dioramen, mit denen das Museum versucht (mit gutem Erfolg, soweit es mich betrifft), die vergangenen oder entfernten Lebenswelten erfahrbar zu machen. In etliche kann mensch auch reingehen, so dass Mutproben wie diese möglich werden:

    Eine Menschenhand wird von links in den geöffneten Kiefer eines von rechts ins Bild ragenden Saurierkopfs gehalten.

    Noch im paläontologischen Teil der Ausstellung finden sich auch Menschen in diesen Dioramen, zunächst als Neandertaler. Der Tuareg, der im anderen Teil der Ausstellung („Schloss Rosenstein“) in einer Vitrine steht, vertiefte meine Bedenken, dass das Ganze Richtung „Völkerschau“ abrutscht; auch ein Naturkundemuseum mag sich gelegentlich Fragen stellen müssen wie die, die mich während meines Besuchs im Lindenmuseum (ebenfalls in Stuttgart) beschäftigt haben.

    Kolonialer Herablassung kann mensch das Naturkundemuseum jedoch eher nicht bezichtigen, denn in den Vitrinen steht durchaus auch mal ein weißer Mann, und er spielt nicht gerade eine vorteilhafte Rolle:

    Hinter Glas ein paar lebensgroße (aber künstliche) Maispflanzen. Davor bückt sich ein blonder Mann (auch künstlich) im Karohemd und mischt ein Pflanzenschutzmittel.

    In der Vitrine geht es um Artensterben durch Giftmischerei und einige weitere Kollisionen zwischen Kapitalismus und der realen Welt. Vielleicht sind Karohemd und blonde Haare der Verkörperung des ersteren einen Hauch zu dick aufgetragen. Vielleicht aber auch nicht.

    Der Mann hat so oder so keine Chance gegen meinen Lieblingsbereich im Gesamt-Museum, nämlich den Nebenraum in der Gegend des oberen Jura, in dem verschiedene Rekonstruktionen illustrieren, wie Dinosaurier sich befiedert haben und sich dann im Tertiär zwitschernd unter die Säugetiere gemischt haben. Das sind größtenteils anheimelnde Modelle, bis hin zum höchst anmutigen und weise blickenden Archäopteryx. Wenn die wirklich so aussahen, ist es ausgesprochen bedauerlich, dass sie es nicht in die Gegenwart geschafft haben:

    Etwas vogelähnliches mit braundem Gefieder.  Der Kopf allerdings hat keinen Schnabel, sondern eher einen lächelndem Mund in einer länglichen Schnauze – und große, gütig blickende Augen.

    Mein wesentlicher Schluss aus diesem Seitenraum ist: Wenn ihr die Vöglein singen hört, bedenkt, dass sie einstmals T. Rex waren, oder jedenfalls sowas ähnliches. Wenn aber die Dinosaurier weggekommen sind vom Töten und Fressen durch überlegene Stärke und Größe, dann mag das auch für unsere Spezies ein bisschen Hoffnung machen.

    [1]

    Tatsächlich ist das Naturkundemuseum ein enfernter Abkömmling der „Kunst- und Wunderkammer“ der Stuttgarter Autokraten, was nicht nur an kuratorischen Grausamkeiten zu erkennen ist. Aber auch. Hier ist das älteste Exponat der Ausstellung, ein Geweih eines Eiszeithirschen; Die Obrigkeit hat es ersichtlich im Jahr 1600 ihren Schätzen einverleibt:

    Ein Stück eines vergilbten Geweihs, über das in schwarzer Tinte groß „1600. FOSSILE“ gemalt ist.
    [2]Womit ich mich erneut als glühender Fan der Max Kruse-Edition des Urmel geoutet habe. Und nein, der echte Direktor des Stuttgarter Naturkundemuseums hat natürlich nichts mit Zwengelmann zu tun.
    [3]Ich musste „Schwarzjura“ und „Posidonienschiefer“ einfach neben „Cthulhu“ platzieren. Sie passen, so finde ich, perfekt in diesen Kontext, auch wenn sie ganz offizielle:w Geologie sind.
  • Carl Württemberg und die unvollständige Revolution

    Immer noch bin ich mit meinem Museumspass unterwegs, doch nicht immer sind es die Gegenstände in den Ausstellungen, die die tiefsten Eindrücke hinterlassen. So war das neulich auch im württembergischen Landesmuseum (vor dem Klicken ggf. einen Blick auf ach so: die Webseite werfen) in Stuttgart. Vorausgeschickt: zwischen dem ehemaligen Kuriositätenkabinett der Potentaten des Schwabenlandes und allerlei keltischen Schätzen gibts da durchaus viel Beeindruckendes oder zumindest, tja, Kurioses.

    Was nicht bleiben sollte

    Den erwähnten tiefsten Eindruck hinterließ jedoch die Wand neben dem Ausgang. Dort ist nämlich eine dieser Mahntafeln zur Privatisierung gesellschaftlicher Aufgaben[1] angebracht, auf denen Menschen zur Dankbarkeit für allerlei Personen und Firmen aufgerufen werden („Logos“):

    Auf einer braunen Wand angebrachte weiße Schilder mit diversen Logos unter der Überschrift „Exclusive Partners“ („Wüstenrot-Stiftung“, „Bosch“).  Ganz vorne jedoch ein Wappen mit Krönchen und allem, darunter „Carl Herzog von Württemberg“.

    So traurig diese Beflimmerung light schon im Allgemeinen ist: dass da ein Nachkomme der alten Autokraten und Gewaltherrscher sein ultrakitschiges Herrschaftszeichen mit Krone und Spruchband („Furchtlos und treu“ – hatten wir nicht schon mehr als genug Sprüche mit „Treue“ während der letzten hundert Jahre?) im öffentlichen Raum – und dann noch ganz vorne – platzieren darf, das ist klar ein Symptom einer Demokratisierung, die allzu früh steckengeblieben ist.

    Nun will ich mich nicht beschweren, dass die bis dann herrschenden Schurken 1918 ihre Köpfe behalten durften. Keine Frage, der Umgang mit Louis XVI im Jahr 1793 war selbstverständlich ein schlimmer Verstoß gegen das Prinzip RiwaFiw („Radikalität ist wichtig, aber Freundlichkeit ist wichtiger“).

    Dass aber die ausgehenden FürstenInnen einen Gutteil der Dinge, die sie sich mit Feuer und Schwert von ihren Untertanen geholt hatten, behalten durften und ihnen das jetzt die Mittel gibt, Duftmarken und vermutlich auch Agenden in unseren Museen zu setzen, das ist auch ein schlimmer Verstoß gegen RiwaFiw. Die damaligen Gesetzgeber haben allzu radikal am Prinzip von Eigentum festgehalten, statt sich an einer ganz schlichten, intuitiven und freundlichen Ethik zu orientieren. Sagen wir: „was du bekommst, indem du Menschen quälst, soll zumindest diesen Menschen wieder nutzen, wenn dir die Gewaltmittel ausgehen, um deine Ansprüche durchzusetzen“.

    In Sachen Schaden und Spott tritt dazu die weitere Alimentierung der Nachfahren der alten Obrigkeiten, so (vermutlich auch im württembergischen Landesmuseum) durch den „Ankauf“ von Plunder, der bereits 1918 hätte sozialisiert werden müssen.

    Besonders auffällig war das im Zusammenhang mit Carl Württembergs Spießgesellen aus dem anderen Landesteil, stark archaisierend „Haus Baden“ genannt, das vor rund dreißig Jahren mit Teilen seines Tafelsilbers versuchte, das Land zu erpressen. Einen kurzen Eindruck der damaligen Debatten gibt ein Blogpost von 2006 zu diesem Thema, in dem einige FAZ-Passagen illustrieren, weshalb das weitere Gebiet der durchlauchtigen Besitztümer auch außerhalb des württembergischen Landesmuseums für schlechte Laune sorgt; diese Geschichte geht übrigens immer noch weiter, wie weitere Beiträge auf dem Blog aus dem letzten Jahrzehnt belegen.

    Ach so: Die Webseite

    Ich kann diesesn Post nicht ohne einen scharfen Themenbruch beenden. Als ich nämlich oben aufs württembergische Landesmuseum verlinkt habe, habe ich selbstverständlich erstmal nachgesehen, was dort eigentlich steht und sah: Nichts. Alles weiß. Dabei hat die Seite eine Crapicity von gerade mal 6 (also: nur 5 Byte Digitalsoße auf 1 Byte lesbaren Text), was für kommerziell produzierte Webseiten in der heutigen Zeit an sich recht ordentlich ist.

    Das hat mich milde neugierig gemacht, warum die Anzeige trotzdem so vergurkt ist. Was soll ich sagen? Es ist etwas unbedachtes CSS, das den Kram hier kaputt macht – eingestanden natürlich nur in Verbindung mit der üblichen Javascriptitis, ohne die die Zuständigen gleich selbst gesehen hätten, dass was kaputt ist. Auf reinen Textbrowsern wie wie w3m ist die Seite ordentlich nutzbar. Dillo mit seiner reduzierten CSS-Interpretation liefert ebenfalls ein brauchbares Rendering.

    Immerhin, die Museumsleute haben offenbar ein gewisses Problembewusstsein im Hinblick darauf, dass die „großen“ Browser ihren Inhalt weiß auf weiß darstellen. Auf der Erklärung zur Barrierefreiheit des Museums heißt es nämlich:

    Einige der Helligkeitskontraste sind zu klein und damit schlecht wahrnehmbar.

    Das ist nicht falsch. Allerdings netto doch einen Hauch euphemistisch:

    Screenshot eines Browserfensters für www.landesmuseum-stuttgart.de: Alles ist weiß
    [1]Nun, eigentlich sind das Mahnmale der unzureichenden Besteuerung von Unternehmen und Reichen; denn offensichtlich haben die Mäzene Geld, das sie genauso gut der Gesellschaft zur Verfügung stellen (also als Steuer zahlen) könnten, mit dem sie sich jetzt aber privaten Einfluss auf öffentliche Museen kaufen. Und immerhin: hatte mensch sie ordentlich besteuert, könnten sie die Mussen nicht zwingen, ihre (also: der Museen, nicht der Mäzene) BesucherInnen mit doofen Logos und Wappen zu belästigen.
  • Ach Bahn, Teil 16: Rekursion in der Praxis

    Ein Ausschnitt aus dem Stichwortverzeichnis eines englischsprachigen Buches, Seite 269.  Unter dem Stichwort „recursion“ findet sich die Seite 269.

    14.83% aller Nerd-Witze drehen sich um Rekursion. Der im Bild oben kommt von den Großmeistern Brian Kernigan und Dennis Ritchie, die eine knappe Erklärung von Rekursion im Stichvortverzeichnis des Klassikers The C Programming Language (2. Auflage) untergebracht haben.

    Bei etwas, das Verwunderung und Verwirrung stiften kann, will die Bahn natürlich nicht Beiseite stehen. Vor ein paar Tagen hatte ich mich ja schlecht gelaunt gezeigt darüber, dass die armen Seelen, die die Bahn-Kontaktmail betreuen müssen, statt auf die Anliegen einzugehen, auch nach anderthalb Monaten lediglich grob im Bedeutungsfeld liegende Textbausteine zusammenklicken.

    Die Bahn hat, praktisch in Rekordzeit, mit dem hier geantwortet:

    -webkit-box-shadow: 0px 4px 8px #828282; /*webkit browser */-moz-box-shadow: 0px 4px 8px #828282; /*firefox */box-shadow: 0px 4px […die gewohnten gut 2kB CSS…] berschrift7-H{font-family:Arial;color:#000000;font-size:10pt;} .NormaleTabelle-C{vertical-align:top;} Ihre Nachricht vom: 29. Januar 2024Unser Zeichen: 1-17XXXXXXXXXX Hallo Herr [immerhin richtiger Name], vielen Dank für Ihre E-Mail.Sie bemängeln, dass wir in unserem Antwortschreiben nicht individuell auf Ihr Anliegen eingehen, sondern dieses mit Textbausteinen beantworten. Bitte sehen Sie dies nicht als Herabsetzung Ihrer Person. Die Deutsche Bahn befördert pro Tag ca. 4 Millionen Reisende und es erreichen den Kundendialog pro Woche eine Vielzahl von Anfragen, Anregungen und Kritik zu den verschiedensten Themen. Vor diesem Hintergrund bitten wir um Verständnis, dass wir - wie es bei jedem Großunternehmen üblich ist - auf Textbausteine zurückgreifen, um Verzögerungen bei der Beantwortung zu vermeiden. Ihre Kritik haben wir zur Information den verantwortlichen Fachbereichen zur internen Auswertung zur Verfügung gestellt. Mit freundlichen Grüßen Ihr Kundendialog DB Fernverkehr AG Ihre Meinung ist uns wichtig. Bitte bewerten Sie Ihren heutigen Kontakt zu unserem Service. Wir freuen uns über Ihre Teilnahme an unserer Kundenzufriedenheitsbefragung.P.S.: Für Ihre Anregungen, Lob und Kritik sind wir jederzeit gern unter 030 2970 für Sie da. Sie erreichen uns rund um die Uhr mit dem Stichwort Kundendialog im Hauptmenü.

    Wenn ich mich jetzt wieder über Textbausteine beklagen würde, müssten – Nerd humour alert – wir hoffen, dass wir beide Tail Call Elimination vornehmen. Wie ein Stack-Überlauf in der wirklichen Welt aussieht, will ich ja lieber nicht sehen.

  • Ach, Bahn, Teil 15: Privatsphäre ist teuer

    Dass „Digitalisierung“ Antisprache ist, also etwas, das mit ordentlicher Sprache zusammen zu Quatsch zerstrahlt, habe ich schon vor geraumer Zeit behauptet. Ein schöner Beleg dazu war neulich im Bahn-Reisezentrum in Hamburg-Altona zu bewundern:

    Ein Plakataufsteller auf einem gefliesten Boden: „Jetzt wird's digital! Für die Buchung Ihres Digitalen Tickets benötigen wir Ihren Vor- und Zunamen sowie Ihre E-Mail-Adresse“.

    Die Bahn verlangt jetzt also Name und gar noch eine Mail-Adresse von Menschen, die vergünstigte Tickets kaufen wollen. Was mit Menschen passiert, die keine Mailadresse haben: Wer weiß?

    So oder so ist das ein ziemlich dreister Übergriff auf die Privatsphäre der weniger betuchten KundInnen der Bahn. Es macht den Buchungsprozess komplizierter und hat für die Betroffenen ganz offensichtlich nicht den Hauch eines Vorteils. Die Bahn will hier vermutlich irgendwelche windigen Geschäfte mit ihren fiesen Spezialtickets[1] verhindern (oder was könnten sie sonst für einen Grund für diese Masche haben?), will aber aus nicht ganz einsichtigen Gründen nicht zugeben, dass sie damit allen das Leben schwer macht.

    Stattdessen versucht die Bahn, das Offensichtliche durch Antisprache wegzuquatschen: „Optimal weil digital“. Was für ein platter Versuch, die KundInnen für dumm zu verkaufen. Zum Fremdschämen. Wer, frage ich mich, soll auf diese Fadenscheinigkeit hereinfallen?

    Update: Definiere Digitalisierung

    Aber es gibt nichts, das nicht auch Vorteile hätte: Ich habe einen Neuzugang in meiner Hitliste „Definiere Digitalisierung“, die ich vor einem guten Jahr angefangen habe. Der aktuelle Stand:

    1. Digitalisierung ist, wenn alles außer Werbung und Ausforschung kaputt ist.
    2. Digitalisierung ist, wenn du deinen Namen und deine Mailadresse abgeben musst.
    3. Digitalisierung ist, wenn du es aus- und wiedereinschalten musst.
    4. Digitalisierung ist, wenn Menschen, die keinen Bock drauf haben, Computer verwenden müssen.

    Echter Fortschritt: fahrscheinloses Reisen

    Ach ja… Es gehört ja vielleicht nicht direkt hierher, aber weil die Bahn schon mal derart ehrlich vorlegt: Wenn „papierloses Reisen“ ein so großer Wert ist, dass er die Aufgabe von Privatsphäre rechtfertigt… Ja, wie ist das dann mit „Reisen ohne die fetten Geräte unter der Verwaltung von Google bzw. Apple“? Wäre nicht noch viel besser: „fahrscheinloses Reisen“?

    Jaja, das mag vielleicht jetzt gerade etwas radikal klingen, aber das galt bis vor ein paar Jahren auch für fahrscheinlosen Nahverkehr. Inzwischen aber ist das kein großer Aufreger mehr. Neulich zum Beispiel bin ich in Tucson eine ganze Woche lang ohne Ticket durch die Sonne von Arizona getuckert:

    Text in einer Art Wolkenform auf Betonboden: „Fares are currently free / suntran.com“ und das nochmal in Spanisch.

    Ja, klar, da steht noch „currently“, und vielleicht wickeln sie ihr Umsonst-Fahrprogramm ja nochmal ab. Aber erstens geht es eben doch, zweitens wäre sowas ein rundrum viel besseres „Produkterlebnis” (oh Mann!), und drittens eine geeignetere Maßnahme gegen Ticket-Schwarzhandel als Übergriffe auf die Daten der KundInnen.

    [1]Fies, weil die Tickets mit Zugbindung bewirken, dass arme Leute in den Randstunden fahren müssen, während die Reichen fahren dürfen, wann sie wollen. Auch hier war der schlanke, effiziente Beamtenapparat von früher deutlich besser: Es gab einen Einheitspreis (von Bonzenschleudern wie dem Rheingold mal abgesehen). Das war übrigens nicht nur gerechter, es hat auch von vorneherein den Ticket-Schwarzhandel verhindert, den die Bahn hier vermutlich auf dem Rücken der ärmeren KundInnen bekämpfen will.
  • Feiertage in remind: Jetzt Bundesweit

    Vor einem bunten Schaufenster steht eine bunte Jesusfigur auf einem kleinen, leintuchumhüllten Podest, darunter ganz viel Grünstreu und Blumen.

    Vielleicht braucht ein Post zu Feiertagsdaten nicht unbedingt eine Illustration. Aber wo sollte ich diese Konkurrenz zwischen Fronleichnamskult (2014 in Walldürn) und moderner Schaufensterdeko sonst unterbringen?

    In meinem Post zu Feiertagen in remind habe ich gesagt:

    Mit wenig Mühe sollte das auf die Verhältnisse in anderen Bundesländern anzupassen sein. Wer das tut, darf die Ergebnisse gerne hierherschicken. Als großer Freund des Feiertags an und für sich würde ich hier sehr gerne ein Repositorium von Feiertagsdateien pflegen.

    Nun, tatsächlich lohnt es sich eigentlich gar nicht, so etwas crowdzusourcen, denn es gibt eine recht nützliche Übersicht über die Feiertage in den Astronomischen Grundlagen für den Kalender, und das wiederum ist schnell in Python übersetzt (will sagen: Fehler sind meine). Das Ergebnis: remind-feiertage.

    Das ist ein Python-Skript, das ohne weitere Abhängigkeit läuft und einen oder mehrere Bundesland-Kürzel nimmt:

    $ python remind-feiertage.py
    Usage: remind-feiertage.py land {land}.
    Gibt remind-Feiertagsdateien für deutsche Länder aus.
    Länderkürzel: BW BY BE BB HB HH HE MV NDS NRW RLP SH TH.
    Erklärung: SL=Saarland, SN=Sachsen, SA=Sachsen-Anhalt)
    

    Übergibt mensch alle Kürzel, kommen auch alle Feiertagsdateien raus. Ihr könnt also auch einfach die Daten für euer Bundesland von hier cutten und pasten:

    $ python remind-feiertage.py BW BY BE BB HB HH HE MV NDS NRW RLP SA SH SL SN TH
    
    ============= BB =============
    # Feiertage in BB
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= BE =============
    # Feiertage in BE
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Mar 8 MSG Frauentag
    
    
    ============= BW =============
    # Feiertage in BW
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Jan 6 MSG Epiphanias
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    REM Nov 1 MSG Allerheiligen
    
    
    ============= BY =============
    # Feiertage in BY
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Jan 6 MSG Epiphanias
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    REM Aug 15 MSG M. Himmelfahrt
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= HB =============
    # Feiertage in HB
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= HE =============
    # Feiertage in HE
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    
    
    ============= HH =============
    # Feiertage in HH
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= MV =============
    # Feiertage in MV
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Mar 8 MSG Frauentag
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= NDS =============
    # Feiertage in NDS
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= NRW =============
    # Feiertage in NRW
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= RLP =============
    # Feiertage in RLP
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= SA =============
    # Feiertage in SA
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Jan 6 MSG Epiphanias
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= SH =============
    # Feiertage in SH
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= SL =============
    # Feiertage in SL
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    REM Aug 15 MSG M. Himmelfahrt
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= SN =============
    # Feiertage in SN
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    REM Wednesday Nov 16 MSG Buß+Bettag
    
    
    ============= TH =============
    # Feiertage in TH
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    REM Sep 20 MSG Weltkindertag
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    

    Hinweise, wie das mit remind verwendbar ist, findet ihr im Baden-Württemberg-Post.

    Lasst mich zur Klarheit und auch als mein äußerstes Zugeständnis an Search Engine Optimisation gerade noch die Bundesland-Kürzel ausschreiben:

    BW:Baden-Württemberg
    BY:Bayern
    BE:Berlin
    BB:Brandenburg
    HB:Bremen
    HH:Hamburg
    HE:Hessen
    MV:Mecklenburg-Vorpommern
    NDS:Niedersachsen
    NRW:Nordrhein-Westfalen
    RLP:Rheinland-Pfalz
    SA:Sachsen-Anhalt
    SH:Schleswig-Holstein
    SL:Saarland
    SN:Sachsen
    TH:Thüringen
  • Von der größten Demo in Heidelberg seit Jahrzehnten und der autoritären Versuchung

    Jemand hält eine mit Edding handbeschriebene Pappe for dem Körper: „Wer von der AfD redet, darf von Kretschamann nicht schweigen/Abschiebestopp jetzt!“

    Bei der größten Demo in Heidelberg seit Menschengedenken wollte ich mit „Abschiebestopp jetzt!“ daran erinnern, dass wir ja bereits ein großes Deportationsprogramm am Laufen haben. Auch ein grüner Ministerpräsidente lässt zum Beispiel über Baden-Baden Roma ins Kosovo deportieren (wogegen sich dann und wann Protest regt; siehe auch Grüne Positionen in der Opposition).

    Eigentlich meide ich Demonstrationen, die sich recht offen an die Seite aktueller oder historischer Obrigkeiten stellen. Das gilt um so mehr, wenn die fragliche Obrigkeit praktisch gleichzeitig zu den Demos de facto faschistoide Gesetze (das Grundrechtekomitee dazu) verabschiedet. Allzu schnell kommt mensch dabei in die Grauzone zur Huldigung oder gar zum Aufmarsch.

    Gestern aber habe ich trotz dieser Bauchschmerzen an der wirklich beeindruckend großen Anti-AfD-Demo in Heidelberg teilgenommen. Solange es glaubhaft auch gegen „Remigration“ – besser bekannt unter dem konventionellen Namen Abschiebungen – geht, kann ich unter dem imaginierten Blick der Nachwelt nicht daheimbleiben.

    Und es ist ja wirklich großartig, dass da geschätzt 18'000 Menschen auf der Straße waren. Die letzte Demo zu dem Thema – genauer zum entsetzlichen Gemeinsamen Europäischen Abschiebesystem[1] GEAS – in Heidelberg im November war ja leider eher weniger gut besucht:

    In etwa 100 Menschen in einer breiten Reihe vor der Heidelberger Stadtbücherei.

    Außerdem stellt sich in aller Regel auch bei regierungsfreundlichen Demonstrationen heraus, dass sich dort erstaunlich viele Menschen guten Willens sammeln. So war das auch gestern. Es gab viel Zuspruch für meine eingestandenermaßen möglicherweise leicht spalterische Botschaft. Allerdings war von den Regierungsparteien in Baden-Wüttemberg in der Demo auch nicht viel zu sehen.

    Verbote fürs Gute?

    Auch der gute Wille ändert aber nichts daran, dass ausgerechnet auf einer (letzlich) Antifa-Demo die autoritäre Versuchung breit zu spüren war. Manches „Nazis raus“ mag augenzwinkernd gerufen worden sein und im Bewusstsein, dass es wirklich fies wäre, wem anders die deutschen FaschistInnen überzuhelfen, zumal ja die meisten „anderen“ inzwischen schon genug eigene FaschistInnen haben.

    Mein Eindruck war aber, dass doch eine breite Mehrheit der Demonstrierenden ein Verbot der AfD befürwortete. Die Frage vorerst beiseite, ob das irgendeine positive Wirkung hätte: Es ist eben selbst schon autoritär, wenn rechte Gesinnung ausgerechnet über Verbote, Strafen, Zwang, und klar, durch die Obrigkeit geheilt werden soll. Ich habe versucht, das auf der Rückseite meiner Pappe auszudrücken:

    Eine Person hält vor dem Hintergrund einer Demo eine Pappe: „Faschist:innen verbieten ist wie Schnaps gegen Suff“.

    Ich habe mich mit meiner Nachricht, dass Verbote gegen Faschismus stark nach einer Schnapskur für Alkoholkranke klingen, ziemlich zurückgehalten. Mag sein, dass mich dabei übermäßiges Harmoniebedürfnis zurückhielt.

    Ich will keinesfalls ausschließen, dass der Zweck im Einzelfall mal Mittel heiligen mag. Insofern ist es schon statthaft, darüber nachzudenken, ob mensch nicht doch etwas verbieten möchte, wenn die Machtverhältnisse das zulassen. In diesem Fall mag es sogar (aber nur kurz) erlaubt sein, im Hinblick auf den Zweck voll aufzudrehen und in gefährliche Nähe einer Shoah-Relativierung zu gehen. Aber hätte ein Parteiverbot der NSDAP die Shoah verhindert?

    Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär: Problem

    Ich bin so gut wie sicher, dass das nicht der Fall gewesen wäre, um so weniger, als zwischen 1922 und 1925 die NSDAP (in leicht wechselnden Varianten) verboten war. Anfang der 1930er jedenfalls hätten Hindenburg, Schleicher und Co gewiss alternative Wege zur Machtübergabe gefunden – oder es hätte halt einen Putsch gegeben.

    Aber hypothetisch die Eignung von Verboten zur Abwendung faschistischer Verhältnisse unterstellt, würde es im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit an der Notwendigkeit fehlen. Für die Verhinderung der Shoah hätte dann bereits gereicht, dass der ganz „normale“ Reichspräsident Hindenburg die NS-Regierung nicht ernannt hätte („milderes Mittel“); er hätte reichlich alternative Wege gehabt. Es hätte vermutlich immer noch gereicht, wenn die Vorgängerorganisationen von CDU, FDP und AfD (letztere wäre im Augenblick bei mir noch die DNVP) Gewaltenteilung und Rechtsstaat nicht mit voller Absicht abgewickelt hätten. Es sind Einsichten wie diese, die die autoritäre Rede von der „wehrhaften Demokratie“ bei ihrer Erfindung verhindern sollte.

    Natürlich wussten Hindenburg und die ihn unterstützende informelle Koalition recht genau, was sie da taten. Sie waren nur selbst von der Verehrung für Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär und nicht zu vergessen Antikommunismus durchdrungen. Inhaltlich lagen sie auf einer Linie mit der NSDAP, auch wenn ich gerne glaube, dass viele von ihnen die Methoden des NS-Apparats (also damals vor allem der SA) nicht schätzten. Ich gebe ihnen sogar, dass nennenswert viele von ihnen jedenfalls anfangs weder mit den Verhältnissen in den frühen Konzentrationslagern einverstanden waren noch mit dem Massenmord in Auschwitz, Treblinka und Co oder seinem Vorgänger etwa in Grafeneck oder Hadamar (Beleg).

    Von Nazi-Gewehren und Antifa-Pfefferspray

    Auch Menschen, die meine Einschützung teilen, ein Verbot bewirke allenfalls ein tieferes Einsinken in den autoritären Morast, mögen einwenden: „Aber irgendwas muss man doch machen!“ Ich würde dem „irgendwas“ darin heftig widersprechen. Wenn dieses „irgendwas“ nämlich autoritärer Grundrechtsabbau ist, ist es allemal besser, nichts zu tun. Grundrechte, die weg sind, sind sehr schwer wiederzubekommen, ganz zu schweigen davon, dass Maßnahmen „gegen rechts“ erfahrungsgemäß wenig später mit zehnfacher Wucht nach links durchschlagen.

    Ein schönes Beispiel dazu ist, dass die Behörden in den letzten zwei Jahren jede Menge kleiner Waffenscheine von Menschen aberkannt haben, die sie für Antifas hielten. In den mir bekannten Fällen ging es dabei darum, legal Pfefferspray zur Abwehr von Naziübergriffen mitnehmen zu können. Die ganze Aktion lief in direktem Fallout der rechten Schießerei von Georgensgemünd und der folgenden Verschärfung des Waffenrechts unter der Flagge einer klaren Kante gegen Rechts.

    Dabei würde ich noch nicht mal dem (letztlich ohnehin eher zwecklosen) Pfefferspray nachweinen, aber im Nebeneffekt entstanden zumindest gelegentlich, vielleicht sogar grundsätzlich, Einträge in der PIAV-Tabelle zu Waffen- und Sprengstoffkriminalität. Wenn die vielleicht bei einem Grenzübertritt oder im Rahmen der ja für die fremde Polizei häufig überhaupt nicht kontextualisierbaren Prüm-Transfers auftauchen, kann das bei einem Polizeikontakt den Unterschied machen zwischen einem „Guten Tag, der Herr“ und einem „das SEK knallt dich auf die nächstbeste Motorhaube“.

    Wie baue ich mir Untertanen?

    So versuchend der autoritäre Weg des Verbots sein mag: Nach solchen Überlegungen scheint es mir aussichtsreicher, zunächst so tiefschürfend wie möglich die Frage zu beackern, was eigentlich die Ursachen sind für den fast globalen Trend zur autoritären bis durchgeknallten Zivilreligion von Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär – bei hinreichend konsequenter Umsetzung also zum Faschismus.

    Dazu haben, ja, schon viele Menschen sehr viel geschrieben, zumeist mit Betrachtungen über erodierende Mittelschichten, Männer (bzw. moderner Baby-Boomer) mit Bedeutungsverlust, dem Abendland an und für sich (in schlechtester Tradition), imaginierten Identitätsverlusten usf. Das ist jedenfalls teilweise bestimmt nicht falsch. Als unbelehrbarer Antiautoritärer (und zumal Klaus Theweleit leider Fußballfan geworden ist) möchte ich aber dafür werben, etwas allgemeiner über Herrschaft nachzudenken, also darüber, wie Obrigkeiten es eigentlich schaffen, ihre Untertanen zur Unterordnung zu bringen.

    Die halbe Politologie stellt diese Frage, wenn auch häufig mit aus meiner Sicht ethisch fragwürdiger Betonung: „wie schaffen wir das?“ statt „wie schaffen die das?“. Auch zur Einordnung solcher Arbeiten fand ich meine Variante der Klassifikationen von Herrschaftstechniken eigentlich immer recht nützlich. Danach kann eine Obrigkeit setzen auf:

    • göttliche Bestimmung oder eventuell besondere Brillianz („du gehorchst, weil du dazu bestimmt bist“)
    • Angst vor der Obrigkeit („du gehorchst, weil ich dir sonst wehtue“)
    • Wohlstandsversprechen („du gehorchst, weil es dann dir oder spätestens deinen Kindern dann besser geht“)
    • Angst vor der Nicht-Obrigkeit („du gehorchst, weil ansonsten [Wölfe | Japaner | Chinesen | Russen | Griechen | Clans | Arme | Kinderschänder] kommen und dich [fressen | ausnehmen | beherrschen]”).

    In realen Machtverhältnissen mischen sich natürlich die einzelnen Techniken in verschiedenen Verhältnissen, die zudem durchweg stark abhängen davon, welche Untergruppe der Untertanen gerade adressiert wird: Höheren Klassen wird mensch als guter Herrscher eher etwas versprechen, niedrigen Klassen oder leicht rassifizierbaren Gruppen eher mit Schmerz und Pein drohen. Welche Mixtur dominiert und wie sehr sie gleichmäßig über die Untertanenschaft ausgebracht wird, bestimmt ganz wesentlich, wie so eine Gesellschaft funktioniert und wie angenehm Menschen in ihr leben können.

    Lasst mich deshalb die vier Szenarien etwas ausführlicher betrachten, bevor ich wieder auf den Zusammenhang mit der AfD komme.

    Göttliche Bestimmung

    Ich fand die These, Religion sei als Mittel erfunden worden, Machtausübung zu legitimieren, schon immer attraktiv. Empirisch hat das augenscheinlich prima funktioniert, etwa bei all den FürstInnen „von Gottes Gnaden“, dem göttlichen Kaiserhaus (das ist das IHDD auf allen möglichen römischen Inschriften) oder auch bei den (fast) frühesten schriftlichen Überlieferungen von Herrschaft überhaupt, dem Codex Hammurapi, dessen einschlägigen Inhalt einE Wikipedia-AutorIn so wiedergibt:

    [Es] wird zunächst erklärt, dass der babylonische Stadtgott Marduk durch Anu und Enlil, die höchsten Götter des sumerisch-akkadischen Pantheons, zur Herrschaft über die Menschheit berufen worden sei. Dementsprechend sei Babylon als seine Stadt auch zum Zentrum der Welt bestimmt worden. Damit eine gerechte Ordnung im Land bestehe, Übeltäter und Unterdrückung von Schwachen ein Ende fänden und es den Menschen gut gehe, sei dann Hammurapi zur Königsherrschaft über die Menschen erwählt worden.

    Bemerkenswert daran ist bereits, dass schon in dieser ganz frühen Fassung der Claim göttlicher Bestimmung wohl doch nicht als ausreichend empfunden wurde, denn sonst hätte Hammurapi kaum noch verweisen lassen auf „Menschen gut gehe“ (Wohlstandsversprechen) und die „Übeltäter“ (Angst vor der Nicht-Obrigkeit).

    Andererseits lässt die moderne Verehrung für <hust> Führungsfiguren zwischen (aktuell) Franz Beckenbauer, (etwa genauso aktuell) Elon Musk oder (seit gefühlt schon immer) Lady Di …

  • Unbesungener Held: Der Verkehrsberuhiger Otto Wicht

    Stadtszene mit Klinkerhäusern, vor denen Sträucher und Bäume stehen.  Dazwischen ein Weg, auf dem ein paar Leute laufen.

    Was alles geht, wenn Städte für Menschen und nicht für Autos gebaut werden: eine Straße als Garten in Husum, 2022. Otto Wicht hat den ersten Schritt in diese Richtung getan.

    Im Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 14.11.2023 habe ich zum ersten Mal von einem Menschen gehört, der ungezählte Menschenleben gerettet und ungezählte weitere im ganz großen Stil angenehmer gemacht hat: Otto Wicht, Stadtbaurat in Buxtehude[1]. Er hatte vierzig Jahre zuvor, am 14. November 1983, im Herzen der Bestie – in dem Land, in dem das ganze Elend anfing – die ersten Blumenkübel auf der Konopkastraße aufstellen lassen, um Autos auf wenigstens entfernt menschenverträgliche Geschwindigkeit einzubremsen.

    Herbst 1983. Buxtehudes Autofahrer sind genervt. Plötzlich stehen mal rechts, mal links, kreisrunde Blumenkübel am Fahrbahnrand. Es geht darum, langsamer zu fahren.

    Die niedersächsische Stadt hat am vierzehnten November 1983 die bundesweit erste Tempo-dreißig-Zone eingeführt. [...]

    Die umfunktionierten Betonringe sind eigentlich für den Bau von Kanalisationsleitungen gedacht und werden nach den ersten Unfällen mit Katzenaugen, später mit rot-weißen Verkehrsbaken nachgerüstet.

    Aber hört euch den ganzen Beitrag an; spektakulär finde ich ja vor allem die indignierten Schimpftiraden von AutofahrerInnen, die sich augenscheinlich in ein Grundrecht auf Rumrasen, auf Krach machen, stinken, Menschen verscheuchen, hineindeliriert haben. „Der Verkehr muss doch fließen,“ lässt sich eine vernehmen, als seien Autos „der Verkehr“ und als sei es irgendwie akzeptabel, tonnenweise Stahl mit 15 Metern pro Sekunde gerade mal einen Meter neben ziemlich weichen Zielen durch die Gegend zu ballern.

    Na ja: ich gebe zu, dass Ansichten dieser Art auch vierzig Jahre nach Otto Wichts großem ersten Schritt noch in manchen Köpfen herumspuken. Der DLF-Beitrag lässt ahnen, dass diese Zeitenwende alles andere als einfach war, selbst wenn sich inzwischen sogar ein CDU-Stadtrat – für seine Verhältnisse – einsichtig zeigt und eher kopfschüttelnd zurückblickt auf seine Sprüche aus den Achtzigern:

    Und deswegen haben wir immer gesagt, Herr Wicht, Herr Wicht, die Stadt ist dicht, wenn der Verkehr zum Stocken kam, ne?

    Tja: Schon wieder dieser „Verkehr“, der da stockt. Und nicht etwa im Wesentlichen Blechkäfige von Menschen, die mit hinreichend Empathie mit ihrer Umwelt Fahrrad gefahren und dann auch kein Stau wären.

    An Wichts HeldInnen-Status nagt im Übrigen auch nicht, dass Verkehrsberuhigung damals in der Luft lag:

    Kurz nach den Norddeutschen zogen Berlin-Moabit, Ingolstadt und Mainz, das ostwestfälische Borgentreich und das schwäbische Esslingen nach.

    Auch in Fällen von Zeitgeist braucht es schlicht Menschen, die den ersten Schritt tun und dafür dann die Flak der (in diesem Fall) Autofahrenden abbekommen, ohne auf „aber dort hat das doch prima funktioniert“ verweisen zu können.

    Obwohl Wicht so viele Menschen und Nerven gerettet hat und dafür haufenweise Hass aus der Klientel abbekommen hat, die heute in den schwelenden Resten von Twitter herumschimpft, hat er im Augenblick nicht mal eine Wikipedia-Seite. Ich sollte mich wirklich überwinden und eine schreiben, vielleicht auf der Basis dieses Nachrufs mit ein wenig Ausschmückung aus jenem. Oder findet sich vielleicht einE routinierteR WikipedianerIn, um einem großen Diener von Staat und Bevölkerung ein kleines Denkmal zu setzen?

    [1]Ich wittere schon wieder den Weltgeist am Werk, wenn bei epochale Ereignissen (nein, absolut keine Ironie hier) wie Verkehrsberuhigung Namen wie Buxtehude und Wicht eine zentrale Rolle spielen.
  • Feiertage in Baden-Württemberg für die Terminverwaltung remind

    Screenshot eines Terminals mit blauem Hintergrund. Gezeigt ist die Kommandozeile remind -cu+2 ~/.reminders 2024-03-24 und ein ASCII-Kalender, in dem Karfreitag und Ostermontag markiert sind.

    Gut: In der Realität sehe ich meinen remind-Kalender meist als Tk-Widget oder in HTML, aber im Zweifel geht auch ASCII, etwa, wenn ich wie jetzt meine Feiertage vorführen will.

    Als ich neulich zu Debian bookworm migriert bin, musste ich mich endlich vom GPE-Kalender[1] verabschieden, weil er nach langen Jahren als verwaistes Paket schließlich doch noch einen Konflikt mit was Wichtigem eingefangen hat. Es war aber ohnehin höchste Zeit, für die Terminverwaltung zu etwas Sinnvollerem zu migrieren. In meinem Fall: remind. Das nun fühlt sich – zusammen mit tkremind (auch Debian-paketiert) und einem:

    reminders = subprocess.run(["remind", "-pp", "-c+3",
        "/home/msdemlei/.reminders"],
      capture_output=True).stdout
    reminders_html = subprocess.run(["rem2html", "-tableonly"],
      capture_output=True, input=reminders).stdout
    

    in dem Python-Skript, das mir meine tägliche Zusammenfassung in HTML produziert – so an, als könnte das für die nächsten 20 Jahre halten.

    Mit diesem Gefühl wollte ich nun endlich die Anzeige von Feiertagen konfigurieren, etwas, das ich mit dem GPE-Kalender bis zu dessen bitterem Ende Jahr um Jahr prokrastiniert habe. Allein, zu einer Anfrage "remind" Feiertage "Baden-Württemberg" ist weder Google noch Duckduckgo etwas Brauchbares eingefallen.

    Um das zu ändern, schreibe ich diesen Post. Und zwar habe ich gerade die folgende remind-Datei mit den gesetzlichen Feiertagen in Baden-Württemberg geschrieben:

    # Feiertage in Baden-Württemberg (Stand 2024)
    #
    # Verteilt unter CC0.
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM Jan 6 MSG Epiphania
    REM May 1 MSG Kampftag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Nov 1 MSG Allerheiligen
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM [ostern-2] Karfreitag
    REM [ostern+1] Ostermontag
    REM [ostern+39] Himmelfahrt
    REM [ostern+50] Pfingstmontag
    REM [ostern+60] Fronleichnam
    

    Mit wenig Mühe sollte das auf die Verhältnisse in anderen Bundesländern anzupassen sein. Wer das tut, darf die Ergebnisse gerne hierherschicken. Als großer Freund des Feiertags an und für sich würde ich hier sehr gerne ein Repositorium von Feiertagsdateien pflegen.

    Wie verwende ich das? Nun, ich habe ein Verzeichnis für allerlei Kram, der längere Zeit irgendwo in meinem Home sein soll, aber nicht gerade in dessen Wurzel: ~/misc. Dort leben jetzt auch diese Feiertage als bawue.rem.

    Die eigentlichen Termine habe ich – wie aus dem Python oben schon ahnbar und mit großem Vergnügen XDG-unkonform – in einer Datei ~/.reminders. Und dort steht jetzt bei mir:

    INCLUDE /usr/share/remind/lang/de.rem
    DO misc/bawue.rem
    

    Die erste Zeile macht deutschsprachige Beschriftung, das DO (statt include) in der zweiten Zeile ist wichtig, damit remind den Pfad relativ zum Pfad der reminders-Datei auflöst.

    Und damit werde ich nie wieder dienstliche Termine auf Feiertage legen. So.

    [1]GPE steht hier für das längst vergessene GPE Palmtop Environment; demnach roch auch der GPE-Kalender schon seit einem Jahrzehnt ziemlich streng.
  • „Rohstoffe in Deutschland“ im Karlsruher Naturkundemuseum

    Ein ziemlich großer Eimer mit Bruchsteinen drin, auf einem orangen Podest mit der Aufforderung, seinen täglichen Rohstoffverbrauch anzuheben.

    Überzeugende Museumspädagogik in der Rohstoff-Ausstellung im Naturkundemuseum Karlsruhe: für unseren Konsum[1] wird jeden Tag pro Nase insgesamt 32 kg Zeug aus der Erde geholt. Bei diesem Exponat kann mensch auf eigene Gefahr versuchen, das anzuheben.

    Zu den Museen, die ich mehr oder minder dank meines Museumspasses im vergangenen Jahr des Öfteren besucht habe, gehört das Naturundemuseum Karlsruhe. Wenn ich zwei Highlights nennen müsste: der Erdbebensimulator ist immer wieder ein Erlebnis, und die Dioramen, in denen ausgestopfte Tiere in idealisierten Ökosystemen arrangiert sind, sind gleichzeitig was fürs Auge und gerade richtig angestaubt für ruhige Kontemplation in Zeiten, in denen ohne Knöpfe und Beamer gar nichts mehr zu gehen scheint.

    Derzeit finden obendrein zwei ziemlich lohnende Sonderausstellungen statt. Da ist erstens „Von Sinnen“ über die Wahrnehmungen von allerlei Organismen. Diese Ausstellung ist allerdings demnächst vorbei. Sollte sie nochmal woanders gezeigt werden, lasst sie euch nicht entgehen, schon allein, weil sie zeigt, wie gut ein Design funktionieren kann, das wahrnehungseingeschränkte Menschen mitnehmen will (und wahrscheinlich auch mitnimmt).

    Noch bis April läuft dagegen „Deutschlands Bodenschätze“, eine kleine Ausstellung, in der ich erschreckend viel Zeit verbracht habe, etwa in Betrachtung einer der Manganknollen, die schon seit meiner Kindheit regelmäßig als Versprechen für hunderte weitere Jahre munteren Extraktivismus' gehandelt werden:

    Eine Art Stein mit vielen Gnubbeln drauf.

    Manganknolle aus der Ausstellung „Deutschlands Rohstoffe“ mit der Beschriftung: „aus dem deutschen Lizenzgebiet bei 117° West/11° 50' Nord aus 4.100 m Wassertiefe.“

    Da Manganknollen ja typischerweise vom Boden des Roten Meers oder (wie hier) der Clarion-Clipperton-Zone[2] gekratzt werden, erschließt sich auch gleich, dass das „Deutschland“ im Ausstellungstitel eher bedeutet „was wir für unsere Wachstumsorgie verschleudern“ als das durch den Genitiv vielleicht naheliegendere „was unter dem von unserer Regierung kontrollierten Gebiet liegt“.

    Die Verheerungen von Einfamilienhaus-, Neu- und Straßenbau

    Genau in diesem Sinn ist auch das ganz oben illustrierte Exponat zu verstehen: Ein Eimer mit einigen Steinen drin, den mensch anheben kann (oder vielleicht auch nicht). Die 32 kg, die der Eimer wiegt, sind eine plausible Quantifizierung des Anteils jedes/r BundesbürgerIn an dem, was die Menschheit in ihrem Produktionsrausch so aus der Erde rauswühlt. Und zwar Tag für Tag für Tag.

    Das mal für einen Moment tatsächlich zu tragen ist durchaus beeindruckend und vor allem instruktiv. Die Alltagserfahrung, also sagen wir, der Kram, den wir in die Mülltonne kippen, ist tatsächlich nur ein kleiner Teil dieser 32 kg. So mag das Heben dieses überraschend schweren Eimers ein Bewusstsein dafür wecken, welche Verheerungen gerade auch unsere Einfamilienhaus-, Neu- und Straßenbauwirtschaft anrichtet.

    Weit weniger konsumkritisch wirkte bei mir der ebenfalls durch hebbare Exponate illustrierte Dichteunterschied zwischen Magnesium, Alu und Stahl. Ich muss mich leider öffentlich zum wenig nachhaltigen Gedanken bekennen: „Mein nächster Computer sollte aber wirklich ein Magnesiumgehäuse haben“.

    Das wiederum führt relativ zwanglos in die Rubrik „warum schießen denn all die Leute im globalen Süden auf uns und unsere Freunde, die sie doch nur befreien wollen?“[3] In diese passt eine per Touchscreen entdeckbare Infografik der Rohstoff-Ausstellung:

    Infografik mit sichtbaren LCD-Pixeln: 69.2 Autos pro Mensch in der BRD, 0.3 in Guinea, dazu der Text: „Das in der deutschen Autoindustrie eingesetzte Bauxit kommt hauptsächlich aus Guinea“.

    Diese Grafik findet sich auch in der wirklich gut gemachten Broschüre „Argumente für eine Rohstoffwende“ des AK Rohstoffe etlicher deutscher NGOs wieder. Guckt euch das mal an, auch wenn ihr nicht in die Karlsruher Ausstellung kommt. Wer danach immer noch meint, wir sollten mal ordentlich grünes Wachstum machen, hat nicht nur ein stark aus der Balance geratenes Hirn-Hintern-Gleichgewicht, sondern dazu noch kein ohne aufwändige Bildgebung feststellbares Herz.

    Mein Herz (zu dem Autofeindschaft allzeit leicht Zugang findet) jedenfalls hat die Broschüre spätestens auf Seite 9 erobert:

    Mehr als 46 Milliarden Liter Benzin und Diesel verbrauchten Pkw in Deutschland im Jahr 2017. Eine reine Antriebswende würde diesen Verbrauch zwar reduzieren, aber auf Kosten eines Mehrverbrauchs von Metallen und Mineralen. Stattdessen wäre es wichtig, die Gesamtzahl der 47 Millionen zugelassenen Pkw in Deutschland deutlich zu reduzieren. Statt einer Antriebswende brauchen wir eine Mobilitätswende.

    [also gut: nur die „Mobilität“ zu wenden wird jetzt das Meadows-Szenario auch nicht bannen – aber trotzdem ist das schön gesagt].

    [1]Jaja, ich weiß, das passiert nicht in erster Linie „für den Konsum“, sondern um „Geld zu verdienen“. Der Unterschied ist tatsächlich ziemlich relevant, denn das hier ist bestimmt keine Verzichtspredigt. Wenn ich schon predige, dann Befreiung: Besser leben mit weniger Dreck.
    [2]Ich sage mutig voraus, dass, wenn die Dinge weitergehen, wie sie bisher verlaufen sind, ihr in den nächsten Jahrzehnten regelmäßig von der CCZ in den Nachrichten hören werdet; insofern lohnt es sich wahrscheinlich, sich die Bezeichnung schon mal zu merken.
    [3]

    Ah, „haben geschossen“ sollte ich hier zutreffender schreiben. Jetzt gerade zählt die einschlägige Wikipedia-Seite nur noch rund 1000 schießbereite BundeswehrlerInnen im globalen Süden, wozu ich großzügig auch die quasikolonial verwalteten (vgl) Länder Kosovo und Bosnien-Herzegowina sowie die Fluchtkontrolle im Mittelmeer zähle.

    Ich vermute sehr stark, dass wir nach der Metrik „deutsche Soldaten im Krieg“ gegenwärtig in der friedlichsten Zeit seit 1996 leben. Damals nämlich ist die Bundeswehr mit 2600 SoldatInnen zur IFOR-Operation nach Bosnien-Herzegowina gezogen, und seitdem war zwischen Mali und Hindukusch durchweg irgendwas, bei dem die verschiedenen Regierungen mit Tarnfleck, Gewehr und der gelegentlichen Bombe in größerem Stil mitmischen wollten.

  • Select And Merge Pages From Lots Of PDFs Using pdftk

    For most of my ad-hoc PDF manipulation needs (cut and paste pages, watermark, fill forms, attach files, decrypt, etc), I am relying on pdftk: Fast, Debian-packaged (in pdftk-java), and as reliable as expectable given the swamp of half-baked PDF writers. So, when I recently wanted to create a joint PDF from the first pages of about 50 other PDFs, I immediately started thinking along the lines of ls and perhaps a cat -b (which would number the lines and thus files) and then pdftk.

    Why cat -b? Well, to do cut-and-merge with pdftk, you have to come up with a command line like:

    pdftk A=input1.pdf B=input2.pdf cat A1-4 B5-8 output merged.pdf
    

    This would produce a document merged.pdf from pages 1 through 4 of input1.pdf and pages 5 through 8 of input2.pdf. I hence need to produce a “handle” for each input file, for which something containing the running number would a appear an obvious choice.

    My initial plan had therefore been to turn lines like 1 foo.pdf from ls | cat -b into doc1=foo.pdf with a dash of sed and go from there. If I were more attentive than I am, I would immediately have realised that won't fly: With handles containing digits, pdftk would have no robust way to tell whether doc12 means “page 12 from doc“, “page 2 from doc1“, or “all pages from doc12”. Indeed, pdftk's man page says:

    Input files can be associated with handles, where a handle is one or more upper-case letters[.]

    Oh dang. I briefly meditated whether I could cook up unique sequences of uppercase handles (remember, I had about 50 files, so just single uppercase letters wouldn't have done it) using a few shell hacks. But I then decided[1] that's beyond my personal shell script limit and calls for a more systematic programming language like, umm, python[2].

    The central function in the resulting little program is something that writes integers using uppercase letters only. Days later, I can't explain why I have not simply exploited the fact that there are a lot more uppercase letters than there are decimal digits, and hence making uppercase labels from integers is solvable using string.translate. A slightly overcompact rendering of that would be:

    DIGIT_TO_LETTER = {ascii: chr(ascii+17) for ascii in range(48, 59)}
    def int_to_uppercase(i):
      return str(i).translate(DIGIT_TO_LETTER)
    

    (if you don't remember the ASCII table: 48 is the ASCII code for zero, and 48+17 is 65, which is the ASCII code for the uppercase A).

    But that's not what I did, perhaps because of professional deformation (cf. my crusade against base-60). Instead, I went for a base-26 representation using uppercase letters only, just like the common base-16 (“hex”) representation that, however, uses 0-9 and A-F and thus is unsuitable here. With this, you would count like this (where more signifiant “digits“ are on the right rather than on the western-conventional left here because it doesn't matter and saves a reverse):

    A, B, C, D..., X, Y, Z, AB, BB, CB, ... ZB, AC, BC...
    0, 1, ..............25, 26, 27,.......      52, 53
    

    I freely admit I was at first annoyed that my handles went from Z to AB (rather than AA). It did take me longer than I care to confess here to realise that's because A is the zero here, and just like 01 is the same as 1 decimal[3], AA is equal to A (and BA equal to B) in that system. Consequently, my function for unique handles didn't produce AA even though I hadn't realised the problem when writing the function – there's nothing as practical as a good theory.

    With that function, the full ad-hoc script to pick pages one (that's encoded in the f"{hdl}1" in case you want other page ranges) from all files matching /some/dir/um*.pdf looks like this:

    import glob
    import os
    import subprocess
    
    def make_handle(ind):
        """returns a pdftk handle for a non-negative integer.
    
        This is a sequence of one or more uppercase letters.
        """
        hdl = []
        while True:
            hdl.append(chr(65+ind%26))
            ind = ind//26
            if not ind:
                break
        return "".join(hdl)
    
    
    sources = [(make_handle(ind), name)
      for ind, name in enumerate(sorted(glob.glob("/some/dir/um*.pdf")))]
    subprocess.check_call(["pdftk"]+[f"{hdl}={name}" for hdl, name in sources]+
        ["cat"]+[f"{hdl}1" for hdl, _ in sources]+
        ["output", "output.pdf"])
    

    Looking back, not only the massively silly base-26 handles are unnecessarily complicated. Had I realised from the beginning I would be using python in the end, I would probably have gone for pdfrw right away; while the complexity in terms of Debian dependencies is roughly the same (“one over what you'll already have”), avoiding a subprocess call is almost always a win[4].

    But these misgivings are one reason why I wrote this post: This is a compact illustration of the old programmers' wisdom to “Plan to throw one away – you will anyway“. Except that for tiny little ad-hoc scripts like this, a bit of baroque adornment and an extra process do not hurt and the code above ought to work just fine if you need to produce a PDF document from some fixed page range of a few dozen or hundred other PDF documents.

    [1]Decided foolishly, by the way, as tr 0123456789 ABCDEFGHIJ immediately turns a sequence of distinct integers into a sequence of distinct uppercase-only strings.
    [2]I don't feel too good about being in the mainstream for a change, but I can prove that I'd have chosen python long before it became fashionable.
    [3]Not in Python, though, where 01 thankfully is a syntax error, and not neccessarily in C, where you may be surprised to see that, for instance, 077 works out to 63 decimal. I would rank this particular folly among the most questionable design decisions in the history of programming languages.
    [4]That, and my growing suspicion that “you'll already have a Java runtime on your box” is quickly becoming a rather daring assumption. Once the assumption is plain wrong, pdftk stops being a cheap dependency, as it will pull in a full JRE.
  • 75 Jahre ohne Militär: Costa Rica

    Rechts im Bild ein Bahnsteig, links ein endloser Güterzug.  Auf jedem Wagen stehen zwei Panzer.

    Was ist der Unterschied zwischen der badischen Stadt Bruchsal und San José, der Hauptstadt von Costa Rica? Nun: Im Bahnhof von San José würde nicht plötzlich – wie hier im Juni 2013 – ein Güterzug voller Panzer stehen.

    Bevor deren 75. Jubiläumsjahr vorbei ist, möchte ich an eine der ganz großen zivilisatorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts erinnern: 1948 löste der damalige Präsident José Figueres Ferrer das Militär in Costa Rica auf, und es hat kein Rezidiv gegeben, obwohl die Nachbarstaaten diesen, ach ja, Fort-Schritt nicht hinbekommen haben – vom Rest der Welt ganz zu schweigen.

    Ich brauchte auch erst eine Erinnerung daran und bekam die im Deutschlandfunk-Kalenderblatt am 1.12.2023. Der 1. Dezember ist der Jahrestag von Ferrers Inititative und ist seit 2020 in Costa Rica ein Feiertag („abolió el ejército“ – take that, „Volkstrauertag“). Peter B. Schumann erwähnte in seinem kleinen Beitrag gute Gründe zum Feiern:

    Die Kaserne wurde zum Nationalmuseum und der Wehretat zum Entwicklungsbudget. Damit konnten das Bildungssystem, das Gesundheitswesen und die Infrastruktur ausgebaut […] werden. […] Costa Rica hat es auch nie bereut. Während die hochgerüsteten Nachbarländer von einem autoritären Regime ins andere und von einer Krise in die nächste taumelten, konnte das kleine Land sich jahrzehntelang zu einer stabilen, prosperierenden Demokratie entwickeln.

    Sehr bemerkenswert fand ich auch die Analyse des Autors zu den Bedingungen für den Erfolg der Abrüstung in Mittelamerika:

    [Costa Rica] war viel kleiner [als seine Nachbarn], weniger kapitalkräftig, die Elite relativ arm […] Die Regierungen hatten [die Armee] allerdings oft vernachlässigt, so dass sie schlecht ausgebildet und schlecht bewaffnet war, eine schwache Institution.

    Also: geringe soziale Stratifikation, wenig physische Basis der Regierung, anderen Regierungen etwas aufzwingen zu können und eine schlecht finanzierte Armee haben in dieser (m.E. glaubwürdigen) Erzählung geholfen, das Militär loszuwerden. Praktischerweise sind das Politiklinien, die wenigstens mir auch unabhängig von Friedenspolitik im engeren Sinn attraktiv erscheinen – angefangen vom Ende der Kriegskredite (Verzeihung, „Sondervermögen“; soll keineR sagen, es habe sich gar nichts getan in Berlin über die letzten 110 Jahre hinweg).

    Kopfportrait eines etwa 60-jährigen Mannes im Anzug mit hoher Stirn, dunklen Haaren und einem ernsten Blick.

    Der Held der Auflösung des Militärs in Costa Rica: José Figueres Ferrer, hier im September 1973 (Bildquelle).

    Nun will ich gerne eingestehen, dass mein traditionell zuversichtlicher Blick in eine militärfreie Zukunft ohne Strammstehen, Tschingdarassabum, bunte Kappen und Orden in nur wenigen Momenten meines Lebens nicht bei vielen ZeitgenossInnenen auf ungläubige bis schnappatmende Einwände gestoßen wäre: anfangs „aber… die Russen?!“, dann rasch „aber… die Moslems?!“ und jetzt wieder (meist) „aber… die Russen?!“

    Ganz unabhängig davon, ob Tschingdarassabum und Menschentotschießen geeignet, notwendig und angemessen sind, um Konflikte zwischen den Entietäten zu lösen, denen sich die verschiedenen ZeitgenossInnen zugehörig fühlten: Costa Rica ist tatsächlich gut ohne ausgekommen, und das, obwohl sich recht schnell ein deutliches Wohlstandsgefälle zu den militärbesetzten Nachbarstaaten einstellte[1].

    Zu den qualitativen Effekten der Auflösung des Militärs lohnt ein Blick in die (vermutlich für Mittelamerika stark unvollständige) Liste der Putschversuche in der englischen Wikipedia[2]. Wie der DLF-Autor Schumann schon andeutet, fanden in den Nachbarstaaten – wenn nicht wie in Nicaragua ohnehin über Jahrzehnte das Militär faktisch an der Macht war – alle paar Jahre mal Militärputsche statt (für Honduras verzeichnet: 1956, 1963, 1972, 1975, 1978 und 2009).

    Für Costa Rica hingegen ist nach dem 1.12.1948 nur ein Putschversuch notiert, und der ist gescheitert. De facto war das sieben Jahre nach der Auflösung der Armee ein Versuch der alten Garde, sich wieder die Lizenz zum Schießen und Töten sowie die Alimentierung für dieses Treiben zu verschaffen. Es handelte sich nämlich um eine vom Somoza-Regime in Nicaragua gestützte Rebellion, in der „Calderonistas“, Ex-Soldaten aus der Zeit des vorherigen Potentaten Rafael Calderón, versuchten, wieder einen „normalen“ Staat zu bekommen. Das ist durchaus auch eine Erinnerung daran, dass, wer jetzt Militär macht, eben auch ein schweres Erbe für später schafft.

    Los gings Anfang Januar 1955, als diese Truppen mit Ölgeld aus dem damals ebenfalls erzreaktionär regierten Venezuela vom Herrschaftsgebiet des später in der sandinistischen Revolution untergegangenen Somoza-Clans aus in die costaricanische Kleinstadt Ciudad Quesada einfielen; venezuelanische Militärflugzeuge beschossen derweil verschiedene Städte in Costa Rica. SpielerInnen des Klassikers Junta kennen das Szenario.

    Die Regierung in San José rief daraufhin die OAS an, die (eingestandenermaßen überraschenderweise) Druck auf Nicaragua ausübte; dazu mobilisierte die Regierung in San José ihre Polizei, stellte Milizen auf und widmete vorübergehend Zivilflugzeuge um, was angesichts hinreichender Popularität der Regierung genug war, um die Invasion zusammenbrechen zu lassen.

    Klar wärs schöner gewesen, wenn der versuchte Putsch etwa durch einen zünftigen Generalstreik beendet worden wäre statt durch doch ziemlich paramilitärisches Gedöns. Klar ist aber auch, dass erstens Militärquatsch deutlich weniger Schaden anrichtet, wenn es insgesamt weniger davon gibt, und zweitens, dass auch ohne Militär Grobiane von außen nicht einfach tun und lassen können, was sie wollen.

    Es wird nur für die Grobiane von innen schwieriger, sich richtig grob zu benehmen und bei ihren Streitigkeiten mit den Grobianen von außen halbe Regionen zu verwüsten. Und vielleicht ist entsprechend radikale Abrüstung ja auch mal von unten statt wie in Costa Rica von oben zu bewerkstelligen? Das wäre besser, denn auf eine Figur wie Ferrer werden wir im Land von Clausewitz wahrscheinlich noch lang warten müssen.

    [1]Wie immer ist es schwierig, „Wohlstand” zu definieren und noch mehr zu quantifizieren. Wer an Metriken wie den HDI glaubt, wird Costa Rica 2018 bei 0.78 finden, gegenüber Nachbarstaaten wie El Salvador bei 0.68 oder Honduras bei 0.62 (zum Vergleich sieht das UNDP die BRD bei 0.94); aber dass der Billigflaggen-Staat Panama bei 0.79 und damit gleichauf mit Costa Rica steht, sagt wohl mehr über die Metrik als über reale Verhältnisse im Hinblick auf gutes Leben aus.
    [2]In der Liste der Putsche in der deutschen Wikipedia hat sich noch niemand den beängstigend großen Schuh angezogen, solche Aktivitäten in Mittelamerika zu sammeln.
  • Saner Timestamps With DIT: In Pelican and Beyond

    The other day Randall Munroe posted XKCD 2867:

    This lament about time calculus struck me as something of a weird (pun alarm) synchronicity, as one evening or two before that I had written a few lines of flamboyant time-related code.

    Admittedly, I was neither concerned with “sin to ask” nor with „impossible to know“: Both are a consequence of the theory of relativity, which literally states that (against Newton) there is no absolute time and hence when two clocks are in two different places, even synchronising them once is deep science.

    Sold on Decimal Internet Time

    No, my coding was exclusively about the entirely unnecessary trouble of having to account for time zones, daylight savings time, factors of 60, 24, sometimes 30, 31, 29, or 28, and quite a few other entirely avoidable warts in our time notation. Civil time on Earth is not complicated because of physics. On human scales of time, space, velocity, gravitation, and precision, it is not particularly hard to define an absolute time even though it physically does not exist.

    Rather, civil time calculations are difficult because of the (pun alarm) Byzantine legacy from Babylon – base-60 and base-12, seven-day weeks, moon calendar – exacerbated by misguided attempts of patching that legacy up for the railway age (as in: starting in 1840, by and large done about 1920). On top of that, these patches don't work particularly well even for rail travel. I speak from recent experience in this particular matter.

    Against this backdrop I was almost instantly sold on DIT, the Decimal Internet Time apparently derived from a plan a person named Anarkat (the Mastodon link on the spec page is gone now) proposed: Basically, you divide the common day in what currently is the time zone UTC-12 into 10 parts and write the result in decimal. Call the integer part “Dek” and the first two digits after the dot “Sim”. That's a globally valid timestamp precise to about a (Babylonian) minute. For example, in central Europe what's now 14:30 (or 15:30 during daylight savings time; sigh!) would be 0.62 in DIT, and so would Babylonian 13:30 in the UK or 8:30 in Boston, Mass. This may look like a trivial simplification, but makes a universe of a difference in how much less painful time calculations become.

    I admit I'd much rather have based time keeping on the second (the SI unit of time), but I have to give Anarkat that the day is much more important in most people's lives than the second. Thus, their plan obviously is a lot saner for human use than any I would have come up with (“let's call the kilosecond kes and use that instead of an hour…”)[1].

    If you use pelican…

    Since I think that this would be a noticeably better world if we adopted DIT (clearly, in a grassrootsy step-by-step process), I'd like to do a bit of propaganda for it. Well, a tiny bit perhaps, but I am now giving the timestamps of the posts on this blog in StarDIT, which is an extension of DIT where you count the days in a (Gregorian, UTC-12) year and number the years from the “Holocene epoch”, which technically means “prepend a one to the Gregorian year number“ (in other words, add 10'000 to “AD”).

    Like DIT itself, with sufficient adoption StarDIT would make some people's lives significantly simpler, in this case in particular historians (no year 0 problem any more!). I would like that a lot, too, as all that talk about “Domini” doesn't quite cater to my enlightened tastes.

    How do I do produce the starDITs? Well, I first wrote a rather trivial extension for my blog engine, pelican, which adds an attribute starDIT to posts. You will find it as ditdate.py in my pelican plugins repo on codeberg. Activate it by copying the file into your blog's plugins directory and adding "ditdate" to the PLUGINS list in your pelicanconf.py. You can then use the new attribute in your templates. In mine, there is something like:

    <a href="http://blog.tfiu.de/mach-mit-bei-dit.html">DIT</a>
    <abbr class="StarDIT">{{ article.starDIT[:-4] }}</abbr>
    (<abbr class="date">{{ article.date.strftime("%Y-%m-%d") }}</abbr>)
    

    If you don't use pelican…

    I have also written a Python module to convert between datetimes and DITs which shows a Tkinter UI when called as a program:

    A small grey window on top of some bright background; sans-serif letters say 12023:351 (small) 1.08.5 (large).

    I have that on my desktop now. And since alarmingly many people these days use a web browser as their primary execution platform, I have also written some HTML/Javascript to have the DIT on a web page and its title (also hosted here).

    Both of these things are in my dit-py repo on codeberg, available under CC0: Do with them whatever you want. (Almost) anything furthering the the cause of DIT is – or so I think I have argued above – very likely progress overall.

    [1]If you speak German or trust automatic translation, I have a longer elaboration of DIT aspects I don't like in a previous blogpost.
  • Mach mit bei DIT

    [In case you're coming here from an English-language article, see here]

    A small grey window on top of some bright background; sans-serif letters say 12023:351 (small) 1.08.5 (large).

    Hier zeigt meine DIT-Uhr die Zeit (und das Datum) in meinem sawfish-Dock. Nein, das ist kein Startrek-Unfug. Ich hoffe stattdessen, dass etwas in dieser Art im Laufe der Zeit zum In-Accessoire werden wird: Wer keins hat, darf nicht mehr Digitalisierung sagen [nun: glücklicherweise hat niemand, der_die sowas wollen könnte, Mittel, mit denen so ein Verbot durchzusetzen wäre].

    Heraus aus der babylonischen Verwirrung!

    Es gibt nach 3000 Jahren nicht mehr allzu viele Gründe, sauer auf die großen KriegsherrInnen aus Babylon und ihre mesopotamischen KollegInnen zu sein. Mit dem babylonischen Klerus sieht das anders aus: Nicht nur sexagesimale Koordinaten etwa in der Astronomie geht auf ihn zurück, sondern auch all der krumme Kram mit Faktoren von 60 oder 24 oder 7, mit dem wir uns völlig ohne Not[1] immer noch in der Zeitrechnung herumschlagen.

    Keine Schuld haben die mesopotamischen PriesterInnen am Ärgernis Zeitzonen und dem damit zusammenhängenden Sommerzeit-Elend, aber ich wollte auch die schon ewig loswerden, nicht nur wie neulich aus Betroffenheit.

    So hat die Decimal Internet Time (DIT) mein Herz (fast) im Sturm genommen, ein Vorschlag, die Zeit durch Zehnteln des Tages zu notieren. Dieser Stundenersatz heißt Dek (von Dekatag) und entspricht fast zweieinhalb (nämlich 24/10) babylonischen Stunden.

    Selbst für sehr grobe Zeitangaben werden Deks in der Regel nicht reichen, weshalb sie in hundert Sims (von Decimal Minute) aufgeteilt werden. So ein Sim entspricht 86 Sekunden, ist also ziemlich nahe an einer babylonischen Minute. Das wäre wohl so die Einheit für Verabredungen: „Mittagessen um neun komma fünfundsiebzig“ oder meinetwegen „fünfungzwanzig vor null“, denn um die 100 Sekunden warten sollten für niemand ein Problem sein, und viel genauer fährt die Bahn nicht mal in der Schweiz. Aber weils Dezimal ist, wärs auch kein Problem, einfach nach den Zehnern aufzuhören: „Ich breche dann um 7.8 auf“, eine Angabe, die etwa auf eine Viertelstunde genau ist – sehr menschengemäß in meinem Buch.

    Ich finde das total plausibel; wenn euch das demgegenüber komisch vorkommt, ist das, ich muss es euch sagen, sehr parallel zur Abneigung von in imperialen Einheiten aufgewachsenen Leuten, etwas wie „ein Meter Fünfundachtzig“ zu sagen, wo doch „six foot two inches“ soo viel intuitiver ist.

    Um ein Gefühl für die Dezimalzeit zu bekommen, hätte ich folgende Kurzreferenz für BRD-Gewohnheiten anzubieten:

    DIT MEZ in Worten
    0 Mittag (13:00)
    1.5 Nachmittag (~16:30)
    2 Früher Abend (~18:00)
    3 Abend (20:00)
    4.5 Mitternacht
    6 Unchristliche Zeit (3:30)
    7.5 Morgen (7:00)
    9 Vormittag (10:30)

    Deseks: Vielleicht nicht so nützlich

    Weniger begeistert bin ich von der kleinsten Zeiteinheit von DIT, der Dezimalsekunde, Desek oder kurz Sek; das ist ein Tag/100'000, gegenüber einem Tag/86'400 bei der SI-Sekunde.

    Als SI-Taliban hätte ich die ganze dezimale Zeitrechnung ja ohnehin lieber auf die Sekunde aufgebaut und die Kilosekunde (ungefähr eine Viertelstunde) als Stundenersatz etabliert. Zwar gebe ich zu, dass die DIT-Wahl des Bezugs auf den Tag für menschliche Nutzung ein besserer Plan ist als die Kilosekunde (von der es 86.4 in einem Tag gibt, was eingestandenermaßen blöd ist).

    Aber für rein menschliche Nutzung (Verabredungen, Tagesplan, Fahrpläne…) spielen Zeiten im Sekundenbereich in der Regel keine Rolle, und so hätte ich die Deseks einfach rausgelassen und gesagt: Wers genauer braucht, soll zu den PhysikerInnen gehen und von denen die Sekunde nehmen. Dass ein Sim ziemlich genau aus 86.4 von diesen SI-Sekunden besteht, ist eher eine putzige Kuriosität als eine praktische Schwierigkeit, und jedenfalls nicht nennenswert lästiger als die 60 Sekunden, die eine babylonische Minute hat.

    Und nein, die physikalische Sekunde als Tag/100,000 umzudefinieren lohnt den Aufwand nicht; dafür ist die Erdrotation längst zu ungenau, und dann wir wollen ohnehin den Schaltsekunden-Unfug nicht mehr. Die Sekunde ist Physik, die braucht nichts mit menschlichen Zeiten zu tun zu haben. Insofern: Es wäre schöner, wenn es keine Desek gäbe, aber ich will auch nicht streiten.

    Good riddance, Zeitzonen

    Der neben der Nutzung des Dezimalsystems zweite große Fortschritt von DIT ist, dass sie auf der ganzen Welt einheitlich verläuft. Es gibt also in DIT keine Zeitzonen mehr.

    Mehr nebenbei ist das so gemacht, dass das babylonische 12 Uhr, die Mittagszeit bzw. 5 Deks in DIT, in der aktuellen UTC-12-Zeitzone (der „frühesten“, die es gibt), tatsächlich ungefähr mit der Kulmination der Sonne, also einer naiven Mittagsdefinition, zusammenfällt. Aber das spielt – im Gegensatz zum etwas antibritisch klingenden Sentiment in der DIT-Spec – eigentlich keine Rolle. Relevant ist nur, dass DIT-Uhren auf der ganzen Welt den gleichen Wert anzeigen. Ich darf meine Fantasie von neulich für DIT aktualisieren:

    Wäre es wirklich ein Problem, wenn Menschen, die in Kasachstan leben, 2 Deks für eine gute Zeit fürs Mittagessen halten würden und sich die Leute in New York eher so gegen siebeneinalb Deks über ihres hermachten? Ich wette, alle würden sich schnell dran gewöhnen. Es ist jedenfalls einfacher als das Sommerzeit-Mantra „spring forward, fall back“.

    Eingestanden: Wenn ich DIT entworfen hätte, hätte ich die auf die Referenz 12 babylonische Stunden entfernt von UTC verzichtet, denn alle anständigen Zeitstempel sind bereits jetzt in UTC. Wenn mensch für die DIT davon weggeht, verschränken sich Datum und Zeit bei der Umrechnung dieser anständigen Zeitstempel zu DIT – beim Übergang von babylonischer Zeit zu DIT kann sich also auch das Datum ändern.

    Das ist eine Komplikation, die keinen erkennbaren Nutzen hat; es ist eben kein Privileg, dass die Sonne um 5 Deks kulminiert, und so ist der Versuch albern, dabei möglichst wenige Menschen „zu bevorzugen“. Aber seis drum.

    Das Datum zur Zeit: StarDIT

    Insbesondere spielt das keine Rolle mehr, wenn mensch auch das Datum in DIT schreibt. Dazu gibt es eine Erweiterung von DIT zu größeren Zeiträumen hin, die im Vorschlag StarDIT genannt wird. Ob die Gesellschaft schon durchnerdet genug ist, um mit so einem Namen durchzukommen? Weiß nicht.

    An sich ist, wo wir schon bei Namen sind, ja auch das I, „Internet“, in DIT nicht so richtig seriös. Ich würde es vielleicht lieber als „International“ lesen – Internationalismus ist und bleibt einer der sympathischeren Ismen.

    Im StarDIT-Plan jedenfalls besteht das Datum aus (gregorianischem) Jahr zu einer leicht entchristlichten Epoche sowie der laufenden Tagesnummer innerhalb eines Jahres, mit einem Doppelpunkt getrennt, also für heute etwa 12023:350. Wer Wochen haben will, nimmt den Zehneranteil und schreibt ein x dahinter; aktuell haben wir also die Woche 35x.

    Zehntagewochen bergen ein wenig das Risiko, dass aus fünf Arbeitstagen acht werden; ein analoger Effekt hat schon dem Französischen Revolutionskalender (in meiner Geschichtserzählung) den Hals gebrochen. Aber wir müssen ja gerade sowieso über drastische Arbeitszeitverkürzung reden, um irgendwie die immer noch wachsende CO₂-Emission in den Griff zu kriegen. Da könnte der Übergang zu DIT durchaus mit einem Zwischenmodell mit weiterhin fünf Tagen Lohnarbeit, dafür dann auch fünf Tagen Selbstbestimmung („Wochenende“) zusammengehen – bevor die Lohnarbeit weiter abnimmt, natürlich.

    Putzig, wenn auch nicht allzu praktikabel für den Alltag, finde ich die DIT-Idee, die christliche Epoche (zu meinen eigenen Bedenken vgl. Fußnote 1 hier) durchs Holozän-Jahr zu ersetzen. Das ist wie das normale Gregorianische Jahr, nur dass die Zählung 9'999 vdCE anfängt (das heißt: Zählt einfach 10'000 zu ndCE-Jahren dazu).

    Es ist sicher prima, wenn die Leute nicht mehr durch Kennungen wie „v. Chr“ oder „n. Chr“ letztlich fromme Märchen verbreiten, und es ist auch großartig, wenn das Jahr-0-Problem (es gibt nämlich kein Jahr 0: die derzeitige Jahreszählung geht direkt von 1 v. zu 1 n., und drum ist auch die DIT-Referenzepoche etwas krumm) zumindest aus der post-mittelsteinzeitlichen Geschichtsschreibung komplett verschwindet. Ob jedoch das ein Deal ist, wenn mensch dafür mit einer Extraziffer in Jahreszahlen bezahlen muss? Fünf ist, haha, eben nicht zwingend Trümpf.

    Andererseits: Das StarDIT ist trivial aus der gewohnten Jahreszahl auszurechnen, und realistisch würden die Leute auch mit DIT im Alltag wohl weiterhin „Dreiundzwanzig“ oder „Zwanziger Jahre“ sagen und nicht „Zwölftausenddreiundzwanzig“ oder „zwölftausendzwanziger Jahre“. Insofern: Meinen Segen haben sie.

    Implementation: Python und Javascript

    Um nun mit gutem Beispiel voranzugehen, will ich selbst ein Gefühl für DIT bekommen. Dazu habe ich ein Python-Modul geschrieben, das Konversionen von Python-Datetimes von und nach DIT unterstützt. Das ist so wenig Code, dass ich lieber niemand verführen würde, das als Dependency zu importieren. Drum habe ich es auch nicht ins pyPI geschoben; guckt einfach in mein codeberg-Repo. Meine vorgeschlagene Vorgehensweise ist copy-paste (oder halt einfach das Modul in den eigenen Quellbaum packen).

    Das Modul funktioniert auch als Programm; legt es dazu einfach in euren Pfad und macht es ausführbar. Es zeigt dann eine DIT-Uhr in einem Tkinter-Fenster an. Ich habe das in meinen Sawfish-Dock aufgenommen – siehe das Eingangsbild.

    Ich habe außerdem noch ein Stück Javascript geschrieben, das DITs ausrechnen und anzeigen kann. Es ist eingebettet in der Datei dit.html im Repo oder unter https://blog.tfiu.de/media/2023/dit.html erreichbar. Menschen, die (ganz anders als ich) breit Tabs in ihren Browsern nutzen, können die Webseite öffenen und haben mit etwas Glück (wenn der Browser nämlich das Javascript auch …

  • Ach Bahn, Teil 14: „HalloDummy ABC-Dummy“

    Eine rote Scheckkarte im Gegenlicht.  Ein Magnetstreifen ist sichtbar, ein Schriftzug „Bahncard 50“, aber nichts, was elektronisch aussieht.

    Eine 2023er-Bahncard im Gegenlicht: Das ist wirklich nur Plastik (und ein Magnetstreifen) und mithin vom Fußabdruck her kaum mehr als 10g CO₂e. Klar wäre fahrscheinlos noch besser, aber „digital“ gehts jedenfalls nicht emissionsärmer.

    Die neueste Templating-Katastrophe der Bahn

    Ich bin ja seit langem faszinierter Beobachter der Templating-Katastrophen der Deutschen Bahn. Stellt euch also meine Begeisterung vor, als heute auf eine Anfrage an kundendialog@bahn.de (ja, das gibts, auch wenn die Bahn das in ihren Kontaktangeboten gut tarnt) eine ganz neue, ich möchte fast sagen freche Variante hinzukam:

    X-Mailer: Siebel 23.10.0.0 SIA [2023_10]

    Vorgangsnummer: 1-1719.....

    HalloDummy ABC-Dummy,

    vielen Dank für Ihre Nachricht. Wir werden uns schnellstmöglich mit Ihnen in Verbindung setzen und Ihre Anfrage gerne beantworten.

    Aufgrund eines ungewoehnlich hohen Mailaufkommens lassen sich derzeit jedoch laengere Wartezeiten nicht vermeiden.

    Bitte haben Sie noch ein wenig Geduld und sehen Sie von weiteren Nachfragen zum Bearbeitungsstand ab. Wir informieren Sie, sobald Ihr Anliegen bearbeitet wurde.

    Bitte antworten Sie nicht auf diese E-Mail, da dies eine automatisch erstellte Eingangsbestätigung Ihrer Anfrage ist.

    (whitespace ist normalisiert)

    Ganz falsch ist das nicht: Wer sich an den Bahn-Support wendet, wird dort zumindest wie ein ABC-Dummy behandelt, das kann ich nach meinen bisherigen Erfahrungen (cf. den Bahn-Tag) mit Bestimmtheit behaupten.

    Gut gefällt mir auch die Kombi von “schnellstmöglich“ (mit Umlaut) und ungewoehnlich (7-bit-sauber), und weiter ist ein Vergleich aufschlussreich mit einer kurzfristig deutlich weniger katastrophalen Template-Antwort von vor einem Jahr (4.12.2022), die so anfing:

    X-Mailer: Siebel 22.5.0.0 SIA [2022_05]

    Vorgangsnummer: 1-157...

    Sehr geehrter Herr <richtiger Name>,

    vielen Dank für Ihre Nachricht. Wir werden uns schnellstmöglich mit Ihnen in Verbindung setzen und Ihre Anfrage gerne beantworten. Aufgrund eines ungewoehnlich hohen Mailaufkommens lassen sich derzeit jedoch laengere Wartezeiten nicht vermeiden.

    Der Siebel-Mailer hat also einen Versionssprung gemacht (oder eher: ist ein Jahr älter geworden), irgendwer hat Leerzeilen eingefügt; dass, wenn etwas über mindestens ein Jahr besteht, es ganz bestimmt nicht mehr „ungewoehnlich“ ist, ist dabei nicht aufgefallen, und auch nicht die Mischung aus echten Umlauten und Umschreibungen.

    Bahncard-Sabotage

    In der Mail, auf die hin die ABC-Dummy-Antwort kam, ging es übrigens um Pläne, über die ich bei Heise gestolpert bin. Offenbar überlegt die Bahn, nun auch noch mit dem Mittel der Bahncard den Menschen ihre grässliche Navigator-App überzuhelfen. Das ist keine schöne Aussicht für mich, nachdem ich schon mit dem 49-Euro-Ticket endlos Zeit mit dem Quatsch verschwenden musste – und dabei vielleicht immer noch Ärger mit Schaffnern hätte bekommen können (vgl. 49-Euro-Ticket im freiheitsfoo-Wiki).

    Eine alternative Interpretation zum gewaltsamen App-Überhelfen wäre, dass die Bahn die Bahncard killen will; diese Vermutung scheint auch plausibel, weil bei den aktuellen Buchungsformular-Experimenten der Bahn auch mal Prototypen dabei waren, die zur Einstellung einer Bahncard 50 sieben Klicks verlangten. Im heutigen Prototypen zähle ich noch vier, aber eigentlich frage ich mich schon lange, warum sich das Interface die letzten Fahrtziele, aber nicht den Bahncard-Besitz merken kann.

    Tatsächlich hat mich die Frage nach den Motiven der Bahn schon heute morgen bewegt, und so habe ich ein wenig in der Forumsdiskussion rumgeklickt. Auf plausible Thesen jenseits von surveillance capitalism bin ich nicht gestoßen, aber doch auf diesen Beitrag von elknipso. Ich fand ihn – ganz vorne das hier:

    Smartphones sind absoluter Standard, man kann nicht bei allem auf den letzten Fortschrittsverweigerer Rücksicht nehmen.

    (und seine Followups des gleichen Autors) – in seiner Ignoranz, Vermessen- und Verwirrtheit wirklich sehr bemerkenswert.

    Unklare Motivationslagen

    Ich könnte elknipsos Haltung, eigenes Verhalten als allgemeine Maxime zu setzen, ja vielleicht noch nachvollziehen, wenn erkennbar wäre, welchen Nutzen er von einer App-Bahncard hätte. Aber er hat, soweit ich das erkennen kann, darüber keinen Moment nachgedacht. Die Frage, ob das, was da vorgeschlagen wird, überhaupt einen Nutzen hat, und wenn ja, ob dieser Nutzen in einem irgendwie angemessenem Verhältnis zu den Kosten steht, diese Frage stellt sich ihm ganz offenbar im Zusammenhang mit einem ferngewarteten Programm („App“) gar nicht.

    Sehen wir doch kurz nach: Auf der Nutzenseite ist eigentlich nur die Plastikersparnis erkennbar, und würde die Bahn einfach QR-Codes ausstellen und den Leuten selbst überlassen, wie sie die herzeigen wollen, könnte ich das gelten lassen. Allerdings ist eine Einsparung von vielleicht 10g CO₂e[1] wirklich nicht der Rede wert in einem Geschäft, in dem der Kilometer IC-Reise in der Größenordnung von 100g liegt und zumindest eine Bahncard 50 erst ab deutlich über 1000 Kilometern irgendwie lohnend wird.

    Im Gegensatz dazu ist der Plan der Bahn soweit ersichtlich, wie beim 49-Euro-Ticket die QR-Codes so gut es geht in den erwähnten „DB Navigator“ einzusperren. Das sind dann 70 Megabyte Irrsinn und Tracking, die nur dazu dienen, ein Bild anzuzeigen. Na ja: das Decoding wird von der libpng des Hostsystems übernommen, und die Bildanzeige vermutlich auch von irgendwas, das nicht bei den 70 MB mitkommt; diese sind mithin nicht viel mehr als ein Symlink auf eine Bilddatei.

    Angsichts solch hemmungsloser Verschwendung im „Digitalen” über Ressourceneinsparung auch nur zu spekulieren, das ist bereits jenseits von absurd. Dennoch ganz geschwind hinterher: Eine Minute Telefon mit Netz (so lang fummelt mensch dann ja doch mit dem Mist) sind auch schon in der Größenordnung 50g CO₂e, und mit dem Fußabdruck des Telefons fangen wir mal lieber gar nicht an. Nein: Ökologischer als Plastikkarte geht jedenfalls nicht mit irgendwas, das elektrisch ist.

    Die neue Pflicht zum Rumfummeln

    Stattdessen wäre eine App-Bahncard für relevant viele Menschen (nämlich die, die zum Kontrollzeitpunkt gerade oder grundsätzlich kein „Smartphone“ in der Hand haben) ungleich viel mehr Gefummel gegenüber einer Karte, die mensch einfach aus dem Geldbeutel zieht. Elknipso könnte sich von den Effekten dieser Sorte digitaler Fummelei überzeugen an den Eingängen der DB-Lounges, wo seit dem App-Zwang die Schlangen trotz deutlich geschrumpfter NutzerInnenzahl viel länger gewoden sind.

    Wie kommt nur wer auf die Idee, öffentlich für einen so offensichtlich schlechten Deal zu sprechen? Das ist noch nicht mal dann zu erklären, wenn der Redner tatsächlich nicht begriffen haben sollte, dass auf einem „Smartphone“ jede Erwartung von Privatsphäre illusorisch ist – oder das dem Redner wurst ist: Hier ist kein Nutzen, und auch für Leute mit extern gemanagten Rechnern eigentlich nur Nerv.

    Unter diesem Vorzeichen erscheint die Rede vom „Fortschrittsverweigerer“ nochmal besonders verdreht. Es ist vielleicht nicht immer ganz einfach, genau zu bestimmen, in welcher Richtung genau das Fort ist, zu dem mensch gerne schreiten möchte. In diesem Fall aber würde doch niemand außer ganz radikalen Technophoben bestreiten, dass der Fortschritt 1976 war, als mit dem Apple II sich „normale“ Menschen erstmals EDV unabhängig von großen und zentralen Infrastrukturen hinstellen konnten.

    Der Rückschritt hing dann vielleicht weniger direkt an Apple. Aber die vollständig remote gemanagten und häufig wieder zu dummen Terminals degradierten Endgeräte vom iPhone-Typ, die ab 2007 die breite Mehrheit der Nutzenden wieder in die /360-Welt – nur halt etwas bunter und wackliger – zurückkatapultierten: Das war unbestreitbar ein Rollback in eine Sorte EDV, die in den 1990er Jahren für ein paar Momente lang überwunden schien.

    Ich kenne elknipsos Motivationslage nicht und finde auch keine Hypothese, die erklären könnte, warum er wohl mit so einem Rant an die Öffentlichkeit ging. Doch ist seine Position ein Musterbeispiel für das, was ich in Antisprache: Digitalisierung beschrieben habe: Dass etwas mit einem elektronischen Spielzeug geht (und möglichst auch nur genau mit diesem) ist durch Verknüpfung mit einem in der einen oder anderen Weise positiv besetzten Begriff magisch der rationalen Betrachtung von Zweck und Nutzen enthoben.

    Nachtrag (2024-01-29)

    Nach gerade mal anderthalb Monaten hat die Bahn mit mit ein paar zusammengeklickten Marketingfloskeln reagiert. Wie üblich war jede Menge CSS-Quatsch im Text, und auch die restlichen Floskeln verdienen keine weitere Erwähnung. Aber weil ich meine Anmerkungen so geistreich finde und weil ich zweifele, dass dass das bei der Bahn jemand mit etwas Aufmerksamkeit liest, dokumentiere ich meine Antwortmail auf die Antwortmail kurz mal hier:

    Liebe Mitarbeiter/in der Bahn,
    
    On Mon, Jan 29, 2024 at 03:00:10PM +0100, kundendialog@bahn.de wrote:
    > schätzen wir sehr und nehmen Ihre Kritik ernst. Der Trend in der
    > Gesellschaft geht seit Jahren klar in Richtung Digitalisierung.
    
    Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, Feedback zu Ihren Vorgesetzten
    zu geben, sagen Sie Ihnen doch bitte:
    
      KundInnen schätzen keine zusammengeklickten hohlen Floskeln, wenn sie
      sich beschwert haben -- da ist in der Tat gar keine Antwort noch
      besser.  Ideal wäre es natürlich, wenn es ein Budget für Antworten
      gäbe, die wirklich auf die Anfragen eingehen.
    
    Und Digitalisierung heißt nun mal nicht, es den Menschen schwerer zu
    machen.  Dazu gehört für mich jedenfalls alles, was ich nicht auf
    meinem Rechner machen kann oder für das ich eine Android-Emulation
    brauche.  Dazu gehört doppelt alles, für das ich eine Apple- oder
    Google-Id oder Apps aus schattigen Raupkopier-Stores brauche, weil
    die Bahn es *noch nicht mal* hinbekommt, wenigstens f-droid zu
    bespielen.
    
    Das scheint mir bei den aktuellen Plänen erneut der Fall zu sein.
    Wie kompliziert kann es sein, einen Barcode über eine Webseite
    auszuliefern?
    
    > BahnCard-Kundschaft – altersübergreifend – genutzt. Mit ihr
    > profitieren Reisende von vereinfachten Prozessen. So ist die
    
    Nein, die *Bahn* profitiert *vielleicht* von vereinfachten Prozessen.
    Die KundInnen hingegen müssen eine metrische Tonne Daten an Google,
    Apple, die Bahn …
  • War Gavrilo Princip ein radikaler Tierschützer?

    Ein treuer Leser dieser Seiten hat mich neulich auf ein paar der bizarreren Faktoide aus der Wikipdia hingewiesen. Zunächst: Im Artikel zu Franz Ferdinand von Österreich-Este – dessen Tod unmittelbarer Auslöser des ersten Weltkriegs war –, heißt es:

    Wie aus den vollständig erhaltenen Schusslisten hervorgeht, erlegte Franz Ferdinand im Laufe seines Lebens 274.889 Stück Wild. Darunter bei Großwildjagden auf seinen langen Weltreisen viele exotische Tiere wie Tiger, Löwen und Elefanten. Allein im Jahr 1911 erlegte er 18.799 Stück Wild, „Tagesrekord“ waren an einem Junitag 1908 2763 Lachmöwen.
    Ausschnitt eines gemalten Bildes: Hirsche fliehen einen Berg runter und springen in Panik in ein abgesperrtes Becken.  Dort schwimmen sie dann.  An der Seite stehen Menschen in einem Pavillion und schießen die Hirsche ab.

    Wer sich fragt, wie wer wie Franz Ferdinand 25 Tiere am Tag abknallen konnte: Nun, es hängt davon ab, wie viel Mühe sich andere geben. Hier ist ein Ausschnitt aus einem Bild eines unbekannten Künstlers von 1758, das illustriert, wie es auch ein eher unbeweglicher Mann wie Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz hinbekam, bei Dilsberg (das Wasser ist der Neckar) in großer Zahl Hirsche zu erschießen. Das ganze Bild könnt ihr im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg sehen.

    Blutrünstige Blaublüter vs. moderne Wirtschaft 0:1

    Um solche Zahlen in Perspektive zu bringen: Franz Ferdinand soll 1872 zum ersten Mal Tiere umgebracht haben und hatte bis 1914 Zeit dafür, also gut 40 Jahre. Zwecks rundem Ergebnis nehmen wir an, dass er sonntags nicht schoss; dann hat er im Schnitt an jedem Tag seines Jägerlebens 300'000/40/300 = 25 Tiere niedergemäht oder etwas wie zwei pro Stunde, wenn wir annehmen, dass auch er schlafen und essen musste.

    Das ist ein kleiner Schlachthof. Beim Versuch, eine Ahnung zu bekommen, wie sich das wohl mit einem professionellen Schlächter der Moderne vergleicht, habe ich über diesen Thread auf fleischbranche.de den Begriff „Kopfschlachter“ kennengelernt (Bedeutung: Schlächter im Akkord) und dann das hier gelesen:

    bei den schweinen haut ihr ja ganz gut rein mit 1000 stück. bei uns läuft schweineschlachtung nur nebenher 2x die woche, da haben wir dann um die 250 stück, in 2,5 std. sind wir damit durch. Bei rinderschlachtung haben wir meist so zwischen 200 bis 350 stück, jetzt zur kälteren jahreszeit wirds wieder mehr, momentan um die 300 an dem einen schlachthof. an dem kleinen schlachthof wo ich auch arbeite sind es nur um die 70 stück, meist große bullen, in etwa 6 std. da hier das band langsamer läuft muss jeder einzelne hier mehr machen. ich muss hier die tiere reintreiben, schießen, aufhängen, abstechen, kopf abschneiden, vorderfüße abschneiden und brust und vorderoberschenkel vorenthäuten. ich benutze den Dick Stahl mit dem grauen griff und arbeite meist mit swibo messern. ausrüstung und klamotten muss bei uns jeder selbst kaufen, sogar das dreckszeug waschen muss jeder in eigen regie machen.

    In einem modernen Schlachthof töten die ArbeiterInnen (aber klarerweise auch im Team) also etwas wie 100 Schweine pro Stunde; bei Rindern geht es etwas langsamer. Damit wirkt Franz Ferdinands Mittel von zwei Tieren pro Stunde nicht mehr so sensationell.

    Dennoch muss mensch sich fragen: Was macht einen Menschen so blutrünstig? In diesem Fall kann mensch den Standardmechanismus der Selektion von SchurkInnen im Wettbewerb schon mal ausschließen, der Erzherzog war ja bereits in seine „hohe“ Position reingeboren.

    Eine Fayence-Gruppe: Grün gekleidete Menschen mit Dreispitz fummeln die eingeweide eines erschlagenen Hirsches aus ihm raus.

    Auch das Original dieser Fayence ist im Kurpfälzischen Museum zu sehen, und auch das kommt aus der Zeit von Karl Theodor – nur für den Fall, dass wer Zweifel hatte, dass diese Leute die blutigen Aspekte ihrer Ballerei nicht im Auge hatten.

    Ein Attentat als Posse

    Es ist vielleicht nicht wichtig, ihn zu kennen, aber der Gavrilo Princip aus der Überschrift war der Mensch, der Franz Ferdindand (und versehentlich auch seine Frau) am Veitstag 1914 in Sarajevo erschossen hat. Es wäre ein schöner Twist in der Weltgeschichte, wenn er das in Wirklichkeit getan hätte, um dem Franz Ferdinand'schen Gemetzel eine Ende zu setzen.

    Aber nein, die Wikipedia-Seite zum Sarajevo-Anschlag lässt leider keinen Hauch von Zweifel zu: Princip war doch nur einer von all den anderen Patrioten, die aus objektiv unerfindlichen Gründen ständig aufeinander schießen müssen. Immerhin war sein Club (im Gegensatz zu Genscher und Co) noch hinter einem Gesamt-Jugoslawien her und hatte zusätzlich einen Namen, wie ihn der kleine Nick nicht besser hätte wählen können: „Die Schwarze Hand“.

    Überhaupt sind es zunächst Namen und Titel, die die Lektüre des Wikipedia-Artikels lohnend machen. Ich wähle mal ein paar aus:

    • Marschall Oberst Graf Rumerskirch
    • Kriegsminister Alexander Ritter von Krobatin
    • Oberst Dragutin Dimitrijević als Chef der Verschöwrung, der, logisch, bestimmt mit dem russischen Militärattaché in Belgrad, General Wiktor Artamonow, unter einer Decke steckte (Eat the Rich!)
    • Ottokar Graf Czernin
    • Franz Conrad von Hötzendorf als „Vertreter der Kriegspartei“ („seit 1907“)

    Auch der Verlauf der Verschwörung wirkt absolut wie eine Groteske aus Wiener Vorstadttheatern:

    Gegen zehn Uhr fuhr die Kolonne an Mehmedbašić vorbei, der eine Bombe werfen sollte, aber nichts unternahm. Er erklärte seine Untätigkeit später damit, dass er von Ilić die Anweisung bekommen habe, die Bombe nur dann zu werfen, wenn er den Wagen des Thronfolgers erkenne. Dies sei ihm aber nicht gelungen.

    Die Identifikation des Ziels scheint für die Verschwörer tatsächlich ziemlich schwierig gewesen zu sein, denn wenig später „erkundigte sich [ein weiterer Attentäter] bei einem Polizisten, in welchem Fahrzeug der Erzherzog säße“. Der Polizist gab eine zutreffende Antwort, und so traf die Bombe, die der Attentäter daraufhin warf, Franz Ferdindand sogar. Sie prallte aber ab und explodierte woanders. Der Attentäter versuchte nach dem Wurf, sich heldenhaft-romantisch mit Zyankali umzubringen, aber das Zeug war zu alt, und außerdem hat er jede Menge davon vor Aufregung verschüttet.

    Mit Stil gescheitert

    Angesichts dieser Szene ging Princip – er hätte weiter hinten auf Franz Ferdinand schießen sollen – erstmal ins Kaffeehaus. Wie kann jemand mit solchen Reflexen eigentlich aus dem k.u.k.-Reich austreten wollen? In der Stil-Wertung ist das jedenfalls ganz oben dabei, gleich zusammen mit „Let's go bowling“[1].

    Franz Ferdindand machte derweil auf dicke Hose und ließ im Wesentlichen einfach weiterfahren, obwohl es dieses eine Mal wirklich weitere Attentäter gab:

    Vaso Čubrilović sagte später aus, dass er nicht geschossen habe, weil ihm die Herzogin leid getan hätte, Cvetko Popović sagte aus, dass er Angst gehabt habe und in diesem Augenblick nicht gewusst habe, was mit ihm geschehe.

    Sagt, was ihr wollt: Wenn alle PatriotInnen den ethischen Kompass hätten, nichts zu machen, wenn (mehr oder minder) Unbeteiligte darunter leiden würden – oder ersatzweise hinreichend viel Angst –, dann wäre das hier eine viel bessere Welt. Der mit dem Mitleid ist übrigens in der späteren Volksrepublik Jugoslawien Minister für Forstwirtschaft geworden. Mein erster Gedanke, als ich das gelesen habe: In dieser Position wird er vermutlich mit den deutsch-jugoslawischen Karl May-Verfilmungen der 1960er beschäftigt gewesen sein. Trotzdem ist er in dieser ganzen Geschichte klar mein Lieblingscharakter.

    Princip schließlich – und auch das wusste ich nicht – kam zu seinem tödlichen Schuss nicht etwa in einer Kennedy-fährt-durch-Dallas-Situation mit großem Aufzug, sondern weil sich der erzherzögliche Chauffeur verfahren hatte und ausgerechnet vor dem Starbucks^W Delikatessengeschäft Moritz Schiller anhielt, in dem Princip sich mit einem Käffchen über die fehlexplodierte Bombe hinwegtröstete.

    Übrigens waren wohl nicht nur die Waldtiere wenigstens teilweise ganz zufrieden mit Princips Schuss. EinE Wikipedia-AutorIn verrät:

    Der Tod des Thronfolgers löste in Österreich-Ungarn keine allgemeine Trauer aus. Der Gesandte in Bukarest und spätere Außenminister Ottokar Graf Czernin erinnerte sich später, in Wien und Budapest habe es mehr Erfreute als Trauernde gegeben.

    Irre Twists Galore

    Die ganze Franz Ferdinand-Geschichte ist voll von irren Twists. So wusste ich zum Beispiel bis zu meinem jüngsten Wikipedia-Binge auch nicht, dass Princip im Jahr 1918 in Theresienstadt sein Leben verloren hat.

    Theresienstadt? Ja. Es stellt sich heraus, dass das Konzentrationslager in der deutsch besetzten Tschechoslowakei entfernte Vorgänger in k.u.k.-Zeiten hatte, nämlich ein Gefängnis für verschärfte Haftbedingungen in der „Kleinen Festung“. Es war später tatsächlich der Keim, aus dem die deutsche Besatzungsmacht und ihre Gestapo Anfang der 1940 ihr „Vorzeige-KZ“ schuf.

    Mein „sein Leben verloren“ von oben ist sicher die freundlichste mit der Wirklichkeit verträgliche Formulierung. Der k.u.k.-Apparat – der Princip nur dehalb nicht direkt justiziell umbrachte, weil er zum Tatzeitpunkt nach damaligem Recht minderjährig gewesen war – hielt Princip bis 1916 durchweg in Ketten, und auch danach noch in feuchtkalten, dunklen Zellen vollständig isoliert. Irgendein Wärter muss ihn dennoch mit Tuberkulose infiziert haben, denn daran ist er am 28. April 1918 mit nicht mal 25 Jahren gestorben, ein paar Monate, bevor die Donaumonarchie ebenfalls das Zeitliche segnete.

    Wie üblich bei PatriotInnen ist Princip eine zutiefst tragische Figur, denn die Staaten, die Österreich-Ungarn folgten, waren ziemlich durchweg nochmal fürchterlicher als dieses (was sicherlich auf Dollfus-Österreich zutrifft; über das Zwischenkriegs-Jugoslawien weiß ich zu wenig).

    Princips geritzte letzten Worte allerdings machen schon etwas her, zumal er da offenbar eingesehen hatte, dass die Mängel der Donaumonarchie bestimmt nicht ein auf einen Mangel an Grenzen zwischen den „Völkern“ zurückgingen, sondern dass es eigentlich auch damals schon um oben und unten hätte gehen sollen:

    Unsere Geister schleichen durch Wien und raunen durch die Paläste und lassen die Herren erzittern.
    [1]Wer dieses Zitat nicht kennt, sollte ganz schnell das Coen-Meisterwerk Big Lebowski angucken. Der Film ist im vorliegenden Zusammenhang auch befriedigend, weil …
  • Kritischer Hörtipp: „Afrika im Aufbruch“

    Eine relativ leere breite Straße mit Hochhäusern drumrum und Palmen drauf.

    Luanda im Jahr 2013 (inzwischen sieht es noch viel schlimmer aus): Hochhäuser, breite Straßen und jede Menge Beton. Will mensch wirklich zu sowas aufbrechen? Foto CC-BY Fabio Vanin

    Im November brachte der Deutschlandfunk im Hintergrund (täglich 18:40 bis 19:00) eine kleine Reihe mit dem Titel „Afrika im Aufbruch“. Das war zunächst recht erfreulich, denn die Erzählung dabei war nicht die typische beim europäischen Blick nach Süden.

    Es war nämlich nicht (in erster Linie) die Rede von Mord, Totschlag, Bürgerkrieg mit Macheten oder „Wellen“ von Menschen, die „gegen unsere Grenzen branden“. Es lohnt sich durchaus, sich die alternativen und vermutlich erheblich repräsentativeren Erzählungen anzuhören:

    Im Detail allerdings tun viele der Geschichten doch weh. Ich bin selbst schon hineingewachsen in eine Welt, in der der Name „3. Welt-Laden“ nicht mehr ohne Anführungszeichen denkbar war, in der Probleme mit Begriffen wie „Entwicklungsland“ Gemeinplätze waren. Das Wort behauptet ja ganz offen, dass „die anderen“ sich doch bitte „entwickeln“ sollen, etwas weniger offen dazuzudenken „zu uns hin“. Damals haben kritischere Menschen vielleicht „Trikont“ gesagt (Folgen), woraus heute eher „globaler Süden“ geworden ist.

    In der DLF-Serie hingegen wird nun zwar durchaus im Kultur- und Identitätsbereich von Dekolonisierung geredet, ökonomisch aber ist fast alles geradezu erschreckend orthodox. In der Sendung vom 14.11. zum Beispiel sagt ein Manager eines südafrikanischen „Start-ups“, das Rohstoffextraktion mit Großindustrie verbinden will:

    Wir haben die Chance, eine brandneue Megaindustrie in Afrika aufzubauen. Die Batterien sollen zuerst hier auf dem Kontinent genutzt werden. Siebzig Prozent Afrikas hat keine stabile Energieversorgung, ohne Strom keine Industrialisierung. Wenn wir dieses Problem durch Speichermöglichkeiten lösen, kann mehr produziert werden, Jobs werden geschaffen und Armut abgebaut.

    Der Gedanke, dass Armut heute nicht daher kommt, dass die Leute zu wenig arbeiten (bzw. produzieren), blitzt zwar kurz vorher im Zusammenhang mit Botswana mal auf, aber hier wie auch ganz schlimm in der Bezahl-Apps-Folge ist die Präsupposition ganz klar, dass auch „die Afrikaner“ unseren Unsinn kopieren sollen.

    Und Unsinn ist es, wenn sich möglichst viele Menschen jeden Tag für eine Stunde in einen rollenden Blechkäfig einsperren, um dann für acht Stunden lästigen Mist zu tun, der typischerweise unter Freisetzung von viel Dreck die Welt in der Regel schlechter macht (Herstellung von Autos und anderen Waffen, Werbung und anderen Rauschmedien, Finanz-„Produkten“ und anderen legalen Suchtstoffen, Einfamilenhäusern und Ölpipelines, Glyphosat und High Fructose Corn Syrup und so weiter und so fort).

    Um den Irrsinn ganz rund zu machen, haben die TeilnehmerInnen dieser Veranstaltung trotz historisch notwendig einmaliger Verschwendung von Naturressourcen immer noch (und nicht mal ohne Grund) Schiss, ob sie nächstes Jahr noch ein Dach über dem Kopf haben oder ob die Rente „zum Leben reicht”, mehr Angst vermutlich als Durchschnittmenschen in weiten Teilen des gegenwärtigen Afrika.

    Würde mensch dagegen einfach vernünftig überlegen, was das Minimum an Produktion ist, das die Grundbedürfnisse aller Menschen dauerhaft und verlässlich deckt, und zwar bei minimaler Belastung für Umwelt und Mensch: Nun, das wäre dann wirklich das „Überspringen“ von Fehlern des Nordens, das mal kurz in der Sendung vom 16.11. anklang. Stattdessen macht Antje Diekhans das Überspringen dort fest zunächst an Festnetz- gegen Mobiltelefonie und mittelbar ausgerechnet an „Fintech“ – mal ehrlich: lässt sich eine wüstere Verschwendung menschlicher Kreativität vorstellen?

    Dabei gestehe ich offen, dass ich keine Ahnung habe, wer in den verschiedenen Gegenden dieses Fünftels der Landfläche der Erde weniger europäische Ansätze vertritt. Klar wird die Wachstums-Religion in Afrika so verbreitet sein wie hier auch. Insofern mag mensch argumentieren, dass Afrika im Aufbruch einfach guter Journalismus ist, also eine Betrachtung der Welt, wie sie halt mal ist. Vielleicht passt mir auch nur das Wort „Aufbruch“ nicht, obwohl ja niemand sagt, dass du nur wohin aufbrechen kannst, wo es besser ist.

    Auf die im Eingangsbild symbolisierte Entwicklung in Luanda (verlinkt ist die Regierungsversion) hat mich übrigens ein Vortrag von Boniface Mabanza Bambu im Juni 2023 hingewiesen. Von ihm gibt es auch einiges Kontrastprogramm zur Aufbruch-Serie im Netz, z.B. seinen Artikel in Uneven Earth vom Juni 2019 oder auch ein Interview mit dem programmatischen Titel Die EU sollte Afrika in Ruhe lassen in der taz vom April (vgl. dazu). Oder, wegen der BASF-Connection für Leute im Rhein-Neckar-Raum besonders relevant, seine Abhandlung zum achten Jahrestag des Marikana-Massakers.

  • Another Bookworm Regression: D-bus, X11 Displays, purple-remote, Oh My!

    When I reported on what broke when I upgraded to Debian bookworm, I overlooked that my jabber presence management (where I'm offline at night and on weekends) no longer worked. Figuring out why and fixing it was a dive into D-Bus and X11 that may read like a noir detective novel, at least if you are somewhat weird. Let me write it up for your entertainment and perhaps erudition.

    First off, against the March post, I have migrated to pidgin as my XMPP (“jabber”) client; at its core, presence management still involves a script in /etc/network/if-*.d where I used to call something like:

    su $DESKTOP_USER -c "DISPLAY=:0 purple-remote getstatus"
    

    whenever a sufficiently internetty network interface went up or down, where DESKTOP_USER contains the name under which I'm running my X session (see below for the whole script with the actual presence-changing commands).

    Purple-remote needs to run as me because it should use my secrets rather than root's. But it was the DISPLAY=:0 thing that told purple-remote how to connect to the pidgin instance to interrogate and control. As most boxes today, mine is basically a single-user machine (at least as far as “in front of the screen” goes), and hence guessing the “primary” X display is simple and safe.

    Between X11 and the D-Bus

    That purple-remote needed the DISPLAY environment variable was actually almost a distraction from the start. There are many ways for Unix programs to talk to each other, and DISPLAY might have pointed towards 1980ies-style X11 inter-client communication. But no, the purple-remote man page alreads says:

    This program uses DBus to communicate with Pidgin/Finch.

    Correctly spelled D-Bus, this is one of the less gruesome things to come out of the freedesktop.org cauldron, although it is still riddled with unnecessarily long strings, unnecessarily deep hierarchies, and perhaps even unnecessary use of XML (though I feel sympathies in particular for that last point).

    But that's not what this post is about. I'm writing this because after upgrading to Debian bookworm, purple-remote no longer worked when used from my if-up.d script. Executing the command in a root shell (simulating how it would be called from ifupdown) showed this:

    # DESKTOP_USER=anselm su $DESKTOP_USER -c "DISPLAY=:0 purple-remote getstatus"
    No existing libpurple instance detected.
    

    A quick glance at the D-Bus Specification gives a hint at how this must have worked: dbus-launch – which is usually started by your desktop environment, and my case by a:

    export $(dbus-launch --exit-with-x11)
    

    in ~/.xinitrc – connects to the X server and leaves a “property” (something like a typed environment variable attached to an X11 window) named _DBUS_SESSION_BUS_ADDRESS in, ah… for sure the X server's root window [careful: read on before believing this]. As the property's value, a D-Bus client would find a path like:

    unix:path=/tmp/dbus-1cAbvsX6FD,guid=795a0d...
    

    and it could open that socket to talk to all other D-Bus clients started within the X session.

    Via apropos to xprop to Nowhere

    So… Does that property exist in the running X server? Hm. Can I figure that out without resorting to C programming? Let's ask the man page system:

    $ apropos property
    [..lots of junk...]
    xprop (1)            - property displayer for X
    [...]
    

    Typing in man xprop told me I was on the right track:

    $ man xprop
    
    SYNOPSIS
         xprop  […] [format [dformat] atom]*
    
    SUMMARY
      The xprop utility is for displaying window and font properties in an
      X server.
    
    OPTIONS
      […]
      -root   This argument specifies that X's root window is the target win‐
              dow.   This  is  useful  in situations where the root window is
              completely obscured.
    

    So, let's see:

    $ xprop -root _DBUS_SESSION_BUS_ADDRESS
    _DBUS_SESSION_BUS_ADDRESS:  not found.
    

    Hu? Has dbus-launch stopped setting the property? Let's inspect Debian's change log; a major change like that would have to be noted there, wouldn't it? Let's first figure out which package to look at; the documentation then is in /usr/share/doc/<packagename>:

    $ dpkg -S dbus-launch
    dbus-x11: /usr/bin/dbus-launch
    $ zless /usr/share/doc/dbus-x11/changelog.Debian.gz
    

    Looking for “property” or “BUS_ADDRESS” in there doesn't yield anything; that would make it unlikely that the property was somehow dropped intentionally. I have to admit I had halfway expected that, with something like “for security reasons”. But then if someone can read your root window's properties, access to your session bus is probably the least of your problems.

    Still, perhaps someone is slowly dismantling X11 support on grounds that X11 is kinda uncool? Indeed, you can build dbus-launch without X11 support. If the Debian maintainers built it that way, the respective strings should be missing in the binary, but:

    $ strings `which dbus-launch` | grep _DBUS_SESSION
    _DBUS_SESSION_BUS_PID
    _DBUS_SESSION_BUS_ADDRESS
    _DBUS_SESSION_BUS_SELECTION_
    

    No, that's looking good; dbus-launch should still set the properties.

    Skimming the Docs is Not Reading the Docs.

    If I did not see the property a moment ago, perhaps I have used xprop the wrong way? Well, actually: I didn't read the D-Bus spec properly, because what it really says is this:

    For the X Windowing System, the application must locate the window owner of the selection represented by the atom formed by concatenating:

    • the literal string "_DBUS_SESSION_BUS_SELECTION_"
    • the current user's username
    • the literal character '_' (underscore)
    • the machine's ID

    – and then find the _DBUS_SESSION_BUS_PID on the window owning that selection. The root window thing was my own fantasy.

    If you bothered to skim the ICCCM document I linked to above, you may recognise the pattern: that's just conventional X inter-client communication – no wonder everyone prefers D-Bus.

    This is beyond what I'd like to do in the shell (though I wouldn't be surprised if xdotool had a hack to make that feasible). I can at least establish that dbus-launch still produces what the spec is talking about, because the “atoms” – a sort of well-known string within the X server and as a concept probably part of why folks are trying to replace X11 with Wayland – are all there:

    $ xlsatoms | grep DBUS
    488   _DBUS_SESSION_BUS_SELECTION_anselm_d162...
    489   _DBUS_SESSION_BUS_ADDRESS
    490   _DBUS_SESSION_BUS_PID
    

    The Next Suspect: libdbus

    Given that, dbus-launch clearly is exonerated as the thing that broke. The next possible culprit is purple-remote. It turns out that's a python program:

    $ grep -i dbus `which purple-remote`
    import dbus
        obj = dbus.SessionBus().get_object("im.pidgin.purple.PurpleService", "/im/pidgin/purple/PurpleObject")
    purple = dbus.Interface(obj, "im.pidgin.purple.PurpleInterface")
                data = dbus.Interface(obj, "org.freedesktop.DBus.Introspectable").\
    

    So, this is using the python dbus module. Let's see if its changelog says anything about dropping X11 support:

    $ zless /usr/share/doc/python3-dbus/changelog.Debian.gz
    

    Again, nothing for X11, property, or anything like that. Perhaps we should have a brief look at the code:

    $ cd /some/place/for/source
    $ apt-get source python3-dbus
    […]
    dpkg-source: info: extracting dbus-python in dbus-python-1.3.2
    […]
    $ cd dbus-python-1.3.2/
    

    You will see that the python source is in a subdirectory called dbus. Let's see if that talks about our property name:

    $ find . -name "*.py" | xargs grep _DBUS_SESSION_BUS_ADDRESS
    $
    

    No[1]. Interestingly, there's no mention of X11 either. Digging a bit deeper, however, I found a C module dbus_bindings next to the python code in dbus. While it does not contain promising strings (X11, property, SESSION_BUS…) either, that lack made me really suspicious, since at least the environment variable name should really be visible in the source. The answer is in the package's README: “In addition, it uses libdbus” – so, that's where the connection is being made?

    Another Red Herring

    That's a fairly safe bet. Let's make sure we didn't miss something in the libdbus changelog:

    $ zless /usr/share/doc/libdbus-1-3/changelog.Debian.gz
    

    You will have a déjà-vu if you had a look at dbus-x11's changelog above: the two packages are built from the same source and hence share a Debian changelog. Anyway, again there are no suspicious entries. On the contrary: An entry from September 2023 (red-hot by Debian stable standards!) says:

    dbus-user-session: Copy XDG_CURRENT_DESKTOP to activation environment. Previously this was only done if dbus-x11 was installed. This is needed by various freedesktop.org specifications…

    I can't say I understand much of what this says, but it definitely doesn't look as if they had given up on X11 just yet. But does that library still contain the property names?

    $ dpkg -L libdbus-1-3
    […]
    /lib/i386-linux-gnu/libdbus-1.so.3
    […]
    $ strings /lib/i386-linux-gnu/libdbus-1.so.3 | grep SESSION_BUS
    DBUS_SESSION_BUS_ADDRESS
    $
    

    No, it doesn't. That's looking like a trace of evidence: the name of the environment variable is found, but there's nothing said of the X11 property. If libdbus evaluated that property, it would stand to reason that it would embed its name somewhere (though admittedly there are about 1000 tricks with which it would still do the right thing without the literal string in its binary).

    Regrettably, that's another red herring. Checking the libdbus from the package in bullseye (i.e., the Debian version before bookworm) does not yield the property …

  • Pop-up Rad- und Fußweg auf der Mittermaierstraße

    Eine städtische Straße mit Wohnhäusern an einer Seite, eine vierspurige Straße mit wenig Verkehr.  Eine Spur ist mit Baustellenbaken abgesperrt, einE RadlerIn steht darauf.  Im Vordergrund ein Plakat: „Radweg andere Straßenseite benutzen“ und wenig dahinter „Pop-up Gehweg“.

    Aktion in der Heidelberger Mittermaierstraße heute: eine von vier Autospuren hat bis 15 Uhr einen besseren Verwendungszweck. Großes Lob an die Radentscheid-Ini, die hier für einen Moment den Blick in eine bessere Zukunft eröffnet.

    Zu den unangenehmsten Ecken im Heidelberger Verkehrsnetz gehört seit vielen Jahren die Mittermaierstraße. Auf ihr fahren Menschen vom Bahnhof und den südlichen Stadtteilen zum Uni-Campus im Neuenheimer Feld sowie in die nördlichen Stadtteile – und umgekehrt. Sie ist, seit ich in Heidelberg wohne, eine vierspurige Autostraße mit schmalen Randbereichen, die sich die ungepanzerten Menschen mal besser und mal schlechter teilen.

    1995: Verriss mit kategorischem Imperativ

    Das hat für die Autos nie gut funktioniert, aber noch weit schlechter für die Menschen. Schon 1995 habe ich in Nummer 104 des Studi-Blattes UNiMUT einen Verriss einer dämlichen Werbekampagne der Stadt veröffentlicht und die Mittermaierstraße als Leitsymptom für den ganzen Mist™ identifiziert:

    Wer sich Radwege hier anschaut, wird merken, daß ihr Ziel nicht ist, das Radfahren sicherer zu machen. Es geht nur darum, den Autos freie Fahrt und möglichst viel Platz zu verschaffen. Wenn für Fußgänger und Radverkehr in zwei Richtungen etwa ein Meter von einer fünfzehn Meter breiten Straße übrigbleiben (prototypisch Mittermaierstraße), darf sich wohl keineR mehr wundern über Konflikte und die Tatsache, daß auf Radwegen mehr Unfälle passieren als auf der Straße.

    Ich mag den Artikel übrigens bis heute, weil er einen – wenn ich das selbst so sagen darf und bis auf die Orthographie – immer noch hochaktuellen kategorischen Imperativ des Verkehrs formuliert:

    Fahre so, daß die Maxime deines Fahrens Grundlage für einen ampelfreien Verkehr sein könnte.

    1997: Kein Versammlungsrecht in der Mittermaierstraße

    Die Mittermaierstraße hat auch für die Versammlungsfreiheit nicht funktioniert. Zur Mobil-ohne-Auto-Woche im Jahr 1997 wollte zum Beispiel ein munteres Fahrradbündnis auf dem damals noch einseitigen (in Richtung Neckar) Radweg für eine Stunde Protest-Minigolf spielen – in dessen Belag waren Löcher, die dafür prima geeignet gewesen wären. Leider hat die Versammlungsbehörde das untersagt und behauptete zur Begründung, die dafür notwendige Sperrung einer von zwei Richtungsfahrbahnen (irgendwo hätten ja die RadlerInnen hingemusst) für zu gefährlich zu halten.

    Ich hatte damals vom Verwaltungsgericht Karlsruhe einstweiligen Rechtsschutz gegen diese mutmaßlich nicht allzu ehrliche Einschätzung erhofft. Doch wollte Gericht lieber nichts zum Verhältnis von Versammlungsfreiheit und Geradeausfahren sagen und hat sich darauf zurückgezogen, ich hätte nicht hinreichend dargelegt, dass für die Aktion bereits breit mobilisiert worden sei. Nun: das ist Lehrgeld für laienhaften Umgang mit dem Verwaltungsrecht. Wie im Zivilrecht üblich, ist es auch da nicht Job des Gerichts, die Wahrheit zu ermitteln; es soll nur die Argumente der beiden Seiten abwägen.

    Immerhin ist ein Jahr darauf auch Richtung Bahnhof ein Radweg an der Mittermaierstraße eingerichtet worden – oder jedenfalls ein handtuchbreites Stück Bürgersteig, um das sich FußgängerInnen und Radfahrende seitdem streiten dürfen, während die Autos vierspurig vorbeitosen.

    Besonders ätzend: leider ist das Kreuzen der Fahrbahn selbst auf der Neuenheimer Seite so grässlich, dass nennenswert viele RadlerInnen auf der linken Seite Richtung Neckar fahren, um die doppelte Querung der Straße zu vermeiden.

    Wenn eineR von denen das hier liest: bitte tut das nicht, es ist höchst nervig und, so, wie der Bürgersteig da nun mal aussieht, echt halsbrecherisch. Kämpft lieber dafür, dass der Bürgersteig am nördlichen Brückenkopf der Walzbrücke abgesenkt wird und RadlerInnen mit dem Autoverkehr ins Feld einbiegen können. Mit einem Tempo 30 auf der Walzbrücke wäre das viel weniger nervenzerfetzend als die Rallye gegen den Strom.

    2017: Sackgefährlich, aber nicht gefährlich genug für Tempo 30

    2013 zählte die Stadt auf der Straße zur (dort wirklich apokalyptischen) Rush Hour 1900 Autos pro Stunde, für 2017 vermutet sie, dass die Autofahrenden die 2000er-Marke gerissen hatten. Ich merke kurz an, dass die rund 2000 Passagiere, die damit bewegt werden, einem gut ausgelasteten ICE entsprechen oder einer nicht unmenschlich vollen Straßenbahn alle drei Minuten (ein moderner Niederflurwagen hat 84 Sitzplätze und ist ausgelegt für bis zu 240 Sardinen). Um das in Relation zu setzen zum aktuellen Tosen, stellt euch jetzt ein Za-Bimmel vor (das war eine Straßenbahn). Dann zählt bis 180. Und dann erst käme das nächste Za-Bimmel.

    Die Verkehrszahlen kommen aus der Drucksache 0017/2017/IV der Stadt Heidelberg, in der sich das Amt für Verkehrsmanagement herauszufaseln versucht aus der an sich klaren Reparatur des Problems, nämlich einer gerechteren Verteilung des Verkehrsraums, besser bekannt als Fahrradstreifen, oder noch besser einer gemeinsam langsamer genutzten Straße. Dabei zeigt sich, dass die Mittermaierstraße auch für stringente Argumentation nicht funktioniert, denn einerseits führt das Papier aus:

    Nach der VwV zu §2 Absatz 4 StVO sollen benutzungspflichtige baulich angelegte Radwege möglichst 2,00 m und mindestens 1,50 m breit sein. Die Breiten der Radwege in der Mittermaierstraße erreichen das Mindestmaß nur abschnittsweise[1] […] Aufgrund der Bedeutung der Route wurde die nicht regelkonforme Radverkehrsanlage bisher beibehalten.

    Die Verwaltung hat in Abstimmung mit der Verkehrspolizei geprüft, ob die Pflicht zur Benutzung der Radwege in der Mittermaierstraße aufgehoben werden kann bzw. muss. Aufgrund der besonderen Gefahrenlage wurde [davon] aber abgesehen.

    Warum eine bedeutende Route das geltende Recht eher verletzen darf als eine unbedeutende, bleibt wenigstens mir dabei unklar, aber von der städtischen Darlegung festzuhalten bleibt (tonlose Drohstimme): Es ist da sackgefährlich.

    Das gilt aber nur bis zum nächsten Abschnitt der Drucksache, in dem die Stadt prüft, ob mensch die Lage nicht wenigstens mit einer geeigneten Geschwindigkeitsbegrenzung entspannen könnte. Das klingt dann so:

    [Nach diversen Gesetzen, Erlassen und Richtlinien kommt] eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h nur in Betracht, wenn konkrete Gefährdungen vorhanden sind. Dies kann der Fall sein, wenn deutliche Abweichungen gegenüber bestimmter Regelgrößen bei Fahrbahnbreite, Gehwegbreite, Längs- und Quergefälle der Fahrbahn, Sichtweiten und dergleichen vorliegen. Dies ist im gesamten Verlauf der Mittermaierstraße nicht der Fall.

    Keine weiteren Fragen an die Behörde.

    2023: Ein Moment der Entspannung

    Nochmal sechs Jahre später hat jetzt die Radentscheid-Initiative in Heidelberg den Fahrrad-Schutzstreifen probieren dürfen. Jedenfalls am frühen Nachmittag wirkt das ziemlich entspannt (siehe das Foto oben). Ich möchte das schon gerne auf Dauer haben, wenn ich zum Bahnhof radele.

    So eine Maßnahme könnte sogar ein Beitrag sein, das weitere Wachstum des Autoverkehrs endlich umzukehren. Darum führt sowieso kein Weg herum. Früher oder später werden wir den Irrweg Auto verlassen. Die Frage ist allein, wie viel wir vorher noch genervt werden.

    Lasst mich zum Abschluss einen besonders netten Twist der ganzen Sache erwähnen: die Radentscheid-Ini hat auf eine tiefe Wahrheit hingewiesen, indem sie die Aktion (durchaus zutreffend) als Pop-up-Fußweg deklariert hat. In ihrem Aufruf heißt es:

    Für Menschen, die auf der Mittermaierstraße zu Fuß in Richtung Hauptbahnhof gehen, sind die Gegebenheiten unannehmbar. Zu Fuß gehen ist hier nicht vorgesehen. Im Gänsemarsch geht es aufgereiht hintereinander her. Wer nebeneinander gehen, eine entgegenkommende Person passieren oder auch nur einen Rollkoffer mitführen möchte, muss notgedrungen auf den schmalen Radweg ausweichen

    Das Tosen der Autos sorgt auch fast 30 Jahre nach meinem UNiMUT-Artikel immer noch für ganz einfach vermeidbare Konflikte. Zeit, das zu ändern.

    Nachtrag (2023-12-23)

    Inzwischen gibt es eine längere Auswertung des Radentscheids zu der Aktion.

    [1]Den Euphemismus „nur abschnittsweise“ für „so richtig gar nicht“ muss ich mir merken.
  • Noch bis 7.12. in Heidelberg: „Auftakt des Terrors“ über die ersten NS-Konzentrationslager

    Ein stattlicher Bau in klassizistischem Stil, umgeben von einer Betonmauer mit zahlreichen Lampen darauf.

    Wer gelegentlich mit dem Zug zwischen Heidelberg und Karlsruhe unterwegs ist, kennt diesen Anblick: Das ummauerte Schloss Kislau. Von 1824 bis heute war das Gebäude mit kurzen Unterbrechungen fast durchweg eine Art Gefängnis – und von 1933 bis 1939 eines der frühen Konzentrationslager der NSDAP-Regierung. Um eine Ausstellung zu diesen dreht sich dieser Post. Foto: CC-BY-SA Grossbildjaeger.

    So sehr die Erinnerung an die Shoah wachzuhalten ist: Fürs heutige politische Handeln erheblich relevanter ist die Betrachtung der Anfänge der Nazibarbarei. Das folgt schon aus den Mahnungen von Habermas et al, die Shoah nicht durch aktuelle politische Relativierungen zu trivialisieren und – schlimmer noch – zu instrumentalisieren[1]. Die größere Relevanz folgt aber bereits daraus, dass Faschismus auch ohne Shoah eine schreckliche Sache ist.

    Dies ist eine der Lehren, mit denen mensch ziemlich sicher aus der Ausstellung „Auftakt des Terrors“ herauskommen wird, in der die Anfänge des Systems der Konzentrationslager beleuchtet werden. Die Ausstellung – 10 Stationen und etwas lokales Material – ist noch bis zum 7.12. (ja, es gibt eine Verlängerung) beim Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland in der Heidelberger Bremeneckgasse zu sehen (lokale Ankündigung) und wird dann weiter in den Salmen in Offenburg ziehen (weitere Ausstellungsorte).

    Von Beginn an Folter und Mord

    Es ist besonders passend, die Ausstellung in Heidelberg zu zeigen, gab es doch im Umkreis von 50 km um die Stadt gleich drei der in der zuständigen Arbeitsgemeinschaft des Gedenkstättenforums bearbeiteten frühen NS-Konzentrationslager: Osthofen bei Worms im Nordwesten (übrigens Schauplatz von Anna Seghers Klassiker Das siebte Kreuz), Neustadt/Haardt im Westen[2] und schließlich Kislau im Süden, das im Gegensatz zu den anderen beiden langfristig, nämlich bis 1939, bestand. Etwas pikanterweise ist bei letzterem auch das Gedenken erschwert, weil das Land das Gebäude bis heute als Gefängnis nutzt.

    Wie sehr Faschismus – oder generell auf Polizei und Militär ausgerichtete Regierungsführung – schon lange vor industriellem Massenmord fürchterlich ist, illustriert die Ausstellung beispielsweise auf der Station 7 durch eine Hafterfahrung des SPD-Aktivisten Fritz Solmitz, der sie am 13. September 1933 auf Zigarettenpapier festhielt. Zunächst ist ein Foto einer Taschenuhr zu sehen, in der seine Aufzeichnungen nach draußen kamen, nachdem das NS-Personal Solmitz wenige Tage später totgefoltert hatte:

    Eine aufgeklappte, goldschimmernde Taschenuhr liegt aufgeklappt auf winzig beschriebenen Zettelchen.

    Die Uhr ist ein Original, die Zettel Nachbildungen (nicht das Ausstellungs-Foto; Quelle).

    Nur auf diese Weise konnte Solmitz der Nachwelt dieses Kassiber hinterlassen:

    Ich wurde in den Keller getrieben. Kommando: „Bück dich“. Ich blieb aufrecht stehen, erhielt sofort furchtbare Schläge mit Hundepeitsche und Ochsenziemer. Ich taumelte, fiel. „Das Schwein markiert nur: Hoch, Aufstehen. Bück dich“. Dreimal wurde ich so niedergeschlagen. Nach dem 3. Mal hatte ich noch die Kraft zu schreien „Ich bücke mich nicht“. Ich glaube aber, zuallerletzt in halb bewußtlosem Zustand hab ichs doch getan.

    Kontinuitäten im Hass nach außen und unten

    Gut herausgearbeitet ist in der Ausstellung (Station 5) auch, wie die NSDAP reaktionäre Phantasmen bespielt hat, mit Formen, die auch heute noch Menschen zuverlässig nach rechts treiben. Zitiert wird etwa aus der Frankfurter Zeitung vom 29. August 1933:

    Die Meldungen mehren sich, dass in zahlreichen Plätzen in Hessen die Juden beginnen, die gebotene Zurückhaltung außer Acht zu lassen. […] Versuche sich deutschen Mädchen zu nähern und dergleichen verursachen berechtigte Erregung in der deutschen Bevölkerung. Die Politische Polizei ist hierdurch genötigt, die Schuldigen oder solche bekannten Juden, gegen die sich die Erregung richten könnte, in Polizeihaft zu nehmen. Am 26. August wurde durch die Staatspolizeistelle in Worms eine größere Anzahl Juden in Polizeihaft genommen und dem Konzentrationslager Osthofen zugeführt.

    Gar nicht weit vom damaligen KZ Osthofen entfernt, im südpfälzischen Kandel, gab es 2017 und folgende ganz vergleichbare „Erregungen“, die ohne das Stereotyp Ausländer-und-deutsche-Frauen ganz gewiss nicht dieses Ausmaß und diese Dauer gehabt hätten (eingestanden: im Zweifel tun es auch mal Männer als Opfer).

    Wer weiter die „Erregung“ um Florida-Rolf in Erinnerung hat (oder eigentlich beliebige Beiträge von Rechts zur Frage sozialer Grundsicherung), wird dann auch im ebenfalls auf Station 5 dokumentierten Artikel aus dem Ulmer Tagblatt vom 9. Februar 1935 bekannte Figuren wiedererkennen:

    Der verheiratete G. hat in letzter Zeit die ihm und seiner Familie gewährten Unterstützungsgelder in zweifelhafter Gesellschaft durchgebracht. Wegen dieses schändlichen Verhaltens ist G. in Schutzhaft genommen und in das Schutzhaftlager Oberer Kuhberg eingeliefert worden. Diese Maßnahme sollen sich andere zur ernsthaften Warnung dienen lassen, denn es ist ein Verbrechen an Familie und Volksgemeinschaft, Unterstützungsgelder und Gaben des Winterhilfswerks zu vergeuden.

    Nicht weit von Ulm und dem ehemaligen „Schutzhaft“-Lager Kuhberg entfernt schrieb am 15.9.2022 die Augsburger Allgemeine:

    Ja, die Hartz-Gesetze waren nicht perfekt. […] Nötig waren die Reformen gleichwohl. Wo ein Staat viel fördert und wenig fordert, zementiert er nur die bestehenden Verhältnisse und schafft fast zwangsläufig auch noch Anreize für Missbrauch.

    Patrioten, Polizisten und Militärs

    Ziemlich unzweifelhaft sind jedoch noch vor plattem Hass auf Menschen mit anderer Obrigkeit bzw. weniger Geld Patriotismus und Militärbegeisterung die Hintergründe, vor denen sich breite Mehrheiten der Bevölkerung – die Ausstellung belegt vielfach, dass das KZ-Wesen in voller Öffentlichkeit stattfand (Station 8), wenn auch anfangs vielleicht nicht in seiner ganzen Brutalität – dem Faschismus zuwandten. So ist zu loben, dass die Ausstellung bei der Betrachtung des Wegs in die Diktatur (Station 1) das klassische Plakat zur Dolchstoßlegende – von der DNVP aus dem Jahr 1924 – reproduziert:

    Faksimile eines Plakats mit einer roten Figur, die einen stahlbehelmten Soldaten von hinten erdolcht.  Dazu ein Text, der Aktivitäten zur Beendigung des ersten Weltkriegs als irgendwie schlecht denunziert.

    Vielleicht hätte noch etwas genauer diskutiert werden können, weshalb genau dieses Plakat so fürchterlich ist: Es stellt die Beendigung der Schlächterei – wozu natürlich auch die Abrüstung des Patriotismus gehört – als eine Art Verbrechen dar und sorgt sich um „Volk und Vaterland“ statt um all die Menschen, die, um die metzelnden Soldaten zu füttern und auszurüsten, hungerten und schufteten. Wer sich von diesem Plakat auch nur irgendwie angesprochen fühlt, möge sich klar machen, dass die primäre Verwirrung darin besteht, die Desertion und nicht die Kriegsführung als Verbrechen anzusehen.

    Planer und Akteure

    Ein Halbseitenportrat eines Mannes in seinen 60ern in einer Nazi-Uniform.  Er scheint in die Ferne zu blicken.

    Als Anstoß für einen Wikipedia-Artikel zu Franz Mohr hier schon mal ein Foto von ihm aus dem Jahr 1936 (gescannt aus dem Ausstellungskatalog). Quelle: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, 505, Nr. 109-2. Urheberrechte an diesem Foto sind fast sicher längst erloschen.

    Erfreulich ist auch die Betrachtung der Akteure und ihrer Biographien (Stationen 4 und 9). So etwas geht für den Nachfolgestaat des Deutschen Reichs meist ungut aus und war daher über Jahrzehnte ziemlich unpopulär. Dass etwa der langjährige (1933-1939) Leiter des KZ Kislau, ein gewisser Franz Mohr (noch keine Wikipedia-Seite), 1947 als „entlastet“ aus der Entnazifizierung herauskam, wirft ein wenig schmeichelhaftes Licht auf die damaligen Prioriäten. Eingestanden: Mohr hatte eine erhebliche Immunität aus seiner Tätigkeit als Polizeioffizier bereits in der Weimarer Republik. Dass er extra für den Job als KZ-Kommandant aus der Pension in den Beruf zurückgekehrt ist, spielte für seine Spruchkammer offenbar keine große Rolle.

    Ich will dabei gerne einräumen, dass das KZ Kislau offenbar auch aus Sicht der Berliner oder Karlsruher Regierung eher zweitrangig war. Mensch mag Mohr das als Verdienst anrechnen. Jedenfalls deportierten die Behörden die jüdischen Männer aus Heidelberg im Gefolge der Pogromnacht vom 9.11.1938 nicht ins nahegelegene Kislau, sondern ins relativ ferne KZ Dachau.

    Während Mohr – trotz seiner Funktion als einziger badischer KZ-Kommandant in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre – bis zu seinem natürlichen Tod im Jahr 1950 bequem in die westdeusche Gesellschaft zurückkehren konnte, blieb der frühen BRD eine vergleichbare Peinlichkeit bei seinem zeitweisen Kollegen in Weimarer Polizei und NS-KZ-Leitung Theodor Eicke erspart. Allerdings wäre es bei ihm ohnehin nicht so einfach gewesen, denn offenbar war er selbst nach Maßstäben der Polizei der Weimarer Republik zu mundverschäumt. Die Wikipedia schreibt jedenfalls:

    In späteren, in der Zeit des Nationalsozialismus entstandenen Lebensläufen führte Eicke seine mehrfachen Entlassungen aus dem Polizeidienst auf seine „aktive Bekämpfung der Novemberrepublik“ zurück oder sah sich „durch roten Terror hinausgedrängt“. Angesichts der Verhältnisse bei der Polizei in den Anfangsjahren der Weimarer Republik ist dies nicht sehr plausibel; „Eickes persönliches Verhalten muß immer mit ein ausschlaggebender Grund gewesen sein“, so der Politikwissenschaftler Johannes Tuchel.

    Kennen sollte mensch Eicke jedoch, weil er 1933 und 1934 das KZ Dachau kommandierte und es in dieser Zeit zu einer Art Modell-Lager ausbaute, nach dem die späteren großen KZs gestaltet wurden; in gewisser Weise kann er so als Erfinder des eigentlichen Nazi-KZs gelten. Die Nachkriegs-Justiz musste sich mit ihm nicht auseinandersetzen, weil er einen Flug für die Waffen-SS über der Sowjetunion nicht überlebte.

    Nicht aus Weimarer Polizeizusammenhängen hingegen kam der in der Ausstellung als Architekt des panoptisch angelegten KZ Sachsenhausen eingeführte Bernhard Kuiper: er war in der ersten Republik als Tischler und Architekt tätig. 1934 schaffte er es in die SS und arbeitete in der Folge (neben zahlreichen anderen Nazi-Schurkereien) direkt an und in den Lagern Esterwegen, Columbia (Berlin) und Sachsenhausen. Dennoch kam auch er 1948 als unbelastet aus dem Spruchkammerverfahren. Was er in den folgenden 40 Jahren bis zu seinem Tod getrieben hat, sagen leider weder die Ausstellung noch die Wikipedia.

    Extras des Lernorts: Motion Comics

    In Heidelberg zusätzlich zu sehen ist ein Exponat des Lernorts Kislau, einer Initiative, die neben dem heutigen Knast im ehemaligen KZ Kislau eine Gedenkstätte errichten will. An diesem Exponat sind die von der Initiative produzierten Motion …

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